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Neuntes Kapitel

Es fand keine Hochzeit statt an diesem Tag.

Die Schimmel wurden wieder in die Stallungen des »Engels« zurückgeführt, und der Kutscher entfernte die Hochzeitsschleife aus seinem Knopfloch. Die Glockenläuter kamen um ihr Tagwerk und um ihre Trinkgelder und trieben sich nun in der Nähe des Mühlbachs und auf den Wiesen und zwischen den Gebüschen an seinen Ufern herum bis Sonnenuntergang, wo sie sich ins Schenkzimmer der »Gekreuzten Schlüssel« zurückzogen, um dort die Tragödie weiter zu besprechen und mit Strömen von Devonshirer Apfelwein hinunterzuspülen. Spekulative Betrachtungen sind eine trockene Beschäftigung, die reichlicher Anfeuchtung dringend bedarf.

Auch der Pfarrer kam um seine Gebühren, aber nicht um seine Arbeit; denn er hatte einen schrecklichen Morgen inmitten einer erregten Volksmenge am Ufer des Mühlbaches zugebracht und das Abfischen des Flusses beaufsichtigt – des ruhigen, schimmernden, lachenden Flusses, der aller Versuche, seine Geheimnisse zu ergründen, spottete. Dann führte er den Vorsitz bei einer feierlichen, bei verschlossenen Thüren abgehaltenen Versammlung im Rathause von Silverton.

Sämtliche Magistratspersonen hatten sich vollzählig versammelt; denn der von tiefstem Geheimnis umgebene Fall erregte ungewöhnliches Interesse. Die Nachforschungen nach den nicht mit dem Tod – denn es war ja keine Leiche gefunden worden – sondern mit dem Verschwinden von Cynthia Primrose in Zusammenhang stehenden Umständen waren so zarter Natur, daß es der zuständigen Behörde wohl geziemte, die nötigen Vorkehrungen mit der denkbar größten Vorsicht und Heimlichkeit zu treffen.

Mit unterdrückter Stimme versicherten sie sich gegenseitig, daß sich die Gerechtigkeit in diesem Falle kein Schnippchen schlagen lassen werde, daß kein übereiltes Verhör stattfinden, daß keine anscheinend wahre Zeugnisaussage die von dem lebhaften Drange, den Schuldigen zu entdecken und zu bestrafen, beseelten Richter irre leiten dürfte.

Um jeden Preis mußte ein großer Skandal vermieden werden; denn in diesem unseligen Fall standen die allerheiligsten Interessen, die Interessen der Kirche auf dem Spiel.

Die von dem Vorsteher der Kirche, dem Pfarrer von Silverton, geleitete Untersuchung wurde denn auch mit solch äußerster Heimlichkeit und Vorsicht geführt, daß das gemeine Volk draußen über die zu erwartende richterliche Entscheidung völlig im Dunkeln tappte.

Basil Haworth wohnte als nächster Verwandter des verschwundenen Mädchens der Versammlung bei, unter der sich verschiedene Persönlichkeiten befanden, mit denen er während seines mehrwöchentlichen Aufenthaltes in Silverton bekannt und befreundet worden war; aber sie alle erwiderten seinen Gruß nur kühl, warfen ihm über den Richtertisch schiefe Blicke zu und betrachteten ihn mit einem so strengen, fragenden Ausdruck auf ihren ehrlichen Gesichtern, als säße er schon auf der Anklagebank vor dem Schwurgericht.

Nacheinander wurden die Zeugen in den verdunkelten Gerichtssaal gerufen; zum Schutz gegen die sengende Julisonne hatte man die Fensterladen geschlossen; aber die Hitze war trotzdem furchtbar und die Luft im Zimmer schwer und erstickend schwül.

Nacheinander gaben die Feldarbeiter, die auf dem Weg zu ihrer Arbeit die dem vermißten Mädchen gehörigen Gegenstände gefunden, die Spuren des Ringens am Ufer des Mühlbaches und die noch vom Tau benetzten Fußstapfen im Gras entdeckt hatten, in ihrer schlichten einfachen Weise ihre Aussagen zu Protokoll.

