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Dreizehntes Kapitel

Cynthia war zurückgekommen!

Ja, das durchnäßte, erschöpfte Geschöpf, das in abgetragenen, beschmutzten Kleidern mit zerschmelzenden Schneeflocken in den rotbraunen Flechten bewußtlos hier an der Erde lag – war wirklich Cynthia!

Mit liebevoller Hast richteten sie die hilflose Gestalt auf, rissen ihr die nassen Kleider vom Leibe, trockneten ihre Haare ab und flößten ihr Wein ein; doch sie schauderte nur zusammen und seufzte – zum Bewußtsein kam sie nicht.

»Ist sie nur zurückgekommen, um hier zu sterben?« fragte sich Lätitia, von Todesangst ergriffen, als sie das so sehr veränderte bleiche Gesicht mit den roten Flecken unter den geschlossenen Lidern und um den starren, blassen Mund sah.

Sie legten sie auf den Teppich vor dem flackernden Feuer, rieben ihre erstarrten Glieder, wickelten sie in warme Decken ein und weinten und beteten über ihr, während sie, das Haupt in Lätitias Schoß gebettet, bewußtlos an der Erde lag und auf ihrem aschfahlen, leblosen Antlitz schon die Schatten des Todes zu sehen waren.

»Wenn sie nur sprechen wollte,« klagte Leah, das kleine Dienstmädchen, und schluchzte dabei, als wolle ihr das Herz brechen. »Liebes Fräulein Cynthy, so sprechen Sie doch nur!«

Beim Klang dieser wohlbekannten, treuen Stimme schlug Cynthia wohl die Augen auf, aber ihr Blick war völlig ohne Bewußtsein; sie erkannte niemand und nickte, sie öffnete die bleichen Lippen, aber der Ton, den sie hervorbrachte, war schwach und matt, und seufzend schloß sie wieder den Mund. Lätitia flößte ihr etwas Wein ein und stammelte Worte des Willkomms in die Ohren, die nicht hörten, und schob mit bebenden Händen die feuchten Massen goldenen Haares zurück, die unter dem Einfluß der von den flammenden Holzklötzen verbreiteten Hitze sich schon wieder zu kräuseln anfingen. Als sich nach und nach die starren, steifen Glieder etwas erwärmten, verbreitete sich allmählich auch eine leise Röte über das totenblasse Gesicht des jungen Mädchens und verkündete die langsame Wiederkehr des Lebens.

Noch mehrere Minuten blieb sie völlig regungslos liegen; sie hatte die Augen wieder aufgeschlagen und blickte nun mit müden, verwundert dreinschauenden Augen wie jemand, der aus einem schweren Traum erwacht, auf die altbekannten Gegenstände in dem trauten Raume.

Lätitias Freudenthränen tropften herab auf das Gesicht in ihrem Schoß.

»O, mein Kind,« schluchzte sie, »mein liebes, verlorenes Kind! O, Cynthia, Cynthia, warum bist du fortgegangen?«

Dies rüttelte sie aus ihrer Betäubung auf. Ein angstvoller, schmerzlicher Zug trat in ihr Gesicht, rasch fuhr sie auf, und volles Bewußtsein sprach aus ihren Augen.

»Komme ich noch früh genug?« fragte sie, plötzlich von wahnsinniger Angst ergriffen, in heiserem Flüstertone, während ein kalter Schauder über ihre zarten Glieder lief. »Komme ich noch früh genug, um ihn zu retten? O, Lätitia, er ist ja unschuldig – sage den Leuten, daß er unschuldig ist!«

Ihre Augen schlossen sich aufs neue, alle Farbe wich aus ihren Wangen, und schwer, wie eine Tote, sank sie in Lätitias Schoß zurück.

»Natürlich ist er unschuldig, und du bist noch früh genug zurückgekommen, mein Herzenskind!« sagte Lätitia leise in beruhigendem Ton und drückte ihre warmen Lippen auf des Mädchens kalte Wange, während sie es innig umschlossen hielt.

