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Erstes Kapitel

Silverton ist ein altväterisches Landstädtchen, das sich im Westen Englands an die grünen Hügel der Grafschaft Devon schmiegt, durch die sich das seichte Flüßchen mit leisem Gemurmel zwischen saftigen, von tief ins Wasser hinabnickenden Farnen umsäumten Wiesen dahinschlängelt. Die ganze Gegend gleicht einem einzigen fruchtbaren Obstgarten und ist mit frischem Grün und duftigen Blüten förmlich überschüttet.

In alten Zeiten waren die Römer einmal hier durchgezogen und haben eine Straße zurückgelassen, auf der seither gar viele Menschen dahingewandert sind: schlichtes Landvolk, das mit den Hühnern zur Ruhe ging und beim ersten Hahnenschrei wieder auf den Füßen war, und keine andern Spuren zurückgelassen hat, als die alten grauen Kirchhofssteine, die im Lauf der Zeiten eingesunken und samt ihren Inschriften von Moos und Flechten überwuchert worden sind.

Silverton schickt keinen eigenen Abgeordneten ins Parlament und spielt überhaupt gar keine politische Rolle. Es wird in der Grafschaft in jeder Beziehung für unbedeutend gehalten.

Einstens freilich ist es der Mittelpunkt einer reichen, gedeihlichen Gemeinde gewesen; allein sein Reichtum und sein Ruhm sind längst dahin, und nur sein Stolz und seine vornehme Ausschließlichkeit sind geblieben.

Die Londoner Zeitungen gelangen erst nachmittags dorthin, so daß das Städtchen immer um einen halben Tag hinter der übrigen Welt zurück ist. Es besitzt aber in einer Entfernung von etwa fünf Meilen eine Verbindungsbahn, die mit großem Erfolg ihr Möglichstes thut, den Fortschritt der Civilisation aufzuhalten.

In seinen Vorurteilen und Ansichten ist Silverton mindestens ein Menschenalter zurückgeblieben, und seine Gesellschaft infolgedessen äußerst gewählt.

Unter anderm wird auch berichtet, daß einmal ein bedeutender Parlamentarier, ein Ministerpräsident, der die Grafschaft bereiste, in Silverton Halt machte, um einem Freund in der Nachbarschaft einen kurzen Besuch abzustatten. Zu der zu Ehren des großen Mannes gegebenen Gesellschaft wurden auch zwei ältere, in ihren Vermögensverhältnissen heruntergekommene Damen von Adel gebeten, die, ebenso stolz als arm, unter einem höchst bescheidenen Dache lebten.

Die Gefühle dieser Damen wurden durch die Einladung so tief verletzt, daß sie sie entrüstet ablehnten. »Mit diesem Mann zusammenkommen? Sonst nichts mehr? Er verkauft ja Pennyzeitungen auf den Bahnhöfen!« riefen sie.

Die schöne, schattige Pfarrkirche in Silverton, deren Fialen gen Himmel ragen, und deren stattlicher Turm fünf Jahrhunderte lang den Weg nach oben gewiesen hat, ist St. Maria geweiht. Sie besitzt sechs Glocken und eine alte Sonnenuhr, und unter dem Dach grinsen entsetzliche Wasserspeier hervor, während Engel mit etwas unvollkommenen Gesichtern, ausgebreiteten Schwingen und Spruchbändern von allen Gesimsen herniedersehen. Aber ach, ihr Segen reicht nicht weiter als bis zum Kirchenportal.

Drei Worte, deren Bedeutung in der Welt man ja nicht unterschätzen darf, kennzeichnen Silverton aufs beste: arm, stolz und hübsch. In erster Linie ist es kläglich arm, in zweiter zu stolz, um einen Kabinettsminister zu empfangen, dessen Hände durch Handel befleckt sind, und in dritter Linie ist es so hübsch, daß es den verwöhntesten Schönheitssinn befriedigen muß.

Daß Schmutz und Zerfall die hervorragendsten Eigentümlichkeiten seiner malerischen Nebenstraßen sind, thut dieser Thatsache nicht den mindesten Eintrag. Goldene Flechten kriechen über die zerbröckelnden Mauern, blühende Hirschzungen bedecken die sauberen Strohdächer, und purpurroter spanischer Flieder nickt über die übelriechenden Kuhställe und Schweinekoben herab. Silverton ist der Mittelpunkt eines ackerbautreibenden Bezirks, und Hodge nimmt es mit den sanitären Verhältnissen seiner Umgebung nicht allzu genau, solange er hinter seiner Hütte noch ein Fleckchen Erde hat, wo er nach vollbrachtem Tagewerk seine Pfeife rauchen kann. Wenn er Lust hat, kann er von seinen Fenstern aus sehen, wie die grünen Hügel sich nach der See hin abdachen und wie die bläulichen Thäler in weiter, weiter Ferne mit dem Horizont zusammenfließen. Ringsum ist er von Obstgärten, Wiesen und Weidegründen umgeben, und gleich einem silbernen Band schlängelt sich die Ex dazwischen hindurch.

