Rudolph Stratz
Du Schwert an meiner Linken
Rudolph Stratz

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5

Vom Königlichen Schlosse zu Berlin kommend, schritt der Oberst Bruno von Ottersleben über die Spreebrücke nach den Linden zu. Er war in großer Paradeuniform, mit Helm und Schärpe, eine glitzernde Ordensreihe auf der Brust, die der trotz der Februarkälte nur lose über die Epauletten geworfene hechtgraue Mantel freiließ. Er ging langsam, fast ein wenig schwerfällig, in seiner breitschultrigen, würdevollen Stattlichkeit. Sein kluges, derb geschnittenes Gesicht, mit den aufmerksamen Augen, trug einen wohlwollenden Ausdruck. Ein anderer älterer Militär mit silbergesticktem Kragen und Gardesternen kam ihm entgegen. Er winkte schon von weitem: »'Morgen, Ottersleben! . . . Na – auch mal wieder in Berlin! Famos! . . . Wie – nur auf vierundzwanzig Stunden? . . . Ach nee . . . machen Sie keine Späße . . . Wo haben Sie denn Ihre Generalstabstreifen gelassen? Nicht mehr bei den Halbgöttern? – Was?«

»Augenblicklich nicht! Ich hab' ein Regiment gekriegt. Die Zweihundertvierundvierziger in Straßburg! Eben hab' ich mich bei Majestät gemeldet!«

»Gnädig?«

»Sehr.«

»Famos! . . . So . . . so . . . Straßburg . . . na – grüßen Sie dort die Müritzens von mir – und was ich sonst noch von der Blase kenne . . . und bitte mich gehorsamst der Gattin zu Füßen zu legen . . . Auf Wiedersehen!«

Oberst von Ottersleben setzte seinen Weg fort. Er stieß hier in Berlin, wo er viele Jahre in der Garde und im Generalstab gestanden, auf Schritt und Tritt auf Bekannte. Seine Mienen erhellten sich plötzlich. Zwei hochaufgeschossene junge Lichterfelder Kadetten schritten da eilig und gleichmäßig die Linden hinauf. Seine Söhne. Er hatte, in der Zeit gedrängt, gebeten, sie ihm auf eine Stunde nach Berlin hereinzuschicken, damit er sie wenigstens zu Gesicht bekäme. Vor dem historischen Eckfenster Unter den Linden trafen sie sich. Er freute sich über die Jungen und ging mit ihnen in die Habelsche Weinstube zu ihrer Linken frühstücken, wo er als junger Gardeleutnant schon vor Jahrzehnten gesessen, noch zur Zeit des großen Kaisers, und den Scherzen und Späßen der alten Flügeladjutanten und Generale an ihrem berühmten runden Stammtisch nebenan zugehört hatte, damals, als 1870 noch beinahe wie ein Traum von gestern war. Er fütterte seine Sprößlinge und schmunzelte, wie sie gleich jungen Wölfen einhieben. So hatte er es in seiner Kadettenzeit auch gehalten, wenn er, noch ein halbes Kind, am Sonntag zu Großpapa Exzellenz durfte, dem uralten, hoch in den Achtzigern stehenden Herrn, der noch Napoleon mit eigenen Augen gesehen und unter Blücher gefochten hatte und nach Tisch davon erzählte, wie sie, die Ostpreußen voran, am Abend des zweiten Tages der Völkerschlacht das Grimmasche Tor in Leipzig erstürmt hatten. Und wie der Oberst von Ottersleben daran zurückdachte, erschien ihm diese ganze Folge von Generationen als eine aus Erz geschmiedete Kette – endlos, sich immer wieder aus sich erneuernd, wie die Armee selbst, und er war nur ein einzelnes, zufälliges und hoffentlich ein nützliches Glied in dieser langen Reihe und wollte seine Söhne eben dazu erziehen.

»Ich hab' hier ein bißchen auf den Busch geklopft!« sagte er beim Aufbruch, nachdem ihm Günter und Busso immer abwechselnd das Frühstück hindurch, der eine kauend, der andere sprechend, alles Neue von ihrem Leben im Korps, den Erziehern, den Kameraden, den Zivillehrern, der Tanzstunde und dem Ball in voriger Woche erzählt hatten. »Es ist Aussicht, daß ihr beide seinerzeit in mein altes Regiment hier kommt, das ja euer Großvater auch schon geführt hat . . . Aber nun haltet auch die Ohren steif und macht mir keine Dummheiten, sonst ist's Essig mit der Gardeinfanterie!«

Die beiden lachten. Sie wußten: Ihnen war die Garde sicher! Sie gingen rechts und links von ihrem Vater die Linden hinunter, lang und dünn wie die Heringe, neben seiner breiten, ordensbedeckten Brust. Es war ein Bild des Nachwuchses der Armee. Vorüberkommende sahen beifällig auf den Oberst und seine Söhne. Am Brandenburger Tor präsentierte der Posten das Gewehr vor ihm. Er winkte ab und verabschiedete sich von den jungen Kriegern. Die mußten zum Potsdamer Bahnhof und von da nach Großlichterfelde zurück. Er selber schlug den Weg zur Rechten nach dem Königsplatz ein.

