Rudolph Stratz
Du Schwert an meiner Linken
Rudolph Stratz

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22

Ein Wirbel von Schneeflocken segelte mit dem Strom von kalter Winterluft durch das halbgeöffnete Fenster in die Stube des Krankenhauses. Der Lärm Berlins drang herein, das Klingeln der Straßenbahn, das Getute der Hupen, das Kratzen und Scharren der Schneeschaufler. Die Gardinen blähten sich in dem frischen Hauch, der die Patientinnen dritter Klasse in ihren Betten – je vier an jeder Längsseite des Raums – nicht treffen konnte und nur den nächtigen Brodem des Zimmers zerstreute. Aber es rührte sich trotzdem in den Lagern und seufzte und gähnte.

»Schwester Maximiliane!«

»Ja!«

»Wieviel Uhr ist's denn?«

»Sieben Uhr!«

»Au fein! . . . Da jiebt's bald Frühstück!«

Die Diakonissin strich lächelnd dem blassen vierzehnjährigen Mädchen mit der Hand über den Scheitel.

»Du kriegst doch nur Milch, Elschen!«

»Aber ik hab' doch so Hunger, Schwester!«

»Wenn man so arg Typhus gehabt hat wie du, muß man brav sein und fasten, bis man wieder ganz gesund ist. Dann bekommst du wunderschönen Apfelkuchen mit Schlagsahne! Paß nur auf!«

»Ach ja!« sagte das Kind hoffnungsvoll und beruhigte sich. Die Probeschwester trat zu dem nächsten Bett und drehte die Patientin sanft an den Schultern auf die Seite.

»Sie sollen nicht immer auf dem Rücken liegen, Frau Dubberke! . . . Der Herr Sanitätsrat will's doch nicht . . . so . . . nicht wahr . . . es geht schon . . .«

»Et muß jehn!« meinte schnaufend die korpulente Frau aus dem Volke. »Ick muß doch bald heim! . . . Wat mein Oller is, der . . . haben Sie ihm auch janz jewiß wieder geschrieben, Schwester?«

»Gestern hat er eine Postkarte bekommen . . . Haben Sie nur Geduld, Frau Dubberke! Sehen Sie: danebenan – da sind wir noch lange nicht so weit . . .«

Maximilianes ernstes, von der Diakonissenhaube beschattetes Antlitz beugte sich forschend über das dritte Bett. In dem lag eine junge Frau regungslos, mit geschlossenen Lidern. Die Pflegerin nahm den Fieberthermometer unter ihrem Arm hervor und schüttelte unzufrieden den Kopf, während sie das 38,6 in die Temperaturkurve einzeichnete.

»Schwester!«

Der Ruf kam aus der anderen Ecke. Schwester hier und Schwester da.

»Schwester – warum hämmern sie denn da draußen so?«

»Sie nageln Girlanden an. Morgen ist doch Kaisers Geburtstag!«

»Darf ich da aufstehen und ein bißchen aus dem Fenster schauen?«

»Das müssen wir den Herrn Doktor fragen! Vielleicht erlaubt er's!«

»Schwester . . . fährt da der Kaiser unten vorbei?«

»Hier nicht!«

Schwester Maximiliane beantwortete alle Fragen mit der gleichen Geduld, während sie und die inzwischen eingetretene Schwester Agathe, auch eine Dame aus altem preußischen Geblüt, das Zimmer fegten, die Kranken wuschen und kämmten und die Betten machten. Man durfte keine Zeit verlieren. Bis zu dem Rundgang des dirigierenden Arztes der inneren Abteilung mußte alles in Ordnung sein. Indes die ältere Diakonissin die Patientinnen mit dem Frühstück versorgte, kniete Maximiliane vor dem Ofen und fachte das Feuer an. Sie schaute aufmerksam in die knisternden Flammen. Die Glut warf einen hellen Schein über ihr schlicht gescheiteltes hellblondes Haar. Die Oberschwester, bejahrt, rundlich, mit gutmütigem Matronengesicht, schaute, das große Kreuz vom an der Brust, eine entleerte Morphiumspritze in der Hand, herein und suchte nach einer Unordnung. Die mußte sie haben. Des Grundsatzes wegen. Etwas fand sie immer! Da: Auf dem Teller in der Ecke lag weiß Gott eine herrenlose halbe Semmel!

»Schwester Maximiliane . . . ich versteh' Sie wirklich nicht! . . . Sie sind schon über ein halbes Jahr Probeschwester. Sie könnten doch nun nachgerade wissen, wie Typhusrekonvaleszenten sind! . . . Die schlingen doch Nägel hinunter und beißen Türklinken ab, wenn man den Rücken dreht! Nu lassen Sie 'mal das Elschen da hinten über die Schrippe kommen! Da haben wir morgen die Bescherung!«

»Ja. Es war sehr unvorsichtig!«

»Sie kann ja gar nichts dafür!« rief Schwester Agathe vom Fenster. »Ich hatte das Frühstück unter mir!«

Die Oberschwester machte erstaunte Augen.

»Ja, warum sagen Sie denn das nicht selbst?«

»Ach – es ist ja ganz gleich!« versetzte Maximiliane gelassen, schloß die Ofentüre und stand elastisch auf. Zugleich warnte die andere: »Pst! Der Sanitätsrat!«

Der dirigierende Arzt trat ein, von dem Stab seiner Assistenten gefolgt. Er untersuchte die acht Kranken und war zufrieden.

»Das Typhuszimmer gefällt mir!« sagte er, schon wieder auf der Schwelle. »Da ist Leben drin. Nur immer so weiter!«

Sein Blick glitt dabei von den anderen Diakonissen ermutigend zu Maximiliane hinüber, anders als sonst. Er respektierte unwillkürlich die frühere große Dame, die den Schritt von der Exzellenz zur Schwester getan. Sie wurde vor Freude bei seinem Lob ein wenig rot.