Aber Hodge ist für landschaftliche Reize nicht sehr empfänglich. Die Beobachtung des Herrn – oder vielmehr der Dame – die ihm Miete zahlt und mit ihrer stets wachsenden Familie in einem Häuschen nebenan wohnt, hat für ihn ein ganz andres und viel dauerhafteres Interesse.

Der übelriechendste und malerischste Stadtteil in Silverton, in dem Armut und Schmutz das Scepter führen, erfreut sich des Spitznamens »Little Silver« – wenig Silber.

Der Name ist sehr bezeichnend für dieses Stadtviertel, obgleich allerdings No Silver, »kein Silber«, noch passender gewesen wäre. Silverton ist ein sehr ausgedehntes Kirchspiel; der Pfarrer hat alle Hände voll zu thun, und das Einkommen eines Krösus hätte nicht ausgereicht, um dem Elend Little Silvers thatsächlich zu steuern. So hat denn der Geistliche die Gewohnheit angenommen, in seinem Wagen rasch hindurchzufahren, während die Vikare es jenseits des Flüßchens zu umgehen pflegten, und die allerärmste Dame des Bezirks war die einzige, die es thatsächlich unternahm, die materiellen und geistigen Bedürfnisse dieses Stadtteils, so weit als möglich, zu befriedigen.

Lätitia Primrose, so hieß die besagte Dame, stand schon in mittleren Jahren und war noch immer unverheiratet. Sie war ein weichherziges, kurzsichtiges kleines Frauenzimmer, das nichts einzusetzen hatte als sich selbst – und da war nicht viel daran; aber das, was sie gab, gab sie von Herzen gern. Ob die Sonne brannte, ob der Regen herniederströmte, oder ob Winterstürme tobten, es verging kein Tag im Jahr, an dem Lätitia Primrose nicht über die Hügel wanderte, um nach ihren »lieben Leuten« zu sehen, wie sie sich ausdrückte. Mochte das Wetter sein, wie es wollte, ihr allbekannter schwarzer Hut erschien unfehlbar in den krummen Gassen und Gäßchen von Little Silver.

Bald tauchte er zwischen den roten Dächern, bald auf den grünen Gartenpfaden, bald über einer Umfassungsmauer oder in einer niedrigen Thüröffnung auf; denn in den unregelmäßigen Straßen von Little Silver stand keines der Häuser, zu denen grobe Steinstufen hinaufführten, in gleicher Höhe mit den andern, und oft grenzte der Garten der einen Wohnung ans Dach des Nachbarhauses.

Fräulein Lätitia Primrose lebte in einem kleinen an der Römerstraße gelegenen Häuschen, etwa eine Meile von Silverton entfernt. Dies Häuschen sah aus, als sei es, gleich dem Nest einer Lerche, vom Himmel zwischen die Hügel herabgefallen, und als hätte sich alles, was in Garten und Flur an duftigen Blüten zu finden ist, darum geschart, um es den neugierigen Blicken der Menschen zu entziehen.

Die ganze Vorderseite war von einer förmlichen Schutzmauer aus Myrten und rosenfingerigem Geißblatt überzogen, die Veranda von schmiegsamen, rankenden Schlinggewächsen, den Blüten der Passionsblume und den Purpursternen der roten Waldrebe völlig überwuchert und verhüllt, während das ländliche Portal in eine Laube von roten Rosen verwandelt war, wo der Buchfink und der Hänfling ihre Heimstatt fanden.

Zwischen prächtigen Rosensträuchern und sorgfältig gepflegten Blumenbeeten führte ein schmaler Gartenpfad zu dem Häuschen hin und gewährte den Ausblick auf einen dahinter liegenden grünen Garten voll Gemüsebeeten, Obstbäumen und immergrünen Gebüschen. Am Eingang stand eine große Ulme, und eine duftende Hecke von wilden Rosen schützte all diese Blütenfülle gegen unbefugte, neugierige Blicke.

Fräulein Lätitia Primrose wohnte schon so lange in dem Lerchennest zwischen den Hügeln, daß die einzige Mitbewohnerin, ihre jüngere Schwester, ein hübsches junges Mädchen von zwanzig Jahren, sich gar keines andern Heims erinnern konnte.

