Rudolph Stratz
Du Schwert an meiner Linken
Rudolph Stratz

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3

Im Hause Ottersleben saß man beim Abschiedsfrühstück. In einer Stunde sollte Erich von Logow nach Berlin abreisen. Er trug schon die Uniform des Generalstabs. Er hatte seine Braut zu seiner Rechten. Ulla war ganz verwandelt. Ihre sonstige Teilnahmlosigkeit und Schweigsamkeit war geschwunden. Ihre Augen glänzten. Sie lachte. Sie schwatzte. Sie sprang vom Stuhl auf, um Vergessenes herbeizuholen, und lief geschäftig und sorgte für ihren Verlobten, und er lächelte ihr verzückt zu und folgte in stummer Andacht jeder ihrer Bewegungen. Er war so blind verliebt, wie nur ein Mann sein konnte. Jetzt, wo die Schranke der Zurückhaltung für ihn gefallen war, äußerte sich das bei seiner strengen Natur in einem naiven, beinahe kindlichen Glück.

In den Kelchgläsern perlte Sekt. Der Oberst von Ottersleben trank seinem künftigen Schwiegersohn mit einem väterlichen und gütigen Kopfnicken zu. »Dein Wohl, mein lieber Erich!« Dann rauschte plötzlich von unten, von der Straße her, Musik. Es war eine Aufmerksamkeit des Adjutanten Rudicke, der die Regimentskapelle zu einem Abschiedsständchen geschickt hatte. Die Hoboisten standen im Kreis, mit im Winde flatternden Mänteln, mitten auf dem Pflaster und spielten das lustig-wehmütige:

»Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus,
Und du, mein Schatz, bleibst hier . . .«

und oben schaute der Hauptmann von Logow seiner Braut in das schöne, weich lächelnde, von dunklem Seidenhaar umsponnene Antlitz und meinte glückselig: »Nein, mein Schatz . . . du bleibst nicht hier!! Zum Frühjahr hol' ich dich zu mir, nach Berlin . . .«

Die Kapelle schloß unten ihr Konzert unter Trommelwirbel und Paukendonner mit dem zündenden alten Avanciermarsch des Regiments aus den Freiheitskriegen, unter dessen Klängen es sich bei Lützen und Bautzen gegen Napoleon die Feuertaufe geholt hatte und jetzt noch in der Parade vor dem Kriegsherrn vorbeirückte. Der Stabshoboist Schickedorn wurde heraufgerufen, um stramm stehend das ihm angebotene Glas Wein zu trinken. Dann war es Zeit zum Aufbruch. Logow trat mit seiner Verlobten in das Nebenzimmer, um ihr ungestört Lebewohl zu sagen. Sie küßten sich lang und innig, ohne viele Worte. Dann versetzte er sorglos und halb lachend: »Du, Schatzi – was du mir da aber gesteckt hast, gestern . . . die Maxe hätte was für mich übrig gehabt . . .«

»Etwas, Erich – nicht viel – nur ein ganz klein bißchen! Werde nur nicht eitel!«

». . . also – das ist Unsinn, Maus! Das habt ihr euch eingebildet! Ich hab' sie doch jetzt beobachtet! Sie ist ja die Ruhe und Unbefangenheit selber! Wie käme sie denn auch darauf! Ein Blinder hätte ja doch von Anfang an sehen müssen, daß ich dich im Auge gehabt hab'! . . . Aber nun los! Sonst versäume ich noch den Zug . . . Adieu, Schwiegerpapa . . . Adieu, Maxe! . . . Adieu, Otto! . . . Adieu, Hans! Auf Wiedersehen, Mama und Dorle – in ein paar Tagen in Berlin!«

Es war beschlossen, daß die Aussteuer für die beiden Bräute in der Reichshauptstadt besorgt werden sollte. Solange es sich nur um die Jüngste handelte, hätte man nicht so viel Umstände gemacht. Da fand sich auch hier in der Provinz das Nötige. Aber für Ulla mußte man sich anstrengen. Sie verlangte das selbst am meisten. So reiste Frau von Ottersleben in der folgenden Woche mit ihr und Dorle nach Berlin. Sie war sehr aufgeregt, voll der festlichen Unruhe einer zweifachen Brautmutter. Sie war auch gar nicht gewohnt, ihren Mann allein zu lassen. Sie zog ihre mittlere Tochter vor der Abfahrt auf die Seite.