Sie hatten nicht viel weiter zu erzählen, als daß sie den Hut am Rande des Wassers, die Schuhe ein paar Schritte davon gefunden hatten, und daß die deutlichen Spuren eines Kampfes vorhanden waren. Die Schuhe hatten nicht beisammen, sondern einige Schritte voneinander entfernt gelegen, als wären sie der Besitzerin einer nach dem andern in dem Handgemenge, das offenbar dort stattgefunden hatte, vom Fuß gefallen. Von dieser Stelle aus bis zu dem Punkt, wo sich an der abschüssigsten Stelle des Ufers der Fußtritt eines Mannes fand, waren aus dem feuchten Gras die Eindrücke eines schweren, ans Ufer geschleppten Körpers deutlich zu erkennen.

Abgesehen davon war nichts zu sagen, als daß man die nebeneinander herlaufenden Fußstapfen eines Mannes und einer Frau im Gras der Wiese, auf dem Feldweg, auf dem Fußsteig und im Kleefeld wahrgenommen hatte.

Von da an aber war die Fährte verloren.

Es fand sich ein Zeuge, der seine Wahrnehmungen aussagen wollte – ein Mann von zweifelhaftem Charakter, der seine Aussagen in ungeschickter, verschämter Weise machte.

Er hatte sich, wie er angab, einige Zeit vor Tagesanbruch veranlaßt gesehen, über die Felder zu gehen; es mochte etwa zwei Uhr gewesen sein; aber er war dessen nicht sicher, weil er keine Uhr trug – jedenfalls war es nach Mitternacht gewesen; er wußte nicht gewiß, ob es schon ein Uhr vorüber war, aber es sei möglich. Was hatte ihn denn aber zu solch ungewöhnlicher Zeit an diesen einsamen Ort geführt?

Nun wurde der Mann verschlossen und mißtrauisch.

Das sei überhaupt seine Sache, meinte er.

Vielleicht habe er Netze in den Mühlbach gelegt, vielleicht auch nicht.

Dann gab er zu, daß er dort Forellen gefangen habe. Der Vorsitzende war der Meinung, daß man des Mannes Geschäft beiseite lasse und höre, was er zu sagen habe.

Das war weiter nicht viel, und er erzählte es in verdrießlichem, mißtrauischem Ton, denn welches Recht hatten die Herren, ihre Nase in die Geheimnisse seiner nächtlichen Streifereien zu stecken? Wenn ein Mann des Morgens um zwei Uhr das Bedürfnis fühlte, frische Lust zu schöpfen, so war dies seine Sache. Es war nicht anständig gehandelt, einen Mann, der freiwillig vortrat, um etwas Licht in eine geheimnisvolle Sache zu bringen, eines Vergehens überführen zu wollen, das in den Augen eines Gerichtes, das aus lauter Landeigentümern bestand, gleich nach dem Morde kam.

Also er war über das Kleefeld gegangen, das an die Landstraße grenzte, es mochte zwei Uhr oder auch früher gewesen sein, und hatte Stimmen vernommen, die er, wie er gewiß wußte, noch nicht gehört hatte, als er die Straße verließ. Ganz deutlich konnte er eines Mannes Stimme unterscheiden, die von unterhalb der Böschung heraufdrang: der Mann sprach leise und sehr ernst; die Frau weinte; er wußte ganz gewiß, daß sie geweint hatte, ehe er auf sie zukam. Auf der andern Seite des Fußsteigs sah er zwei Menschen, einen Mann und eine Frau, er konnte sie erst sehen, als er dicht bei ihnen war; denn die Hecke war hoch, und sie standen in deren Schatten, dicht neben dem Staffelweg auf der Wiese, wo die Sachen gefunden worden waren und das Handgemenge stattgefunden hatte.

Das Gesicht der Frau hatte er nicht gesehen, weil sie den Kopf gesenkt und sich von ihm abgewendet hielt; sie rief ihn nicht um Schutz und Hilfe an, sondern stand ganz freiwillig dort an der Seite des Mannes; offenbar wünschte sie nicht, erkannt zu werden, denn sie zog sich noch tiefer in den Schatten der Hecke zurück; ob sie einen Hut auf hatte, vermochte Zeuge nicht zu sagen; aber es war eine große Gestalt in weißem Kleid, und er hätte sie jedenfalls für einen Geist gehalten, wenn sie allein gewesen wäre und nicht geweint hätte.

