Auguste Supper
Auf alten Wegen
Auguste Supper

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Durch den Spalt

Immer, wenn Weihnachten nicht mehr weit ist, fällt ihm ein, was er dazumal erlebt hat. Er schaut dann ins Weite und preßt den Mund zusammen, als wolle er ihn niemals auftun, um diese Geschichte zu erzählen, denn er weiß, daß unter zehn noch nicht einer ihm glaubt.

Aber einmal, als es in seiner Stube schon fast dunkel war und jemand neben ihm saß, dessen Herz mit dem seinen einen Schlag hatte, als der weiche Schnee lautlos gegen das Fenster kam und im Ofen hinter den Beiden, die in das Gewimmel hinausstarrten, das Feuer sein leises, zuckendes und knisterndes Spiel trieb – da war es, als trete in ihm sachte etwas über die Ufer und er begann:

Du kennst doch das Bahnhöflein von Rotstetten? Das kleine, sandsteinerne, das so dicht vor den schwarzragenden Wald hingestellt ist, als wolle es unterschlupfen unter den Wipfeln? Nun also – dort war's!

Ich hatte in Rotstetten zu tun gehabt, war müde und wollte nicht bis Zugsabgang ins Wirtshaus sitzen.

Bitterkalt war's auch. Der Fluß trug Eis und das Tal lag im Schnee. Die Raben schrien zwischen den 58 Wäldern, und auf der Straße, die am Fluß entlang nach dem Bahnhöflein führt, war außer mir kein Mensch.

Da kam ich so ins Träumen hinein. Die große Stille und Einsamkeit, dazu die frühe Dämmerung, die rasch sank, gaben mir ein Gefühl, als sei ich der letzte Mensch auf dieser ausgestorbenen, erfrorenen Erde, die nun bald in Todesnacht versinken werde, ins leere, stille Nichts.

Ich war, glaube ich, ganz zufrieden mit dieser Lösung der Sache. Meine große körperliche und seelische Müdigkeit war einverstanden mit dem lautlosen Untergang.

Nur etwas in mir fragte wie ganz aus der Tiefe her spöttisch: Warum war dann das Getue, warum das ganze Lebensgehetz, wenn das nun alles ist? – –

Ich war ärgerlich über diese Stimme, die wie ein aufpeitschender Laut die Stille des Vergehens unterbrach; aber sie ließ sich nicht zum Schweigen bringen, sie wurde stärker und rüttelte mich heraus aus meiner müden Verträumtheit.

Ich sage dir das nur, damit du weißt, in welcher Verfassung und Stimmung ich etwa war, als ich erlebte, was ich dir erzählen werde.

Wie ausgestorben lag der Bahnhof am Waldrand, als ich ankam. Meine Tritte auf den Steinfliesen der kleinen Vorhalle, das Oeffnen der Türe zum 59 Warteraum erfüllten das leere Haus mit hallendem Dröhnen und Getöse, so daß ich vor dem Lärm erschrak, der mir vorkam, als müßte er Tote erwecken.

Aber niemand kam, um sich nach dem Störenfried umzusehen, und ich setzte mich in dem dunkelnden Raum dicht vor den eisernen Ofen, in dem ein flackerndes Feuer brannte.

In dem Becken, auf das ich meine von der Kälte verklammten Füße stützte, war aus Wasser und Kohlenstaub ein dünnflüssiger Brei gemacht, eine schwarze Suppe, auf deren öliger Oberfläche zarte irisierende Farben spielten.

Am Ofen war die Türe vor dem stehenden Rost geöffnet. Der Schein der Feuersglut beleuchtete meine Beine und den Kohlensee zu meinen Füßen.

Sonst wurde der Raum dunkler und dunkler und war bald um mich wie eine gähnende schwarze Tiefe.

Ich fing wieder zu träumen an, umwoben von wohliger Wärme. Aber ich schlief nicht.

Da zogen sich die glänzenden farbigen Streifen auf der schwarzen Suppe langsam, langsam in die Länge und in die Breite. Bis an einen unendlich fernen Horizont reichten sie; sie wurden ein See, ein Meer. –

Mit einem unbeschreiblichen Entzücken, einer Ehrfurcht ohnegleichen sah ich das Großartige. Dabei war mein Geist völlig klar. Ich wußte und sagte mir: »In Wirklichkeit ist zu deinen Füßen kein Meer, 60 sondern nur die kleine schwarze Lache in dem eisernen Kohlenbecken. Aber das Meer ist doch auch da, ist auch irgendwie Wirklichkeit, denn du siehst es ja vor dir liegen, siehst seine stillen, schimmernden Wasser, die aussehen, als scheine der Mond darauf.«

Während ich mich so mit mir selber, mit meiner grenzenlosen Verwunderung, meinem nüchternen Zweifel auseinandersetzte, furchten sich plötzlich die Wasser auf der endlosen Fläche vor mir.

Ich sah erst ein leises, unruhiges Glitzern, dann wurden Wellen daraus, deren grünglasige Täler und weiße Gipfel alle in einer Richtung zogen in jenem schaukelnden Wiegen, jener tiefen, endlosen Gelassenheit, die nur das Meer hat.

Mir kam es vor, als hätte ich stundenlang auf dieses Schauspiel gestarrt, das für den Träumer, für den Müden nie an Reiz verliert, da tauchte am Horizont ein Schiff auf, das rasch emporwuchs.