Zwischen den beiden Schwestern bestand ein großer Altersunterschied. Cynthia, die jüngere, war die Frucht einer zweiten Ehe, die ihr Vater, der Pfarrer von Newton-Poppleford, in sehr vorgerücktem Alter eingegangen war, um dann die kleine Waise in frühester Kindheit der Pflege und Obhut der älteren Schwester zu hinterlassen.

Als Lätitia Primrose und ihr kleiner Pflegling von der lieben alten Landpfarre, wo sie beide geboren waren, und wo Lätitia ihre glücklichsten, sorglosesten Jugendjahre verlebt hatte, in das »Myrtenhäuschen« umzogen, wurde dessen Stille nur von ganz wenig Besuchern gestört.

Der Pfarrer von Newton-Poppleford hatte für seine Nachkommen nur höchst notdürftig, für das Kind seines Alters aber in Wahrheit überhaupt gar nicht gesorgt, und die Gesellschaft, die engherzige Gesellschaft von Silverton, verübelte es Lätitia sehr, daß sie sich mit der Erziehung dieses Sprößlings einer unebenbürtigen Verbindung belastete, statt ihn der Fürsorge der geringen Verwandten ihrer Mutter zu überlassen.

Allein Lätitia war eigensinnig und gutem Rat nicht zugänglich. Sie brachte das kleine Mädchen in Gesellschaft von spindelfüßigen Tischen, ehrwürdigen Chippendalestühlen, von des Pfarrers alter Bibel und des Kochbuchs von Cynthias Mutter mit sich in ihr neues Heim. Der alte Pfarrer hatte sich nämlich auf seine alten Tage mit seiner Haushälterin verheiratet, einem willfährigen, weichherzigen Geschöpf mit einer Haut wie Milch und Blut und einer Fülle goldener Haare, die wohl den Pfarrer an die Engel des Himmels erinnerten, die ungehobelten Dorfbewohner aber veranlaßten, ihre Besitzerin schlechtweg den »Rotkopf« zu nennen. Kein Wunder also, daß die Gesellschaft von Silverton es Lätitia nie verzieh, das Kind dieser rothaarigen Magd in ihre Mitte gebracht zu haben!

In den Augen des kleinen Landadels, dessen Ahnen alle mit dem Eroberer herübergekommen oder mindestens zu Hause zu seinem Empfang bereit gewesen waren, schien es eine Schmach und eine Schande, daß dies kleine Mädchen, dessen niedrige Abstammung schon in dem auffallenden, über Gesicht und Nacken fallenden roten Haar zu Tage trat, die ständige Gefährtin Lätitias war. Allein dies liebliche, sanfte Geschöpf mit seinem harmlosen Geplapper und seinen Liebkosungen war der Trost und die Freude im Leben des einsamen Mädchens.

Leichten Herzens konnte sie die Gesellschaft Silvertons mit ihrem Klatsch und ihrer engherzigen Ausschließlichkeit aufgeben, denn sie hatte ja ihr Kind, ihren Garten und ihre Armen. Als ihre Nachbarn später dachten, sie sei nun genügend bestraft, und einlenken wollten, wies Lätitia ihr Entgegenkommen artig, aber entschieden zurück und erklärte mit ruhiger Würde, die Pflege und Erziehung ihrer Stiefschwester und die Arbeit in ihrem Armenbezirk nehme ihre Zeit so völlig in Anspruch, daß sie auf den Verkehr mit ihren Nachbarn verzichten müsse.

Das kleine Mädchen aber wuchs heran, in Sonnenschein und Tau, in Regen und Wind, sie blühte auf wie die Maßliebchen im Gras und entfaltete sich zu einem kräftigen, schönen Kind, auf dem der Hauch einer eigenartigen Frische lag, die nicht zu den hervorragendsten Merkmalen der mit dem Eroberer herübergekommenen Familien gehörte.

Den lieben langen Tag trippelte sie im Garten, zwischen den Blumen, hinter Lätitia her und konnte stundenlang ihr Gesicht an die Gitterstäbe des Gartenthors drücken und warten, bis sie ihre Schwester von dem täglichen Gang nach Little Silver über den Hügel zurückkommen sah.

Sie lernte, was Lätitia sie lehrte, und glaubte mit unwandelbarem Vertrauen alles, was Lätitia ihr sagte, die ihr einziger Lehrer war.

Im Lauf der Jahre entwickelte sie sich zu einem lieblichen, weichherzigen, zarten Mädchen, das wohl infolge des vielen Alleinseins etwas schüchtern war, von der plebejischen Mutter mit der weißen Haut und dem auffallenden Haar aber immerhin auch etwas natürliches Feuer und Ungestüm geerbt hatte.

