Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel

Wie es einer Braut an ihrem Hochzeitstage geziemt, erhob sich Lätitia Primrose am nächsten Morgen früh von ihrem Lager. Schwere Tautropfen hingen an den Grashalmen, dichte, tiefe Schatten lagerten über den schweigenden Feldern, und bläulicher, dunstiger Nebel stieg aus den Thälern auf und verkündete einen schwülen Sommertag, als sie ihr Fenster öffnete, um der linden Morgenluft Einlaß zu gewähren. Der kleine grüne Garten unten war mit süßen Düften erfüllt und mit unzähligen glitzernden, blitzenden Tautröpfchen übersät, die in Bälde von der durstigen, sengenden Sonne aufgesaugt werden sollten. Aber still war es nicht im Gärtchen.

Schon mit Tagesanbruch hatten die jungen Sperlinge im Nest ihrer Eltern unter der Dachrinne zu zwitschern angefangen; die Waldtauben waren hinausgeflogen in den dunklen Schatten des Buchenwaldes; die Krähen, die ihr lautes Gekrächze schon hatten ertönen lassen, seit im Osten der erste rosige Schimmer das Nahen des Tagesgestirnes verkündet hatte, waren in dringenden Gemeindeangelegenheiten ausgeflogen, und die Drossel, die stets bei der Hand ist, wenn es sich um Herzensangelegenheiten handelt, hatte schon mit Sonnenaufgang auf Lätitias Fensterflügel ihr: »Liebes Kind, hübsches Kind!« ertönen lassen.

Endlich war es der Drossel gelungen, sie aufzuwecken, und sie hatte, die Nachthaube schief auf den Ohren, den Fensterladen zurückgeschlagen und blickte mit noch schlummermüden, schweren Augen heraus. Wohl war es noch sehr früh; aber diesen Morgen gab es viel zu thun, und Cynthia hatte sich am Abend zuvor wegen heftiger Kopfschmerzen so früh zur Ruhe gelegt, daß noch gar manches ungesprochen und ungeschehen war, was besprochen und geschehen sein mußte, ehe die Braut ruhig fortfahren konnte in dem mit Schimmeln bespannten, von dem festlich geschmückten Kutscher aus dem »Engel« gelenkten Wagen, der sie später am Vormittag abholen sollte.

»Cynthia! Cynthia!« rief sie und streckte den Kopf zur Thür hinaus, die sie, da ja auch das Fenster offen stand, aus Angst vor dem Zug alsbald wieder schloß; allein Cynthia war nicht so schnell wach zu bekommen.

»Cynthia! Cynthia!« rief sie wieder, als sie schon halb angekleidet war, und Cynthia auf wiederholtes Rufen keine Antwort gegeben hatte. »Wie fest das Kind schläft!« rief sie aus, aber keineswegs ungeduldig, sondern mit zärtlichem Bedauern wegen der gestörten kindlichen Träume, und mit dem Gedanken an Sennesblätterthee; allein es war ja ihr Hochzeitstag: und seufzend drängte sie diesen Gedanken zurück, es war nicht gerade die Art Nektar, die bei einem solchen Fest kredenzt wird.

Hastig warf Lätitia einen leichten Schlafrock über, ging an Cynthias Thür und öffnete sie.

»Cynthia!«

Das Wort erstarb auf ihren Lippen; denn das Zimmer war leer – ganz leer – und das Bett noch unberührt. Weder auf dem Tisch noch auf der Kommode lag eine Botschaft, nirgendwo eine Spur, daß sie sich eilig angekleidet hätte. Der Hut, der Rock und die weißseidenen Handschuhe, die Cynthia an diesem verhängnisvollen Morgen hatte anziehen sollen, lagen noch auf dem Bette ausgebreitet, wie am Abend zuvor; die aber, die sie hätte tragen sollen, war verschwunden.

Ihr Herz erbebte in ahnungsvoller Angst.

»Hübsches Kind, liebes Kind!« sang die Drossel vor dem Fenster; aber kein hübsches Kind konnte ihr Antwort geben.