»Es wäre zu schön, wenn wir sie alle durchbrächten!« sagte sie in der Türe lebhaft und so leise, daß man sie drinnen nicht hörte. »Das ist jetzt mein ganzer Ehrgeiz!«

Sie hatte den Vormittag über in dem Krankenzimmer zu tun. Erst gegen Mittag verließ sie es und ging über den Flur, auf dem Genesende in ihren blau und weiß gestreiften Kitteln müßig umherschlurften. Sie hatte unten zur ebenen Erde eine Bestellung durch das Telephon auszurichten. Auf dem halben Wege dahin begegnete sie dem Anstaltsgeistlichen. Ein Siebziger, gebückt, mit weißen Haaren, blieb er stehen und reichte ihr freundlich die Hand. Er war durch seine Heirat mit einer pommerischen Adeligen zu vielen preußischen Familien in Verschwägerung getreten. Seine beiden Söhne waren Offiziere und hatten Offizierstöchter zu Frauen. Er lächelte und frug: »Nun, Schwester Maximiliane – wie geht's?«

»Danke, Herr Pastor! Ganz gut!«

»Sind Sie zufrieden?«

»Wenn man mit mir zufrieden ist, bin ich es auch!«

»Sie bereuen Ihren Entschluß wirklich noch nicht?«

»Warum sollt' ich denn? Ich hab' hier meine Ruhe, und ich mache mich nützlich! . . . Ich will nicht mehr . . .«

»Jedenfalls halten Sie sich immer vor Augen: Sie sind noch ganz frei. Sie haben sich noch zu nichts verpflichtet! Sie können gehen, wann Sie wollen!«

Die schöne junge Frau lachte ein wenig.

»Wollen Sie mich wirklich hier mit Gewalt wieder an die Luft setzen, Herr Pastor? . . . Was hab' ich denn angestellt, um das zu verdienen?«

Der alte Mann schüttelte den Kopf.

»Ich für mein Teil freu' mich ja nur, wenn Sie hier wirklich Ihren Frieden finden! Aber heute hab' ich wieder einen Brief von Ihrer Frau Mutter aus Darmstadt! Sie ist nach wie vor verzweifelt über Ihren Entschluß . . .«

»Ja, da kann ich Mama nicht helfen!«

». . . und hofft immer noch, Sie würden sich besinnen.«

»Ich hab's mir vorher überlegt, Herr Pastor! Schreiben Sie das nur Mama . . .«

Beide schwiegen eine Sekunde. Dann meinte der Geistliche herzlich: »Sie sollten einmal des Nachmittags ein Stündchen bei uns vorsprechen! Meine Frau würde sich auch so freuen!«

»Ja. Ich komme nächstens!«

»Das sagen Sie immer nur, und es wird nie etwas daraus! Und dabei ist's doch nur über die Straße!«

»Ich komm' eben gar nicht auf die Straße! Ich war – glaub' ich – seit Monaten nicht mehr draußen! . . . Ich hab' meine nächsten Verwandten Gott weiß wie lange nicht gesehen.«

»Darüber grämt sich Ihre Mutter ja so. Sie haben Ihre Schwester in Berlin. Ihr Bruder steht nicht weit davon bei der Artillerie. Ihr Onkel hat hier seine Division. Aber Sie seien für alle seit einem halben Jahr und länger wie verschollen, schreibt die Frau Oberst. Niemand sieht und hört mehr etwas von Ihnen!«

»Ich will auch nichts mehr sehen und hören! Ich will nichts mehr von da draußen wissen . . . ich hab' damit abgeschlossen . . .«

Sie verabschiedete sich ruhig, ganz im Ton der Dame von einst.

»Adieu, Herr Pastor! . . . Empfehlen Sie mich, bitte, Ihrer verehrten Frau Gemahlin!«

»Adieu, Schwester Maximiliane . . .«

Es gab in diesem Hause keinen Müßiggang, keine ungenützte Minute. Und doch blieb die Johanniterschwester, nachdem der Pfarrer sich entfernt, noch einen Augenblick stehen und schaute nachdenklich durch die großen, hellen, gardinenlosen Fenster des Flurs. Gerade vor den Scheiben schwankte etwas Frisch-Grünes im Winde, das Ende einer Tannengirlande. Die Arbeiter auf den hohen Leitern draußen pochten. Sie schmückten die Front des Hauses für morgen, zu Kaisers Geburtstag . . .

Kaisers Geburtstag . . . das war der immer sich gleichbleibende große Festtag jedes Jahres gewesen, solange Maximiliane sich erinnern konnte, bis in ihre früheste Kinderzeit hinein, als der greise Kaiser Wilhelm noch lebte – fern in Berlin – schon halb dem Irdischen entrückt – vom Strahlenglanz des Ruhms und Alters umgeben, Bismarck und Moltke gleich riesenhaften Recken rechts und links von seinem Thron. So hatte sie sich das als kleines Ding gedacht, und so war, als sie heranwuchs, vom März zum Januar hinüber, der feierliche Tag geblieben. Hier im Hause war das morgen ein Tag wie jeder andere. Die Kranken lagen und litten und hofften, und man ging von Bett zu Bett und gab da zweistündlich den Eßlöffel Medizin und dachte dort daran, daß um fünf Uhr abends die subkutane Injektion gemacht werden sollte.