Weder der Mann noch die Frau waren ihm bekannt; aber aus dem Aeußeren des Mannes, aus seinem Hut und Rock und aus dem Ton seiner Stimme schloß er, daß es ein Geistlicher sei!

Am Tisch der Magistratspersonen entstand große Unruhe bei dieser Aussage, und die Herren blickten starr und streng hinüber nach der Bank, wo Basil Haworth saß, dessen bleiches Antlitz sich unter diesen forschenden Blicken mit glühender Röte überzog.

Würde der Zeuge diesen Pfarrer wohl wieder zu erkennen vermögen? Er war dessen nicht sicher, jedenfalls würde er seine Identität nicht beschwören können, denn die Geistlichen sehen einander alle so gleich. Aber seine Stimme, die würde er sofort wieder erkennen, wenn er sie hörte; denn er, der Zeuge, hatte den beiden Menschen einen »Guten Morgen« gewünscht, als er an ihnen vorbei zum Fluß hinunterstieg, und der Herr hatte ihm für seinen Gruß gedankt und ebenfalls »Guten Morgen« gesagt. Dann war er bei Tagesanbruch auf dem nämlichen Weg zurückgekommen, hatte aber weder den Mann noch die Frau mehr angetroffen und auch sonst nichts Auffallendes bemerkt; auch die Spuren des Ringens waren ihm entgangen, denn es war noch kaum Tag gewesen.

Daraus bestand die ganze Aussage des Mannes, der, wie er deutlich genug bewies, ein recht unglaubwürdiger Zeuge war.

»Wünschen Sie, dem Mann irgend welche weitere Frage vorzulegen, Herr Haworth?« fragte der Vorsitzende.

Basil sah auf und erwiderte von der Ecke aus, wo er betäubt, mit dem Ausdruck stumpfer Ergebung auf seinem bleichen Gesicht, die ganze Zeit über regungslos saß, er danke, er habe dem Zeugen keine weiteren Fragen vorzulegen.

Der Mann trat ab, aber er blickte in auffälliger Weise mit verblüfftem Gesicht auf den Mann, der zuletzt gesprochen hatte.

Wieder entstand eine gewisse Unruhe am Richtertisch, als der Mann abtrat, und ein neuer Zeuge, vom Gerichtsdiener geführt, auf der Zeugenbank Platz nahm.

Es war dies ein junger, verlegener, schafsdumm aussehender junger Mann, der mehreren der anwesenden Magistratspersonen als der Sohn eines wohlhabenden Pächters aus der Nachbarschaft bekannt war.

Nachdem er die üblichen Fragen beantwortet hatte und vereidigt worden war, sagte Joseph Hodge aus, er habe sich etwa um ein Uhr morgens in Miles Hookways Haus befunden und dort Stimmen vernommen, die entweder von dem gepflügten Acker, oder von der dahinterliegenden Wiese am Mühlbach herübergeklungen hätten.

»Weiß gewiß, daß die Stimmen aus der Richtung kamen; schenkte ihnen weiter keine Aufmerksamkeit, dachte, es seien vielleicht Wilddiebe, die Netze gelegt hätten und vom Aufseher überrascht worden wären; dachte weiter nicht darüber nach. Miles' Haus stößt an das gepflügte Feld, an dessen niedersten Teil, wo es nach dem Fluß zu abfällt; vom Haus bis zu der Stelle, wo der Kampf stattgefunden hat, mag es etwa hundert Meter weit sein. Ich konnte alles deutlich hören, weil das hintere Fenster des Hauses offen stand und weil es eine stille Sommernacht war, und der Wind von daher wehte. Sprach mit Hookways Tochter, Hookway selbst lag schon im Bett.« Hier wurde Hodge purpurrot und sehr einsilbig und setzte allen weiteren Fragen eine so trotzige Verstocktheit entgegen, daß die Endziele, der Gerechtigkeit nicht sehr gefördert wurden. Gleichwohl wurde das Verhör fortgesetzt. Der Zeuge erklärte, er stehe nicht hier, um über Mary Hookway zu sprechen, und es sei seine Sache, was ihn um diese nächtliche Zeit in Miles' Haus geführt habe. Hier wurde der Zeuge so störrisch, daß das Gericht vorschlug, Mary Hookway vorzuladen; aber nun beeilte sich Corydon, bald erblassend, bald errötend, der thörichten Phyllis, die ihm nächtlicherweile heimlich ihres Vaters Haus geöffnet hatte, zu Hilfe zu kommen.