Alle Straßen trugen hier die Namen preußischer Siege, preußischer Feldherren. Die schweren Goldmassen der Viktoria schimmerten auf der vom Erz eroberter Geschütze umgürteten Siegessäule. In der trüben Luft ragten drüben die Denkmäler Moltkes und Roons. Gerade hinter der Statue des großen Kriegsministers erhob sich ein nüchternes, vielfenstriges Backsteingebäude: der Sitz des Generalstabs.

Der Oberst von Ottersleben war in diesen hellen, schmucklosen Korridoren, diesen Reihen von einfachen Schreibstuben, die ebensogut irgendeiner beliebigen preußischen Behörde hätten dienen können, seit langem zu Hause. Er wußte, wo er einen jeden fand, den er suchte. Er meldete sich bei einem der Oberquartiermeister, der seit langem sein Gönner war, er schaute zu alten Kameraden in den Nachrichtenabteilungen in die Stuben, er traf in der Eisenbahnabteilung einen dort über der Mobilmachung brütenden Oberleutnant seines neuen Regiments, der noch dessen Uniform trug, und ebenso ein paar Vettern in der trigonometrischen und der kartographischen Abteilung der Landesaufnahme. Und überall fand er dasselbe: straffe, schweigende, unermüdliche Arbeit . . . Nun betrat er, mit den sonstigen Zwecken seines Kommens zu Ende, das Zimmer des Hauptmanns von Logow. Der drinnen war so in seine Tätigkeit vertieft, daß er das Klopfen und Öffnen der Tür überhörte. Er saß an einem großen, mit Papieren und Haufen von ausländischen Zeitungen bedeckten Tisch und schrieb. Beim Klang einer fremden Stimme schob er mechanisch vor allem das sekrete Schriftstück, das er unter den Händen hatte, zwischen zwei Löschblätter, um es vor unberufenen Augen zu verdecken. Dann erhob er sich.

»Ach – du bist's, Onkel Bruno,« sagte er lachend. »Na – da hätt' ich's nicht nötig gehabt! Du kennst ja den Zauber . . . das ist ja nett . . . komm . . . setz dich!«

Der Oberst von Ottersleben war stehen geblieben.

»Ich werd' mich hüten und dir die Zeit stehlen. Du hast hier mehr zu tun! Ich wollt' nur im Vorübergehen fragen: wann trifft man dich denn zu Hause?«

»Abends immer!«

»Schön! Da komm' ich heute auf ein Butterbrot. Wie geht's denn deiner Frau?«

»Ausgezeichnet!«

»Und dir?«

»Mir dito! . . . Warum?«

»Na – du schaust ein bißchen elend aus!«

Erich von Logow stand am Fenster, hell vom Grau des Wintermittags beschienen. Es lag noch die alte Festigkeit und Spannkraft auf seinen Zügen. Aber in seinen Augen war etwas, das seinem Oheim nicht gefiel. Sie blickten nicht mehr mit dem früheren, gleichgültigen, unerschütterlichen Selbstbewußtsein in die Welt. Eine leichte Unruhe oder Müde spiegelte sich darin. Der junge Hauptmann zuckte die Achseln und schob eine Nummer des ›Russischen Invaliden‹, die vor ihm lag, über die Tischplatte.

»Ja, Gott – was Nerven sind, das lernt doch fast jeder hier kennen, Onkel . . . Ich bin doch nun – wart mal . . . laß mich rechnen . . . also 's sind nun auf den Kopf zwei Jahre, daß ich im Generalstab bin . . . Man gewöhnt sich hinein . . . schließlich ist das hier auch reines Training! Nee – nee – Onkel, mir geht's ganz ausgezeichnet . . .«

»Na, um so besser!« sagte der Oberst. »Also auf Wiedersehen heute abend! Grüße Ulla!«

»Danke!« Sein Neffe geleitete ihn zur Tür und wiederholte dort hartnäckig und eigentlich ohne Not: »Ich steh' hier schon meinen Mann. Ich denke, man ist mit mir so weit zufrieden . . .«

Als der Ältere wieder auf den Königsplatz hinaustrat, klang ihm im Ohr, was er heute in dem großen Haus da innen an verschiedenen Stellen über Erich von Logow gehört: Zufrieden? . . . O ja – gewiß. Es ist nichts zu sagen. Eine außerordentliche Arbeitskraft. Ein kluger Kopf. Ein ernster, tadelloser Charakter. Nur eben . . .