Mit weit aufgerissenen, verwunderten Augen kam das kleine Dienstmädchen die Treppe herauf und meldete in entsetztem Flüsterton: »Die Hinterthür steht weit offen und – und Fräulein Cynthia ist fortgegangen!«

»Fortgegangen?«

»Vielleicht, um sich selbst zu verheiraten,« meinte das Mädchen unter verständnisinnigem Schluchzen. »Hübsches Kind!« flötete die Drossel am Fenster.

Während sie ihren eintönigen Kehrreim vernehmen ließ, wurde unten an die Hausthür geklopft, und dann flüsterten rauhe Stimmen in der Vorhalle.

Mit einem dumpfen Schmerzgefühl im Herzen stieg Lätitia die Treppe hinab und erblickte mit ihren feuchten Augen zwei Arbeiter, die unter der offenen Thüre warteten. Sie trugen etwas; aber was, konnte sie, kurzsichtig wie sie war, erst erkennen, als sie dicht bei ihnen stand.

»Bitte um Vergebung, Fräulein,« sagte der vorderste und hielt etwas in die Höhe, bei dessen Anblick ihr Herz in Furcht erstarrte; »aber ich bin so frei und bringe das herüber – ich habe es auf dem Felde am Mühlwehr gefunden.«

Der gefundene Gegenstand, den er dabei in die Höhe hielt, war Cynthias Hut; der Tau der Sommernacht hatte ihn durchweicht, und der leichte, duftige Besatz hing wie ein Lumpen herunter.

»Und wenn Sie gütigst gestatten, Fräulein,« sagte sein Begleiter mit aufrichtigem Widerstreben und zog zögernd etwas unter seinem Kittel hervor. »Das hier lag daneben.«

Er hielt Cynthias Schuhe in der Hand. Die kleinen Atlasschleifen waren schmutzig und naß.

Lätitia Primrose fiel weder in Ohnmacht, noch schrie sie laut auf; aber sie setzte sich auf eine kleine Bank neben der Thüre und drückte ihre Hand aufs Herz. »Ihr habt diese Sachen gefunden?« fragte oder vielmehr keuchte sie.

»Beim Mühlwehr,« antworteten sie beide in einem Atem.

»Beim Mühlwehr?« wiederholte sie ganz betäubt und verwirrt.

»Ja, am Mühlgraben, wo das Wasser zurückgestaut wird und der Fluß am tiefsten ist,« sagte einer der Männer. Er sprach ernst mit zögernder, zurückhaltender Miene und Stimme, als fürchte er, zuviel zu sagen.

»Meine Schwester ist heute morgen sehr früh, ungewöhnlich früh ausgegangen,« sagte Lätitia mit zitternder Stimme, »und – und sie muß die Sachen unterwegs haben fallen lassen, oder –« hier wurde ihr Gesicht blaß und scharf vor plötzlicher Angst, »oder es muß ihr ein Unfall zugestoßen sein. Ich will mit euch gehen und sehen, wo ihr die Sachen gefunden habt.«

Die beiden Leute wechselten einen Blick miteinander; sie waren nur gewöhnliche Arbeiter; aber auf ihren rauhen Gesichtern lag ein solcher Ausdruck von Mitleid, als sie in ihrer schlichten Weise versuchten, sie von diesem Vorsatz abzubringen, daß es der armen Lätitia war, als höre sie die Totenglocken läuten.

»Nein, Fräulein, nein,« sagten beide zumal, »warten Sie nur ein bißchen! Wir wollen gehen und das Feld und das Dickicht, vielleicht auch den Fluß absuchen. Am Ufer hat offenbar eine Balgerei stattgehabt, und da hat sie sich vielleicht irgendwo im Gebüsch versteckt. Wenn Sie aber das Mädel da zum Pfarrer schicken wollten und ihm sagen lassen, er solle einen Polizisten mitbringen, so könnte das nichts schaden.«

Die Männer legten die gefundenen Gegenstände auf die Bank, wo Lätitia saß, und eilten den Gartenweg hinab.

Wohl hörte sie das Pförtchen hinter ihnen ins Schloß fallen, wohl hörte sie die Drossel aus der Ulme schlagen und ihnen ihr »Liebes Kind! Hübsches Kind!« nachrufen; aber sie war viel zu bestürzt, um den Sinn ihrer Worte fassen zu können: sie war sich nur des einen Umstandes bewußt, daß Cynthia fortgegangen war!