»Sie weiß nichts davon,« rief der Jüngling schuldbewußt, »sie hat gar nicht danach hingehorcht. Wir haben leise gesprochen, mag schon sein, um den Vater nicht zu wecken, und sie hat auf nichts andres acht gehabt.« Seiner weiteren Aussage nach hatte er sie vor zwei Uhr verlassen. Als er sich auf den Heimweg machte, hörte er die Stimmen, sah aber niemand auf dem gepflügten Acker. Erst als er durch das Pförtchen ging, bemerkte er auf der Wiese unten etwas Weißes und vernahm die Stimme einer Frau. In einer Entfernung von etwa zwanzig Metern kam er daran vorbei und sah in der Dunkelheit einen weißen Haufen und daneben eine schwarze Gestalt; sprechen hörte er nicht, nur wimmern und weinen, etwas wie Schluchzen. Er fürchtete sich, näher zu gehen, denn es klang so grausig um diese Stunde der Nacht; er meinte, es seien Gespenster, fürchtete sich und rannte in einem Zug nach Hause. Nein, er würde den Mann nicht wiedererkennen, wenn es überhaupt ein Mann war. Die Frau mußte an der Erde gekniet und der Mann neben ihr gestanden haben; es war zu dunkel gewesen, um deutlich zu sehen; aber Schreien oder Hilferufe hatte er nicht gehört.

Der nächste Zeuge war ein Fuhrmann Namens Thomas Giles, der im Dienst eines Pächters in Silverton stand.

Dieser erzählte, nachdem er vereidigt worden war, daß er in der vergangenen Nacht nach elf Uhr mit Wagen und Pferden von einer langen Fahrt über Land zurückgekommen und an einem fremden Wagen vorbeigefahren sei, der, eine halbe Meile von Silverton entfernt, aus der Landstraße gehalten habe.

Seine Pferde waren müde, deshalb fuhr er langsam und sah den Wagen lange, ehe er an ihn herangekommen war; als er von dem Hügel oben zurücksah, hielt der Wagen noch immer dort. Er kannte weder den Wagen noch den Kutscher; ein Mann, der den Kragen seines Ueberziehers hoch heraufgeschlagen hatte, ging neben dem Wagen auf der Landstraße auf und ab, wie wenn er jemand erwartet hätte. Als er an ihm vorbeikam, hatte er dem Fremden Gutenacht gewünscht, aber keine Antwort bekommen. Weit und breit war kein Haus in der Nähe, und er hatte bis nach Silverton hinein sonst keine Menschenseele getroffen. Den Fremden würde er, der Fuhrmann, nicht wiedererkennen, weil er, trotzdem es eine heiße Nacht gewesen war, bis über die Ohren in seinem Ueberzieher steckte.

Nun fragten die Herren vom Gericht, ob die Verwandten der verschwundenen jungen Dame wüßten, daß sie einen Liebhaber in der Nachbarschaft gehabt habe, mit dem sie häufig nächtlicherweile zusammengetroffen sei, es gingen derartige Gerüchte.

Der hochwürdige Basil Haworth beantwortete diese Frage im Namen der einzigen Verwandten des jungen Mädchens dahin gehend, daß alle derartigen Gerüchte, wie er ganz bestimmt wisse, unwahr seien.

Dieser Aussage widersprach ein Junge, der des Nachts Angelruten gelegt hatte und von dem Polizisten vorgeführt wurde. Er hatte eine Unterhaltung zwischen der jungen Dame, die er hinlänglich beschrieb, und Dick Holder, den er sehr gut kannte, mit angehört, und wußte gewiß, daß die beiden häufig nach Dunkelwerden am Fluß zusammengekommen waren. Er war seiner Sache ganz gewiß und hatte auch gesehen, daß Dick sie küßte. Ihr letztes Stelldichein hatten sie in der Nacht vor Dicks Abreise gehabt. Sie hatte ihre Hände auf Dicks Schultern gelegt und ihn geküßt: aber ihre Worte hatte er nicht verstehen können.