Ja – dies ›nur‹, in dem sie einig waren: nur – wir haben den Eindruck: er gibt nicht sein Bestes! Sein Letztes! Er lebt unter einem gewissen Druck. Was es ist, wissen wir nicht . . .

Herr von Ottersleben schüttelte etwas sorgenvoll den Kopf, während er eine Droschke heranwinkte. In der Gegend der Hardenbergstraße in Charlottenburg stieg er aus und klopfte in einem der großen Miethäuser an eine Treppentür, an der außen die Visitenkarte: ›Otto von Ottersleben, Leutnant im Feldartillerieregiment Nummer 86, kommandiert zur militärtechnischen Akademie‹ angenagelt war. Sein Neffe war daheim. Bei ihm zwei Freunde, die mit ihm Zigaretten geraucht und Schnäpse getrunken hatten. Er stellte sie vor: den einen, den kleinen blauen Husaren mit dem Monokel, als Leutnant von Wrobel, den anderen, den glattrasierten Zivilisten in Trauerweidenhaltung und streng englischem Klubschnitt, als Baron Lohgrewe – auch früher aktiv bei den neunundzwanzigsten Ulanen. Und noch dort in Reserve, wie er schnell hinzusetzte. Denn er merkte, daß das nicht recht eine Erscheinung nach dem altpreußischen Herzen seines Onkels war, und der frug auch, kaum daß sich die beiden Herren empfohlen, unbehaglich: »Wer ist denn das? Was treibt er denn?«

»Gott . . . er geht so in Berlin herum.«

»Hat er denn Geld genug dazu?«

»Es scheint doch.«

»Und der andere, der Husar?«

»Der kommt immer mal so aus seiner Garnison herüber!«

Oberst von Ottersleben schaute dem hübschen, dunkeläugigen Offizier scharf ins Gesicht und forschte gedämpft: »Junge – du bist doch nicht unter die Spieler geraten?«

Der andere lachte. »So dumm bin ich nicht, Onkel!«

»Aber warum verkehrst du nicht lieber mit deinen Kameraden?«

»Tu' ich auch. Aber die sitzen des Abends im Bräu. Das ist stumpfsinnig. Ich will unter Menschen. Leute wie der kleine Wrobel und Lohgrewe kennen ganz Berlin. Die haben mich überall eingeführt!«

Sein Oheim musterte eine mit Visitenkarten und Einladungen gefüllte Schale auf der Kommode. Es waren lauter bürgerliche Namen aus Berlin W. Er kannte keinen einzigen davon. Es schien sich um reiche Leute zu handeln. Man las häufig den Titel: Generalkonsul – Geheimer Kommerzienrat – Generaldirektor. Ganz zuoberst lag eine Karte: »Herr und Frau John Bannersen bitten Herrn Leutnant von Ottersleben auf Sonnabend, den 4. Februar, zum Ball.«

Sein Neffe erläuterte: »Da steckt ein klotziges Geld, Onkel Bruno! . . . In Baumwolle zusammengeschuftet! Nun hat sich 's der Alte in Berlin bequem gemacht. Eigentlich ist er Bremenser.«

»Sag mal: sind da auch Töchter im Haus?«

Der junge Ottersleben mußte über die Naivität dieser Frage beinahe lachen.

»Eine! Mehr haben sie nicht!«

»Ach so!«

Der Oberst setzte sich und fuhr fort: »Weißt du, ich an deiner Stelle würde den Verkehr in den Häusern dieser Millionäre aufstecken! Das ist nichts für uns, Otto – glaub es mir!«

»So? Und übers Jahr sitz' ich wieder in der Provinz!« sagte der junge Leutnant, nervös vor Ungeduld. »Dann ist's mit allem vorbei! . . . Mir hat man überhaupt unrecht getan, Onkel! . . . Du warst in der Garde. Den Günter und den Busso steckst du in die Garde. Papa war in der Garde. Meinen jüngeren Bruder, den Peter, hat er jetzt bei den dreizehnten Grenadieren untergebracht – dem bildschönen schlesischen Feudalregiment! Ich, der älteste, mußte seinerzeit da draußen in die Linienartillerie . . . warum? Da hieß es: sparen . . . sparen . . . wir haben die drei Mädels auf dem Hals! Nun, wo zwei davon versorgt sind und nur noch die Maxe übrig ist, da ist's für mich zu spät. Und wenn ich mich dann aus eigener Kraft ein bißchen aufrappeln will und nicht gerade ein Unmensch bin, wenn sich mir hier in Berlin W. etwas bieten sollte, ist's auch nicht recht!«