Noch hatte kein Bewerber offen an Fräulein Primroses Thür gepocht oder versucht, über die Rosenhecke hinweg einen Blick Cynthias zu erhaschen. Sie gehörte ja nicht zur »Gesellschaft«, und die in Betracht kommenden Jünglinge wurden von ihren vorsichtigen Angehörigen abgeschreckt; denn in Silverton heiratete man nur nach Geld, oder wollte es wenigstens thun, und Cynthia Primrose hatte keine andre Mitgift, als eine samtweiche, lilienweiße Haut und das auffallendste Haar im ganzen Kirchspiel.

Auch für Lätitia war dies rebellische Haar, das sich durchaus nicht zusammenhalten und bändigen lassen wollte, eine beständige Geduldsprobe; denn es spottete jeder Art von Behandlung und quoll nach wie vor in krausen, leuchtenden Massen hervor und umwob das weiße Gesichtchen mit lichtem Schein. Auch die Farbe war eine wahre Prüfung; die Haare der Mutter waren rot, ausgesprochen rot gewesen, aber bei Cynthia hatte sich die Glut dieser Farbe mit dem nüchternen Kastanienbraun des würdigen Pfarrers gemischt, und das Ergebnis war ein leuchtendes Rotbraun, über das die Dichter in Entzücken geraten wären, das einen Maler aber jedenfalls veranlaßt hätte, eine Menge guter Farben zu vergeuden und seine Palette über und über zu beschmieren, um eine Tinte zu erhalten, die ebenso schwer zu treffen war, als die Farbenpracht des Regenbogens oder als die Gluten eines Sonnenuntergangs. Allein in Silverton gab es weder Dichter noch Maler – abgesehen von dem Mann, der die Aushängeschilde malte – und alle Leute von Geschmack erklärten das unselige Haar einstimmig für äußerst auffallend und anstößig. Am liebsten hätten sie ohne Zweifel gesehen, wenn man es abgeschnitten oder gefärbt oder den Inhalt einer Tintenflasche darüber gegossen hätte, allein Cynthia that nichts dergleichen, sondern steckte es, in einen Knoten geschlungen, unter ihren Sonntagshut, wo es jeden Sonnenstrahl, der in die Kirche drang, anzulocken schien und mehr als je für auffallend erklärt wurde.

Noch immer zeigte sich kein Bewerber für Cynthia, und nie schlug ihr Herz schneller, wenn der Postbote klopfte, obgleich er regelmäßig einmal des Monats Liebesbriefe in das einsame Häuschen brachte – aber diese Briefe waren nicht für Cynthia. Gar manchmal ertönten die Hochzeitsglocken vom Kirchturm und erfüllten das Thal mit ihrem Klang, gar häufig flüsterten Liebespaare im Zwielicht hinter der Rosenhecke oder tauschten ihre Schwüre im milden Schein des Mondes, der an derlei Scenen nachgerade so gewöhnt ist, daß er ihnen gar keine Beachtung mehr schenkt. Aber kein Liebhaber koste mit Cynthia im Mondenschein.

Nein, ihr huldigte kein Ritter ohne Furcht und Tadel; noch war keines Mannes Bild auf den krystallhellen Spiegel ihrer Seele gefallen; noch verträumte sie, von Liebe frei, ihr friedliches Leben im Schatten der duftenden, wilden Rosenhecke; aber sie fing an, des Schattens müde und des eintönigen Lebens überdrüssig zu werden.

Im übrigen könnte man doch nicht mit Recht behaupten, Cynthia habe gar keinen Liebhaber gehabt; allerdings hatte sie keinen ausgesprochenen Bewerber, der kühn an den Rosensträuchern und den kleinen Blumenbeeten vorbei auf die Hausthür zugeschritten wäre und ihr in der hergebrachten Weise, mit dem Hut zwischen den Knieen, an dem Knauf seines Stockes lutschend, in Fräulein Primroses Wohnzimmer sitzend, seine Huldigung dargebracht hätte. Aber sie besaß einen sehr demütigen Verehrer, der manchmal mit der Milch oder der Butter, wohl auch mit einem fetten Huhn von der Meierei drunten im Thal an die Hinterthür kam und Leah, dem kleinen »Mädchen für alles«, einen frischen Blumenstrauß oder ein Körbchen mit Stachelbeeren brachte, nur um das Glück zu genießen, sie von ihrer lieblichen Herrin sprechen zu hören.

Niemand, nicht einmal Leah, hatte eine Ahnung von Dick Holders zärtlichen Gefühlen; ja, Leah bildete sich ein, der schüchterne Bursche verweile um ihrer schönen Augen willen so gern in der Küche.