»Sie ist ertrunken, ja wohl, das ist sie!« rief das kleine Dienstmädchen, und mit einem gräßlichen Geheul zog sie sich die Schürze über den Kopf und machte ihrem Schmerz in einem Strom kläglicher Ausrufungen Luft.

»O, mein armes Fräulein Cynthy! Mein armes Fräulein Cynthy! O, o, denken zu müssen, daß es so weit mit ihr gekommen ist!« schluchzte die erschrockene Zofe.

»Hole mir meinen Hut, Leah,« befahl Lätitia streng.

Ihr Gesicht war bleich und starr, ihre mageren Hände zitterten trotz aller Anstrengung, die sie machte, ruhig zu bleiben, vor Aufregung, als sie die Bänder des lila Schutzhutes unter dem Kinn zusammenknüpfte.

Mit festem Schritt, aber verwirrt und betäubt, wie jemand, der im Schlaf wandelt, verfolgte sie den zuvor von den Männern eingeschlagenen Weg, der zwischen hohen, grünen Baumhecken entlang führte. Noch trugen die langen Dornzweige, die über den Weg hereinschwankten, blühende Rosen; der Fingerhut nickte mit seinen gefleckten Glocken zwischen den schlanken Wedeln der Farne unter den Hecken hervor, und die linde Morgenluft war von dem fröhlichen Gesange unzähliger Vögel erfüllt und mit den süßen Düften des Sommers geschwängert.

Aber Lätitia Primrose war heute taub und stumm und völlig unempfänglich für den Zauber der Natur; sie dachte nicht mehr daran, daß dies ihr Hochzeitstag war, sie wiederholte sich nur immer wieder mit schwacher Stimme und in kläglichem Tone die Worte: »Cynthia ist fort!«

So früh es auch noch war, als sie auf der Wiese ankam, durch die der Mühlbach floß, so befanden sich doch schon mehrere Leute dort, zum größten Teil Tagelöhner, und ein benachbarter Pächter mit seinen Jungen. Wie sie bemerkte, waren diese Menschen nicht auf einem Punkt vereint, sondern über die ganze Fläche verteilt und beugten sich hier und dort zur Erde hinab, als ob sie im Gras etwas suchten. Zwischen dieser Wiese und der Landstraße lag ein Kleefeld, durch das ein schmaler, zu beiden Seiten von hohen Hecken begrenzter Feldweg führte, an dessen äußerstem Ende sich ein steiler Staffelweg befand.

Der Feldweg setzte sich, immer vom Mühlbach begrenzt, durch eine Wiese fort und führte dann durch ein Lattenthürchen auf ein gepflügtes Feld und durch ein Baumgut an einen Pachthof. Mit zitternden Gliedern, die ihr kaum mehr gehorchen wollten, kletterte Lätitia den Fußsteig hinab, verließ den Feldweg und eilte quer durch das feuchte Gras auf eine Gruppe von Männern zu, die sich, etwa in der Mitte zwischen dem Weg und dem Bach, zur Erde niederbeugten und etwas zu betrachten schienen.

»Gehen Sie vorsichtig, Fräulein, und passen Sie auf, daß sie die Spuren nicht verwischen!« rief ihr einer der Männer entgegen.

Spuren? Was hatten denn Spuren mit Cynthia zu thun?

An der Stelle, die sie so sorgfältig untersuchten, war das Gras niedergetreten und zerstampft; offenbar hatte hier ein Handgemenge stattgefunden, und in einiger Entfernung von da war das Gras so niedergedrückt, daß es aussah, als ob ein schwerer Körper darüber geschleift worden wäre.

Noch lag der Tau darauf, die Spuren waren ganz frisch und deutlich, und offenbar war die Begegnung, welcher Natur sie auch gewesen sein mochte, von ziemlich langer Dauer gewesen.