Er brach ab und setzte dann trotzig, seine letzten Ziele verratend, hinzu: »Ich will doch nicht den Abschied nehmen und faulenzen! Ich will doch bloß zur Kavallerie . . .«

Es war eine Pause. Dann hub der Oberst an: »Und was sagt denn dein Vater dazu?«

»Papa? . . . Mit dem hab' ich darüber nicht gesprochen. Ich war schon ein halbes Jahr nicht mehr daheim. Ich muß wirklich mal nächstens hinüber. Unter uns: es geht Papa gar nicht gut mit der Gesundheit . . .«

»Ja, leider. Ich hab's gehört!«

Der ältere Ottersleben schwieg. Im gefiel das alles nicht. Er zündete sich eine Zigarre seines Neffen an und meinte nach den ersten blauen Wolken beiläufig: »Kommst du oft zu Logows, Otto?«

»Nee!«

»Warum denn nicht?«

»Es ist zu langweilig! Entweder sie zanken sich, oder haben sich gerade gezankt, oder werden sich nächstens zanken! Dann hockt er finster da, und die Ulla mault. Und du machst als Gast ein geistreiches Gesicht. Nee – gemütlich ist's bei den Logows nicht! Das kannst du mir glauben, Onkel!«

»Hm – hm . . . also du meinst wirklich, es ist da nicht alles, wie es sein sollte? Ich frage nicht bloß aus verwandtschaftlichem Interesse, mir liegt wirklich auch viel an Erichs Karriere!«

»Ja, Gott! Er hat eben bis über die Ohren zu tun, und sie mopst sich unterdessen, und wenn sie dann beisammen sind, haben sie sich nichts zu sagen.«

»Das ist aber recht traurig!«

»Ja, ich weiß auch nicht, was sich Logow von der Ulla eigentlich versprochen hat! Ich, als Bruder, hab' sie ja immer mordend langstielig gefunden, und die Kameraden auch! Sie sitzt eben da und ist schön. Viel mehr kann man mit ihr nicht anfangen. Sie gehört mitten in einen Ballsaal und hundert Menschen um sie 'rum! Dann ist sie in ihrem Element . . . Ja – das kann er als Generalstäbler nicht, und sie haben's auch nicht dazu. Sie hat sich gedacht: Berlin – das ist so das große Leben! Aber in den kleinen Garnisonen amüsieren sich die Leute oft viel besser! Na: die Ulla ist apathisch von Natur. Die findet sich schließlich in alles! Es ist nicht so schlimm.«

»Hoffen wir's!« sagte der Oberst von Ottersleben sehr ernst und verabschiedete sich.

Als er einige Stunden später des Abends bei den Logows saß, war er eigentlich angenehm enttäuscht. Es machte alles einen ganz netten Eindruck. Seine Nichte und ihr Mann kamen nicht nur ihm freundlich entgegen, sie waren es auch untereinander, kein Ehepaar voll eines überströmenden Glücks, aber eines, das sich schließlich ineinander gefunden zu haben schien, wie tausend andere. Er beobachtete im stillen Ulla, während sie mit ihren ruhigen, gleichmäßigen Bewegungen am Teekessel hantierte. Sie hatte in ihrer Erscheinung als Frau nicht ganz das gehalten, was sie als Mädchen versprach. Sie war auf jener Entwicklungsstufe eines schönen lebenden Bildes oder leblosen Bildes stehen geblieben, das er von früher her kannte. Die Reife der Durchgeistigung fehlte. Im Dunkel ihrer großen, mandelförmigen Augen lag zuweilen eine bleierne, leer in sich verträumte Teilnahmlosigkeit, namentlich wenn Erich von Logow sich einmal aus seiner gewohnten Schweigsamkeit aufraffte und jedesmal auch gleich vom Dienst sprach. Dann hörte sie sofort nicht zu und ließ, die Hände im Schoß, ihre Blicke müde durch das Zimmer schweifen. Er schien das schon gewohnt, und der Oberst sagte sich: So sitzen sie wahrscheinlich des Abends beisammen, wenn kein Gast da ist, und haben einander absolut nichts mehr mitzuteilen . . . Er wollte diese Stimmung nicht aufkommen lassen und frug: »Na – und was hört ihr von zu Hause, Kinder . . . Euer guter Papa macht euch leider Sorgen – nicht wahr?«

Die junge Frau nickte und holte einen Brief ihrer Mutter hervor. Die Nachrichten waren schlimm. Papa hatte Schwindelanfälle. Neulich war er gerade auf der Treppe gestürzt. Es kostete ihn immer mehr Mühe, sich in den Sattel zu schwingen. Aber als der Bursche einmal den Gaul an einen Prellstein im Hofe geführt hatte, war er wütend geworden. Er sei noch kein Spitalbruder! Warum man ihm nicht lieber gleich eine Leiter brächte? Er verbäte sich diesen Unfug!