Schon als kleiner Junge suchte er über die Umfriedigung der väterlichen Felder hinweg einen Schimmer von Cynthia zu erhaschen, wenn sie den Hügel heraufkam; und seit der Zeit, wo er sich noch auf den Sitz hatte stellen müssen, um sie über die hohen Lehnen der Kirchenstühle hinweg erblicken zu können, hatte er sie jeden Sonntag, den Gott gab, in der Kirche beobachtet, wie er es noch immer zu thun pflegte. Des Nachts weilte er gar häufig hinter der Rosenhecke, um ihren Schatten, der sich auf dem Fenstervorhang abzeichnete, zu beobachten und aus der Ferne anzuschwärmen, bis er eines Tages die Entdeckung machte, daß das, was er für Cynthias ambrosische Locken gehalten hatte, nur die weite Krause der Nachthaube des älteren Fräuleins Primrose war.

Nie kam es ihm in den Sinn, ihr seine Liebe zu erklären oder an der Vorderthür anzupochen und seine Werbung vorzubringen; denn er schämte sich seiner selbst, weil er eben war, was und wie er war: ein hübscher, frischer, thörichter junger Landmann. Ja, wäre er der geringste Schulmeister oder Ladenschwengel gewesen, oder hätte er als Commis in einem Büreau auf hohem Schreibstuhl gethront, da wäre es etwas andres gewesen! So aber pflügte er seufzend seines Vaters Felder, pferchte die Schafherden ein und wanderte schweigend hinter keuchenden Ochsen dem väterlichen Hause zu; aber er war ebenso bereit, für Cynthia einzutreten oder für das Weib seiner Liebe irgend eine große, heroische That zu vollbringen, als wäre er Commis an einer Bank oder ein vornehmer Herr gewesen.

Mittlerweile fing Cynthia, die von der Bewunderung ihres demütigen, treuen Verehrers keine Ahnung hatte, an, der Einsamkeit und Armut des Lerchennestes, der ewigen Notbehelfe und kleinlichen Sorgen völlig überdrüssig zu werden; denn die Schwestern konnten nur bei äußerster, peinlichster Sparsamkeit von ihrem kärglichen Einkommen leben. Mit dem bißchen Geld, das kaum für eine reichte, mußten sie zu zweien auskommen, und dabei noch eine Kleinigkeit für die Not ihrer noch ärmeren Nachbarn zu erübrigen suchen. Von dem spärlichen Inhalt ihrer mageren Börse verwendete Lätitia bedeutend weniger auf sich selbst als auf Cynthia, die in ihren hübschen einfachen Gewändern immer so strahlend und frisch aussah wie eine eben erblühte Rose. Cynthia verlangte sehnlichst nach hübschen Kleidern und liebte den Putz so sehr, als irgend ein andres Mädchen; aber sie verstand es, aus ihren einfachen Mousselinfähnchen das Möglichste zu machen, und wenn sie Sonntags in ihrem glatten weißen Kleidchen und mit ihrem wundervollen golddurchschossenen Haar zur Kirche kam überstrahlte sie alle andern.

Lätitia dagegen war sehr anspruchslos in ihrem Anzug: ein graues Wollkleid im Winter, ein graues Leinwandkleid im Sommer und jahraus, jahrein der nämliche schwarze Hut – das war alles! Lätitias Hut war unsterblich; in seiner Jugend war er schwarz gewesen, jetzt aber schillerte er, je nachdem ihn Regen oder Sonnenschein beeinflußte, bald braun, bald grün, bald olivenfarben; allein trotz seiner unbestimmbaren Farbe sah er nie schäbig aus; denn er war der Hut einer wirklichen Dame, daran war nicht zu zweifeln.

Das Geheimnis seiner außerordentlichen Lebensfähigkeit lag in dem Umstand, daß er aus einer echten Spitze gefertigt war und jedes Frühjahr einen gewissen geheimnisvollen Auflösungsprozeß durchmachte, aus dem er, stark nach Salmiak riechend, völlig frisch wieder hervorging, um eine neue Lebensperiode anzutreten – kurz, ein König unter den Hüten.

Für jede Jahreszeit hatte diese Kopfbedeckung ihren eigenen Ausputz; und dieser Blumenschmuck erschien und verschwand mit solcher Regelmäßigkeit, daß Fräulein Primroses schwarzer Hut ihren Nachbarn sehr wohl als Kalender hätte dienen können.

Flieder im Frühling, Rosen im Juni, Chrysanthemum im Herbst, ein Büschel dunkelroter Beeren, wie sie um Weihnachten aus den Stechpalmenbüschen hervorleuchten, im Winter, frischten das verblichene alte Ding wieder ein wenig auf und belebten es, wie die roten Früchte der Stechpalme die traurigen Feldwege, die nach Little Silver hinunterführten. Immerhin ließen sich aber auch im Winter die ausgehungertsten Vögel nicht mehr durch die Beeren auf Lätitias Hut täuschen.