»Maxe: ich binde dir Papa auf die Seele! Sorge ja dafür, daß er nichts Gewohntes vermißt! Morgens zwei Eier zum Kaffee. Um halb elf das Glas Wein und . . .«

»Ich weiß ja, Mama!« sagte Maximiliane ruhig. »Du kannst dich auf mich verlassen! Ich hüte schon das Haus!«

Aber sie kam nicht dazu, am nächsten Morgen für den Vater zu sorgen. Früh um fünf, noch in schneeheller Nacht, war ein Trompetenblasen auf den Straßen, ein Rennen von schlaftrunkenen Leutnants und atemlosen Einjährigen, ein Galoppieren von Hauptleuten und Majoren auf dem glitscherigen Pflaster, ein Poltern und Stürmen der Ordonnanzen zur Wohnung des Obersten hinauf, vor der der Stallbursche mit fertig gesatteltem Handpferd vortrabte. Der Generalmajor Olaf von Glümke machte einen seiner kleinen Scherze und alarmierte die Garnison. Das brachte Zug in die Bude! Springlebendig mußte eine Truppe sein wie 'ne Hand voll Flöhe! Von irgend woher hörte man auf dem Exerzierplatz – sehen konnte man ihn nur schattenhaft auf seinem mächtigen Gaul – seine schneidige fröhliche Stimme: »Famoser Morgen, Kinder . . . da wollen wir uns mal recht ordentlich lüften!« Und damit führte er die Seinen wie eine lange schwarze Schlange durch die dämmernde Stadt, zum Tor hinaus, in den weiten weißen Schnee.

In der Wohnung des Obersten von Ottersleben war nun alles still. Das fahle Morgenlicht des Februar lugte durch die Fenster und erfüllte sie allmählich mit einem trüben Grau. Maximiliane ging übernächtig durch die Zimmer hin und her. Sie empfand mit einem leisen Frösteln diese traumhafte, beinahe unheimliche Ruhe – dies Ausgestorbensein der Räume, in denen sonst die Ihren lebten und lachten und kamen und gingen. Der Vater weg, die Mutter weg, die Schwestern weg, die Brüder – es war, als seien die alle, alle tot und sie allein noch am Leben. Oder besser umgekehrt: sie war fort und die anderen blieben. Die hatten noch was vom Sein. Sie nicht. Es war ja alles vorüber . . .

Das war nicht ein plötzlicher Gedanke, der sie durchzuckte – das war eine ständige Stimmung. Die hatte schon die ganzen Tage in ihr gewohnt. Nun, in der Einsamkeit, kam ihre Stunde. Das stieg grau in ihr empor, ballte sich, umwölkte sie, mit einem unfaßbaren Zwang der Notwendigkeit, unter dem sie sich ganz kühl und ruhig sagte: Ich werde jetzt meine Halifax nehmen und Schlittschuhlaufen gehen! Es ist ja noch eigentlich zu früh. Aber warum soll ich mich denn hier langweilen? Es vermißt mich ja hier niemand. Überhaupt keiner auf der Welt. Ich bin das fünfte Rad am Wagen. Ich weiß nicht, wozu ich da bin . . .

In einem jähen Trotz, als hätte ihr jemand widersprochen, wiederholte sie sich: Warum soll ich denn nicht Schlittschuhlaufen gehen? Ich kann's doch! Sogar gut! Die Eltern haben nichts dagegen. Die haben mir's immer erlaubt – auch damals, vor zwei Wintern, nachdem die arme Herta Harff dort eingebrochen und ertrunken war. Denn es sind ja freilich Löcher dort im Eis – tiefe schwarze Löcher – man kommt aus Versehen mal hinein . . .