Es war eine sorgenvolle Pause. Dann forschte der Regimentskommandeur in seiner frischen unmittelbaren Art: »Na – und was macht denn eigentlich die Maxe? Seht ihr sie oft? Kommt sie mal zu euch 'rüber?«

»Wir sind jetzt fast zwei Jahre verheiratet!« sagte Logow. »Aber seit meinem Hochzeitstag hab' ich die Maxe nicht mehr gesehen!«

»Nanu?«

»Jawohl! Die beiden Male, wo wir inzwischen drüben zu Besuch bei ihren Eltern waren, war sie jedesmal gerade in Thorn, bei Grotjans. Bei denen ist sie oft. Die liebt sie! Aber von uns will sie nichts wissen.«

»Komisch! Man sollte doch meinen, ein junges Mädel müßte froh sein, wenn sie Berlin so bequem vor der Nase hat. Übrigens: so ganz jung ist sie ja auch eigentlich nicht mehr . . . Sie wird doch mit Gottes Hilfe dies Jahr fünfundzwanzig . . . Hört mal: warum heiratet sie denn eigentlich nicht?«

Er wandte sich dabei an Ulla. Sie goß ihm Tee ein und erwiderte kühl: »Das fragst du mich auch zu viel, Onkel Bruno! Ich weiß es nicht!«

Sie mußte plötzlich husten. Es dauerte ziemliche Zeit. Ihr Mann sah sie dabei schweigend und eigentümlich besorgt an. Dann meinte sie, noch mit geröteten Wangen und feuchten Augen, zu ihrem Onkel: »Das ist nun mein üblicher Winterkatarrh. Den krieg' ich im Oktober und werde ihn vor Mai nicht los. Das war voriges Jahr gerade so. Du, Erich . . .«

»Ja . . .«

»Mir ist mit Papa so ein bißchen bang! Am liebsten führe ich morgen mal hinüber . . .«

»Ja, tu das nur!« versetzte ihr Mann gleichgültig.

Der Oberst von Ottersleben merkte aus den paar Worten: Die beiden stritten sich nicht mehr, wie es sein Neffe, der Artillerist, von früher her behauptet. Sie waren aneinander müde geworden. Sie ließen einander gehen, wie sie wollten. Er wartete, bis die junge Frau das Zimmer verlassen hatte. Dann wandte er sich an Logow, der in seinem schweigenden Brüten, abgespannt von der Arbeit des Tages, dasaß: »Na, Erich – nun sind wir unter uns! Nun können wir vom Kommiß reden, ohne deine bessere Hälfte zu langweilen . . . Nu sag mal: was machst du für Geschäfte in Berlin?«

Im Augenblick hatte Erich von Logow sich gesammelt und seine Nerven und seinen Willen in der Hand.

»Ich hab's dir ja heute mittag schon gesagt. Ich bin schon auf dem rechten Weg. Die Karre läuft schon, wie sie soll!«

»Es fehlt dir gar nichts?«

»Was sollte mir wohl fehlen?«

Der junge Hauptmann sprach es sehr kühl und fügte hinzu: »Sei nur unbesorgt! Es ist alles in schönster Ordnung!«

»Ich hab' ja auch nie das Gegenteil behauptet, mein Sohn!« versetzte der Oberst gelassen. »Nimm mir mein Interesse, als älterer Generalstäbler für einen jüngeren, nur nicht gleich übel!«

»Ich bin dir dankbar dafür, Onkel . . . Nur . . . ich spreche ungern viel von mir selber! . . . Sag mal: ist dir das Teegesöff da nicht zu labberig? Möchtest du nicht lieber ein Glas Bier? . . . Warte – ich hol's dir rasch . . .«

Er stand auf. Draußen schrillte die Flurklingel.

»Nanu?« murmelte er. »Was ist denn das? Noch um neun Uhr abends?«

Fast zugleich klang im Korridor ein Aufschrei Ullas.

»Papa . . . um Gottes willen . . . Papa . . .!«

Und dann die völlig ruhige Stimme ihres Vaters, zugleich mit dem Klirren eines an den Haken gehängten Säbels.