Jetzt war es Sommer, und die Junisonne sandte ihre leuchtendsten Strahlen durch ein offenes Fenster des Myrtenhäuschens auf den kleinen Tisch, an dem Lätitia saß und sich bemühte, einen Rosenzweig auf dem verblichenen schwarzen Hut anzubringen. Auch die Rosen waren verblichen und ihrer ursprünglichen Farbe und Form so völlig beraubt, daß sie aussahen, als hätten sie jahrelang in einem Grabe gelegen und seien nun unversehens wieder ans Tageslicht gebracht worden.

»Du wirst doch hoffentlich dies garstige Ding nicht noch einen Sommer tragen wollen, Lettice?!«

Die Sprecherin war das jüngere Fräulein Primrose, das sich mit einem müden, abgespannten Zug im Gesicht über grobe Kleidungsstücke beugte, die sie für die Armen anfertigte, und kaum ein Gähnen zu unterdrücken vermochte, obgleich die weiche, mit Rosenduft geschwängerte Sommerluft von der Rosenhecke zu ihr herüberwehte.

Als sie so im Sonnenschein nebeneinander saßen, trat der Unterschied zwischen den beiden Schwestern scharf hervor.

Neben der großen, vollen, ebenmäßigen Gestalt Cynthias – sie hatte ihre prächtige Körperbildung von der rothaarigen Magd geerbt – sah Lätitia doppelt schmal und dürftig aus, und die milchweiße Haut der einen Schwester ließ das sommersprossige, jeder Witterung ausgesetzte Gesicht der andern so braun und runzelig erscheinen wie eine Winterbirne. Allein aus den gütigen grauen Augen der älteren Schwester leuchtete ein Schein, der in den schläfrigen blauen Augen Cynthias nicht zu entdecken war, als sie sich über das dürftige Kleidungsstück neigte, das in ihrem Schoße lag.

Die beiden Schwestern saßen in dem bescheidenen kleinen Schlafzimmer, von wo aus man den grünen Garten unten ganz überblickte, und Junirosen blühten vor dem Fenster und lugten herein, während die langen Ranken der Passionsblume, vom leichten Winde leise bewegt, an die Fensterscheiben tippten.

Lätitia Primrose sah von ihrer Arbeit auf, und ein sanftes ruhiges Lächeln verwischte alle Krähenfüße und Runzeln um die Augen und die Schläfe, überhaupt waren es mehr die Augen, als der Mund, die lächelten.

»Ja, gewiß, der Hut thut's ganz gut noch ein Jahr,« erwiderte sie, und betrachtete die armselige, verblichene Kopfbedeckung liebevoll von allen Seiten; »er hält jedenfalls noch, bis Basil zurückkommt!«

»Immer das nämliche Lied,« rief die jüngere Schwester ungeduldig, »bei allem heißt's, bis Basil zurückkommt!«

»Jetzt müssen wir nur noch kurze Zeit warten, kein Jahr mehr, vielleicht nur noch wenige Monate, und dann –,« Lätitia wendete ihr Antlitz der Sonne zu; und über die Rosen, die zum Fenster hereinlugten und über die an die Scheiben pochenden Passionsblumen hinweg schien plötzlich ein ferner, glückverheißender Hafen zu winken. Dies Lächeln ließ ihre verschossenen Augen dunkler erscheinen, und in der plötzlichen Verklärung, die dieser Vorgeschmack des Glückes darüber ausgoß, wurde ihr offenes, abgehärmtes Gesicht wieder zart und schön, wie in der Zeit ihrer Jugend.

»Jawohl,« wiederholte sie, als sie sich wieder prosaisch dem alten schwarzen Hut in ihrem Schoß zuwandte, um ihn mit seinem Sommerschmuck zu versehen, »es dauert nur noch kurze Zeit, und er thut's noch ganz gut, bis Basil zurückkommt.«

Bis er zurückkommt!

Dieser langerwartete Basil war so viele Jahre fort gewesen, daß dieser gar so oft wiederholte Trost etwas wehmütig klang. Er wurde stets mit gedämpfter Stimme in einem von Liebe und lange hingehaltener Erwartung zitternden Tone ausgesprochen. Gleichwohl sollte Basil nun wirklich kommen.