»Was hat das aber mit meiner Schwester zu thun?« fragte Fräulein Primrose ungeduldig und mit gekränkter Miene. Und sie hatte recht: Was in aller Welt konnten auch diese Spuren eines verzweifelten Kampfes, der auf dem einsamen Feld, in der Stille der Nacht stattgefunden hatte, mit dem Verschwinden der lieblichen Cynthia zu thun haben?

Mit einem Ausdruck verwunderten Mitleids in seinem rauhen Gesicht sah der Mann zu der sonderbaren Gestalt in dem leichten Barchentschlafrock mit dem lila Schutzhut auf.

»Mit Ihrer Erlaubnis, Fräulein, hier habe ich die Schuhe der jungen Dame gefunden,« sagte er.

Der Eindruck des kleinen, mit hohen Hacken versehenen Schuhs war frisch und scharf im Gras zu sehen; der Tau lag noch darauf. Und daneben, so nahe, daß die beiden Fußspuren sich manchmal vermischten, war der tiefe Abdruck eines großen wohlgeformten Männerfußes – die Spur eines schweren, heftig ringenden Mannes.

»Hier?« wiederholte sie kraftlos. »Und ihr Hut?« »Mit Ihrer Erlaubnis, Fräulein, ich habe den Hut am Wasser gefunden,« erwiderte der zweite Arbeiter mit der unwillkürlichen Ehrfurcht im Ton, die ein großes Unglück immer einflößt.

Betäubt und verwirrt folgte sie ihm durch das feuchte Gras bis an den Rand des Mühlbaches. Wie das Wasser im Sonnenschein blitzte, wie die klaren Wellen sich kräuselten! Von dem auf der andern Seite des Flusses gelegenen Felde her waren einige Kühe ans Wasser heruntergekommen, um zu saufen, und zwischen ihr und ihnen rauschte der silberne Fluß wie ein breites, weißes, von schimmerndem, schillerndem Licht übergossenes Band im Morgensonnenschein dahin. Die großen Binsen und Farne, die seine Ufer umkränzten, und zwischen denen Mehlkraut und Vergißmeinnicht in Mengen blühten, leuchteten gelb und braun aus dem hellen Wasserspiegel empor.

Das steilabfallende Flußufer war stellenweise abgebröckelt und lieferte weitere Beweise dafür, daß hier ein Kampf stattgefunden hatte: Spuren wie von den Knieen einer Frau in dem weichen Erdreich, und der deutliche, scharfe Abdruck eines Männerfußes, der an den Fersen tiefer war, als habe der Mann eine Last getragen.

Und dicht am äußersten Ende der Böschung, wo die Wiese steil nach dem tiefliegenden Flußbett abfiel, da zeigte sich der tiefe, starke Eindruck eines Fußes – eines linken Fußes, der seitwärts nach dem steilen Abhange hinneigte.

»Hier war's, Fräulein,« sagte der Arbeiter, »hier habe ich den Hut gefunden.«

»Das ist kein Ort für dich, Lettice,« sagte eine Stimme neben ihr, während sich eine Hand auf ihren Arm legte. Ihre Augen waren so trüb, daß sie das Gesicht ihres Geliebten nicht zu sehen, ihre Ohren so betäubt, daß sie seine Stimme nicht zu erkennen vermochte; aber die Berührung seiner Hand, die war ihr wohlbekannt, und ruhig ließ sie sich von ihm fortführen. Sie schreckte nicht mit instinktivem Abscheu vor ihm zurück, sie erbebte nicht in ahnungsvollem Mißtrauen unter seiner Berührung, sondern demütig, wie ein erschrecktes Kind, schmiegte sie sich an ihn und duldete, daß er sie wegbrachte.

»O Basil,« sagte sie nach einer Weile mit bebender Stimme, die sie selbst mit der größten Willensanstrengung nicht zu festigen vermochte, »o Basil, was hat das zu bedeuten?«

Wohl versagte ihre Stimme, wohl bebte ihr Arm in dem seinen, aber die mutigen Augen, die nun von einer entsetzlichen Angst verdüstert und verschleiert waren, blickten mit der alten Treue, mit dem alten Vertrauen zu ihm auf.