Auf der Straße pfiff ein eiskalter Wind. Es waren jetzt zwischen sieben und acht Uhr morgens da nur Arbeiter unterwegs, Ladenverkäuferinnen, Schulkinder. Neugierige Blicke folgten dem großen schlanken eleganten jungen Mädchen, das, die Schlittschuhe am Arm, in seinem Pelzjäckchen gleichmäßig dahinschritt, die breiten Straßen entlang, in denen die Rolläden der Schaufenster sich allmählich knarrend lüfteten und die vollbepackten Straßenbahnwagen klingelten und sausten, dann in die Ruhe der Villenvorstadt hinaus, in der noch kein Mensch wach war und ihr Schritt sonderbar im Schweigen widerhallte, als wäre es noch tiefe Nacht – so dunkel wie die Löcher da draußen im Eise.

Sie dachte sich mit einer, ihr selbst unverständlichen Ruhe: Wenn mir heute etwas passiert, dann war ich eben unvorsichtig. Ich hab' die Warnungszeichen nicht beachtet. Das kann jedem geschehen. Nachher ist's zu spät. Es wird natürlich ein großes Geschrei geben . . . Aber ich hör' es ja nicht mehr . . .

Und eine neue Bitterkeit: Was liegt denn an mir? Es will ja keiner was von mir wissen? Da dräng' ich mich auch nicht auf, wenn mich niemand mag. Ich geh' jetzt Schlittschuhlaufen. Und ob ich wiederkomm' . . .?

Ihr schmales, trotz der Winterluft unter dem Schleier blasses Antlitz war unbewegt, während sie weiterschritt und sich vorstellte: Nur, daß es in den Zeitungen stehen wird, das ist schrecklich! Aber alle werden sagen: Das ist ein Unglücksfall! Ein bodenloser Leichtsinn! Was es war, weiß keiner. Auch er nicht! Er vor allem nicht! Er soll sich nie einbilden, daß ich an ihn gedacht hab' . . . auf diesem Weg . . .

Zwei Freundinnen kamen ihr entgegen: die Töchter des Divisionspfarrers Richolt. Sie hatte die beiden seit Kaisers Geburtstag nicht mehr gesehen. Berta Richolt, die immer aufgeregt war, stürzte mit ausgestreckten Händen auf sie zu.

»Du, Maxe . . . das ist ja großartig! . . . Ich war ja ganz paff: Die Ulla ist glückliche Braut?«

»Sogar sehr glückliche!« sagte das junge Mädchen lächelnd und stehen bleibend.

»Ja, wie kam denn das so plötzlich?«

»Gar nicht plötzlich! Das ist eine alte Geschichte!«

Maximiliane von Otterslebens Stimme klang sehr unbefangen, wie sie dastand, lang, schlank und blond, in dem Ostwind, der mit den krausen Härchen in ihrem Nacken spielte. Die beiden anderen sahen sie unsicher an. Man hatte sich doch immer eingebildet, daß sie und Logow . . . Aber sie lachte nur: »Die Ulla ist im siebten Himmel!« sagte sie. »Na, das könnt ihr euch vorstellen! . . . Und er erst! . . . Wir sind alle so froh! Ich denke, da haben sich gerade die beiden Rechten gekriegt!«

Sie hatte dabei nur die Angst, daß die Freundinnen sich ihr anschließen könnten, aber die dachten nicht daran. Jetzt da draußen auf der Eisbahn, ohne Leutnants, ohne Musik . . . pah . . . sie begriffen Maxe Ottersleben nicht und schauten ihr noch ein paarmal nach, wie sie ihren Weg nach dem Stadtpark fortsetzte. Aber die hatte ja immer so komische Ideen! Das war nichts Neues . . .

Im Forst war tiefes Weiß. Der Wind stürmte von hinten und blies Maximiliane in schneidendem Pfeifen um die Ohren. Sie hörte kaum mehr das Knirschen des Schnees unter den Füßen, so stark war das Brausen in dem kahlen Geäst. Im Sommer kam man oft von der Stadt aus hierher, trank drüben im Jägerhaus Kaffee, lagerte im Grünen. Jetzt war das große Schweigen. Kein Mensch weit und breit. Nur ferne etwas Dumpfes, wie Schläge der Holzaxt. Oder war es das Hämmern ihres Herzens? Eine Erwartung . . . ein Rückwärtsschauen: es war ja alles ganz schön gewesen. Die Eltern waren gut zu mir. Die Geschwister freundlich. Kein Mensch hat mir Böses getan. Ich war auch ganz froh. Ich hab' ja ganz gern gelebt und gedacht, das Eigentliche kommt erst . . .