Sie erschrak, daß sie sich so in ihre Träume verloren hatte. Sie wandte sich eilig zum Weitergehen und lief die Stufen hinab. Sie war schon beinahe unten, da hörte sie vom Hauseingang her, wo der Pförtner saß, Stimmen und, wieder wie eine Erinnerung an einst – ein leises Sporenklirren – das schwache Rasseln eines eingehakten Offiziersäbels – dann eine gedämpfte Frage – es war keine Täuschung . . . sie vernahm deutlich ihren eigenen Namen . . . Sie beugte sich unruhig über das Geländer. Auf dem Korridor unter ihr stand ein junger Hauptmann in der Uniform eines Feldartillerieregiments mit einer Dame. Sie erkannte ihren Bruder Otto und seine Frau. Er wiederholte eben aufgeregt dem Pförtner: »Ja . . . zu meiner Schwester möchte ich . . . der früheren Exzellenz von Glümke . . .«

Und die kleine Frau Adda fügte hinzu: »Zur Schwester Maximiliane . . . Jetzt ist doch Sprechzeit für die Diakonissen! Von zwölf bis eins . . .«

»Was wollt Ihr denn?« frug die junge Frau von oben, stieg hinunter und reichte ihnen die Hand. »Bitte . . . kommt da herein! Da ist das Besuchszimmer!«

Ihr Bruder Otto erschien ihr förmlich verjüngt, seit er wieder den schwarzen Kragen des Feldartilleristen trug, in dem sie ihn von früheren Zeiten, vom Elternhaus her, in Erinnerung hatte: Er war frisch und straff, sein hübsches Gesicht wettergebräunt vom Dienst.

»Also hör mal! . . .« sagte er hastig. »Vorgestern war großes Versöhnungsfest bei Schwiegerpapachen in Charlottenburg. Der alte Herr war doch wütend, weil ich auf seine Moneten gepfiffen hab' und mich wieder zur Dienstleistung bei der Bombe hab' kommandieren lassen und weil wir uns die Zeit über mit dem Kommißvermögen mit Anstand durchgefressen haben, die Adda und ich. Nu empfand er also ein menschliches Rühren . . . Wir haben uns geeinigt. Er gibt wieder was! . . . Aber mit Vernunft. Ich seh's selber nun ein!«

Er merkte einen Schatten von Ungeduld auf Maximilianes Zügen. Er beeilte sich: »Ich komm' schon zur Sache! Also da war großer Zauber . . . alle Verwandten . . . du warst pro forma auch eingeladen und die Ulla auch. Niemand hat von dir gedacht, daß du kommen würdest. Und von der Ulla noch weniger. Denn es geht ihr doch seit dem Herbst wieder ganz flau, und die letzten vierzehn Tage, bei der Bärenkälte, hat sie der Doktor überhaupt nicht aus dem Zimmer gelassen. Da, wie wir nun alle beisammen sind, geht die Türe auf, und sie tritt herein! Sie langweile sich daheim, sagt sie. Sie wolle auch einmal unter Menschen . . .«

»O Gott – wie unvorsichtig!«

»Wart nur; das Tollste kommt noch: Also, sie setzt sich, trinkt Tee, ist ganz vergnügt und heiter, tut, als wär' es gar nichts, steigt endlich wieder in ein Auto und fährt davon! Aber glaubst du nach Hause? . . . Jawohl! . . . Vorgestern nachmittag trifft Adda zufällig in der Leipziger Straße Frau von Bliest, die draußen in Grunewald wohnt . . . Ist doch die Ulla, das Unglücksgeschöpf, tags zuvor im offenen Wagen bei dem Ostwind zu ihr hinausgekommen, zu einer Stippsvisite . . . ganz ohne Not . . . die Bliest hat sich selber gewundert . . . Nun – was sagst du zu dem grenzenlosen Leichtsinn? Es sieht der Ulla so gar nicht ähnlich. Sie ist doch sonst so ängstlich.«

»Ja. Es ist unbegreiflich!« sagte Maximiliane.

»Na – wir kriegten's nun doch mit der Angst! Heut' früh sag' ich zu meiner Frau: Mir wollen doch lieber sehen, wie's ihr geht!' Also gut! Wir gondeln nach Moabit! Da finden wir denn auch gleich die Bescherung: der Bursche verdattert. Die Mädchen verheult. Sie selbst, die Ulla, mit 'ner Lungenentzündung im Bett!«

»Ach, du großer Gott!«

»Ja . . . das heißt doch das Schicksal mutwillig herausfordern!« klagte Frau Adda.

»Und was sagt sie denn selber?«

»Ich hab' sie doch nicht sprechen können, Maxe! . . . Sie läßt ja niemanden vor, in ihrem unbegreiflichen Eigensinn! . . . Da sind wir in unserer Ratlosigkeit zu dir! Es muß doch etwas geschehen . . .«

Es kostete Maximiliane Überwindung, den Namen auszusprechen, der ihr die ganze Zeit schon auf den Lippen lag.

»Wozu hat sie denn ihren Mann?« sagte sie. »Ihr könnt das doch ruhig Erich überlassen!«

Die kleine Hauptmannsfrau rang die Hände.

»Ach so! Das haben wir ja ganz vergessen, dir zu erzählen. Erich ist ja gar nicht in Berlin! Er ist seit acht Tagen irgendwo in Schlesien, auf einer Dienstreise, an der russischen Grenze! Er kommt erst morgen früh, zu Kaisers Geburtstag, zurück. Wir wissen augenblicklich nicht einmal seine Adresse!«

»Und inzwischen geht die kostbarste Zeit verloren,« fügte ihr Mann hinzu. »Der einzige Mensch, der helfen kann, bist du, Maxe!«

»Ich kann doch auch nicht ohne weiteres von hier fort!«

»Wenn deine Schwester krank ist . . .«

». . . dann weiß ich doch noch lange nicht, ob sie mich als Pflegerin will! Ich kann doch nicht hier um Urlaub bitten und dann dort abgewiesen werden, so gut wie ihr!«

»Das ist wahr!« meinte der Artillerist und tauschte mit seiner Frau einen bedrückten Blick.