»O, Basil, Basil!« stöhnte Cynthia mit schwacher Stimme, »so habe ich dich also nicht zu Grunde gerichtet! Gott sei Lob und Dank, ich habe dich nicht vernichtet!«

Dieser Name auf ihren Lippen brachte auch die Farbe auf ihre Wangen zurück, und ein schwaches, zärtliches Lächeln spielte um ihre bleichen Lippen.

»Du, und Basil vernichten! Nein, gewiß nicht!« rief Lätitia energisch. »Wer kann jetzt noch daran denken, Basil etwas anzuhaben, nun du zurückgekommen bist und sich alles erklären lassen wird!«

Das junge Mädchen schlug ihre müden, blauen Augen zu Lätitia auf und flüsterte mit matter Stimme: »Ich war so in Angst – so in Angst um ihn – und um dich. Um seinetwillen und auch um deinetwillen bin ich zurückgekommen. Tag und Nacht bin ich unablässig gewandert, von dem Augenblick an, wo ich erfuhr, daß er in Gefahr schwebe; ich weiß nicht mehr, wie lang und wie weit ich durch den Schnee gegangen bin. Oft, ach wie oft bin ich am Weg zusammengebrochen und habe geglaubt, ich könne nicht mehr weiter; aber der Gedanke an ihn und an dich hat mir immer wieder neue Kraft eingeflößt. O, Lettice, Lettice, wie soll ich dir's sagen? Wie kann ich sprechen, wenn er schweigt? Nicht Basil war es, ich selbst, ich selbst suchte mein elendes Leben zu enden und er – er hat mich gerettet!«

Wieder war alle Farbe aus Cynthias Antlitz gewichen, und die frühere aschgraue Blässe legte sich wieder darüber wie der Schatten des nahenden Todes, und die schweren Lider sanken herab über die halbgebrochenen Augen.

Lätitia war beinahe ebenso bleich als das weiße Gesicht in ihrem Schoß; ganz verstört sah sie aus, und ihr Blick fiel auf das höchst verwunderte Gesicht Leahs, deren Augen vor Verwunderung immer größer und runder geworden waren.

»Geh hinaus, Leah,« befahl Fräulein Primrose streng.

Widerstrebend gehorchte Leah.

»Sag mir,« begann Lätitia dann feierlich und hielt die Hand ihrer Schwester fest, während sie sich mit gierigem Verlangen über die gebrochene Gestalt herunterneigte, als wolle sie durch die Kraft ihres Willens deren entschwindendes Bewußtsein festhalten, »sag mir, was hat Basil mit deiner Flucht zu thun gehabt?«

Nicht einen Augenblick hatte Lätitia an dem geliebten Mann gezweifelt; dazu waren die alte Treue und der alte Glaube viel zu mächtig in ihr; aber sie hielt auf seine Ehre.

Das junge Mädchen stöhnte.

»Nichts! Nein wirklich nichts, Lettice, nichts! Aus eigenem freien Willen bin ich gegangen, um seine Ehre zu retten. Sein guter Name war mir teurer als dir. Ich habe ihn heißer geliebt, als du es je gethan hast, Lettice, und ich bin von ihm gegangen, um ihn vor sich selbst zu retten!«

Mit wogendem Busen, bald vor Entsetzen erblassend, bald vor Scham erglühend, stieß sie diese Worte leidenschaftlich und zusammenhanglos hervor.

Dann brach sie plötzlich mit vor Zärtlichkeit bebender Stimme los: »O, mein Geliebter, mein Geliebter! Welches Elend und welche Schande hat meine verbrecherische Liebe über dich gebracht!«

Tödliche Blässe überzog Lätitias gütiges Antlitz, als sie, von einem unsagbar schmerzlichen Gefühl des Verlustes überwältigt, die Hand des Mädchens fallen ließ.

Doch das währte nur einen Augenblick: die Ehre ihres Bräutigams stand in ihrer Hut – sie dachte zuerst an ihn und schob das eigene Weh gelassen beiseite.