Und statt dessen nun dies sonderbare, ihrem Willen entzogene Muß, dies: Vorwärts! – Die Löcher im Eise sind tief . . . darin versank man still, nach dem Sturz aus allen Himmeln . . . Es war eine traurige Gewißheit, daß das so sein sollte. Aber sie konnte nichts dafür . . . sie wahrlich nicht . . .

Sie dachte sich: ›Jetzt küßt er sie eben in Berlin! . . . Manche könnte sich ja nun vornehmen: Gut – dann heirate ich eben niemals einen anderen! Aber was ist das für ein Leben – vielleicht noch fünfzig Jahre lang? Das halt' ich nicht aus! Lieber so!‹

Vor ihr, am Waldrand, lärmten die Krähen. Dahinter die stundenweite, undeutliche, verschneite Fläche, das war der Liesensee. Jetzt, um diese Morgenstunde, war gewiß kein Mensch dort. Das Musiktempelchen stand öde. Die Bude für Punsch und Pfannkuchen war geschlossen. Man streifte den Reif von einer Bank und setzte sich und schnallte sich selbst die Schlittschuhe an und fuhr los. Kein Wächter rief hinter einem her, wenn man den gebahnten Pfad verließ – ins Weite hinaus – nur den Wind hatte man hinter sich. Der schob einen. Eine fremde Gewalt trug einen dahin. Es war ein Flimmern vor den Augen . . . Hinaus . . . Hinaus . . .

Sie senkte den Kopf und ging eilig im Schnee weiter. Merkwürdig: was sie bisher für Axtschläge gehalten, klang jetzt immer lauter und näher. Es war mehr ein Böllern, ein häufiger dumpfer Knall. Sie machte noch ein paar Schritte und hemmte dann erschrocken den Fuß. Da, auf den Hügeln am See stand ein einzelnes Feldgeschütz, die Mannschaft darum herum und feuerte. Eine große gelbe Flagge wehte daneben. Und etwa hundert Schritte weiter war eine zweite Kanone und eine zweite Fahne – eine dritte und vierte – eine lange markierte Artillerieaufstellung. So viel militärische Schulung besaß sie als Offizierstochter wohl, um das auf den ersten Blick zu erkennen.

Sie seufzte in tiefem Kummer auf, in Angst und Ungeduld. Es durfte jetzt nichts dazwischen kommen. Ihr war, als habe sie eine Pflicht zu erfüllen. Von den Kanonieren bemerkte sie niemand. Die schauten alle nach vorne, luden und zielten. Sie bog rasch nach rechts ab, um so die waldumbuschte, einsame Seitenbuchtung des Sees zu gewinnen. Aber als sie dort in dem Weidendickicht stand, schimmerte es vor ihr himmelblau im Weiß des Schnees. Ein Trupp Dragoner hielt da versteckt mit einer farbigen, ein Kavallerieregiment darstellenden Flagge und lauerte blutdürstig auf etwas hinter den Anhöhen – aus deren Ferne man nur ein unbestimmtes Plackern vernahm.

Trostlos machte sie kehrt, gehetzt, als seien ihr Feinde auf den Fersen, eilte sie wieder durch den Wald zurück, hinter den Geschützen vorbei, nach der anderen Seite – voll stummer, verbissener Leidenschaft, sich nicht hemmen zu lassen, ihr Schicksal zu erzwingen . . . Aber da drüben in der freien Ebene, auf der weißen Fläche, längs der Ufer, bildeten dunkle Punkte und rote Flaggen eine lange, dünne, langsam vorschreitende Linie. Es war Infanterie vom Regiment ihres Vaters. Sie erkannte die Achselklappen. Sie sah das Aufblitzen der Schüsse. Auch von rechts, wo die Dragoner gewesen, knatterte jetzt das Kleingewehrfeuer, und weiterhin, jenseits des Sees, war alles schwarz von Soldaten. Sie war mitten in die Felddienstübung des Generals von Glümke hineingeraten.