Mit einer eigentümlichen Art von Mitleid blickte er auf das alte Mädchen nieder, das heute sein Weib werden sollte. Wie alt und abgehärmt sah sie aus im Morgensonnenschein! Die Angst hatte die Runzeln um ihre Augen vertieft und die Linien auf ihrer sonnverbrannten Stirn und um ihren zitternden Mund in Furchen verwandelt.

Unter dem Einfluß der tödlichen Angst, die so plötzlich über sie gekommen war, hatte ihr Gesicht eine aschfahle Farbe angenommen, und ihre Sommersprossen traten als schwarzgelbe Flecken auf der farblosen Haut hervor. Ihr dünnes, graues Haar, das erst zur Hälfte geordnet gewesen war, als ihre bräutliche Toilette eine so plötzliche Unterbrechung erlitten hatte, war unter dem Kamm hervorgequollen und hing nun in wirren Strähnen um ihren Hals.

Mit traurigem, mitleidigem Blick sah er auf sie nieder und dachte daran, daß dies sein – und ihr Hochzeitsmorgen war. Noch war das Gelübde nicht ausgetauscht: aber dies Weib, das so lange seiner geharrt hatte, das nur mit schwachen, kraftlosen Fingern seinen Arm umklammerte, war sein durch die heiligsten Bande der Liebe und Zärtlichkeit.

Die armselige, gebrochene Gestalt mit dem schiefgerutschten Schutzhut auf dem Kopf, mit dem im nassen Gras nachschleppenden weißen Barchentschlafrock, das war die Braut, die heimzuführen, er das Weltmeer durchschifft hatte! Dies alles sah Basil Haworth im Morgensonnenschein, aber er sagte sich auch, daß es seine erste Pflicht war, sie zu trösten.

»Was das zu bedeuten hat?« erwiderte er beruhigend. »Nun, es hat zu bedeuten, daß Cynthia einen Morgenspaziergang gemacht hat und höchst wahrscheinlich in diesem Augenblick zu Hause auf uns wartet.«

Er geleitete sie zurück über die taubedeckten Wiesen und über die Landstraße, an der entlang die wilden Rosen an den Hecken blühten, und auf der nun eine Menge Leute von der Stadt her nach dem Schauplatz des Mordes eilten.

Mord? Ja, Mord! Er las es auf allen Lippen, er sah es in jedem Gesicht, er hörte es aus jedem eiligen Fußtritt heraus. Mord! Die Luft war erfüllt davon; das Kalb im Stall, das Schaf in der Hürde, die unter den Dachrinnen nistenden Schwalben, die Krähen, die hoch über den Buchen dahinflogen, alle, alle riefen es laut: »Mord! Mord!«

Schweigend führte er sie durch die Menge, die ihr mit instinktivem Mitgefühl Platz machte, zur Thür ihres Häuschens, wo die Passionsblumen im Winde hin und her schwankten und tauige Thränen weinten, und wo in den krausen Kelchblättern der Rosen, die ihre schweren Blüten im frühen Morgensonnenschein neigten, noch schwere Tropfen des Nachttaus blitzten.

Cynthias Hut und ihre zierlichen Schuhe, leichte Hausschuhe, standen vom Tau durchweicht und von Staub überzogen, noch dort auf der Bank. So betäubt und verwirrt Lätitia durch all das Entsetzliche auch noch war, so wurde sie doch beim Anblick dieser wohlbekannten Gegenstände von einer plötzlichen scharfen Empfindung von Schmerz und Verlust überwältigt. Hätte sich nicht der Arm ihres Bräutigams um sie geschlungen, so wäre sie zu Boden gestürzt.

Mit einer Zärtlichkeit, die heiliger war als Liebe, nahm er dieses arme, schwer heimgesuchte Geschöpf mit seinen schmutzigen, durch Tau und Staub geschleiften Röcken und dem herabhängenden lila Hut auf die Arme, trug es ins Haus und legte es sorgsam auf das Sofa in dem kühlen, dunklen Verandazimmer.

Cynthia war nicht zurückgekommen.