»Nun ja, Mieze! . . . Tu doch nicht so, als wär' es mein Geist! Ich bin's wirklich!«

Der Oberst Thilo von Ottersleben stand auf der Schwelle, im Interimsrock seines Infanterieregiments Burggraf Friedrich von Nürnberg. Er sah ganz wie gewöhnlich aus, höchstens daß die hellbraunen Augen etwas leidend blickten. Er war im letzten Jahr sehr gealtert. Er hatte noch mehr Fältchen auf den feinen und klugen, an einen Gelehrten erinnernden Zügen bekommen und mußte sich Mühe geben, um sich in den Schultern straff aufrecht zu halten. Er begrüßte Bruno und Schwiegersohn, als wäre gar nichts Besonderes geschehen, und setzte sich. Er war von dem kurzen Treppensteigen sehr außer Atem.

»Warum ich auf einmal hier bin, Kinder?« sagte er. »Na, das will ich euch verraten: also – es ging auf einmal nicht mehr! . . . mitten auf dem Exerzierplatz ging mir heute morgen die Puste aus . . . es war ein Schwindel . . . schwarz vor den Augen . . . ich hab' mich vor der Mannschaft geschämt, aber es half nichts . . . ich mußte 'runter vom Pferd – sie haben mich fast gehoben – und mich auf den Arm vom Adjutanten stützen und nach Hause gehen . . . Nun frag' ich euch: kann ich's in der Verfassung noch vor Seiner Majestät verantworten, ein Regiment zu kommandieren? . . . Ich sage: nein! . . . Du hast eben die Zweihundertvierundvierziger gekriegt, Bruno, und ich gebe die Hundertachtundachtziger ab! Das wird das Ende vom Lied sein!«

»Ich will nicht warten, bis man höheren Orts meldet: Der Kerl kann nicht mehr kriechen!« fuhr er fort. »Unser guter Stabsarzt versteht vom Whistspielen mehr als von so 'nem inneren Knacks . . .« Er lachte plötzlich leise und geheimnisvoll in sich hinein. Sein Antlitz zeigte eine geisterhafte Blässe. Er schien denen um ihn auf einmal verändert. »Ich bin nämlich schon seit heute mittag in Berlin, Kinder! Und um halb sechs bin ich zu 'ner Autorität in die Sprechstunde gestiefelt . . . Wollte mal Gewißheit haben. Der berühmte Mann hat die längste Zeit an mir 'rumgeklopft und 'rumgehorcht. Und das Ergebnis: Du mußt mir nachher einen Bogen Papier geben, Erich! Ich schreibe heute noch mein Abschiedsgesuch.«

»Und du mußt mich für heute nacht hier aufnehmen, Mieze!« sagte er beinahe bittend, in dem tiefen allgemeinen Schweigen zu Ulla. »Ich hab' heute so einen merkwürdigen Widerwillen gegen ein Hotel. Ich weiß lieber jemand wie Erich in der Nähe! Der Professor wollt' es auch. Ich kann ja auch auf dem Kanapee da schlafen. Da stör' ich euch dann nicht!«

»Das fehlte noch, Papa!« Erich von Logow legte selbst mit Hand an und trug gemeinsam mit dem Burschen eines der schweren Betten aus dem Schlafzimmer hinüber in den Salon. Ulla und das Mädchen machten dem Hausherrn unterdessen an der leeren Stelle ein Notlager auf dem Boden zurecht, Ihr Vater saß in dem Getriebe still und freundlich, müde da, als ob es ihn eigentlich gar nichts anginge. Sein Bruder reichte ihm die Hand.

»Ich geh' jetzt, Thilo! . . . Wir sehen uns noch morgen früh! Laß es dir gut gehen!«

Der andere hatte sich erhoben. Die beiden Brüder und Regimentskommandeure standen einander gegenüber.

»Lasse du es dir gut gehen!« sprach er laut. »Bringe du unseren Namen weiter zu Ehren! Du bist der Mann dazu! Du kommst noch hoch hinauf in der Armee. Das wünscht dir niemand mehr von Herzen als ich! Gute Nacht, mein guter Bruno! Und nun komm einmal her, Erich! . . . Ich habe mit dir unter vier Augen zu sprechen, solange deine Frau noch draußen herumkramt! Die Frauenzimmer brauchen nicht alles zu wissen, die machen nur ein unnützes Geschrei. Wir sind Männer. Also: der Professor heute hat mir reinen Wein eingeschenkt. Wer weiß, wielange ich noch leb' . . .«