»Und Basil,« fragte sie heiser mit einer Stimme, die trotz all ihrer Willenskraft zitterte, »und Basil?«

»Frage mich nicht!« schluchzte das Mädchen zu ihren Füßen und rang die Hände in bitterem Schmerz. »Frage mich nicht, Lettice! Er war ja viel zu treu und edel, um dir ein Unrecht zuzufügen; aber ich, ich führte ihn in Versuchung, er war nur ein Mann, und er liebte mich, Lettice!«

Eine Flut von Thränen erstickte ihre Worte, und sie verbarg ihr Gesicht in Lätitias Schoß, während ihr dunkelgoldenes Haar in leuchtenden Massen über ihre nackten Schultern herniederfiel.

Regungslos, mit offenem Mund und weitaufgerissenen, verstörten Augen hörte Lätitia ihr zu.

Er liebte sie!

Ein Schrei des Entsetzens entfuhr ihren Lippen; aber sie suchte ihn mühsam zu unterdrücken.

»Er liebte dich, Cynthia, und hätte mich heiraten sollen?« sagte sie langsam und streng, in einem eindringlichen Ton, der kein Ausweichen duldete. »Du mußt mir alles, alles sagen, Cynthia; du darfst mir nichts verschweigen!«

Und nun schüttete das weinende, aufgelöste Mädchen, zu den Füßen ihrer Schwester knieend, dieser ihr ganzes Herz aus und beichtete in abgerissenen Worten die Geschichte ihrer übelberatenen Liebe und ihrer thörichten Flucht.

»O, Lettice, was konnte ich andres thun! Er wußte, daß ich ihn liebte. Ich liebte ihn von Anfang an, vom ersten Augenblick, wo er mich für dich hielt und in seine Arme schloß. Mit aller Macht habe ich gegen diese sündige Leidenschaft angekämpft. Ich suchte, ihn zu vermeiden und ihm kalt und gleichgültig zu erscheinen; aber er durchschaute mich, er erriet mein Geheimnis und hatte Mitleid mit mir! O, mein Gott, Lettice! So tief war ich gesunken, daß er mich bemitleidete!« Lätitia legte ihre Hände über die Augen, um dem zu ihr aufgerichteten Gesicht ihre Pein zu verbergen.

»Ja, so tief war ich gesunken,« fuhr Cynthia mit derselben bittern Selbstverachtung fort, »daß mich meine Schande immer tiefer hinunterzog. Um mich zu retten, täuschte ich und mißbrauchte ich die Liebe und das Vertrauen eines andern Mannes, der mich liebte, unendlich mehr liebte, als ich verdiene, geliebt zu werden. O Lettice, wie soll ich dir's sagen! Ich, ich habe Richard Holders versprochen, mit ihm fortzugehen. Ich habe ihm versprochen, ihn zu heiraten, und ihn betrogen.«

»O, Cynthia,« rief Lätitia aus, »wie konntest du so etwas thun! Dann ist die schmachvolle Geschichte also wahr, und der Wagen auf der Landstraße hat auf dich gewartet!«

»Es ist alles wahr,« seufzte das junge Mädchen händeringend. »Ich that es um deinetwillen, Lettice; o, glaube mir doch, ich that's nur um deinetwillen. Wenn ich Richard Holders heiratete und mit ihm in die Fremde zog, so konnte ich Basil niemals wiedersehen, und ich dachte, dann würde er mich vergessen und mit alter Liebe zu dir zurückkehren. War ich Richards Frau und Basil dein Mann, so hätte er mich nicht mehr lieben können!«

»O, Cynthia, um meinetwillen hast du eine solche Dummheit gemacht und ein solches Unrecht begangen!«

»Wollte Gott, ich hätte es ausgeführt! Ich hatte Richard gesagt, daß ich ihn nicht liebe, aber er wollte mich doch heiraten. Ich hieß ihn alles vorbereiten für jene Nacht und machte ihm das strengste Geheimnis zur Pflicht. Erst unmittelbar vor Abfahrt des Schiffes, erst wenn ich Richard Holders' Frau war, solltest du erfahren, Lettice, welches Opfer ich dir gebracht hatte, um dir deines Gatten Liebe zurückzugewinnen! Wie anders konnte ich dir vergelten, was du an mir gethan hast? Durch einen unglücklichen Zufall traf es sich, daß Richards Schiff gerade an deinem Hochzeitstag in See ging, und ich versprach ihm, ihn in der vorhergehenden Nacht zu treffen; ein Wagen sollte mich auf der Landstraße erwarten. Der Wagen hat gewartet, aber mein Mut hat versagt. Ich war ein elendes, feiges Geschöpf. Ich hatte nicht mehr den Mut, zu leben, nur noch den, zu sterben.«