Die Diakonissin fuhr fort: »Ich will aber jedenfalls heute noch nach ihr schauen! Gegen Abend kann ich mich auf eine Stunde frei machen! Mehr als mich auch abweisen, kann sie nicht. Und nun entschuldigt mich. Ich hab' zu tun!«

»Wie geht's dir denn?«

»Immer gut!«

»Adieu, Maxe!«

»Adieu, Adda!«

Die beiden Frauen küßten sich. Dann stieg Maximiliane die Treppen hinauf, in ihr Revier zurück. Gewohnheitsmäßig tat sie da den Nachmittag über ihre Pflicht. Zuweilen dachte sie zwischen den Sorgen jeder Stunde an die Schwester. Vielleicht war es mit der nicht so schlimm. Ulla bereute hinterher ihren dummen Streich und bildete sich in ihrer Angst die Anzeichen einer Krankheit nur ein. Oder war einfach schlechter Laune. Wollte keinen Besuch. Das kam bei ihr auch vor. Die Stimmungen wechselten ja so rasch bei ihr. Und in Abwesenheit ihres Mannes war sie wohl doppelt unruhig und aufgeregt.

Maximiliane hatte Erich von Logow seit einem halben Jahr nicht gesehen, nur zuweilen, gegen ihren Willen, aus dem Mund von Verwandten etwas von ihm gehört. Einmal eine Äußerung Otto's: »Diesmal schafft's der Logow! Man ist mit ihm kolossal zufrieden!«  . . .Und ein andermal hatte Onkel Wilderich, der grauköpfige, stark unter dem Pantoffel stehende junge Ehemann, melancholisch gemeint: »Eigentlich seid ihr beide ins Kloster gegangen! Nicht nur du, Maxe, sondern der Erich auch. – Der Mensch kennt nur noch seinen Dienst. Er arbeitet zwanzig Stunden täglich wie ein Pferd. Im übrigen für die Menschheit total ungenießbar. Um den Preis möcht' ich nicht später mal ein Armeekorps kriegen!«

Sie zwang sich, nicht mehr daran zu denken. Sie hatte allmählich nun schon Übung gewonnen, sich auch innerlich zu beherrschen. Wenn sie wollte, schwand alles, und es blieb nur der eng umschriebene Umkreis von Pflichten übrig – vier kahle Wände mit Kruzifix und Bibelspruch, acht eiserne Betten mit Typhuskranken, die man warten und pflegen mußte, zwei große kahle Fenster, hinter denen sich langsam wie jeden Tag der frühe Winterabend auf das schmutzige Schneegrau der Straße senkte. Sie war so in ihre Beschäftigung vertieft, daß sie zusammenfuhr, als plötzlich die Oberschwester neben ihr stand und ihr ausrichtete: »Sie möchten sofort einmal zur Frau Oberin kommen!«

Die Oberin des Krankenhauses war eine alte vornehme Dame, eine Gräfin aus einer der ersten Familien Preußens. Sie sagte beim Eintritt der Johanniterin: »Schwester Maximiliane, erschrecken Sie nicht: Ihre Schwester, Frau von Logow, ist seit gestern nicht unbedenklich erkrankt!«

»Ich hab' es schon heute mittag von Verwandten erfahren, Frau Oberin!«

»Mir hat soeben der behandelnde Arzt telefoniert, daß sich der Zustand leider ständig verschlimmert und eine Pflegerin dringend not tut. Er bat mich, Sie ungesäumt an das Krankenbett zu schicken!«

»Ich weiß nicht, ob ich dort willkommen bin, Frau Oberin!«

»Ihre Frau Schwester bittet darum! Sie ist bei Besinnung. Sie erwartet Sie mit Ungeduld. Also machen Sie sich sofort fertig, dort die häusliche Pflege zu übernehmen! Meine besten Wünsche auf Besserung!«

»Ich danke, Frau Oberin!«

Eine Viertelstunde später war Maximiliane schon unterwegs. Sie stand auf der Rückseite eines Straßenbahnwagens, eine Tasche mit Wäsche und den nötigsten Gebrauchsgegenständen in der Rechten. Um sie rauchende Herren, mit hochgeschlagenen Kragen, die Hände in den Paletots. Es war nun schon völlig Nacht. Der rötliche Widerschein, der da drüben, hinter dem Brandenburger Tor, jeden Abend den Himmel färbte, strahlte heute in zehnfacher Helle. Dort, in den Palästen Unter den Linden und in der Gegend der großen Kaufläden bis zum Spittelmarkt hin und in dem Bankviertel um die Französische und Behrenstraße probte man schon die Festbeleuchtung für morgen. Dort stauten sich heute bereits die Menschenmassen neugierig vor den bunten Kaiserinitialen, den preußischen Adlern, den Steinen und Bogen aus farbigen Glühlampen und zitternden Gasflämmchen, die ihren taghellen Glanz über das dunkle Meer von Hüten und Schutzmannshelmen unter sich warfen. Dort herrschte jetzt schon in der Friedrichstadt Jubel und Trubel am Vorabend der Kaisergeburtstagsstimmung. Hier draußen im Nordwesten war es kahl und finster wie sonst. Grau lag da die Moabiter Mietskaserne, trübe beleuchtet waren die Treppen, auf denen Maximiliane zu der Logowschen Wohnung emporstieg.

Oben vor der Flurtüre stand schon wartend eines der beiden Dienstmädchen und spähte in das dunkle Stiegenhaus hinaus. Sie atmete auf, als sie Maximilianes ansichtig wurde. Sie, die Dienstboten, hätten sich schon gegrault, berichtete sie, und hätten nicht gewußt, was tun. Der Doktor sei vor einer Stunde weggegangen. Die gnädige Frau sei jetzt auf einmal so sonderbar. Sie habe einen ganz roten Kopf und rede allerhand durcheinander . . . man würde gar nicht klug daraus . . .

Auf den ersten Blick sah Maximiliane beim Eintritt in das Krankenzimmer, daß ihre Schwester phantasierte. Sie schickte schleunig eines der Mädchen nach Eis und setzte sich an das Bett. Die Leidende warf sich unruhig in den Kissen hin und her. Dazwischen hustete sie schmerzlich und murmelte abgerissene Worte. Sie hielt die Augen geschlossen. Aber sie hatte gehört, daß jemand gekommen war. Sie frug: »Erich . . . bist du's . . .«

»Erich ist auch bald da! Hab' nur Geduld . . .«

Es schien, daß Ulla von Logow die sanfte, ruhige Stimme ihrer Pflegerin erkannte. Ihre Lippen zogen sich eigensinnig klagend zusammen wie bei einem kranken Kind: »Erich soll nicht fort . . .«

»Nein, nein!«

»Sag Erich, er soll bei mir bleiben! Wenn du's ihm sagst, tut er's! . . . Er tut alles, was du willst . . .«

Maximiliane zuckte zusammen und beugte sich still über die Fiebernde und streichelte sie mit der Hand über die Stirn. Die schlug plötzlich die Wimpern auf und starrte sie aus ihren dunklen, heißen Augen an.

