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Elftes Kapitel

Die trüben Herbstmonate waren vorüber, die Wälder in der Umgegend von Silverton hatten ihr prächtiges bernsteinfarbenes Gelb und ihr leuchtendes Purpurrot mit dem nüchternen Braun des Winters vertauscht.

Die kurzen Tage wurden immer kürzer, und die Winterwinde fegten heulend über die kahlen Felder und die Küste Westenglands.

Nach einem ganz besonders heftigen Sturm, der die Ufer des Kanals mit Schiffstrümmern übersät hatte, erging endlich auch die lang erwartete Aufforderung an Lätitia.

Mit den Strandgütern und dem Seewurf, die der Sturm in der Nähe der Exemündung ans Land geworfen hatte, war auch die Leiche einer Frau angeschwemmt worden.

Ein Fischer hatte sie in der Nähe des kleinen Hafens von Topsham, an einer Stelle der Exe, entdeckt, wo diese bereits von Ebbe und Flut beeinflußt wird. Spät am Tage, als die Ebbe eintrat, wurde hier ein menschliches Antlitz, mit langwallendem, in Seegras und Schiffstrümmer verschlungenem Haar entdeckt, das von der langsam zurückweichenden Flut in einem Tümpel zwischen den rohen Uferpallisaden zurückgelassen worden war.

Der Körper mußte offenbar schon lange im Wasser liegen, denn die Verwesung war schon sehr fortgeschritten. Es war der Körper einer gutgewachsenen, über fünf Fuß fünf Zoll langen Frau, der auch in vielen andern Einzelheiten der Beschreibung des vermißten Mädchens entsprach. Die Leiche wurde einige Meilen oberhalb von Exeter aufgefischt, an einer Stelle, wo der schimmernde sanft dahinmurmelnde Exe durch seine Nebenflüsse Creedy, Clyst und Culm in einen breiten, schnell dahinschießenden Strom verwandelt wird, dessen Wogen den Schmutz und die Abwasser zahlloser Mühlen, Fabriken und Städte mit sich wälzen.

Von irgend einer der Städte aus mochte der tote Körper von den Fluten bis hierher geführt worden sein; er zeigte die unverkennbaren Spuren eines mehrmonatlichen Aufenthalts im Wasser und war durch all die Hindernisse, die sich ihm auf dem langen Weg zur See entgegengestellt haben mochten, furchtbar zerstoßen und entstellt worden.

Die Leiche entsprach der Beschreibung Cynthias so sehr, daß die Fischer, die sie gelandet hatten, sofort an den Polizeiamtmann in Silverton telegraphiert, ihn von dem Fund benachrichtigt und die ausgeschriebene Belohnung gefordert hatten.

Dieser Herr fuhr in dem grauen Dämmerlicht eines trüben Dezembermorgens mit Lätitia nach dem Orte, wo der Körper angeschwemmt worden war, um die Identität der Leiche mit ihrer verlorenen Schwester festzustellen.

Das kleine, tief gelegene Dorf Topsham entbehrte an dem trüben, fahlen Dezembertage jeglichen Reizes, und Lätitia schauderte vor Kälte, als sie über die allen Winden ausgesetzten, mit Rauhreis bedeckten umnebelten Felder schritt, die zwischen der Bahnstation und dem Platze lagen, wo das tote Weib hingebracht worden war. Noch mehr aber schauderte sie, als sie, während der Polizeiamtmann allein hineingegangen war, halb ohnmächtig vor dem Gebäude stand, worin die Tote lag.

Man hatte die Ertrunkene in ein kleines, nahe bei der Kirche errichtetes steinernes Leichenhaus verbracht, das einen Ausblick aus die See gewährte, von wo alle seine stillen Bewohner kamen.