Vor Zorn und Ueberraschung ganz rot im Gesicht, sah Basil Haworth auf und rief mit erregter Stimme: »Die Aussage des Zeugen ist falsch! Er hat die Dame verwechselt! Fräulein Primrose hat keinen geheimen Liebhaber.« Das Zeugnis des Jungen wurde durch keinerlei sonstigen Indizien bestärkt, und dieser wurde ernstlich ermahnt, bei Wahrheit zu bleiben.

Die Verwandten Richard Holders sagten aus, Dick sei am Morgen zuvor mit einem Personenzug von Silverton nach Liverpool abgereist, und das Schiff, auf dem er sich nach Amerika eingeschifft habe, sei am nächsten Morgen in See gegangen. Mit dem jungen Fräulein Primrose habe er nie auf vertrautem Fuß gestanden; so anmaßend sei er nicht, dazu habe er seine Stellung im Leben zu genau gekannt.

Offenbar lag also nichts, rein gar nichts vor, was gestattet hätte, das Verschwinden Cynthias mit der Abreise des Pächtersohnes in Zusammenhang zu bringen.

Die völlig unbestätigte Aussage des Jungen erschien unglaubwürdig: denn offenbar hatte er sich in der Person getäuscht; Richard Holders war schon stundenlang in Liverpool gewesen, als Cynthia Primrose ihr Heim verließ.

Die Mehrzahl der Zeugenaussagen schien auf ein Verbrechen hinzudeuten, und je weiter die Untersuchung vorschritt, desto ernster wurden die Gesichter hinter dem Richtertisch. Die Luft im Gerichtszimmer wurde immer heißer und dicker; die Julisonne brannte immer heftiger auf die geschlossenen Fensterläden, und während er mit gesenktem Haupt dasaß und den Zeugenaussagen lauschte, kam es Basil Haworth dumpf zum Bewußtsein, daß die Beweisaufnahme sich gegen ihn wende.

Der letzte beeidigte Zeuge war der Mann, der zuerst Lärm geschlagen hatte; er sagte aus, daß er morgens um fünf Uhr, als er an die Arbeit habe gehen wollen, auf der Wiese zwischen dem Feldweg und dem Flusse etwas habe liegen sehen. Als er näher herangekommen war, hatte er gesehen, daß es ein von Tau durchnäßter Frauenhut war, der offenbar die ganze Nacht dort gelegen hatte. Gleichzeitig hatte er auch die Spuren eines Kampfes auf dem Grase entdeckt und dann im nächstgelegenen Hause Hilfe geholt. Mit Miles Hookway hatte er dann die Fußstapfen und eine im Zickzack gehende Spur, die aussah, als ob ein schwerer Körper dort geschleift worden sei, bis zum Mühlbach hinunter verfolgt; halbwegs fand er einen Schuh, einen kleinen Damenschuh-, der zweite lag dicht am Ufer, und daneben fand sich klar und deutlich der Eindruck eines Männerfußes. Die übrigen Fußspuren, deren es zahlreiche waren, ließen sich nicht so deutlich unterscheiden. Der Damenschuh paßte genau in die Eindrücke auf dem Gras; die Fußstapfen des Mannes waren sehr tief, was darauf hinwies, daß sie von einem schweren Manne herrührten, und er hatte einen ähnlichen Eindruck auf dem tauigen Gras bemerkt, als der Pfarrer Fräulein Primrose weggeführt hatte; er wußte nicht, ob dies ein neuer oder ein alter Eindruck war, aber er hatte die Aufmerksamkeit des Polizisten darauf gelenkt. Den Hut hatte er sofort als den des jüngeren Fräulein Primrose erkannt.

