Rudolph Stratz
Du Schwert an meiner Linken
Rudolph Stratz

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4

Von dem Hotel zum ›König von Preußen‹ wallte eine mächtige schwarz-weiß-rote Fahne nieder. An der Tür zum Festsaal hielten zwei Flügelleute des Regiments in dessen Uniform aus den Freiheitskriegen, in hohem Tschako und Schwalbenschwanz, Wache. Die ganze Straße hinunter standen die Menschen und schauten sich die Hochzeitskutschen an, Offiziere darin und Offiziersdamen in zarten Frühlingsfarben, und immer wieder Offiziere. Warmer Maisonnenschein war in der Luft – tiefes Glockenläuten, fern von der Garnisonkirche her, als Zeichen, daß die Doppeltrauung zu Ende war.

Ein ›Ah‹ der Neugier unter den Gaffern, ein Sich-auf-die-Fußspitzen-Erheben der hinteren Reihen: da kamen die Brautwagen. Die beiden Neuvermählten, Frau Ulla von Logow und Frau Dora Grotjan, schlüpften tief verschleiert heraus und am Arme ihrer Männer, mit niedergeschlagenen Augen, ins Haus. Beide waren blaß. Das fließende Weiß mit dem grünen Myrtenkranz ließ sie noch bleicher erscheinen. Ulla, mit ihrem von Natur schon blutlosen Teint, sah aus wie eine Marmorbraut. Es war, als sei ein Bild ohne Gnade aus seinem Rahmen herniedergestiegen.

»Ich hatt' sie mir eigentlich noch großartiger gedacht!« meinte der Festordner, der Regimentsadjutant Rudicke, zu dem Hauptmann Neugereuth. »So eigentlich noch niederschmetternder . . . strahlender . . . Na, das macht die Aufregung . . . Ich muß jetzt nur schauen, daß wir die ganze Gesellschaft glücklich in den Garten lotsen. Der Photograph tanzt schon vor Ungeduld. Er hat gerade noch gutes Licht . . .«

Vor Beginn der Festtafel sollte ein Gruppenbild der Teilnehmer aufgenommen werden. Es war ein Gerufe und Gelaufe, bis endlich alles beisammen und in aufsteigenden Reihen auf den zum Hotelgarten niederführenden Stufen geordnet war. In der Mitte vorn die beiden jungen Paare, rechts und links die Eltern, neben dem Brautvater seine beiden Brüder: der Oberstleutnant Bruno von Ottersleben, Chef des Generalstabs des XXV. Armeekorps, der Stolz der Familie, hochgewachsen, breitschultrig, mit etwas grob geschnittenen Zügen, die klug, energisch und voll Wohlwollen waren, und der Major z. D. und Bezirkskommandeur Kaspar von Ottersleben, dessen militärische Laufbahn sich schon dem Abend zuneigte. Er war ein etwas vor seinen Jahren gealterter, nervöser Mann. Er konnte nicht lange still stehen. Er trat ungeduldig während der Vorbereitungen zum Photographieren von einem Fuß auf den anderen. Seine Frau hielt ihn begütigend am Arm. Neben ihr stand Otto, der Sohn des Hauses, der von seinem Berliner Kommando herübergekommen war. Seinen jüngeren Bruder Peter, den Lichterfelder Selektaner, hatte man mit gekreuzten Beinen auf den Boden vor den Brautpaaren hingesetzt, zwischen seinen beiden noch jüngeren Kadettenvettern Günter und Busso, den Söhnen des Oberstleutnants. Dessen frische, große blonde Frau saß auf der anderen Seite neben den Grotjanschen Eltern, zu ihrer Linken der Bruder der Brautmutter, Major Freiherr von Koninck, ein wuchtiger, breit geratener blauer Husar. In den oberen Reihen drängte sich eine Musterkarte der Armee, das Dunkelblau und Hellrot der Infanterie, das dunkle Schwarz der dreißigsten Pioniere, die Samtkragen der Feldartillerie, helles Dragonerblau, Scharlach und Karmoisin der Generale und Generalstäbler, goldener und silberner Gardeglanz, hohe und niedere Regimentsnummern, die aus allen Teilen Preußens herbeigereisten Verwandten. Davor das schneeige Weiß der Bräute, das Rosa, Himmelblau, Violett der Damenkleider – das Grün der Bäume umher – das Strömen der Sonne über das ganze bunte, flüsternde, lachende, leise wie vom Frühlingswind bewegte Bild.

Ganz zuletzt kam noch Maximiliane von Ottersleben vom Saal her. Es war da noch etwas an der Tischordnung zu ändern gewesen, wegen plötzlicher Unpäßlichkeit des Divisionskommandeurs. Sie trat vorne an den linken Flügel. Der Divisionspfarrer Nicholt wollte sie an sich vorbei lassen. Aber sie meinte: »Ach wo, ich steh' hier ganz gut!« und blieb wo sie war und schaute, die Hände auf dem Rücken zusammenlegend, in lässiger Haltung hinüber nach dem Apparat. Ihre Augen waren glänzend und lebhaft, ihre Lippen halb offen, ihre Wangen leicht gerötet. Ihre Brust hob und senkte sich rasch von dem Treppenlaufen im Hause. Sie lächelte heiter. Sie hatte sich in der Gewalt. Sie hatte Zeit gehabt, sich auf diesen Tag vorzubereiten.