Mit einem Tuch bedeckt, lag sie auf einer steinernen Bank, diese in der Blüte der Jugend und Kraft gefällte Frau; die Haare, aus denen der Flußschlamm tropfte, um eine eklige Pfütze zu bilden, hingen lose um sie her. Die Luft in diesem Leichenhaus war, trotz der verschwenderisch angewendeten Desinfektionsmittel, und trotzdem das die Tote verhüllende Tuch durch und durch mit Karbol getränkt worden war, geradezu unerträglich.

Der Mann, der hierher gekommen war, um die Persönlichkeit der Leiche festzustellen, schlug das Tuch zurück und betrachtete das Antlitz der Toten. Vergeblich suchte er in dem aufgequollenen, blauangelaufenen, entstellten Gesicht eine Spur der frischen, jungen Schönheit, der lieblichen Züge Cynthia Primroses zu entdecken.

Der Körper war infolge der langen Einwirkung von Wasser und Luft so schwarz und entstellt, war durch das Anstoßen an allerlei Hindernisse auf seinem Weg bis hierher so gequetscht und zerschunden, daß auch die kühnste Einbildungskraft keine Aehnlichkeit mit dem vermißten Mädchen hätte herausfinden können.

Am ganzen Körper zitternd und halb ohnmächtig ließ sich Lätitia von dem Polizeiamtmann hineinführen, an den schrecklichen Ort.

»Eigentlich hat es nicht viel Wert,« sagte er rücksichtsvoll, »daß Sie die Leiche betrachten; denn es handelt sich hier nicht mehr um eine Identität, die Sie oder irgend jemand, der ihr nahestand, feststellen könnte.«

Bei diesen Worten schlug er eine Ecke des Tuches zurück und enthüllte Lätitia das Gesicht der toten Frau. Das arme, aufgedunsene, verfärbte Gesicht war fürchterlich entstellt und zeigte einen Ausdruck unsagbaren Entsetzens, und die weit aufgerissenen, starren Augen schienen auch jetzt noch etwas ganz Schreckliches zu erblicken.

Dies und Cynthia!

Unwillkürlich stieß Lätitia einen schwachen Schrei aus. Sie wäre zu Boden gesunken, wenn der Mann sie nicht eilends umfaßt hätte. »O, dies kann nicht Cynthia sein!« stöhnte sie und brachte ihre Hand zwischen ihre Augen und diesen entsetzlichen, grausigen Anblick.

»Haben Sie auch das Haar gesehen, Fräulein?« fragte der Polizist, der die Leiche zu bewachen hatte.

Mit diesen Worten hielt er eine Strähne ihres Haares in die Höhe, das ein leichter Windhauch wie spöttisch bewegte, während ein matter Wintersonnenstrahl über die goldenen Fäden huschte.

Lätitia erbebte und zog sich mit unsäglichem Widerwillen und Ekel von dem grausigen Anblick zurück. Hätte der Polizeiamtmann sie nicht schnell an die frische Luft hinausgetragen, so wäre sie ohnmächtig geworden.

Später am Tag wurde in dem düsteren Rathaus von Topsham, einem kahlen, frostigen, scheunenartigen, zugigen Gebäude eine Totenschau gehalten.

Das Gelaß war ungeheizt und schlecht beleuchtet, und die Jury, die aus lauter kleinen Ladenbesitzern in der Nachbarschaft bestand, trat verdrießlich ein, als ärgerten sich die Leute, daß man sie von ihren Geschäften und ihrem warmen Ofen weg zu einem so unangenehmen Geschäft geholt hätte.

Während der Beweisaufnahme saß Lätitia mit ernstem, bleichem Antlitz da und blickte beinahe streng nach der Zeugenbank, und ein krankhaftes, grausiges Vorgefühl von über ihr schwebendem Leid kroch ihr kalt über den Rücken.

Man hatte zur sicheren Identifizierung der Leiche einige Zeugen aus Silverton mitgebracht, eine Frau, die Cynthia in ihrer Kindheit verpflegt, und einen Arzt, der sie bei verschiedenen Kinderkrankheiten behandelt und während ihrer ganzen gesunden Jugendzeit sehr genau gekannt hatte.