»Du, Maxe . . . was hast du denn für eine Haube? . . . Wenn die dein Mann sieht, wird er böse! Die Haube mußt du nicht tragen! Die steht dir nicht . . . Du . . . da hinten steht doch Erich?«

»Noch nicht, Ulla!«

»Dann schick den Mann fort! Da hinten soll niemand stehen! Ich will's nicht! Wenn Erich da wäre, würd' er ihn schon jagen!« . . . Und während die Diakonissin einen dunklen, dort hängenden Mantel weglegte, flüsterte es in den Kissen geheimnisvoll: »Du . . . Erich: die Maxe sieht elend aus! . . . Die denkt immer an dich . . . weißt du . . .«

»Komm, Ulla . . . sei jetzt vernünftig!«

»Ich hab' sie wieder fortgeschickt, Erich! . . . Ich mag sie nicht! Ich mag nur dich! . . . Wo bist du denn? . . . Was habt ihr denn da? Warum tuschelt ihr nebenan! Immer habt ihr beide was miteinander!«

Im Nebenraum hatte das Mädchen das Eis aus der Apotheke hingestellt. Maximiliane war dazu getreten, um es in den Beutel zu füllen. Als sie sich umwandte, sah sie zu ihrem Schrecken durch die offene Türe, daß die Kranke aus dem Bett gestiegen war und lang und weiß in ihrem Nachtgewand wie ein Geist mitten in dem dämmerigen Zimmer stand. Sie eilte auf sie zu und legte den Arm um sie, um sie sanft wieder zurückzugeleiten. Aber Ulla sträubte sich flüsternd, den Blick unruhig in der Ferne: »Laß . . . laß . . . ich muß fort!«

»Bleib nur hier! Hier ist's besser, Ullachen!«

»Ich muß fort . . . das Auto . . . hörst du . . . da draußen tutet's . . . kalt . . . sehr kalt . . . der Grunewald . . .«

»Komm', Ulla . . .«

»Weit fort! . . . Du . . . die Bliest hatte so 'nen Diamantring am Finger! Ob der echt ist? Eigentlich haben die's doch gar nicht dazu. Da hinten ist ja der Erich . . . ganz da hinten im Schnee . . . Gott . . . ist da viel Schnee! Er geht immer weiter! . . . Erich! . . . Erich! . . . So bleib doch stehen! Ich muß dir was sagen! . . . Der Maxe auch! . . . Euch beiden! . . . Fix! . . . Wo steckt denn die Maxe?«

»Ich bin ja bei dir! Sei nur jetzt hübsch still!«

Mit leisem Zwang führte die Diakonissin ihre Schwester wieder an das Lager und bettete sie. Die Kranke ließ es geschehen. Sie seufzte und schloß die Augen. Der Eisbeutel auf der Stirne tat seine beruhigende Wirkung. Sie frug mit klagender Stimme: »Maxe, bist du noch da?«

»Ja. Gewiß!«

»Bleibst du auch da?«

»Freilich!«

»Der Erich auch?«

»Er wird auch bald da sein!«

»Eben! . . . Ihr beide sollt ja doch jetzt . . .« Ulla faßte geistesabwesend nach der Rechten ihrer Pflegerin, die noch feucht und kühl vom Hantieren im Eiswasser war. »Ist das deine Hand, Maxe? . . . Warum ist sie denn so kalt? . . . Bist du auch schon tot? . . .«

Die junge Frau neben ihr fröstelte zusammen.

»Schlaf nur, Ulla!«

»Du bist fort . . . schon lang . . . weit weg . . . aber du bist doch immer da . . . weißt du? . . .«

»Schlaf! Schlaf!«

Die Kranke beruhigte sich allmählich. Einmal warf sie sich noch in den Kissen hin und her und befahl ungeduldig: »Nein . . . klappen Sie das Verdeck nur auf . . . Was? . . . Zu kalt? . . . Herrgott . . . wenn ich's doch will!« Dann wurden ihre Atemzüge lang und tief. Sie verfiel in einen Betäubungsschlummer. Maximiliane saß still an ihrem Bett. Sie war diese einsamen wachen Nachtstunden gewohnt, die schattenhaft, lautlos, eintönig vorüberglitten. Erst zwischen zwei und drei Uhr morgens entstand ein leises Geräusch im Krankenzimmer. Der Arzt war auf den Fußspitzen eingetreten. Er begrüßte Maximiliane mit einer Kopfneigung, die halb vertraulich zur Pflegerin, halb ehrerbietig gegen die Exzellenz war, setzte sein Stethoskop der Patientin auf die Brust, horchte und klopfte schweigend. Sein bärtiges Gesicht zeigte Besorgnis.

