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Sechstes Kapitel

Nachdem Cynthia den Antrag des thörichten Bauern abgelehnt hatte, führten sie ihre einsamen Streifereien drei Abende nacheinander an den Fluß.

Richard Holders, oder, wie man ihn in der Nachbarschaft vertraulich nannte, Dick Holders, war der Sohn eines der wohlhabendsten Pächter von Silverton, eines Landmannes von echtem Schrot und Korn, der das im Schweiße seines Angesichts der Erde abgerungene, sauer verdiente Geld nicht für die Bildung seiner Kinder vergeudete. Seine Söhne erzog er für den Pflug, seine Mädchen für die Milchwirtschaft; die Welt jenseits ihrer Kornfelder und ihrer Wiesen war für sie nichts, als der Markt für ihre Hühner und ihre Eier, für ihr Korn und ihr Vieh. Heiter und zufrieden lebten sie ihr einfaches, friedliches Leben, machten dabei Ersparnisse und bezahlten ihren Zehnten auf den Tag, ohne je seine Verminderung nachzusuchen.

Die Holders waren reicher als alle ihre Nachbarn, obgleich sie selbst ihre Felder bestellten und sich damit begnügten, auf einem mit Sand bestreuten, gestampften Lehmboden zu wohnen. Leicht hätten sie die Hälfte der vornehmen Leute in Silverton, die an Markttagen ihre Butter und Eier herunterhandelten, auskaufen können.

Farmer Holders hatte manche Gelegenheit gehabt, den Damen im Myrtenhäuschen Freundlichkeiten zu erweisen; aber obgleich nur einige Felder zwischen ihnen lagen, waren doch stets nur rein äußerliche Höflichkeiten zwischen ihnen ausgetauscht worden. Eine große gesellschaftliche Kluft, mochte es nun eine wirkliche oder eine eingebildete sein, trennte die einfache, freundliche Familie auf dem Bauernhof von ihren vornehmeren Nachbarn. Die Mädchen machten ihre Knixe, wenn sie an den beiden Fräulein Primrose vorübergingen, und die Jungen griffen an ihre rauhen Stirnhaare, und so war Cynthia in dem alten, mehr durch Gewohnheit als durch Nachdenken entstandenen Glauben groß geworden, daß infolge einer geheimnisvollen Anordnung der Vorsehung diese Art Leute sozusagen das irdene Geschirr der Welt, sie und ihresgleichen aber das feine Porzellan vorstellten.

Diese Meinung ist keineswegs neu und wird überall von den wohlmeinendsten Menschen in vollster Harmlosigkeit verbreitet.

Auch Dick Holders lebte in diesem Wahn und war, wie er es in seiner schlichten Weise ausgedrückt hatte, der Meinung, daß Cynthia so hoch über ihm stehe, wie ein Engel im Himmel. Seit seiner frühesten Jugend hatte er sie aus der Ferne verehrt; aber nie war ihm der kühne Gedanke gekommen, sich um sie zu bewerben. So hatte er seine hoffnungslose Leidenschaft genährt, und es mag sein, daß der Gedanke, ihr damit zu entfliehen und in neuen Verhältnissen ein neues Leben zu beginnen, ihn bestimmt hatte, die alte Heimstatt und das engbegrenzte Leben in Silverton aufzugeben und in der neuen Welt sein Glück zu suchen. Gleich dem verlorenen Sohn wollte er »den Teil der Güter, der ihm gehörte« nehmen und einsam und allein ausziehen in ein fernes Land.

Nun hatte er am Vorabend seiner Abreise doch noch gesprochen; aber Cynthia hatte ihn abgewiesen und gedemütigt, und verletzt hatte er seine Narrheit und seine Anmaßung verwünscht. Gehörte er nicht zum gewöhnlichen Irdengeschirr, und sie zum feinsten Porzellan? Die Geschichte des rothaarigen Dienstmädchens war ihm unbekannt, obgleich sie ihm die Geliebte naher gebracht hätte. Nichts konnte die Gottähnlichkeit des Mädchens, das er liebte, beeinträchtigen.

Am dritten Abend ihrer einsamen Wanderungen am Fluß stand Cynthia plötzlich Dick Holders gegenüber. Sie war so in ihre Gedanken vertieft, als sie mit gesenktem Haupt und verschlungenen Händen daherkam, daß sie ihn erst bemerkte, als er dicht vor ihr war.