Als erster Zeuge wurde der Fischer aufgerufen, der den Körper gefunden hatte. Er sagte aus, daß er, mit der Ausbesserung eines Netzes beschäftigt, das er zu diesem Zweck auf einigen Pfosten am Ufer ausgespannt hatte, in einem Wassertümpel das Gesicht einer Leiche und deren loses, lang nachflutendes Haar entdeckt habe.

Dann habe er auch die Aufmerksamkeit seines Gefährten auf die Leiche gelenkt, die sie hierauf mit vereinten Kräften gelandet hätten; es habe eine Menge Schlamm und Tang an dem Körper gehaftet, der schon stark in Verwesung übergegangen gewesen sei.

Nach diesem Fischer wurde Sarah Western vernommen und gab an, daß sie das verschwundene Mädchen von seiner Kindheit an gekannt habe. Die angeschwemmte Leiche habe sie gesehen und sorgfältig untersucht; da sie keine Spur von einem Kleidungsstück an sich trage, könne sie auch an diesen nicht erkannt werden, doch habe sie ungefähr die Größe und das Alter der vermißten jungen Dame und genau dieselben Zähne. Ob die Augen blau seien, könne sie nicht mit Bestimmtheit sagen, aber jedenfalls seien sie hell; das Haar sei durch den langen Aufenthalt im Wasser so sehr entfärbt und verändert, daß es unmöglich sei, seine ursprüngliche Farbe festzustellen, es sei helles Haar, sehe aber jetzt viel mehr grün, als rot oder golden aus. Besondere Merkmale am Körper, durch die das vermißte Mädchen identifiziert werden könnte, wisse sie keine; nur erinnere sie sich, daß bei dem Kind, das sie aufgezogen habe, die Sehne des kleinen Fingers der rechten Hand gekrümmt sei, und der kleine Finger der rechten Hand des aufgefundenen Körpers zeige die nämliche Verkrümmung.

Nun wurde Ambrosius Fischer, der Wundarzt, vereidigt und sagte aus, er habe den Körper sorgfältig untersucht, derselbe gliche nach Größe und Fülle der Gestalt Cynthia Primroses, die er von ihrer frühesten Jugend an gekannt habe; auch das Alter, soweit es sich bei dem Zustande der Leiche überhaupt noch feststellen lasse, würde ebenfalls zutreffen. Der Leichnam habe offenbar mehrere Monate, etwa vier oder fünf, im Wasser gelegen. Die Aufgetriebenheit des Körpers lasse es leicht erklärlich erscheinen, daß die Kleidungsstücke, besonders wenn sie aus dünnen Stoffen gefertigt waren, im Lauf der Zeit zerrissen, geborsten, abgefallen und von den Fluten fortgespült worden seien – er habe schon mehrere derartige Fälle gesehen. An der Leiche habe er keine Spur von Gewaltthätigkeit wahrgenommen, der Tod sei durch Ertrinken erfolgt. Besondere Merkmale an dem jungen Mädchen wisse er keine. Er habe sie als Kind geimpft und zwar, wie er es gewöhnlich that, nach deutscher Sitte, an beiden Armen; der angeschwemmte Körper lasse die Impfnarben an beiden Armen deutlich erkennen.

Damit war die Sache erledigt. Der trübe Dezembertag neigte sich zu Ende; in dem kalten, ungemütlichen Rathaussaal war es so dunkel geworden, daß man die Gesichter der Zeugen kaum noch zu erkennen vermochte. Der kalte Winterwind fuhr stoßweise durch die von der Menge offen gelassene Thür; die Mitglieder der Jury waren hungrig und müde und kalt bis aufs Mark; es war ihnen übel zu Mute, und ungeduldig verlangten sie danach, von diesem widerlichen Anblick fort in ihre behagliche Häuslichkeit zurückzukommen, und sie erklärten deshalb diese ungeheuerliche Untersuchung für beendet.