Sie blieb ratlos, in sich zusammenfröstelnd, im Schnee stehen. Der Weg zum See war ihr mit Waffengewalt versperrt. Das Gefecht näherte sich mehr und mehr. Es schien, daß Papa mit seinem Regiment eine weitausgreifende Umfassung vorbereitete. Sie glaubte ihn fern unter einem einzelnen Baum an seinem Pferd, der guten alten Rappstute Bella, zu erkennen, die so phlegmatisch im Kugelregen stand. Sie wandte sich um und ging langsam, wie vor den Kopf geschlagen, längs des Waldsaums dahin. In ihr war immer noch der verzweifelte, nachtwandelnde Drang: ›Ich kann mir nicht helfen. Ich muß jetzt Schlittschuhlaufen. Weit weg. Ganz weit . . . Wer weiß, wann ich wieder die Kraft dazu habe.‹ In einer Aufsichtshütte, die am Wege stand, ließ sie sich nieder und saß da, ohne sich zu rühren. Hier störte sie keiner. Sie hatte die Hände zusammengelegt und den Kopf geneigt. Sie war unendlich traurig. Über ihr war in der Holzwand von sommerlichen Ausflüglern ein Herz eingeschnitten. ›Paul – Emma. 1900.‹ stand darin. Das machte sie auf einmal beinahe weinen. Alle Menschen liebten sich, jedes fand den Seinen oder die Seine. Nur sie war verlassen. An ihr ging man achtlos vorbei. Es war so grausam – so demütigend. Sie ertrug es vor sich selber nicht. Sie seufzte schwer, mit düsterem Gesicht. Sie dachte sich: Es muß ja nicht heute sein! Der Winter ist ja noch lang. Es kommen noch mehr solche Tage . . . Das gab ihr einen trüben Trost. Sie fühlte sich ruhiger. Sie erhob sich und drehte nun endgültig dem Gefechtsfeld den Rücken und schlug die Richtung nach Hause ein.

Hinter ihr klang es, fern im Wind, aus vielen Hörnern: ›Gewehr in Ruh'!‹ Es wurde plötzlich ganz still. Die Übung war doch früher zu Ende, als sie geglaubt. Hoffentlich hatte Papa gut abgeschnitten. Er machte es ja dem General von Glümke nie zu Dank. Nun rückten die Regimenter bald in die Quartiere. Aber für sie, Maxe Ottersleben, war es heute zu spät: die große Stunde und Stimmung verflogen.

Ein andermal . . . Traumverloren wanderte sie weiter – eine Viertel-, eine halbe Stunde. Sie brauchte doppelt so viel Zeit als auf dem Hinweg – so matt war sie – so schwer trugen sie die Füße. Am liebsten hätte sie sich lang in den Schnee hingeworfen und wäre liegen geblieben, mochte daraus werden, was wollte. Dann gab sie sich einen erschrockenen Ruck und schritt anscheinend gleichgültig dahin. Sie hatte hinter sich Hufgetrappel gehört. Da kam jemand, im schlanken Trab, ohne sich um Schneelöcher und Baumwurzeln zu kümmern, so elastisch wie ein junger Leutnant im Sattel, trotz der weithin leuchtenden, scharlachroten Generalsaufschläge. Als er sich dem jungen Mädchen näherte, richtete er sich in den Bügeln empor, die – das Zeichen eines tadellosen Reiters – so lang geschnallt waren, daß er eben noch mit der Fußspitze Anlehnung fand, und rief lachend: »Na, Sie Schlachtenbummler . . . hab' ich Sie noch glücklich erwischt . . .?«