»Ich bin gar nicht zufrieden!« sagte er flüsternd, während er mit der Diakonissin in das Nebenzimmer trat. »Der Krankheitsprozeß schreitet immer weiter fort! . . . Auf die Dauer hat das Herz nicht die Kraft, da mitzukommen. Wenn man einem derartig schwachen Organismus einen so wahnsinnigen Insult zufügt – hinterher sollen wir es dann gut machen! . . . Uns trifft die Verantwortung! In wenigen Stunden kommt Herr von Logow an. Er findet seine Frau zwischen Tod und Leben . . . ja, wenn Ihr Herr Schwager dann in seiner begreiflichen Angst und Aufregung mir Vorwürfe macht – ich vermag ihm nur zu erwidern: Wenn jemand mit aller Gewalt krank werden will, kann ich's nicht hindern und kein Arzt der Welt!«

». . . krank werden will?«

»Ja! Ihre Schwester mußte wissen, was die unausbleibliche Folge einer solchen Fahrt bei Kälte und Ostwind sein würde! Ich hab's ihr hundertmal gesagt und sie zur Vorsicht ermahnt. Warum sie's trotzdem getan hat, weiß der Himmel! Ich wasche jedenfalls meine Hände in Unschuld!«

Der Doktor hatte noch einige Anordnungen getroffen und sich dann in sehr ernster Stimmung verabschiedet. Die Diakonissin saß still, die Hände im Schoß. Sie hatte die Mädchen zu Bett geschickt. Es gab jetzt nichts zu pflegen und zu tun, bei dem tiefen Schlaf der Bewußtlosigkeit da drinnen, in dem langsam, je weiter die Stunden über Mitternacht hinaus vorrückten, die Fieberhöhe sank. Zuweilen trat Maximiliane auf leisen Sohlen an das Bett und sah nach ihrer Schwester. Dann schritt sie wieder durch die Räume, setzte sich, nahm mechanisch ein Buch zur Hand und legte es weg, ohne darin zu lesen, und erhob sich und stand am Fenster und schaute hinaus. Draußen war tiefe, schwarze Winternacht. Nüchterner, reihenweiser Laternenglanz auf der ausgestorbenen Straße, kaltes Sternenflimmern über den beschneiten Dächern. Kein Laut, keine Bewegung in diesem brütenden Dunkel. Berlin schlief. Sie dachte sich: Jetzt fährt ein Zug durch die Finsternis. In dem sitzt er und kommt heim und findet seine Frau zwischen Leben und Sterben – halb im Sterben – sie schrak zusammen – sie schloß im Stehen die Augen – sie frug sich: ›Bist du das wirklich? Ist das nun doch wahr? . . . Und wie ist es gekommen?‹ Ein sonderbares Grauen vor etwas Unbekanntem, Geheimnisvollem durchfröstelte sie. Da hörte sie von drinnen einen schwachen Laut, und sofort verwandelte sie sich, im Instinkt der Pflicht, in die barmherzige Schwester. Sie eilte in das Krankenzimmer. In dem kämpfte das erste fahle Morgengrau mit dem gelblichen Dämmer der Nachtlampe. Geisterbleich lag Ullas Kopf in den weißen Kissen. Sie war bei Bewußtsein. Ihre Augen waren offen. Ihr Züge zeigten eine ängstliche Spannung. Sie streckte der anderen die Hand entgegen und flüsterte: »Versprich mir, Maxe . . . nicht wahr, du tust's . . .«

»Was denn, Ullachen?«

»Hol nachher, um halb elf, Erich selbst am Bahnhof ab! Er weiß ja noch von nichts! . . . Er soll es nicht von Fremden hören! Sag du's ihm, daß es mit mir zu Ende geht!«

»Um Gotteswillen, Ulla – was bildest du dir ein? In vierzehn Tagen bist du wieder wohl und munter!«

Ein eigenes, feierlich-abwehrendes Lächeln durchgeistigte das Antlitz der Kranken.

»Das weiß ich besser, Maxe! . . .«

»Ulla – man muß auch gesund werden wollen! Das hilft auch, wenn man krank ist. Denk' doch an deinen Mann! Du hast ihn doch so lieb!«

»Und ob ich ihn lieb hab' . . .« sagte Ulla von Logow langsam und andächtig, den Blick nach oben, und hustete schmerzlich und hielt immer noch die Hand der Schwester fest.

»Erinnerst du dich noch, Maxe . . . wie wir beide hier darüber geredet haben . . . in diesem Zimmer. Es ist jetzt bald ein Jahr! . . . Damals war ich noch so voll Hoffnung – voll Zuversicht! . . . Ich dachte, es müßte mir gelingen – ich müßte seine Liebe wiedergewinnen. Ich hab' darum gekämpft, wie eine Verzweifelte . . .«

»Erzähl' mir das später einmal, Ulla! Du regst dich zu sehr auf!«

»Wann denn, Maxe? – Ich bin bald ganz still! . . . Ich bin ja so schwach und krank. Ohne ihn kann ich nicht leben!«

»Du sollst ihn ja auch haben!«

Die Kranke sah sie traurig an und schüttelte den Kopf.

»Du hast ihn nach wie vor! Du wirst ihn ewig haben, solange er lebt . . . Klingen dir nicht manchmal die Ohren? Ich bild' mir ein, das müßte man förmlich hören, wenn ein anderer Mensch so immerzu an einen denkt – Tag und Nacht – immerzu – das tut er . . .«

»Ulla!«

Die andere hustete. Das Sprechen bereitete ihr Schmerz. Ihre Stimme war kaum vernehmbar.

»Es war ja lächerlich von mir, es zu versuchen, Maxe! . . . Du bist ja so, so viel stärker! . . . Du stehst in ihm so unverrückbar wie ein Bild von Erz . . . O, er verrät sich nicht. Er war immer zu mir lieb und gut . . .«

»Ulla – hör jetzt auf!«

»Und du hast gerade so die Zähne zusammengebissen wie er! . . . Euch kann keiner einen Vorwurf machen. Ich bin an allem schuld! Ich hab's schon früher geahnt, bei unserem letzten Gespräch. Wie jetzt der Herbst ins Land gekommen ist, da hab' ich es allmählich ganz klar erkannt!«

»Du mußt nicht so viel reden! Es schadet dir!«

»Ich hab' deine Liebe verraten, weil ich's gewußt hab' und hab' ihn doch genommen . . . und ich hab' seine verraten – denn ich hab' ihn ohne Liebe genommen. Das ist das ganze Geheimnis dieser zehn Jahre, Maxe! So darf man nicht mit Menschen spielen! . . . Jetzt weiß ich's! . . . Ich bin jetzt besser . . . Ich hab' zu viel gelitten! . . . Ich bin über mich hinaus!«