Sie gaben das Verdikt »Ertrunken« ab und erklärten, die Identität der angeschwemmten Leiche mit Cynthia Primrose sei zu ihrer Befriedigung bewiesen worden.

Lätitia war so betäubt und verwirrt, und ihr Begriffsvermögen so gelähmt vor Entsetzen, daß sie gar nicht fähig war, das unvorhergesehene Ergebnis der Totenschau zu fassen. Sie kehrte willenlos in den Gasthof zurück, wo der Polizeiamtmann sie untergebracht hatte.

Dort angelangt, fühlte sie sich körperlich und geistig so erschüttert und elend, daß der Wundarzt, dessen Aussage die Jury davon überzeugt hatte, die Leiche sei keine andre als die Cynthias, ihr sofort befahl, zu Bett zu gehen.

Nach einer ruhelosen Nacht, während deren ihr Geist von entsetzlichen, durch die Ereignisse des Tages heraufbeschworenen Bildern gemartert wurde, bestand der Arzt rücksichtsvoll darauf, daß sie zu Bett blieb.

An diesem ereignisreichen Tag gab es gar viel zu thun, wozu Lätitia nicht im stande war, und der Silvertoner Arzt hielt es auch nicht für klug, sie bei dem überreizten Zustand ihrer Nerven mit weiteren Einzelheiten – und was für Einzelheiten! – zu behelligen.

Was für die letzte Scene dieser herzbrechenden Tragödie noch zu geschehen hatte, das besorgte er selbst, als Stellvertreter der kranken Dame und als nächster Freund des toten Mädchens.

Die Leiche wurde in den Familienregistern von Topsham ordnungsgemäß als Cynthia Primrose eingetragen, und der Leichenbeschauer traf seine Anordnungen für die Beerdigung.

Was zu thun war, mußte rasch gethan werden. Selbstverständlich war gar nicht die Rede davon, diese ekle, verweste Masse, die aufgehört hatte, etwas Menschliches an sich zu haben, in den grünen Friedhof von Newton-Poppleford zu verbringen und in der Gruft beizusetzen, wo der alte Pfarrer neben seinem jungen Weibe ruhte.

Mit thunlichster Eile und geziemender Feierlichkeit wurde sie in dem düsteren Kirchhof der Gemeinde Topsham, der hoch über der tückischen letzten Strecke des Exe gelegen war, inmitten der feuchten, grasbewachsenen Hügel namenloser Ertrunkener zur Ruhe gebracht.

Die alte Frau, die Cynthia in ihrer Kindheit verpflegt, und der Arzt, der sie so gründlich geimpft hatte, daß die Narben noch nach zwanzig Jahren Zeugnis für sie ablegen konnten, gaben ihr das letzte Geleite.

Außer ihnen befanden sich aber auch noch andre Leidtragende in dem bescheidenen Trauerzug: die Fischer, die den Körper gelandet hatten, standen in ihren Sonntagskleidern barhäuptig in dem eisigen Wind; aber sie waren keine uneigennützigen Zuschauer, wie auch ihre Frauen und Kinder, die fröstelnd zwischen den nassen Grabsteinen des trübseligen Kirchhofs warteten, bis der Geistliche zu Ende war.

Nun blieb nichts mehr zu thun, als nach Silverton zurückzukehren.

Mit einem Gefühl des Ekels schüttelte Lätitia den Staub, oder richtiger gesagt, den Schmutz dieses unsauberen Ortes von ihren Füßen, als sie, auf dem Heimweg begriffen, den zugigen Bahnhof von Topsham verließ. Sie drückte sich in eine Ecke des Wagens und zog das Vorhängchen vors Fenster, denn sie konnte den Anblick des verhängnisvollen Flusses, der diese entsetzliche Bürde in seinem Schoß geborgen hatte, nicht ertragen.

Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, daß er zwischen den Werften und Schiffen hindurch, im Schatten der Kathedrale, auf all diesen vielfach gewundenen Wegen seine gespenstische Last getragen hatte.

Schaudernd sah Lätitia im Geist, wie er sie gegen die Mauern und Pfeiler des Quais geschleudert, bis sie aller menschlichen Gestalt unähnlich geworden war, wie er sie über die rauhen Steine seiner zahllosen Wehre geschleift hatte, wie er mit ihr an Wiesen, Obstgärten und Weiden vorbei, wo das Vieh zur Tränke ans Ufer kam, unter ländlichen Brücken, wo die Dorfkinder nach der Schule spielen, hinweggeeilt war; wie er sie versteckt gehalten hatte in tiefen, grünen, von Bäumen beschatteten Tümpeln, wo schöne Farne mit ihren schlanken Wedeln rauschen, oder an sonnigen Plätzchen, wo gelbe Dotterblumen und blaues Vergißmeinnicht zwischen Schilf und Binsen blühen und das Wasserhuhn sein Nest baut; immer wieder erbebte sie bei dem Gedanken, daß das schillernde Wasser draußen seine ekle Beute an all diesen glücklichen, unschuldigen, unbelebten Dingen vorbeigewälzt habe.

Am dritten Tag ihrer Abwesenheit traf sie spät abends wieder in Silverton ein, und hier wurde sie mit der Nachricht empfangen, Basil Haworth sei des Mordes angeklagt und verhaftet worden. Der Befund der Totenschau hatte die Identität der aufgefundenen Leiche mit dem vermißten jungen Mädchen festgestellt, und die Beweise, daß der hochwürdige Basil Haworth bei dem Verschwinden Cynthias nicht unbeteiligt gewesen war, erschienen den Behörden schwerwiegend genug, um die Annahme, er sei der Mörder Cynthias, zu rechtfertigen.

Die Fischer, die die Leiche gefunden hatten, waren um die ausgeschriebene Belohnung eingekommen, und der Betrag war mit gewohnter Freigebigkeit von der Königin aus ihrer eigenen Tasche bezahlt worden. Jedenfalls freuten sich die Bewohner Topshams darüber, und Lätitias Geliebter saß im Gefängnis von Silverton.

An diesem Abend war es zu spät für Lätitia, noch Zutritt in die Zelle des verdächtigen Mannes zu erlangen. Die Sorge um den eingekerkerten Geliebten ließ sie aber ihre Müdigkeit und Schwäche vergessen und half ihr die starre Stumpfheit und das tödliche Entsetzen abschütteln, von dem sie bei der eklen Untersuchung überwältigt worden war.

Der nächste Tag war ein Sonntag, und ehe es noch recht Tag war, belagerte Lätitia die Thür des Polizeigewahrsams, um Zulaß zu erlangen. Allein es war noch nie dagewesen, daß ohne richterliche Erlaubnis der Zutritt zu einem unter so schwerer Anklage stehenden Gefangenen gestattet worden wäre.

Der Vorsitzende des Gerichts, der würdige Pfarrer von Silverton aber war den ganzen Sonntagmorgen von seinen geistlichen Pflichten in Anspruch genommen und deshalb erst nach der Kirche zu sprechen. Also ging auch Lätitia zur Kirche.

Sie hatte keine Trauer angelegt um das Weib, das zwei Tage zuvor auf dem Kirchhof von Topsham begraben worden war.

Zum Entsetzen der anständigen Bewohner von Silverton, besonders derer, die schon mit dem Eroberer herübergekommen waren, trug Lätitia ein farbiges Kleid, und noch immer nickten die purpurroten Beeren der Wintergarnitur vergnügt auf dem schwarzen Hut. Mit einem traurigen, sinnenden Ausdruck auf ihrem blassen Gesichtchen saß sie während des langen Gottesdienstes da und wartete wehmütig auf den Schluß.