»Er hat sich gewiß so verändert, daß du ihn kaum mehr erkennen wirst, Lettice,« sagte Cynthia, von ihrer Arbeit aufblickend. Ihre Augen waren sehr hübsch, wenn sie die langen, dunklen Wimpern, die sie beschatteten und ihnen einen träumerischen Ausdruck verliehen, aufschlug. »Ganz gewiß ist er alt und braun und vielleicht auch dick geworden! Wer weiß, am Ende hat er einen großen Bart!«

Als sie diese erschreckliche Erscheinung heraufbeschwor, schimmerte eine glühende Röte durch die durchsichtige, zarte Haut und übergoß sie von dem weißen Hals bis zu den Wurzeln des anstößigen Haares.

Wiederum lächelte Lätitia nachdenklich und seufzte leise. Dann sagte sie in ihrer ruhigen, gelassenen Weise: »Ich werde ihn erkennen, mag er sich auch noch so sehr verändert haben; aber,« fuhr sie fort, und hier zitterte ihre Stimme ein wenig, »vielleicht erkennt er mich nicht mehr, denn ich muß in all den langen Jahren doch sehr gealtert haben.«

»Nicht ein bißchen hast du dich verändert, du liebes Herz, du,« rief Cynthia ungestüm, schleuderte ihre Arbeit zur Erde, kniete neben ihrer Schwester nieder, legte ihren Kopf in deren Schoß, was ihre Lieblingsstellung war, und blickte in das abgehärmte, geduldige Gesicht über ihr; »nicht ein bißchen hast du dich verändert, so lange ich mich deiner erinnern kann, höchstens daß du noch hübscher und lieber, und der Liebe des besten Mannes in der Welt noch würdiger geworden bist!«

Es läßt sich unmöglich ermessen, mit wieviel liebenswürdigen Bezeichnungen sie Lätitia noch überschüttet hätte, wäre sie nicht inmitten ihres Ergusses plötzlich in lautes Schluchzen ausgebrochen.

»O, Lettice, Lettice!« rief sie unter einem Strom von Thränen und drückte, sehr zum Nachteil des schwarzen Hutes und seines Sommerschmuckes, ihr auffallendes Haar fest in Lätitias Schoß. »Ich kann dich nicht hergeben! Ich kann dich niemals hergeben! Ich bin so selbstsüchtig und schlecht, daß ich manchmal wünsche, Basil möchte nie zurückkommen! Ich weiß es gewiß, ich werde irgend etwas ganz Schreckliches thun und dich noch im letzten Augenblick zurückhalten, Lettice!«

Lätitia küßte und tröstete ihre thörichte, leidenschaftliche kleine Schwester und strich das widerspenstige Haar zurück, wie schon so unzähligemal, seit dessen Besitzerin sich zum erstenmal an ihre Kniee gelehnt hatte.

»Mein Liebling,« sagte sie sanft, und Thränen des Glücks traten in ihre Augen, als sie weiter sprach, »Basil wird dich auch lieb haben; du sollst uns nie verlassen, Cynthia: unser Haus wird stets deine Heimat sein!«

Lätitia Primroses Liebesgeschichte bestätigte die alte Erfahrung, daß wahre Liebe stets harte Prüfungen zu bestehen hat.

Zu Anfang, in den ersten, kurzen, friedlichen Monaten, da Basil noch als Zögling in dem lieben alten Pfarrhause weilte, in jener ahnungslos glücklichen Zeit, als der hübsche neunzehnjährige Jüngling sich in die damals achtundzwanzig Jahre alte, muntere, hübsche Tochter seines Lehrers verliebte und anfing, ihr den Hof zu machen, da schien alles noch gut und glatt zu gehen.

Es kommt nicht allzu selten vor, daß man sich in der ersten Leidenschaftlichkeit der Jugend über die Verschiedenheit des Alters zeitweilig hinwegsetzt, und Basil Haworth war nicht der erste Jüngling, der, ehe ihm noch der Bart sproßte, glaubte, ein Mädchen von achtundzwanzig Jahren zu lieben, und den Mut fand, ihr dies zu sagen.

Auch Lätitia mit ihrem liebevollen, empfänglichen Herzen verdient Verzeihung dafür, daß sie das Gelöbnis ewiger Treue von dem dummen Jungen annahm. Sie ließ sich nicht allein durch die Leidenschaftlichkeit bestechen, mit der dieser jugendliche Liebhaber seine Werbung verfolgte, sondern sie war auch nicht blind für die Vorzüge seiner hübschen Erscheinung und seines edlen Charakters. Der junge Basil mit seinen scharfgeschnittenen Zügen, mir seinem braunen Kraushaar – sie trug jetzt eine Locke davon in einem silbernen Medaillon an schwarzem Band um den Hals – war mit seinen ehrlichen, furchtlosen braunen Augen gar lieblich anzuschauen.