Erst spät an dem schwülen Nachmittag gingen die Erhebungen zu Ende. Die Zeugen waren alle einer nach dem andern herangekommen und hatten ihre Geschichten in der ihnen eigenen rauhen Weise erzählt; dann aber waren sie wieder hinausgegangen und hatten sie der im Julisonnenbrand so begierig auf neue Nachrichten harrenden Menge vor dem Rathaus mit allerlei Ergänzungen und Ausschmückungen wiederholt. Es war dies eine mitleidslose, zornige Menschenmenge, die es als eine Mißachtung empfand, daß sie hier draußen in der glühenden Nachmittagshitze warten mußte, und nun ihrer Ungeduld und Enttäuschung in dumpfem Murren sowohl als auch in lauten Schimpfreden gegen den bleichen Bräutigam Luft machte, als dieser das Rathaus verließ und müde und geistesabwesend durch ihre Mitte schritt.

Bei diesem Stand der Dinge war nichts zu sagen und nichts zu thun, so daß der Vorsitzende zu seinem Essen nach Hause fahren konnte; aber als er unterwegs an dem enttäuschten Bräutigam vorüber fuhr, hielt er nicht an und forderte ihn nicht auf, seinen Kummer und seine Sorgen an dem gastlichen Tisch seines Hauses zu vergessen.

Es ließ sich tatsächlich nichts thun, als die anscheinend aussichtslosen Nachforschungen nach dem verschwundenen Mädchen fortzusetzen. Der Mühlbach wurde weiter oben und weiter unten abermals abgesucht und zwar mit dem nämlichen Ergebnis; nur wenn die Schleppnetze irgendwo hängen blieben, erblaßten die Männer, kreischten die Frauen und verbargen die Kinder – das Flußufer war nämlich von Neugierigen dicht besetzt – ihre Gesichter in den Röcken der Mutter aus Angst, sie würden etwas Entsetzliches zu sehen bekommen. Allein noch leuchtete unter all dem Tang und Seegras, die die Schleppnetze ans Ufer brachten, kein goldenes Frauenhaar im Sonnenschein, noch tauchte kein bleiches, stilles Antlitz zwischen den blauen Vergißmeinnichtchen am Ufer empor.

Vielleicht lag sie auch zwischen den Erlenbüschen verborgen, unter dem überhängenden Grün, den Brombeer- und Haselnußsträuchern, den Farnen und den Weiden, deren Zweige bis auf den klaren Wasserspiegel herniederfielen. Mit unendlicher Arbeit und Geduld wurde auch hier tagelang nachgeforscht, aber immer mit demselben Ergebnis. Jedes Unterholz, jedes Dickicht in der Nachbarschaft wurde mit dem lebhaftesten Eifer und Interesse abgesucht, verworrenes Gestrüpp und grasiges Moos, die geheimsten Verstecke der Dachse und Füchse, die jahrhundertelang unbelästigt geblieben waren, wurden nun plötzlich durch ganze Banden suchender Menschen aufgestöbert, aber kein liebliches Frauenantlitz, keines ermordeten Weibes Gestalt wurde entdeckt zur Belohnung ihrer Mühe.

Es war natürlich eine große Enttäuschung, nach all dieser unermüdlichen Anstrengung nicht durch einen schauerlichen Anblick befriedigt zu werden. Jedermann war während der Nachforschungen jeden Augenblick darauf gefaßt, auf die im Tod erstarrten Glieder der ermordeten Cynthia zu stoßen, ihr bleiches Antlitz mit den weitgeöffneten, gebrochenen blauen Augen und mit dem goldenen, blutbefleckten Haar vor sich zu sehen; aber darauf war niemand gefaßt, auch nach Ablauf einer Woche gar nichts gesehen zu haben.

Cynthia war noch immer verschwunden, und von Tag zu Tag wurde das Geheimnis undurchdringlicher.

Wäre Medea auf ihrem Drachenwagen über die Straßen von Silverton weggeflogen, so hätte sie jedenfalls kein größeres Aufsehen erregen können, als das spurlose Verschwinden Cynthias am Hochzeitstage ihrer Schwester.

Wie verdächtig auch immerhin die in einen undurchdringlichen Schleier von Zweifel und Furcht gehüllten Umstände ihrer Flucht erscheinen mochten, so lag doch kein corpus delicti, kein direkter Beweis vor, daß sie von irgend jemand, ja, daß sie überhaupt ermordet worden war; denn ihre Leiche war noch nicht gefunden, und somit lag auch zu einem Einschreiten des Gesetzes kein Grund vor.