Allein der Pfarrer mußte die günstige Gelegenheit nutzen und hatte keine Eile, seine Predigt zu Ende zu bringen. Es ereignete sich eben nicht allzu oft, daß sich innerhalb der engen Mauern von Silverton ein solches Beispiel des göttlichen Rechtes der Wiedervergeltung fand. Wiedervergeltung – aber keine zögernde und aufgeschobene – nein rasche, strenge, unerbittliche Wiedervergeltung.

Von der Kirche, in der ihr Bräutigam bereits ungehört verurteilt worden war, ging Lätitia geradeswegs nach dem Polizeigebäude, wo er gefangen saß. Nun, da sie gesehen hatte, welche Gerechtigkeit der Mann ihrer Liebe zu gewärtigen hatte, war es ihr so heiliger Ernst, daß der freundliche Polizeiamtmann ihrem eindringlichen Flehen nachgab und ihr die gewünschte Zusammenkunft in Gegenwart eines Polizeibeamten gewährte.

Mit fast gebrochenem Herzen, aber mit der alten, unbezähmten Entschlossenheit auf ihrem bleichen, ruhigen Gesicht, folgte sie dem Beamten durch den langen Steinflur nach den Gefängniszellen auf der andern Seite.

Vor einer mit schweren eisernen Bügeln verwahrten kleinen Thür machte er Halt, und knirschend drehte sich der Schlüssel im Schloß. Lätitia wurde sehr bleich bei diesem Ton und drückte die Hand fest auf ihr liebevolles, weiches Herz.

Basil hier drin!

Der Gefangene saß auf dem einzigen Stuhl der Zelle an einem kleinen Holztisch. Abgesehen von einer harten Pritsche enthielt der Raum keine weiteren Möbel und war trotz des bitterkalten Dezemberwetters ungeheizt.

Mit dem Ueberzieher angethan, in einen Teppich gewickelt, saß Basil Haworth da und las in einem abgegriffenen Buch mit fettigem Einband, das die Obrigkeit zum Trost und zur Erbauung der armen Seelen gestiftet hatte, die auf dem Meer des Lebens Schiffbruch leiden und an diese trübseligen Ufer verschlagen werden.

Als die Thür aufging, blickte er sich um; er erkannte Lätitia und stand von seinem Stuhl auf.

»Du hier?« rief er im Ton der Ueberraschung. Er war so sorgfältig gekleidet wie immer und vollständig gefaßt und unverändert; in seinen ruhigen Zügen war keine Spur von Angst oder Furcht zu entdecken.

»Und warum nicht?« gab sie mutig zurück, »ist mein Platz denn nicht hier?«

Eine tiefe Röte bedeckte sein Gesicht; er seufzte und sah sie mit ernstem Mitleid an, als wäre er viel mehr bekümmert um sie, als um sich selbst.

Wie treu, wie beispiellos treu war diese Frau, und wie wenig war er ihrer würdig!

Immer wieder sagte er sich dies, und jedesmal schlich sich mehr Bitterkeit in diesen Gedanken.

Durch das vergitterte Fensterchen der Zelle fiel ein Strahl der Wintersonne gerade auf ihr bleiches Antlitz, so daß er die traurige Wirkung bemerkte, die die drei letzten angstvollen, verzweifelten Tage und Nächte auf sie ausgeübt hatten. Ihre gesunde rote Gesichtsfarbe war verschwunden, und ein verzweifelter, wenn auch stummer Jammer, der ihm tief ins Herz schnitt, sprach aus ihren Zügen, aber die Augen blickten mutig und fest, und die alte Liebe, das alte Vertrauen leuchteten ihm daraus entgegen.

Die Hand bot er ihr nicht zum Gruß; aber er setzte ihr seinen Stuhl mit der nämlichen Höflichkeit zurecht, als befänden sie sich in ihrem eigenen Zimmer.