Sie machte halt, einen Schatten des Unmuts auf dem hübschen, blassen, unregelmäßigen Gesicht. Der General von Glümke . . . der fehlte ihr noch gerade! . . . Papas Vorgesetzter und Widerpart! Sie schaute kühl zu ihm empor, in der Erwartung, daß er an ihr vorbeireiten würde. Er sah etwas verändert aus, weil der Reif seinen sonst blonden Schnurrbart silbergrau überzogen hatte. Aber das machte ihn nicht älter. Es war eher, als ob er sich gepudert hätte, wie ein Offizier aus friderizianischen Zeiten. Mit seinen geröteten Wangen, den blitzenden blauen Augen war er ein Bild der Unternehmungslust. Man mußte schon genau hinblicken, um die vielen feinen Fältchen auf seinen verwegenen Zügen zu erkennen. Er ritt ein riesiges, blutjunges Pferd, das noch so hochbeinig war wie ein halbes Fohlen. Es arbeitete an der Kandare, daß die weißen Schaumflocken flogen. Sein dickes Winterhaar rauchte von Schweiß und war struppig wie bei einem Ackergaul. Beim unvermuteten Anblick einer Dame machte es mit allen vieren eine Lançade in die Luft hinauf, daß sie schon einen Sturz befürchtete. Aber Olaf ließ sich durch solche kleine Späße nicht im Sitz stören. Er klopfte dem Tier beruhigend auf den Hals, schwang sich mit einem Satz aus dem Sattel und ging, es am Zügel nach sich ziehend, so als ob sich das von selbst verstände, links neben Maximiliane her.

»Nu sagen Sie mal um Gottes willen, was haben Sie denn eigentlich den ganzen Morgen da draußen gemacht?«

»Ich?« sagte sie erstaunt. Es konnte sie doch niemand gesehen haben. Es war doch zu weit gewesen.

»Na – ich beobachte Sie doch seit zwei Stunden und trau' meinen Augen nicht! Stiefelt mir da auf einmal eine junge Dame in der Schützenlinie herum! Ich hatt' schon Angst, Sie würden schließlich noch die Führung des markierten Feindes übernehmen . . . Na – da hätt' ich schön Senge besehen! Gegen Damen bin ich wehrlos!«

»Ich bin nur hinaus, um Schlittschuh zu laufen, und wie das nicht ging, gleich wieder umgekehrt.«

Er lachte schallend und schlug mit der Hand auf den Krimstecher, den er in einem Lederfutteral umgeschnallt trug: »Und mein Zeiß? Ich hab' doch als Feldherr das Gelände überschaut. Ich hab' mich immer beim Befehlerteilen gefragt: Jesus – was macht sie nur? . . . In dem zugigen Aussichtstempelchen, in dem Sie eine Stunde gesessen haben, könnt' ja unsereiner 'nen Schnupfen kriegen! . . . Aber warten Sie nur: ich steck' es dem Papa!«

Er drohte ihr gutmütig wie einem Kind mit dem Finger und setzte amüsiert hinzu: »Schade, daß Sie nicht zum Schluß zur Kritik gekommen sind! Ich hätte Ihnen gerne die Brigade im Parademarsch vorgeführt!«

Sie biß sich auf die Lippen, erwiderte nichts. Endlich versetzte sie schroff: »Ich kann doch spazieren gehen, wo ich will.«

»Aber unbedingt!« sagte Olaf von Glümke. Im Augenblick, wo er merkte, daß sie auf seine Neckereien nicht einging, änderte er den Ton.

»Ich hatt' nämlich wirklich Angst, es wäre Ihnen nicht wohl!« gestand er. »Oder Sie hätten gestern was beim Schlittschuhlaufen verloren und suchten es. Da hab' ich Adjutanten, Ordonnanzen und Gäule auf der Chaussee vorausgeschickt und bin Ihnen durch den Wald nachgeritten, um zu sehen, ob ich Ihnen nicht behilflich sein kann.«

»Sie sind sehr gütig, Herr General!«

Sie gingen eine kurze Strecke stumm nebeneinander her. Leise klirrten ihre Schlittschuhe, seine Sporen im Takte ihrer Schritte. Hinter ihnen schnaufte das Pferd. Man fühlte seinen heißen Atem im Genick. Sie dachte sich: Warum steigt er denn nicht endlich auf und reitet weiter? Sie sagte es schließlich direkt in ihrem Unmut: »Aber ich möchte Ihnen nicht Ihre Zeit wegnehmen, Herr General!«

Er verneinte.