Das Verschwinden eines hübschen jungen Mädchens ist im Westen Englands nichts Unerhörtes; aber für gewöhnlich pflegen die jungen Damen ihre Hüte und Schuhe nicht zurückzulassen.

Welch dunkler Verdacht auch gegen Basil Haworth in der Nachbarschaft gehegt wurde, so war doch noch nichts davon bis zu Lätitia Primroses stumpfen Ohren gedrungen.

Hatte das arme Mädchen denn nicht genug zu leiden durch den Verlust ihrer Schwester und den abermaligen Aufschub der so lange verzögerten Hochzeit? Mußte der letzte bittere Tropfen auch noch in den fast übervollen Kelch fallen?

Die erste Mitteilung der furchtbaren Thatsache, daß die Menschen ihren Bräutigam für den Verführer und Mörder ihrer Schwester hielten, erhielt Lätitia von dem geliebten Manne selbst. In dem Zimmer, wo er Cynthia seine Liebe erklärt hatte, wo die festliche Hochzeitstafel gedeckt gewesen war, da sagte er es ihr in dem trüben Dämmerlicht der Sommernacht. Noch trug er den für ihre Hand gekauften Ring in Seidenpapier gewickelt, vergessen im Westentäschchen über seinem Herzen.

Die festliche Tafel war abgeräumt und Hymens Tempel in einem Speiseschrank unter der Treppe den Augen der Welt entrückt worden, und das einst so traute Zimmer machte in dem Dämmerlicht des schwülen Sommerabends einen kalten, trostlosen Eindruck.

Lätitia war allein; bleich und traurig starrte sie hinaus in den dichtbelaubten, grünen Garten, wo schon der Nachttau zu fallen begann. Als Basil eintrat, sah sie zu ihm auf mit dem eigentümlichen Leuchten, das jedesmal über ihr Antlitz ging, wenn sie ihn nach einer Abwesenheit, mochte sie nun länger oder kürzer gewährt haben, wieder begrüßen durfte.

Als er sich einen Stuhl an ihre Seite zog, atmete er tief auf; von Gewissensbissen und dem Kummer um sie bedrängt, hätte er sie gern geschont; denn im Vergleich zu dem Wehe, das er ihr bereiten mußte, kam die Schande und die Vernichtung, die über ihn hereingebrochen waren, gar nicht in Betracht. Er bebte vor der Berührung ihrer Hand, vor der stummen Frage in ihren freundlichen Augen zurück. Grimmiger Schmerz verzerrte sein bleiches Gesicht, als er sich über die ihm entgegengestreckte magere Hand beugte, ohne sie indes zu ergreifen.

Würde er diese Hand jemals wieder in Liebe berühren, jemals wieder in ihren Augen den Ausdruck unverbrüchlichen Glaubens und Vertrauens lesen dürfen, wenn sie einmal alles wußte?

»Ist sie gefunden? Hat man irgend etwas entdeckt?« fragte sie, zitternd vor Begier, als sie ihn erblassen sah.

»Nein,« sagte er traurig, »sie ist nicht gefunden worden. O, Lätitia, wie soll ich Worte finden, es dir zu sagen, wie wirst du jemals glauben können, daß ich dich einst wirklich geliebt habe, nun ich ein solches Unrecht gegen dich begangen habe.«

Ein heftiges, thränenloses Schluchzen erschütterte seine Gestalt und erstickte seine Worte, und aus seinen Augen sprach ein so grenzenloser Jammer, daß es sie mehr rührte, als alles, was er hätte sagen können.

Sie legte ihre Hand auf seine Schulter; es war die alte, liebe, beruhigende Berührung, die ihn vor zwanzig Jahren mit so unaussprechlicher Liebe erfüllt hatte; jetzt erbebte er nicht mehr unter dieser Berührung; aber sie erweckte unsägliche Gewissensbisse in ihm.