So verlobte sie sich freudig mit ihm und harrte geduldig, bis er seine Universitätsstudien erledigt hatte. Sobald er seine Examina bestanden hatte und ordiniert worden war, verlangte Basil Haworth, seine Verlobte heimzuführen. Pfarrer Primrose war jedoch von Anfang an gegen die Heirat gewesen, und zwar nicht nur wegen des großen Altersunterschiedes, und weil ihm ein älterer Mann in gesicherter Lebensstellung als Schwiegersohn willkommener gewesen wäre, sondern hauptsächlich, weil er in Lätitia seine kleine Hausfrau, seine Gehilfin bei der Arbeit in Haus und Gemeinde, seinen Vikar, wie er sie zu nennen pflegte, und den Trost und die Freude seines Alters verlor.

Da indessen Lätitia ihre eigene Herrin war, so legte der Pfarrer den Liebenden keine Hindernisse in den Weg; aber als sie angesichts ihrer Vermählung Anstalt machte, Newton-Poppleford zu verlassen, heiratete der ehrwürdige Peregrine Primrose plötzlich sein Dienstmädchen.

Dies war ein Schlag ins Gesicht der Gesellschaft der Grafschaft, und die mit dem Eroberer herübergekommenen Familien brachen den Umgang mit ihm ab; man konnte ihnen doch nicht zumuten, mit einer rothaarigen Stallmagd zu verkehren!

Ihr Abfall verursachte der munteren Frau Primrose indes nicht den mindesten Kummer. Nach wie vor machte sie ihre Butter, fütterte ihr Federvieh, braute ein geheimnisvolles Getränke, »Schlüsselblumenwein« genannt, und stopfte des Pfarrers Socken, nur daß sie jetzt, statt in der Küche, im Zimmer saß, ihre beste schwarzseidene Schürze vorband und nach Ablauf der gebührenden Frist ihrem Gatten ein kleines Mädchen schenkte.

Aber als dies warme, rosige Fleischklümpchen zum erstenmal die Augen aufschlug und verwundert blinzelte, schlossen sich die matten blauen Augen der Mutter für immer dem Licht.

Dies Ereignis trat unmittelbar vor Lätitias Hochzeit ein, als die kleine Aussteuer schon fertig und die Plätze auf dem Schiff bestellt waren, auf dem sie Seine Ehrwürden den Herrn Basil Haworth auf seiner ersten Missionsreise nach Indien begleiten sollte.

Natürlich konnte nun keine Rede von der Hochzeit mehr sein, da unten der hilflose alte Mann in seinem Arbeitszimmer über seinen Predigten weinte und im Zimmer darüber der mutterlose Säugling schrie.

So mußte also Basil Haworth seine weite Reise allein antreten, und Lätitia legte Lavendel zwischen ihre bescheidene Ausstattung, faltete sie, nicht ohne bitteres Herzweh und einige heiße Thränen, zusammen und verwahrte sie zugleich mit der Hoffnung und der Freude ihrer Jugend.

Pfarrer Primrose starb zwei Jahre nach seiner jungen Frau und hinterließ, abgesehen von der Erinnerung an viele gute Werke und seine immer offene Hand, wenig genug. Lätitia packte ihren einfachen Hausrat zusammen, drückte das kleine weinende Kind an ihre Brust und zog mit ihm in das Lerchennest inmitten der grünen Hügel von Silverton.

Während all dieser langen, durch Arbeit gesegneten, durch Liebe verschönten Jahre hatte Lätitia geduldig der Rückkehr ihres Geliebten geharrt. In all dieser Zeit war der monatliche Brief des treuen Bräutigams nicht ein einziges Mal ausgeblieben, und ein jeder dieser Briefe hatte über Lätitias alterndes Antlitz den rosigen Hauch der Jugend gegossen und hatte ihr Herz höher schlagen machen, als wäre sie noch ein junges Mädchen gewesen.

Der Briefträger kannte diese Briefe ganz genau und merkte wohl, daß die magere Hand zitterte, die sie in Empfang nahm. Kein einziges Mal war der Brief nicht zur bestimmten Zeit eingetroffen, und dem Briefträger wäre es auch schwer gefallen, wenn er hätte sagen müssen: »Nein, Fräulein, heute habe ich nichts für Sie!«

Gleichwohl war Basil nicht zurückgekehrt. In gar manchem Jahr hatte er kommen sollen, aber jedesmal hatte das Schicksal, das grausame Schicksal, ihm ein andres Hindernis in den Weg gelegt, das ihn wieder in Indien zurückhielt. Lätitia murrte nicht, sie seufzte nur leise, that ihre Arbeit nach wie vor und harrte.

Aber jetzt wurde er ganz sicher zurückerwartet!


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