»Gott sei Dank,« rief Lätitia mit einem Seufzer der Erleichterung, »Gott sei Dank, daß du diese Schlechtigkeit nicht begangen hast!«

»Warte, du weißt noch nicht alles. Basil hielt mich davon ab. Er überraschte mich in dieser entsetzlichen Nacht und entriß mir mein Geheimnis. Lettice, er bot mir an, dich aufzugeben; aber ich konnte sein Opfer nicht annehmen. Er wollte zu dir gehen und dir die Wahrheit sagen.«

»Das wäre besser gewesen, viel besser!« flüsterte das arme alte Fräulein mit einem unterdrückten Schluchzen, das beinahe wie ein Schrei klang.

»Ich konnte ihn diese Unehrenhaftigkeit nicht auf sich laden lassen, Lettice, nach all diesen langen Jahren,« fuhr das Mädchen fort, ohne die Unterbrechung zu beachten. »Ich liebte euch beide so sehr!« Hier brach sie wieder in neues Weinen aus. »Ach, Ihr meine Geliebten, meine Heißgeliebten! Warum sollte ich Schande auf euch bringen? Ich wollte nicht, daß er dich aufgab, Lettice, und konnte es doch mit dieser allgewaltigen Liebe im Herzen nicht über mich gewinnen, eines andern Mannes Weib zu werden. Ich war wahnsinnig, Lettice, und unterlag einer übermächtigen Versuchung. Im Schutz der stillen Nacht stahl ich mich aus dem Haus, um meinem elenden Leben ein Ziel zu setzen. Den ganzen Tag über wollte mir das Rauschen des Mühlwehrs nicht aus den Ohren kommen, und ich hörte, wie es mich rief, und die Stimme des Wehrs klang wie seine Stimme und übertönte jeden andern Ton. Ich sage dir, ich war wahnsinnig, Lettice, und von Sinnen vor Leidenschaft.

»Ich stahl mich aus dem Haus und folgte der Stimme, die mich rief, hinab ans Ufer des Flusses, dort kniete ich nieder und betete zu Gott um Barmherzigkeit und Gnade für meine sündige Seele und flehte seinen Segen herab, auf ihn und auf dich! In meinem Wahnsinn dachte ich, wenn ich erst tot wäre, dann werde seine Liebe wieder zu dir zurückkehren, und du werdest glücklich sein und mein schreckliches Geheimnis niemals erfahren.«

Lätitias Augen entströmten heiße Thränen und fielen in großen Tropfen auf ihrer Schwester Haar und Hände, während sie flüsterte: »O, mein armes Kind, mein armes Kind, du hättest Vertrauen zu mir haben sollen!«

»Es sollte nicht so sein,« fuhr das arme Mädchen kläglich schluchzend fort; »Basil hatte meine Absicht erraten und während der Nacht das Haus beobachtet, aus Angst, mein Unglück könne mich zu einem verzweifelten Schritt treiben. Er folgte mir über die Felder, und als ich am Ufer kniete und mich auf den schrecklichen Sprung vorbereitete, trat er zu mir und flehte mich an, zurückzukehren. Verzweifelt rang ich am Ufer mit ihm; die Berührung seiner Hand, der Druck seines Armes, sein heißer Atem an meiner Wange – alles das steigerte den Wahnsinn in mir nur noch mehr, und ich kämpfte mit ihm wie eine Rasende, nicht um das liebe Leben, nein, um den Tod, den süßen Tod! Er wollte mir ihn nicht gönnen und schleifte mich mit Gewalt vom Ufer weg; verzweiflungsvoll suchte ich mich am Gras festzuhalten und riß es aus und suchte mit aller Macht von ihm loszukommen; aber gegen seine Stärke war nicht aufzukommen. Auf der Wiese fiel ich vor ihm auf die Kniee und bat ihn, mich gehen zu lassen, und setzte mich nochmals zur Wehre.«