Es fuhr an mir vorüber, zum Greifen nah. Ich sah den Gischt um seine Wände brausen, sah seine graubemalten Flanken, sah Strickleitern und aufgemachte Boote, Schornsteine und klatschende Wimpel.

Und ich sah Johannes Donius auf Deck stehen und ausspähen.

Du kennst ihn ja jetzt auch, Johannes Donius, den fast sagenhaften Vetter meiner Mutter, den ich dazumal noch nie gesehen hatte, der dreißig Jahre lang 61 auf Batavia verschollen war und dem das Heimweh mit den weißen Haaren kam.

Mit wehendem weißem Bart stand der Mann auf dem einsamen Schiffsdeck, sah erst in die Ferne und dann plötzlich mir in die Augen.

Ein Erschrecken ging durch mich hin, als sei ich auf einem Unrecht ertappt.

Ich wandte den Blick vor demjenigen des mir damals noch fremden Mannes, und als ich die Augen niederschlug, war Schiff und Meer verschwunden und zu meinen Füßen schimmerte das ölige Wasser im Widerschein der Ofenglut.

Ich reckte mich auf und sah auf die Uhr. Keine zehn Minuten konnte ich vor dem Ofen gesessen sein.

Ich wollte lächeln, wollte mir weismachen, ich hätte geschlafen und geträumt, denn im Traum spielt ja auch die Zeit keine Rolle. Aber ich wußte dabei genau, daß ich völlig wach gewesen und etwas erlebt hatte, was sonst hinter den dichten Schranken unserer schweren Körperlichkeit nicht möglich ist.

Die tiefe innerliche Müdigkeit, die mich zuvor umfangen hatte, fiel von mir ab. Neue Perspektiven sah ich für meine Seele; ich ahnte die große Freiheit, die ihr vorbehalten ist als ihr eigentliches Lebenselement.

Der kleine nachtschwarze Warteraum im Bahnhöflein von Rotstetten war mir wie durchstrahlt vom Glanz meines Erlebnisses, und als dann der 62 vermummte Eisenbahner kam, am Ofen rüttelte und mit der Schaufel in der schwarzen Suppe rührte, als er die Erdöllampe an der Decke entzündete und Stühle zurechtrückte, daß mir das Poltern in den Ohren dröhnte, da spürte ich einen scharfen Strich gezogen zwischen dem, was man gemeinhin »Erleben« heißt und dem andern, das dahinter als strahlende Möglichkeit in geheimnisvoller Tiefe liegt.

Und das Wunderbarste kam dann noch. – Du weißt, wie um die Weihnachtszeit der verschollene Vetter aus Batavia in der Verwandtschaft auftauchte.

Es war große Aufregung und große Verwunderung, denn in vielen Jahren war keine Kunde von ihm in die alte Heimat gedrungen.

Zur Ehre all der Leutchen darf ich sagen, daß man nicht auf die Schätze des Heimkehrenden wartete, sondern ihn freudig aufnahm um der Blutzugehörigkeit willen.

Zu meiner Mutter kam er am heiligen Abend, als unser Gast über die Festzeit.

Und mein erster Blick erkannte ihn als den weißbärtigen Mann auf jenem Schiffsverdeck.

Du kannst dir denken, wie mir zumut war. Ich stand unter dem brennenden Baum in jener Gehobenheit, die uns erfaßt, wenn wir hinter dem Lebensalltag das Ewige aufglühen sehen.

Wir sangen die alten Lieder, ohne die es nicht 63 Weihnacht ist und bei denen meiner Mutter immer die Stimme vom Weinen zittert. Denn es ist so mancher Mund stumm geworden, der früher mit ihr gesungen hat.

Der Fremdling kannte die Weisen noch und sein tiefer, weicher Baß gesellte sich schüchtern zu unseren Stimmen.

Es war eine schöne Stunde. Als die erlöschenden Lichter in den Zweigen knisterten und die duftenden Rauchstreifen durch das dunkler werdende Zimmer schwebten, erzählte ich dem Gast mein Gesicht von jenem Winterabend auf dem Rotstetter Bahnhof, als ich auf den Zug wartete.

Er schaute lange stumm in den erloschenen Baum. Dann sagte er leise und ergriffen: »Du hast mich gesehen auf dem Deck des ›Kormoran‹. Ich kann mir gut den trüben Abend denken, als ich allein oben stand und in die Ferne schaute. Ich hatte schweres Heimweh dazumal und wußte nicht, wo eigentlich meine Heimat sei.

Da dachte ich an deine Mutter, ob sie wohl noch lebte und an dich, der du ein kleines Kind warst, als ich ging. Du hast die Adria geschaut in deinem Gesicht; wir steuerten auf Brindisi zu an jenem Abend.«

Er holte sein Tagebuch herbei und wir rechneten fast die Stunde und den Ort heraus, wo unsere Seelen, unsere Blicke sich getroffen hatten. – – – 64

Der Erzählende verstummte. Dichter und dichter trieben die Flocken in weißen Wirbeln gegen das Fenster. Ihr klirrendes Knistern mischte sich mit der leisen Stimme des Feuers, das hinter den Sitzenden loderte. Versunken träumten zwei Menschen in der tiefen Winternacht von dem ewigen Tag, der manchmal durch die Ritzen schimmert. 65



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