»Aber Papa . . .«

»Pscht! . . . Es ist ein Klaps am Herzen! . . . Vom Ärger im Dienst stammt der nicht, seit der Glümke seit 'nem Jahr seine Division im Elsaß hat und mich schon vorher in Ruhe gelassen und auch nicht mehr zu uns ins Haus gekommen ist. Mit seinem Nachfolger hab' ich mich vorzüglich vertragen. Und Mama mit ihr auch. Alle Vorgesetzten haben mir das Leben leicht gemacht. Aber der Mensch wird eben alt, mein Sohn. Er nutzt sich ab. Nachtwächter kann man in der Armee nicht brauchen! Ob man hinterher noch ein bißchen länger oder kürzer in Berlin oder Wiesbaden spazieren kraucht – als alter Soldat muß man auf den Tod gefaßt sein. Nur schade, daß man in die Grube fährt, ohne einmal wirklich Pulver gerochen zu haben – nach siebenunddreißig Jahren Dienstzeit – das ist der lange Frieden. Wenn ich denke: drei Ottersleben sind allein bei Zorndorf gefallen – andere bei Hochkirch – einer schon bei Fehrbellin . . .«

Seine Gedanken verloren sich eine Sekunde in die Weite. Über seinen Zügen, die das Lampenlicht hell beschien, war ein seltsamer, vergeistigter Schimmer. Dann war er wieder ganz der Alte, nahm einen Schluck Bier und fuhr fort: »Gott sei Dank, ich kann ja ohne Sorgen gehen! Mein Haus ist geordnet. Mama hat ihre Pension. Die Ulla ist bei dir gut aufgehoben, das Dorle bei ihrem Mann ebenso. Meine beiden Jungen tragen den bunten Rock. Alles ist schön . . . Bis auf das eine . . . Bis auf die Maxe! Und da hab' ich nun eine Bitte an dich, mein lieber Erich! Sieh: du bist nach meinem Tode quasi das Haupt der Familie, denn die andern . . . der Otto ist ein Windhund, sein Bruder noch das reine Kind – der Grotjan ein guter Kerl, aber kein Kirchenlicht . . . Also, da muß ich mich schon auf dich verlassen . . .«

»Unbedingt, Papa – wenn je einmal der Fall . . .«

». . . und da binde ich dir die Maxe auf die Seele! Schau, daß noch was Vernünftiges aus dem Mädel wird. Nimm sie möglichst mal zu euch ins Haus. Und sorge, daß sie noch ein bißchen unter Menschen kommt und 'nen ordentlichen Mann kriegt. Es ist ja furchtbar schwer mit ihr, ich weiß. Sie ist ja verdreht. Diesen Winter wollte sie überhaupt kaum mehr ausgehen. Dabei hat sie es weiß Gott nicht nötig, die Flinte ins Korn zu werfen. Im Gegenteil: du wirst dich wundern, wie hübsch sie geworden ist. Sie hat sich merkwürdig herausgemacht in den letzten Jahren!«

»Ja, es ist nur das eine, Papa!« sagte der Hauptmann von Logow. »Ich hab' sie die ganze Zeit nicht gesehen. Sie besucht uns ja nie. Sie hat etwas gegen uns . . .«

»Ach – höchstens gegen die Ulla!« meinte der Oberst treuherzig. »Das sind so Nücken. Das gibt sich von selber, wenn sie auf einmal kein Elternhaus mehr hat. Dann wird sie froh sein, wenn sich noch jemand um sie kümmert. Seid dann recht freundlich zu ihr! Versprich mir das!«

»Mein Wort, Papa! . . . Aber gottlob hat es ja noch keine Not!«

Herr von Ottersleben hatte die Hand seines Schwiegersohns gedrückt und sich mühsam erhoben. Er gähnte leise und müde.

»Nun kann ich ruhig schlafen gehen,« sagte er. »Vorher schreib' ich noch das Gesuch. Oder schließlich: es hat ja noch bis morgen früh Zeit. Jetzt flimmert es mir so komisch vor den Augen. Da mach' ich heilig noch 'nen Fehler, und radieren darf man in so 'nem Dings doch nicht . . .«

Er küßte seine Tochter, die in das Zimmer getreten war, und begab sich zur Ruhe. Das Ehepaar Logow sah sich, allein geblieben, stumm und besorgt an. Dann gab Ulla ihrer beider Gedanken Ausdruck und sagte: »Ein Glück, daß unter uns im Hause ein Arzt wohnt, falls Papa in der Nacht etwas brauchen sollte.«