Er hatte ja seine Abweisung erhalten und wollte stumm an ihr vorübergehen; mit schuldbewußtem Erröten griff er an den Hut, ohne sie anzureden.

Mehr durch Blick als durch Wort hielt sie ihn zurück und streckte ihm ihre Hand entgegen. Dann sagte sie sanft: »Verzeihen Sie mir, Dick! Vergeben Sie mir die Unfreundlichkeit, mit der ich Sie abwies, als Sie – als Sie mir eine Ehre erwiesen, für die ich Ihnen hätte danken sollen. Sie haben mich neulich überrascht, ich wußte nicht, was ich sprach – und – bin mittlerweile andrer Ansicht geworden.«

Dies sagte sie so ruhig und einfach, ohne das mindeste Zögern oder die geringste Verlegenheit, daß er im ersten Augenblick gar nicht die ganze Tragweite ihrer Worte erfaßte.

»O Fräulein Cynthia,« stammelte er, »ist es denn möglich? Lieben – lieben Sie mich wirklich?« War denn die Göttin zum Sterblichen herabgestiegen?

Bei seiner Frage wurde sie dunkelrot und erwiderte mit zitternden Lippen, aber in ruhigem Tone: »Nein, Dick, ich liebe Sie nicht; aber Sie haben davon gesprochen, fortzugehen in eine neue Welt, wo uns niemand kennt, wo niemand sich darüber wundert oder klatscht, und ich möchte mit Ihnen gehen, Dick! Wollen Sie mich mitnehmen?«

Ob er sie mitnehmen wollte!

Dick war ein breitschultriger, hellhaariger Angelsachse, ein Hüne von einem Mann; aber er erbebte am ganzen Leibe bei ihren Worten.

»Ist es Ihnen ernst? Ist es Ihnen wirklich ernst? Machen Sie sich nicht nur über mich lustig, Fräulein Cynthia?«

Verzweifeltes Flehen klang aus seiner Stimme, und er verschlang sie mit seinen Blicken.

»Ja, es ist mir ernst,« antwortete sie; »aber – aber, Dick, wollen Sie mich denn haben, obgleich ich Sie nicht liebe?«

Ueber diesen Zweifel lachte er hell auf.

»Ob ich Sie haben will? O, Cynthia, ach meine Geliebte! Sie fragen, ob ich den Himmel haben will mit all seinen Wonnen? Ob ich haben will, was mir auf Erden das Liebste und –«

»Bst!« unterbrach sie seine heftigen, leidenschaftlichen Worte und hob warnend einen Finger in die Höhe; er aber ergriff ihre Hand und bedeckte sie mit wahnsinnigen, leidenschaftlichen Küssen.

»Meine Geliebte,« sagte er mit vor Leidenschaft erstickter Stimme, »willst du nach und nach lernen, mich zu lieben?«

»Ich werde es versuchen,« erwiderte sie sinnend und blickte mit etwas wie Mitleid in seine erhitzten, aufgeregten Züge, »ich wäre sehr undankbar, wenn ich das nicht thäte.«

Da er nun ein Recht dazu hatte, schloß er sie in seine Arme und küßte sie auf Stirn, Wangen und Lippen. Jede Spur von Farbe wich aus ihrem Gesicht, und von Kopf zu Fuß erschauernd, machte sie sich aus seinen Armen los.

»Ich – ich habe Ihnen die Bedingungen noch nicht gesagt,« brachte sie langsam, mit Anstrengung hervor, »vielleicht scheinen sie Ihnen nicht annehmbar.«

»Mir ist alles annehmbar!« rief er eifrig. »Jetzt bist du mein. Mein! Um keinen Preis der Welt gebe ich dich wieder auf!«

Wieder erbebte sie in seinen Armen, die sich ihrer aufs neue bemächtigt hatten; ihre Kraft war schwach im Vergleich zu der seinen, und sein heißer Atem streifte ihre Wange.

»Warten Sie, warten Sie, bis Sie die Bedingungen kennen, Dick Holders,« sagte sie hastig.

»Nie und nimmer können sie mir zu schwer erscheinen,« flüsterte er, während er sie liebkoste und auf ihren warnenden Blick nur mit einem Lächeln antwortete.

Sie legte ihre Hände auf seine Schultern und sah ihm fest ins Auge; wohl war ihr Antlitz totenbleich; aber ihre Augen blickten ernst und fest und die feinen Nasenflügel bewegten sich heftig.