Sie richtete sich mit letzter Kraftanstrengung halb auf und flüsterte: »Siehst du – so kommt die dumme Geschichte jetzt ganz gelegen – diese Ausfahrt von mir bei Wind und Wetter . . . Es war ein Leichtsinn von mir – ich geb' es zu . . . Ich hatt' es nicht bedacht! . . . Sag ihm gleich auf dem Bahnhof, daß es ein Leichtsinn war! . . . Sag es Mama und den Geschwistern . . . sag es allen Leuten! . . . Sie sollen es alle glauben, daß es ein Leichtsinn war. Sie werden's auch! . . . Warum denn nicht? . . . Du allein weißt es besser! Gib mir die Hand, Schwester . . . schau mir ins Gesicht und verzeih mir!«

Ihre Stimme war noch einmal laut und leidenschaftlich geworden. Die andere stand erschrocken vor ihr. Sie strich sich mit der Rechten über die Stirne: »Ulla, um Gotteswillen, was hast du getan?«

»Ich denke, das Rechte! Ich habe eine Ende gemacht. Freiwillig . . . Ich wußte: Die Ausfahrt war das Ende!« Sie sank zurück. Es war ein feierlicher Ausdruck in ihren Zügen. »An den anderen liegt mir nichts! . . . Aber du, Maxe . . . du sollst mich doch so sehen, wie ich jetzt bin und mich so im Gedächtnis behalten, und es niemandem verraten, bei Gott im Himmel, – auch Erich nicht! . . . Ich hab' die Waffen gestreckt vor eurer Liebe . . . Es stand schon seit Wochen in mir fest. Wie Erich nun in Schlesien war, hab' ich's ausgeführt und hab' mir draußen im Grunewald mein Schicksal geholt . . . und ich bereu' es nicht . . .«

Ein schwerer Hustenanfall machte ihren Worten ein Ende. Sie rang nach Luft. Maximiliane lag, aufschluchzend, neben ihrem Bett auf den Knieen. Es wurde still. Die Kranke dämmerte erschöpft vor sich hin, ein Rückschlag nach der Anstrengung des vielen Redens. Ihre Gedanken wanderten wieder. Sie murmelte unverständliche Worte und bewegte seltsam suchend die Finger. Ihre Schwester wußte nicht, wieviel Zeit verstrichen war, während sie da kniete. Sie fuhr erst auf, als sich ihr eine Hand leise auf die Schulter legte. Um sie war heller Tag. Neben ihr stand eine Pflegerin vom Roten Kreuz. Der Arzt hatte sie zu ihrer Entlastung geschickt. Er selbst wollte bald nachkommen. Und da von nebenan schauten angstvoll ihr Bruder Otto und seine Frau herein, und er flüsterte: »Ich hab' Mama noch gestern abend nach Darmstadt telegraphiert. Sie kommt heute mittag hier an. Die Grotjans auch. Peter ist schon da.«

Der kleine Grenadier drückte ihr stumm die Hand. Seine junge Frau war an seiner Seite. Immer mehr Besucher füllten jetzt zwischen acht und neun Uhr morgens flüsternd die Vorderräume der Logowschen Wohnung: Günter von Ottersleben, durch den Fernsprecher aus seiner Garde-Infanteriekaserne herbeigerufen, und hinter ihm sein Vater, der General. Und der Freiherr und die Freifrau von Koninck kamen, Burschen und Ordonnanzen mit Anfragen nach dem Befinden, das Telephon klingelte, es war ein Treppauf und Treppab, ein Schweigen, ein Raunen, unruhige Blicke nach den verschlossenen Türen, hinter denen der Arzt mit den Krankenschwestern waltete.

»Sie gehen jetzt, Herrn von Logow abzuholen?« frug er leise, als sich Maximiliane fertig machte.

»Ja, ich hab's ihr in die Hand versprochen!«

Der Doktor schaute auf.

»Sehen Sie, daß Sie keine Zeit verlieren!« sagte er sehr ernst. »Bringen Sie ihn so rasch wie möglich! Sie wissen schon, was ich meine!«

Es war ein kalter, klarer Wintertag. Die Straßen reingefegt vom Schnee, der Himmel blau, die Häuser voll Fahnen. Maximiliane ging das Spreeufer entlang. Wenig Menschen begegneten ihr bis zur Weidendammer Brücke. Da umfing sie plötzlich das festliche Gewühl der Friedrichstraße. Mächtige Girlanden hingen drüben an der Kaserne des zweiten Garderegiments, nach der anderen Seite, gegen die Absperrung unter den Linden zu, war unter dem Flaggenwald der beiden engen Straßenfronten alles schwarz von Köpfen – dahinter undeutlich der Prunk der Auffahrt zum Kaiserschloß – im Winde flatternde Federbüsche der Generale – schwarz-weiße Lanzenwimpel – das Schaukeln und Flimmern der Adlerhelme der Garde du Corps – verwehte Musik – wie eine Vision aus dem achtzehnten Jahrhundert die altfränkischen Galakarossen mit dem hinten stehenden gepuderten Lakaien – und dann mit einem Schlag wieder der Alltag, das Hasten und Drängen auf dem Bahnhof Friedrichstraße, zu dem sie emporstieg.

Sie hatte sich beeilen müssen, um gegen die herabflutenden Menschenströme den Aufgang zu gewinnen. Atemlos stand sie oben auf dem Bahnsteig im Wellenschlag der Menge. Es waren nur noch zwei Minuten bis zur Ankunft des schlesischen Schnellzugs. Aber noch war seine Tafel nicht aufgezogen und ein Beamter erklärte ihr den Grund: Schneeverwehung . . . Eine halbe Stunde Verspätung . . .