»Ich stehe in dem Verdacht, deine Schwester ermordet zu haben,« sagte er mit heiserer, vor Scham fast erstickter Stimme. »Ich bin zu allerletzt mit ihr gesehen worden. Ich war allein mit ihr am Fluß in – – in der Nacht, wo sie verschwand.«

Er verbarg sein Gesicht in den Händen; er konnte dem Blick voll Entsetzen und Widerwillen nicht standhalten, den diese Augen auf ihn warfen, die seit seiner Jugendzeit nur mit dem unerschütterlichsten Vertrauen zärtlichster Liebe und vollkommenen Glaubens auf ihn gelächelt hatten.

»Du? – Du?« sagte sie; aber dann rief sie, als ob ihr plötzlich ein Licht aufgegangen wäre, mit erleichterter Stimme: »aber dann ist Cynthia ja unversehrt!«

»Ja,« wiederholte er, ohne aufzusehen, »gewiß ist Cynthia unversehrt; aber ich habe dir noch mehr zu sagen, Lätitia, – mehr, als du wirst hören können, ohne mich zu verabscheuen – mehr, als ich dir sagen kann, ohne mich selbst zu verachten!«

Er schwieg und wischte sich stöhnend die dicken Schweißtropfen von der Stirn. Wie konnte er diesem Weib, das ihm so unbedingt vertraute, alles beichten?

»Aber warum es dann sagen?« antwortete sie sofort mit fester, mutiger Stimme, aus der nur Liebe und Zärtlichkeit und kein Schatten eines Vorwurfs klang.

»O Gott,« flüsterte er, »du weißt nicht, welches Unrecht ich gegen dich begangen habe!«

»Und ich wünsche es auch nicht zu wissen,« unterbrach sie den verlegenen Mann. »Ich habe dir so lange vertraut, Basil, und ich werde dir vertrauen bis zu meiner letzten Stunde.«

»Aber dann wirst du es von andern hören,« entgegnete er bitter; »es ist besser, Lätitia, du vernimmst die Wahrheit von mir, als eine verdrehte, erlogene Geschichte von Fremden. Von meinen Lippen sollst du das Geständnis meines Unrechts vernehmen, sollst du erfahren, welche Schande ich über dich gebracht habe, und dann hasse, dann verabscheue mich, wenn du willst!«

In dem matten Dämmerlicht betrachtete er ihr abgehärmtes, bleiches Gesicht, das verblichene Haar und die scharfen Linien um die blassen Lippen, die nicht mehr weich und zärtlich waren; aber er sah auch, wie ein Licht aus diesen Zügen brach, das für einen Augenblick das dunkle Zimmer zu erhellen schien.

»Ich ziehe es vor,« sagte sie sanft, mit einer ernsten Würde, die ihre dürftige Gestalt zu adeln schien und ihr altes Gesicht verklärte, »dir auch ferner zu vertrauen, Basil, wie ich dir immer vertraut habe. Wenn du und Cynthia ein Geheimnis vor mir hattet, so kannst du mir das später einmal mitteilen, wenn Cynthia zurückkommt!« Diese Worte trafen ihn härter, als die erbittertsten Vorwürfe es gethan hätten, und entfesselten einen Sturm von Selbstvorwürfen in ihm. »O Lettice,« flüsterte er mit heißen Thränen in den Augen, »was habe ich gethan, um eines solchen Vertrauens gewürdigt zu werden!«

»Genug, genug!« sagte sie sanft aber fest. »Nichts, was irgend jemand sagen kann, wird mich je überzeugen, daß du oder Cynthia in Wort oder That schuldig seid. Es mag ja manches zu erklären sein; aber das wirst du mir gelegentlich erklären. Nun ich weiß, daß mein Liebling lebt, kann ich warten, und mittlerweile, Basil, vertraue ich dir.«

Sie erhob sich, legte eine Hand auf jede seiner Schultern und küßte ihn auf die Stirn. Es war ein leidenschaftsloser Kuß, aber er war unsagbar liebevoll und berührte seine glühende Stirn wie ein Segen von oben.

Die ganze Fülle und Hingebung von dieses Weibes Liebe hatte er nie kennen gelernt bis zu dem Augenblick, wo er sie durch seine eigenen Thaten verscherzt hatte.


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