»Mein armes Kind! Mein armes, irregeleitetes Kind!« flüsterte Lätitia, der die hellen Thränen über die Wangen liefen, und schlang ihre Arme um das weinende junge Mädchen. »Gott sei Dank! O, Gott sei Dank, daß Basil dich gerettet hat!«

»Seine Liebe war es, nicht seine Stärke, die mich bezwang,« fuhr Cynthia fort, und eine heiße Röte überzog ihren Nacken, während sie ihr Antlitz noch immer im Schoße der Schwester barg. »Seine Liebe hat mich gerettet; denn ihr konnten meine verbrecherischen Entschlüsse nicht standhalten. Seine Hingebung und seine Opferwilligkeit rührten mich tief. Er bat mich, um der Liebe willen, die ich für ihn hegte, weiter zu leben, um seinet- und um deinetwillen, Lettice, beschwor er mich, das Leben zu ertragen. Auf den Knieen, angesichts des Himmels, mußte ich ihm schwören, nichts mehr gegen mein Leben zu unternehmen; dann geleitete er mich durch die Felder zurück nach meinem Heim, auf das ich Sünde und Schande hatte bringen wollen. Am Ufer hatte ich meinen Hut verloren, und die Schuhe waren mir während des Ringens von den Füßen gefallen, und so ging ich ohne Schuhe neben ihm durch das feuchte Gras. Auf dem Wege begegneten wir nur einem einzigen Menschen, einem Arbeiter, der an dem Staffelweg an uns vorüberging; aber ich befand mich im Schatten der Hecke, so daß er mich nicht hat sehen können.«

»Und Basil hat dich zurückgebracht?«

»Ja, er hat mich nach Hause gebracht; aber als er fort war, kam der alte Wahnsinn über mich, und ich beschloß, fortzugehen, irgendwohin, wo mich niemand kannte, nur fort von dem Anblick eures Glückes und meines Elendes. Schnell raffte ich einige Sachen zusammen, so viel ich eben tragen konnte, und stahl mich wieder hinaus in die Nacht. Diesmal blieb ich auf der Landstraße, denn ich getraute mich nicht in die Nähe des Stromes; ich war in einen dunklen Mantel gehüllt und hielt mich nirgends auf; so kam ich unbemerkt durch Dörfer und Städte, bis ich am dritten Tag nach meiner Flucht erschöpft auf einem Erntefeld zusammenbrach. Dort wäre ich wohl gestorben, ach und wie gern! wenn mich nicht einige Schnitter in ein Bauernhaus getragen hätten.

Die Frau des Pächters pflegte mich während einer, wie man sagte, durch die Sonnenhitze entstandenen Krankheit, und als sie mich dann fortschicken wollten, bat ich, sie möchten mich als Magd behalten. Es war in der Erntezeit und es gab alle Hände voll zu thun, und deshalb behielten sie mich; aber sie haben mich die ganze Zeit mit Mißtrauen beobachtet, ich konnte ja keine Auskunft über mich geben.«

»Du thörichtes Kind, wie konntest du an unsrer Liebe zweifeln! O, Cynthia, wärst du doch zurückgekommen!« Letitias Arme hielten die ermattete Gestalt umschlungen, und ihre Wange schmiegte sich zärtlich an das glühende Gesicht des jungen Mädchens.

»Ich wagte nicht, zurückzukommen,« flüsterte Cynthia, vor Scham erglühend; »ich dachte, ihr hättet Hochzeit gehabt, und – und, o, Lettice, ich konnte nicht Zeuge eurer Liebe und eures Glückes sein.«

Große Thränen perlten aus Lätitias Augen und fielen auf das Gesicht des jungen Mädchens herab.

»Du hättest mir vertrauen sollen, Cynthia,« sagte sie.