Selbst betäubt von dem entsetzlichen Verdacht, den Cynthias Abwesenheit in ihm erregen mußte, beugte sich Basil mit unsäglicher Zärtlichkeit und Hingebung über die gebrochene Gestalt des Weibes, das so bald seine Gattin werden sollte. Ihr mageres Gesicht war aschfahl, und ihr verblaßtes Haar hing unordentlich um sie herum, wie sie so still und regungslos in dem verdunkelten Zimmer lag, wo schon ihr Hochzeitsmahl gerüstet stand.

Der Tisch war am Abend zuvor gedeckt, und der große Eßtisch in seiner ganzen Länge ausgezogen und mit dem schönsten Damast gedeckt worden. In der Mitte der Tafel stand Lätitias Hochzeitskuchen.

Die Morgensonne fand ihren Weg durch die Jalousieen ins Zimmer und ließ ihre Strahlen spöttisch auf dem altmodischen Silberzeug und dem schön geschliffenen Krystall herumspielen, das einstens aus dem alten Pfarrhaus mit hierher übergesiedelt war. Alle die Sonnenstäubchen aber, die in dem hin und her huschenden Sonnenstrahl golden flimmerten, stellten eine direkte Verbindung mit dem Kuchen selbst her und trugen an einem goldenen, in eine Fensterspalte gesteckten Pfeil Botschaft hinaus zu dem Tempel Hymens, der Lätitias Hochzeitskuchen überragte.

Schaudernd wandte sich der Bräutigam von diesem Anblick ab und riß das Fenster auf, um die frische Morgenluft hereinzulassen.

»Wie sie mich hassen wird!« sagte er zu sich selbst, als er sich, ins Herz getroffen, von Selbstvorwürfen gepeinigt, über das Sofa beugte und beobachtete, wie die Farbe des Lebens langsam auf Lätitias bleiches Antlitz zurückkehrte.

»O, mein Kind, mein Kind!« stöhnte sie, sobald ihre Vernunft und ihr Gedächtnis wiederkehrte, und ihr armes, ausdrucksloses Gesicht zuckte vor Schmerz.

Er konnte ihr keinen Trost geben: er konnte nichts, als schuldig, beschämt, mit nagender Reue daneben stehen.

»Mich ohne ein Wort des Abschieds zu verlassen! O, Cynthia! Sie hätte mir vertrauen müssen, Basil, und sie hätte dir vertrauen sollen, und wir hätten sie gerettet! Mag sie begangen haben, was sie will – wir würden sie gerettet haben.«

Nein, er hatte dem weinenden Weibe keinen Trost zu spenden. Ein ehernes Band legte sich um sein Herz, und elend, gelähmt von entsetzlicher Furcht, wandte er sich ab; er konnte den zärtlich vertrauenden Blick dieser weinenden angstvollen Augen nicht ertragen im Bewußtsein, daß es seine Schuld war, wenn ihr Liebling von einem so harten Geschick heimgesucht worden war.

Hastig verließ er das Brautgemach; denn draußen wurden Stimmen laut, und Männer, unter denen sich auch ein Polizist befand, verlangten seine Anwesenheit an dem schrecklichen Ort, wo Cynthias Hut gefunden worden war.

Was mochte man sonst noch gefunden haben?

Basil Haworth wagte nicht, diese Frage laut werden zu lassen; er folgte den Männern schweigend; aber so betäubt er auch war und so unerträglich die Qual, die sein Herz empfand, so konnte er doch nicht blind sein gegen die mißtrauischen, argwöhnischen Blicke, mit denen ihn diese schlichten Männer der Arbeit betrachteten, deren Verdacht durch die Anwesenheit des Polizisten noch verschärft wurde.

Und mittlerweile lag die bleiche Braut einsam und allein in dem festlichen Gemach, wo die Tafel zu dem so lange verschobenen Hochzeitsmahl gedeckt war.

Der dichte, tief herabhängende Vorhang von Passionsblumen, der die Veranda beschattete, verhüllte ihr mitleidig den Anblick der erregten Menschenmenge, die von der Stadt heraufströmte, und der Schlag der Drossel, die den ganzen Morgen lang ihr »hübsches Kind, liebes Kind« über den Garten hinschmetterte, übertönte das heisere Gemurmel der Stimmen und jenes angstvoll und scheu geflüsterte Wort, das auf allen Lippen war: »Mord«.


 << zurück weiter >>