Für den Stuhl dankte sie, aber sie trat an seine Seite und blieb neben ihm stehen, während der Beamte unter der offenen Thür stand und wartete.

»Also man hat eine Leiche gefunden,« sagte er ruhig, »und du hast sie identifiziert?« »Ich? O, Basil, wie kannst du so etwas glauben!«

»Irgend jemand hat ihn aber doch identifiziert, sonst wäre ich nicht hier,« entgegnete er bitter, mit etwas wie Verachtung im Ton.

»Ich weiß nicht und verstehe nichts von alledem,« antwortete sie, ihre beiden mageren, zitternden Hände auf seine Schulter legend. »Ich weiß nur das eine, Basil, daß du schuldlos bist, daß ich dir voll vertraue, und daß ich dich liebe, daß ich nie aufgehört habe, dich zu lieben, und daß ich in dem Augenblick, wo du von hier fortgehst, dein Weib werden und all diese grausamen Zungen für immer zum Schweigen bringen werde.«

Den Polizeibeamten an der Thür hatte sie völlig vergessen; sie dachte nur noch an den Geliebten ihrer Jugend, der hier vor ihr stand und dessen Leben bedroht war.

Das alte Antlitz vor ihm erschien Basil verklärt durch das Licht, das es von innen heraus erhielt; die Liebe, die die Zeit bezwingt, hatte es verschönt und alle Runzeln geglättet, Engel altern nie.

Sein energischer Mund zuckte, als er sanft ihre ihn umklammernden Hände löste und sie von sich schob.

»So denkst du jetzt, Lettice,« sagte er ernst, »warte bis morgen, warte bis die Gerichtsverhandlung vorüber ist.«

»O Basil,« flüsterte sie und brach plötzlich in einen Strom von Thränen aus, »wie wenig hast du die Größe meiner Liebe erkannt, wenn du glaubst, das könne irgend einen Einfluß auf mich ausüben. Weil es dir jetzt nützen kann, wenn ich der Welt zeige, daß ich von deiner Unschuld überzeugt bin, daß ich an dich glaube wie an die Engel im Himmel droben, deshalb bin ich gekommen und bitte dich, daß du mich in dieser Prüfung an deiner Seite stehen läßt!«

Die Farbe der entschwundenen Jugend kehrte auf ihre bleichen Wangen zurück, die Anmut früherer Jahre umwob die verfallene Gestalt, und die kurzsichtigen Augen strahlten im Glanz der Liebe, die den Tod bezwingt. Zärtlich schloß er sie in seine Arme, wie er es vor langen, langen Jahren gethan hatte, als das blauäugige Kind sie getrennt hatte; seine Erinnerung trug ihn zurück in diese glücklichen Zeiten, und er sah nur noch die junge, schöne Geliebte seiner Jugend in ihr.

»Nein, geliebtes Weib,« sagte er sanft, mit feuchten, liebevollen Augen, »das darf nicht sein, nicht, solange man mich für schuldig hält.«

»Die Zeit ist abgelaufen,« sagte der Beamte an der Thür und rasselte mit seinen Schlüsseln.

So schnell, und sie hatten sich noch so viel zu sagen!

»Gott behüte dich, Basil,« sagte sie, schlang ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn auf die Wange.

»Gott sei mit dir, Lettice,« flüsterte er mit heiserer Stimme, als er die leichte, magere, kleine Gestalt an sein Herz drückte, »und Gott lohne dir, was du an mir gethan hast, du gütigste, selbstloseste aller Freundinnen, die je einem Mann zur Seite gestanden haben!«

Der Beamte zog sie hinaus, die schwere Thür fiel dröhnend hinter ihr ins Schloß und rief in den dunklen steingepflasterten Gängen des düsteren Polizeigefängnisses von Silverton ein schauriges, gespenstisches Echo wach.


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