»I wo! Ich vertret' mir mit Wonne 'n bißchen die Beine! Ich bin verfroren. Ich kann mir doch nicht Stroh um die Steigbügel wickeln lassen wie ein Großpapa . . . Aber die Brigade mußte mal 'raus und ihre Sünden abschwitzen. Ihr Herr Vater, der ist nur fürs Zielen! Aber ich bin nicht so gelehrt. Ich bin kein Bücherhengst. Es ist ja jetzt Mode. Die Herren sind's alle. Ihr künftiger Schwager Logow auch. Na – wann heiratet denn die schöne Ulla?«

»Anfang Mai.«

»Und das Dorle?«

»Am selben Tag.«

»Und die blonde Maxe?«

»Ich?«

Sie war ganz empört, daß er sie im Scherz mit ihrem Garnisonspitznamen »blonde Maxe« nannte! Woher wußte er denn überhaupt?

Er bestätigte unbefangen: »Ja . . . Sie!«

Sie wurde nicht rot, sie kicherte nicht und sah nicht zur Seite, wie er es als alter Schwerenöter sonst bei jungen Mädchen kannte, sondern warf den Kopf etwas zurück und sagte sehr kühl und von oben herab: »Ich hab' noch lang' Zeit, Herr General!«

»Nanu?«

Sie ärgerte sich über seine belustigt hochgezogenen Brauen und setzte hochmütig hinzu: »Wenn es nach mir geht, heirate ich am liebsten überhaupt gar nicht! Ich finde die Männer nicht so furchtbar verlockend!«

Der General von Glümke schüttelte sich vor Lachen.

»Sie haben sehr recht, Fräulein Maxe . . . Sehr recht! . . . Ich kenne die Gesellschaft! Ich warne Sie! Aber Sie müssen mich trotzdem zu Ihrer Hochzeit einladen! Versprechen Sie es mir?«

»Lassen Sie doch endlich die Witze, Herr General! Die sind wirklich nicht neu! Wenn Sie bloß deswegen von Ihren Soldaten weggeritten sind, um mir das zu erzählen . . .«

»Der Dienst ist zu Ende!« versetzte Olaf von Glümke. »Jetzt bin ich Mensch! Hol' der Deubel den Dienst in den Freistunden! . . . Na . . . Kopf hoch, Fräulein von Ottersleben! . . . Was machen Sie nur immer für ein Armsündergesicht? Tut's Ihnen so leid, daß die Schwestern aus dem Hause gehen? . . . Na – warten Sie nur: Sie werden auch bald . . . Ach so . . . Ich bin schon still . . . Sie müssen es nicht so ernst nehmen, was ich rede!«

Ihre Züge waren unter dem schwarzgetupften Schleier blaß und trotzig. Sie antwortete wenig höflich: »Das tu' ich auch nicht, Herr General!«

»Danke gehorsamst!«

Er legte zwei Finger an den Helmrand, lachte, und es fuhr ihm dabei blitzschnell durch den Kopf: Donnerwetter ja! . . . Die hat schon scheint's ihre Erfahrungen hinter sich! Die hat sich schon irgendwo verbrannt! Dann forschte er wohlwollend: »Sind Sie eigentlich immer so kratzbürstig, Fräulein von Ottersleben?«

Sie antwortete nicht und ging rascher. Er hielt elastisch mit ihr gleichen Schritt. Er sah sie dabei vergnügt aus seinen strahlenden, von seinen Krähenfüßen umrahmten blauen Augen an. Er behandelte sie wie ein Kind, mit dem man sich im Spiel herumneckte. Er war grausamer bei ihrer jetzigen Seelenverfassung, als er ahnte. Und doch belebte sie seine unbekümmerte frische Art. Er nickte befriedigt.