»Ich kann Sie nicht heiraten,« sagte sie leise, »wie es ein Mädchen Ihres eigenen Standes thun würde.« Bei diesen Worten fuhr er nicht zurück, sondern schloß sie nur noch fester in seine Arme. »Sie müssen mich von hier fortbringen, Dick, und niemand, weder Ihre Familie, noch Ihr bester Freund darf eine Ahnung davon haben. Keinem lebenden Wesen dürfen Sie ein Wort verraten, und – und – wir müssen uns irgendwo, in aller Stille, im Geheimen trauen lassen, und niemand darf es je erfahren, bis ich selbst es sagen will.«

»Und das ist alles?« fragte er mit strahlendem Gesicht.

»Ja,« erwiderte sie nach einer kleinen Weile, »ja, das ist alles.«

Nun lachte er hell auf, ein fröhliches, leichtherziges Lachen, und schloß sie in seine Arme und küßte sie. »Ich bin mit allem einverstanden,« flüsterte er ihr leidenschaftlich ins Ohr, »mit allem und noch mit tausendmal mehr, wenn ich dich mein nennen darf, Geliebte.«

»Aber,« sagte sie errötend, mit bebenden Lippen, »wenn, wenn ich mich nun anders besänne, können Sie mir versprechen, Dick, mich auch dann nicht zu verraten?«

»Jetzt ist es zu spät, Cynthia, jetzt darfst du dich nicht mehr anders besinnen!« sagte er heftig, indem er sie leidenschaftlich küßte, als wolle er sofort Besitz von ihr ergreifen.

»Ja,« flüsterte sie, »jetzt ist's zu spät!«

»Verzeih mir, mein Lieb,« unterbrach er nach einer Weile ein etwas verlegenes Schweigen; »verzeih mir, wenn ich dich etwas frage. Wird deine Schwester darum wissen? Wirst du ihr sagen – –«

Heftig unterbrach sie ihn.

»Habe ich denn nicht eben gesagt, daß es hier am Platze niemand wissen kann, wenn Sie es nicht sagen? Nur unter dieser Bedingung werde ich Sie heiraten, Richard Holders!«

»Aber Liebste,« entgegnete er demütig, »habe ich mich denn nicht bereits mit allem einverstanden erklärt? Ist mir denn nicht dein leisester Wunsch Befehl?«

»Verzeihen Sie mir, Dick,« bat sie leise, »ich weiß ja, daß Sie edelmütig sind, und daß ich Ihnen vertrauen darf, und daß Sie mich, ob ich nun mein Versprechen halte oder nicht, nicht verraten werden. Ich möchte aber, obgleich ich weiß, daß es überflüssig ist, Ihr Wort, Ihr festes Versprechen haben, daß Sie sich, ich sei nun treu oder falsch, mir nie nähern, nie nach mir suchen wollen, daß Sie mich meinen eigenen Weg verfolgen lassen und mich aus eigenem freien Willen zu Ihnen kommen und mit Ihnen gehen lassen.«

»Du verlangst Schweres von mir, Cynthia,« erwiderte er, und sie sah im Mondlicht, wie tief er erblaßte.

Mittlerweile war der Mond aufgegangen, ein weicher, feuchter Nebel kam vom Fluß heraufgezogen, und seufzend rauschte der Abendwind in den Bäumen zu ihren Häuptern.

»Nicht so schwer, daß Sie mir's verweigern könnten, wenn Sie mich lieben, Dick. Nicht so schwer, daß Sie es nicht halten könnten, wenn Sie mir's auf Ihr Wort, auf Ihr Ehrenwort versprochen haben!«

»Gott segne dich, mein Lieb!« sagte er mit heiserer Stimme. »Ja, ich verspreche es dir, bei meiner Ehre!«

Feierlich küßte er sie auf die Stirn, und das Herz des jungen Bauern schlug unter seinem groben Kittel so hoch, als das eines Gentleman, und seine ehrlichen blauen Augen füllten sich plötzlich mit Thränen.

Während der nun folgenden Wochen traf Cynthia ihren Verlobten mehreremal am Flußufer. Es war ein nach Dunkelwerden wenig besuchter Weg, der nur zu einem entlegenen Bauernhof und zu einer Mühle führte, die während der Erntezeit selten in Gang war.