Warten . . . wieder warten . . . Und daheim lag die Kranke . . . die Sterbende . . . Sie schaute verstört vor sich hin. Sie wurde im Gedränge angestoßen . . . hin- und hergeschoben . . . Langsam trat sie zur Seite, ging wieder die Stufen hinab, über die Straße, gesenkten Haupts – sie wußte selbst nicht, wohin. Ihr Schwesternkleid schaffte ihr Durchlaß. Auf einmal war sie an der Ecke der Linden, hart an der Ruhmeshalle, wo eben die Parole ausgegeben war, die immer gleiche an diesem Tag: »Es lebe Seine Majestät der Kaiser und König.« Sie sah vor sich die mächtigen abgesperrten Flächen des Opernplatzes, sie sah von der grauen Riesenfront des Hohenzollernschlosses die Reichsstandarte purpurn über Berlin wehen, sie sah nach der anderen Seite bis zum Brandenburger Tor hin den Festprunk der Siegesstraße, die Fahnen und Kreuze, die Teppiche und Inschriften, sie sah vor sich auf der lichten Weite des Asphalts Hunderte und Tausende von Offizieren, die schärpenumgürtet, in lichtgrauem Mantel und hohen Stiefeln aus dem Zeughaus traten – sie sah die Federbüsche, die schwarzen und weißen Roßschweife, die Pickel- und Kugelhauben, die Tschakos, die Adlerhelme und Tschapkas und Bärenmützen. Und all dies bunte Gewimmel stand mit einem Schlag still. Die Hände hoben sich zum Gruß – ein Brausen und Hochrufen und Tücherschwenken schwoll an den Seiten hinter den Schutzmannsmauern an und durchzitterte die dunklen Menschenmassen und rollte, sich immer verstärkend, bis über die Spree. Zwischen ihr und der Ruhmeshalle war eine breite, freie Gasse. Mitten auf ihr schritt ein General, sechs jüngere Offiziere ihm zur Linken, in einiger Entfernung ein Schwarm von Gefolge: der Kaiser kehrte mit seinen Söhnen vom Zeughaus nach dem Schloß zurück . . .

Der Ruf der Tausende hallte Maximiliane im Ohr nach, während sie sich umwandte und wieder den Weg nach dem nur wenige hundert Schritte entfernten Bahnhof einschlug, dieser Ruf, der heute in jeder deutschen Stadt erklang, auf jedem deutschen Panzer, der das Meer durchfurchte, an jeder fernen Küste des Erdballs, an der die schwarz-weiß-rote Flagge wehte. Das war das Heer. Das war das Reich. Das war die Größe. Die eigene Not erschien einem wenigstens einen Augenblick klein dagegen und kam dann wieder mit aller Macht über sie. Sie stand und rang die Hände ineinander und atmete auf, als endlich, endlich der Zug einlief und Erich von Logow ausstieg.

Er war in Zivil. Denn auf den Straßen Berlins durfte er sich heute nur in Paradeuniform zeigen, und die konnte er erst zu Hause anlegen. Mit ruhigem Gesicht schritt er dem Zug entlang, seine Handtasche in der Rechten und erblickte plötzlich Maximiliane und blieb stehen, als hätte er einen Geist gesehen.

»Du hier?«

»Ja.«

»Was ist denn geschehen?«

»Hast du unsere Depeschen nicht erhalten?«

»Nein!«

»Deine Frau ist sehr krank! . . . Komm rasch!«

Er war betäubt. Er fand kein Wort. Stumm folgte er ihr. Als sie in einem Automobil saßen, wiederholte sie mit erstickter Stimme: »Komm rasch! . . . Sonst kommst du zu spät!«

Und nun begriff er . . .

Der Wagen schoß dahin. Erich von Logows Gesicht war fahl geworden.

»Maxe . . . Sag mir die ganze Wahrheit!«

Und sie erwiderte, eingedenk ihres Worts: »Ulla war zu leichtsinnig! . . . Sie ist ausgefahren. Dabei hat sie sich's geholt! Der Arzt gibt kaum mehr Hoffnung!«

Sie stiegen aus und eilten die Treppen hinauf. Oben in der Wohnung waren jetzt noch mehr Menschen. Die Mutter war aus Darmstadt gekommen, die Grotjans aus Thorn – all die Ottersleben und ihre Verwandten waren beisammen. Aber nicht mehr in den Vorderräumen. Sie waren sämtlich in das Krankenzimmer getreten. Sie umstanden schweigend mit gefalteten Händen das Bett. Davor der Pfarrer. Der Arzt richtete sich empor. Er murmelte: »Gott sei Dank! . . . Da sind Sie!«

Ulla schlug noch einmal die Augen auf. Eine Bewegung ging über ihr Gesicht. Sie erkannte die beiden, die an ihr Lager traten. Sie reichte ihrem Mann die Hand. Es war ein schwaches Lächeln um ihre Lippen. Dann tastete sie mit der Linken nach etwas. Sie nahm ihren schwindenden Willen zusammen. Sie suchte es und fand es. Sie hatte, auf der anderen Seite des Bettes, Maximilianes Rechte ergriffen und hielt sie so fest, wie drüben die ihres Mannes, und sah die beiden an und bemühte sich, deren Hände zusammenzulegen. Es war keiner im Zimmer, der das nicht fühlte. Dann verließ sie die Kraft. Ihre Arme sanken nieder. Arzt und Pflegerin beugten sich hastig über sie. Maximiliane drehte sich zur Seite. Sie konnte nichts mehr sehen, so verschleierten ihr die strömenden Tränen den Blick. Sie hörte nichts mehr. Es war eine tiefe, große Stille . . .

Und in ihr plötzlich die Stimme des Geistlichen: »Vater unser, der du bist im Himmel! Dein Reich komme . . . Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden . . .« eine Bewegung umher – ein Aufschluchzen . . . da faltete auch sie die Hände . . .

»Und vergib uns unsre Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern!«

Sie sank am Bett der Toten auf die Knie. Ulla lag still. Auf der anderen Seite kniete Erich von Logow. Vom Fenster her fiel über sie beide und die Schläferin in ihrer Mitte ein heller Sonnenstrahl . . .

 


 


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