Wirklich wurde der Doktor nach kaum einer Stunde heraufgeholt. Herr von Ottersleben war im Bett von einer schweren Ohnmacht befallen worden, die erst nach geraumer Zeit den belebenden Mitteln wich. Nun war er wieder bei sich und versicherte freundlich mit seiner stoischen Ruhe aus den Kissen: »Es ist nichts, Kinder, geht doch schlafen!« Aber der Arzt machte im Nebenzimmer eine bedenkliche Miene. Er meinte, als man ihn frug, es sei doch vielleicht angezeigt, die nächsten anderen Angehörigen bald zu benachrichtigen, und Erich von Logow sagte zu seiner Frau: »Ich fahre am besten jetzt gleich in die Französische Straße und telegraphiere an Mama und Maxe! Es ist jetzt dreiviertel elf. Da können sie noch den Nachtschnellzug benützen und sind morgen früh kurz vor sieben hier. Ich hole sie dann auf dem Bahnhof ab.«

Die Nacht, in der das Ehepaar Logow wenig Schlaf gefunden, und immer abwechselnd, auf den Fußspitzen schleichend, nach dem Vater gesehen hatte, verlief ohne Zwischenfälle. Das erste Morgengrauen dämmerte fahl über dem Häusermeer des Ostens, als der Hauptmann von Logow, den roten Kragen seines Mantels hochgeschlagen, in der bitteren Winterkälte harrend auf dem Bahnhof auf und ab ging, auf dem die farblosen Massen der mit den Vorortzügen kommenden Arbeiter seine leuchtende Uniform umströmten. Mißgünstig, mit Blicken finsterer Neugier, Menschen einer anderen Welt, schoben sie sich an dem Generalstabsoffizier vorbei. Er beachtete sie nicht. Er stand, die Hände in den Taschen, und schaute ungeduldig in das trübe Zwielicht hinein, in dem rot, grün und gelb, von fließenden Nebelkreisen umrahmt, die Hunderte von Lichtern des Bahnhofes funkelten. Und dann in der Ferne ein paar behutsam nähergleitende runde Feueraugen – eine Dampfwolke – der Zug hielt. Er erkannte an einem Fenster Frau von Otterslebens bleiches und übernächtiges Gesicht und half ihr heraus und hinter ihr Maximiliane, und selbst in diesem Augenblick der Aufregung und Sorge, während er die eiskalte Hand seiner Schwägerin stützend in seiner behandschuhten Rechten hielt und sie mit wirrem Haar, blaß von der Nachtfahrt, schweigend vom Trittbrett auf ihn niederschaute, selbst da mußte er an die Worte ihres Vaters denken, wie hübsch sie geworden sei. Das war nicht mehr der scheue unregelmäßige Reiz eines Mädchengesichts. Ihre Züge hatten sich ausgeglichen und veredelt. Sie ähnelte jetzt in ihrem hohen, schlanken Wuchs der klassischen Schönheit der Schwester – nur daß sie ein lebender Mensch war und nicht eine müde Statue.

Sie sprachen wenig, in ihrer Unruhe, bis sie die Wohnung erreichten. Dort kam ihnen Ulla leise auf dem Flur entgegen.

»Gottlob – es geht besser!« flüsterte sie.

»Schläft Papa noch?«

»Nein. Denkt euch nur: vorhin – ich glaubte, mich rührt der Schlag, kommt er in Uniform ins Zimmer, als ob gar nichts wäre! Er ist heimlich in aller Frühe aufgestanden und war auch nicht dazu zu bringen, sich wieder hinzulegen. Er habe jetzt zu tun, sagte er. Er hat sich aus Erichs Schublade Papier geholt. Er sitzt drüben und schreibt . . .«

Vorsichtig näherten sie sich der Tür und öffneten sie, da auf ihr Klopfen kein ›Herein‹ erklang, und Ulla raunte: »Nun ist Papa glücklich wieder eingeschlafen! Ich dacht' es mir doch!«

Der Oberst von Ottersleben saß in voller Uniform in den Stuhl zurückgelehnt vor dem Tisch. Das Morgenlicht umspielte sein feines, müde nach vorn gesunkenes Haupt. Er rührte sich nicht, auch als sie in die Nähe kamen, ihn leise anriefen. Sie sahen sich erschrocken an. Der Arzt von unten war ihnen gefolgt. Er drängte sich an ihnen vorbei und beugte sich zu dem Schlummernden nieder. Eine bange Minute verstrich. Dann richtete er sich empor und sagte sehr ernst: »Seien Sie gefaßt: der Herr Oberst wacht nicht mehr auf!«

Es war ein tiefes Schweigen. Der Oberst von Ottersleben saß ruhig in seiner Uniform. Vor ihm, auf dem Tisch, lag das fertige Abschiedsgesuch an seinen Kriegsherrn.



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