Diese heimlichen Zusammenkünfte fanden im sanften Zwielicht der Sommerabende statt, wenn Lätitia und ihr Geliebter Hand in Hand unter der Veranda saßen und wieder und wieder ihre Zukunftspläne besprachen. Wenn es so dunkel war, daß Lätitia nicht mehr genug sah, um ihre Strümpfe stopfen oder wollene Unterröcke für Little Silver stricken zu können, so legte sie, nicht ohne einen leisen Seufzer des Bedauerns über die Kürze der Tage, ihre Arbeit beiseite und gönnte sich ein Stündchen Ruhe, das sie ihrer Liebe und der beglückenden, ach so beglückenden Betrachtung der nahen, seligen Zukunft widmete. In diesen weihevollen Augenblicken pflegte sich Cynthia fortzustehlen und sich zum Stelldichein mit ihrem geheimen Liebhaber zu begeben, der sie am Ufer des Flusses sehnsüchtig erwartete. Die Zeit der Entscheidung rückte näher; schon war Dick Holders' Platz, oder vielmehr seine Plätze an Bord des Dampfers, der ihn nach Amerika hinüberführen sollte, bestellt, und alle Vorbereitungen zur Reise nach Liverpool waren getroffen. So war der letzte Abend angebrochen, den er in der alten Heimstätte, die so schmuck und friedlich zwischen ihren Scheunen und Obstgärten lag, verbringen sollte, und er hatte sich fortgestohlen aus dem Kreis der lieben, trauten Gesichter, die ihn von Jugend auf geliebt hatten und die nun an der behaglichen Feuerstelle in des alten Bauern Küche saßen und um ihn weinten; er hatte sich fortgestohlen von der Liebe, die er sein ganzes Leben lang stets treu und zuverlässig gefunden hatte, um die letzten köstlichen Augenblicke mit Cynthia zu verbringen.

Das engbegrenzte Leben hier war zu Ende, eine traumhafte, unbekannte aber wunderbare Zukunft lag vor ihm, und der Roman seines Lebens hatte begonnen.

Richard Holders sollte Silverton früh morgens verlassen und mit einem Bummelzug langsam nach Liverpool fahren, um sich dort am Tage darauf einzuschiffen. Das Programm war folgendermaßen festgestellt: Nach Sonnenaufgang, ehe das Melken und die Erntearbeit begann, sollte das Abschiednehmen zu Hause erledigt werden und Dick abreisen. Allein er sollte nicht weit gehen, sondern sich des Abends spät, wie ein Dieb in der Nacht wieder zurückschleichen, Cynthia mit einem aus einer fernen Stadt bestellten Wagen auf der Landstraße erwarten und mit ihr nach der fünf Meilen entfernten Bahnstation fahren, wo sie den Eilzug nach Liverpool nehmen wollten. Die Reise würde mit diesem Zug nicht den dritten Teil der Zeit erfordern wie mit einem Bummelzug, so daß sie noch vier volle Stunden Zeit hätten, um sich trauen zu lassen, ehe sie sich einschifften und der unbekannten Zukunft entgegenfuhren.

Alles war aufs sorgfältigste überlegt und ausgedacht, so daß die Möglichkeit einer Ueberraschung oder des Mißglückens völlig ausgeschlossen war.

»Aber nicht wahr, mein Lieb,« sagte Dick Holders, als er zum letztenmal Abschied von ihr nahm, »nicht wahr, du läßt mich nicht im Stich?« »Und wenn ich's dennoch thäte?« flüsterte Cynthia sanft, und ihre Hand bebte in der seinen. »Was würdest du dann anfangen? Voll Zorn und Empörung wirst du dann fortgehen und mir niemals vergeben; aber du wirst schweigend leiden und nicht versuchen, mich ausfindig zu machen: du hast es mir versprochen, Dick!«

»Ja,« antwortete er zögernd, mit vor Schluchzen erstickter Stimme, »ja, ich habe es versprochen; aber nicht wahr, mein Lieb, du täuschest meine Hoffnungen nicht?«

Sein Flehen und seine Innigkeit rührten sie, und mit einem Lachen, das in der Stille der Nacht geisterhaft hohl erklang, erwiderte sie: »Ich werde dich doch wohl nicht im Stich lassen! Lebe wohl, Dick! Gott segne dich! Möchtest du so glücklich werden, als du es verdienst!«

Wie schon einmal während ihres kurzen Brautstandes legte sie ihre Hände auf seine Schultern, blickte ihm einen Augenblick fest in die Augen, reckte sich in die Höhe und küßte ihn auf die Stirn. Der erste Kuß, den sie ihm gab!


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