»Sehen Sie . . . Jetzt schauen Sie schon wieder viel blanker aus den Augen! Lachen Sie! . . . Lachen Sie, Fräulein Maxe! . . . Wollen Sie gleich lachen . . . Donnerwetter ja! So! Na . . . das war wenigstens ein Anfang . . . Sie möchten nämlich ganz gerne fidel sein, Kind . . . Sie genieren sich bloß . . . Sie denken: Blässe ist interessant! . . . Ach wo! . . . Kinder . . . wenn schon die jungen Mädchen Trübsal blasen, was sollen denn dann wir alten Knackstiebel erst anfangen? Ich hab' doch so was Väterliches an mir, nicht?«

»Nein – gar nicht, Herr General!«

Er wiegte betrübt den blonden Kopf.

»Ach . . . und ich dachte . . . na . . . nichts für ungut! Kommen Sie: wir wollen uns wieder vertragen! . . . Ich muß jetzt da links ab . . . Sind Sie mir noch böse?«

Sie waren am Stadtrand. Vor ihnen schimmerten schneebedeckt die ersten Villen. Sie dachte sich: ›Böse – Warum? . . . Lieber Gott . . . Er ist nun mal so . . .‹

»Adieu, Herr General!« sagte sie freundlicher, froh, von ihm loszukommen. »Au – Sie tun mir ja weh . . .«

Er hatte ihre Rechte kameradschaftlich derb geschüttelt, hielt sie einen Moment fest und schaute ihr ins Gesicht.

»Ich mein's nämlich wirklich nicht so schlimm!« sagte er. »Ich hab' Sie doch noch als Backfisch gekannt! . . . Wissen Sie, Fräulein von Ottersleben . . . Sie gefallen mir eigentlich! Sie sind ein apartes Mädel! Anders wie die anderen! . . .«

»Herr General . . . nun möcht' ich aber wirklich bitten . . .«

Olaf von Glümke ließ ihre Hand los und schwang seine hagere, straffe Gestalt mit einem Sprung in den Sattel. Der Gaul schnarchte nervös, bockte und stieg, drehte sich mit dem Reiter im Kreis.

»Passen Sie auf . . . das Biest keilt . . .« schrie er oben, im Kampf mit dem Tier, zu dem jungen Mädchen, das, an Pferde gewöhnt, nur langsam zurücktrat. »So . . . alter Sohn . . . Nu hab' ich dich . . . 'n Morgen, Fräulein von Ottersleben! Besuchen Sie uns bald wieder draußen beim Exerzieren! Ist uns immer eine Ehre!«

Er war mit Zügeln und Schenkelschluß in Ordnung, ein Sporengekitzel: Roß und Reiter flogen im Rechtsgalopp dahin. Er drehte sich noch einmal um. Er winkte mit der Rechten.

»Ich tanz' doch noch auf Ihrer Hochzeit!« schrie er durch den Wind. Dann bog er über den Chausseegraben auf das flache Feld zur Linken ein. Da waren Heckenreihen. Er übersprang sie, eine nach der anderen, in elegantem Jagdsitz. Es war ein schneidiger Anblick. Seine Gestalt wurde rasch kleiner und kleiner und verschwand. Sie sah ihm nach und dachte sich: Drollig. Da zeigt er sich nun vor mir mit seinen Reiterkunststücken . . . Er – ein General in Rang und Würden. Er hat es doch wirklich nicht mehr nötig, auf mich Eindruck zu machen. Er ist ein komischer Mensch . . . Aber immerhin . . . Wo er war, war Leben: es lag jetzt noch, wie sie in die Stadt hineinschritt, ein vergessenes halbes Lächeln von vorhin auf ihren Zügen. Dann wurde sie seiner bewußt, und es schwand. Die traurige Grundstimmung ihrer Seele nahm wieder von ihr Besitz. Aber nicht mehr mit dem alten lähmenden Zwang. Der war durch den General von Glümke unterbrochen worden. Er hatte sie wachgerüttelt. Etwas von seiner Frische – das, wodurch er die Mannschaft elektrisierte – hatte sich ihr mitgeteilt.

Eigentlich mußte sie ihm dafür dankbar sein. Er war der erste und einzige, der ihr ein bißchen Trost gegeben hatte. Nein, nicht Trost – eher Trotz. Sie sah sich jetzt in ihrer Stimmung von heute früh wie eine Fremde. Sie fühlte, die Anwandlung kam in dieser Stärke nicht wieder. Darüber war sie nun hinaus . . .



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