»Ich wäre auch jetzt nicht zurückgekommen,« fuhr Cynthia flüsternd fort, »wenn ich nicht gehört hätte, daß er des Mordes, des Mordes an mir beschuldigt würde. Er, Basil, mein Geliebter, der mein wertloses Leben gerettet hat. O, mein Geliebter, mein Geliebter! Zu denken, daß er um meinetwillen so unschuldig hat leiden müssen! Er, der so edel ist, nichts zu sagen! O, Lettice, ich verabscheue mich selbst. Sobald ich von diesem grausamen Verdacht hörte, habe ich mich aufgemacht. Ich bin Tag und Nacht gewandert so schreckliche Nächte, so mühselige Tage durch den blendenden Schnee, und von der Angst verzehrt, ich könne zu spät hier eintreffen. Ich wußte nur das eine, ich hatte nur den einen Gedanken, daß er von den Menschen verdächtigt wurde. Lätitia, wenn ich jetzt sterbe, so sage Basil, daß ich gestorben sei, um ihn zu retten, daß meine letzten Worte, meine letzten Gedanken ihm gegolten haben.«

Schwer sank das Haupt auf ihren Busen, und bewußtlos brach sie zu den Füßen ihrer Schwester zusammen, deren Lebensglück sie zerstört hatte.

Weit über die schneebedeckten Felder hin verkündeten die Weihnachtsglocken den Menschen die Friedensbotschaft, und während die süßen, traurigen Klänge des Engelsgesanges durch die stille Mitternacht tönten, trugen Lätitia und das kleine Dienstmädchen die wegemüde Wandrerin hinauf in das kleine weiße Dachstübchen, das so lange ihrer geharrt hatte.

Die Rotkehlchen sangen auf der Rosenhecke dankerfüllt ihr Weihnachtslied; denn der Sturm war verstummt und die Sonne schien hell; aber Cynthia sah und hörte nicht, was draußen vorging, sondern lag, vom Fieber geschüttelt, mit schmerzenden Gliedern, in stumpfer Verzweiflung in ihrem Bett an diesem wunderherrlichen Weihnachtstag.

Vergeblich sang das Rotkehlchen, vergeblich pfiff die Amsel in der Ulme und hing der Mistelzweig über der Thür. Ihrer harrten keines Liebhabers Küsse, kein lieblicher Anblick oder Klang erfreute die müden Augen und Ohren, die vor allem zurückschreckten, im dumpfen, hoffnungslosen Gefühl ihrer Wertlosigkeit und Verzweiflung.

Cynthia war nicht die einzige Heimatlose, die an jenem Christfestmorgen zurückgetrieben wurde an die friedlichen Ufer des fröhlich dahinmurmelnden Exe.

Die Flut hatte etwa fünf Meilen unter Topsham, an der Mündung des Exe einen zweiten Leichnam angeschwemmt und auf der Sandbank von Warren zurückgelassen. Diesmal war es aber die Leiche eines Mannes, der offenbar ebenso lange im Wasser gelegen hatte, als jene Frau, die so übereilig mit Cynthia Primrose identifiziert worden war. Die Kleider des Leichnams von ausländischer Machart und sein Unterzeug aus grobem Hausmacherleinen ließen darauf schließen, daß sie einem gewöhnlichen deutschen Handwerker gehörten, welche Annahme sich auch als richtig erwies. Ein deutsches Auswandererschiff war vier Monate früher auf dem Weg nach New York im Kanal untergegangen, und die wilden Winterstürme hatten den ruhigen Schlummer des Mannes und der Frau gestört und sie aus den Tiefen der See emporgerissen und ans Land gespült.

Der Gefangene in Exeter wurde aus der Haft entlassen, aber er kehrte nicht nach Silverton, sondern in seine eigene Gemeinde zurück, wo er mit der traurigen Geduld, womit er auf die Erfüllung seiner Jugendhoffnungen gewartet hatte, des Rufes der Frau gewärtig war, an der er sich so sehr versündigt hatte.

Die Fischer in Topsham hatten mit der ausgeschriebenen Belohnung das Glück in Empfang genommen, das der Wind ihnen in Gestalt der angeschwemmten Leiche zugeweht hatte. Zur Zeit von Cynthias Rückkehr hatten sie ihre hundert Pfund nicht nur schon erhoben, sondern auch schon in einem schlanken Fischerboot angelegt, das mit aufgeblähten Segeln über das Wasser der aufgeregten Exe dahinfliegt; an seinem Vorderteil strahlt im vollen Glanz der frischen Oelfarbe, zur Erinnerung an das denkwürdige Ereignis der Name: »Cynthia von Topsham.«


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