»Donnerwetter!« sagte neben ihr eine lachende Stimme. Sie wandte den Kopf. Da stand der Generalmajor von Glümke, straff, jugendlich schlank, im Glanz seiner vielen Orden, auf seinen Säbel gestützt, und musterte sie aus seinen großen blauen Augen, in denen der Übermut brütete, mit unverhohlener Billigung. »Donnerwetter!« wiederholte er. »Famos sehen Sie aus, Fräulein Maxe!«

Sie trug ein rosafarbenes Kleid, über dem blonden Scheitel einen vollen Kranz von rosa Rosen. Im Sonnenglanz, unter dem blauen Himmel, war das, im Verein mit der Wärme auf ihren Wangen, wie ein Bild des Frühlings, im Gegensatz zu dem Weiß der vor Aufregung blassen, verschleierten Bräute. Alle hatten Maxe heute reizend gefunden. Ihr war es gleich. Sie hatte sich willenlos von ihrer Mutter so herausmustern lassen. Sie machte auch jetzt nur eine kurze abwehrende Schulterbewegung, während ihr Nachbar ihr geheimnisvoll zuraunte: »Ihre Schwestern können sich gegen Sie verstecken! Wissen Sie das?«

»Bitte, Herr General . . . Hier ist noch Platz!«

Man wollte Olaf als Ehrengast einen Stuhl in der Mitte einräumen. Aber er winkte mit der weißbehandschuhten Rechten ab.

»Nee, danke . . . danke gehorsamst! Ich bin hier vorzüglich aufgehoben! Fräulein Maxe behandelt mich zwar schlecht, aber das bin ich bei ihr schon gewohnt! Wir sind doch gute Freunde – was?«

Seit er sie damals, vor einem Vierteljahr, im Schnee im Stadtpark getroffen, stand er mit ihr auf dem Neckfuß. Er war seitdem öfters in das Otterslebensche Haus gekommen, ein-, zweimal sogar spät abends nach dem Tee, zu einem Plauderstündchen als armer, von Gott und der Welt verlassener Junggeselle, wie er sagte. Meist hatte er dann mit dem Oberst in dessen Rauchzimmer gesessen und debattiert. Die Beziehungen zwischen den beiden Herren hatten sich dadurch auch dienstlich sehr gebessert. Maximiliane wußte: das war für Papas Stellung ein großer Vorteil. Schon deswegen mußte man Olaf nehmen, wie er nun einmal war. Übrigens hatte sie auch weiter nichts gegen ihn und seine Dummheiten. Sie war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Er flüsterte, nachdem die erste photographische Aufnahme mißlungen war, vertraulich: »Na . . . Hand aufs Herz, Fräulein Maxe . . . Wie sieht er denn aus?«

»Gar nicht, Herr General!«

»Ist er hier unter uns?«

»Nirgends!«

»Ich muß doch mal schauen, ob Sie dabei rot werden!« Er blickte ihr scharf wie einem seiner Soldaten in das schmale, hübsche, unregelmäßige Gesicht und schüttelte den Kopf. »Keine Spur! Merkwürdig, wie Sie sich verstellen können! Wo kriegen Sie nur die unschuldigen Augen her? Aber Sie haben sich doch verraten, Fräulein Maxe!«

»Wieso?«

»Sie haben sich instinktiv dicht neben unseren Kommißbonzen gestellt! Sie denken, den Mann muß man sich auf alle Fälle warm halten!« Er verstärkte seine Stimme und rief vergnügt zu dem Divisionspfarrer hinüber, der vorhin Maxens Schwestern getraut hatte: »Na . . . Herr Pfarrer . . . sehen Sie mal, wen wir da zwischen uns haben! Da gibt's bald mehr für Sie zu tun – nicht?«

»Ach, lassen wir doch Fräulein von Ottersleben damit in Ruh'!« meinte der Geistliche gutmütig. »Die hört diese Späße nun schon den ganzen Tag!«

»Ja, weiß Gott!« sagte Maximiliane ergeben und rückte sich im Stehen zurecht. Es wurde wieder photographiert.

Olaf von Glümke mußte schweigen. Aber er war unverbesserlich. In der ersten Pause hub er wieder an: »Wenn man uns nur nicht auf dem Bild für ein heimliches Brautpaar hält, Fräulein Maxe, weil wir so verträglich beisammen stehen . . .«

Und nun wurde sie wirklich ärgerlich und versetzte, unwillkürlich ein wenig mit dem Fuß aufstampfend: »Jetzt hören Sie aber, bitte, endlich einmal auf, Herr von Glümke! Sonst sag' ich's mal Papa!«

Ihr Vater schaute nicht herüber und achtete nicht auf sie. Er hatte, während die Gesellschaft sich auflöste und in Gruppen nach dem Festsaal schritt, eine plötzliche andere Sorge. Er drängte sich an seinen jüngeren Bruder, den Major z. D., heran und mahnte verstohlen: »Kaspar, ich bitte dich, daß du mir heute keinen Mißklang in das Fest bringst! Du sitzt zwischen lauter noch aktiven Herren, die deine Verbitterung nicht teilen . . .«

Über das kluge, nervöse Gesicht des zur Disposition gestellten Bruders flog ein Schatten von Erstaunen: »Ich verbittert? . . . Ich nehme nur kein Blatt vor den Mund . . . Es gibt Mißstände in der Armee, Thilo! . . . Und die zur Sprache bringen . . .«

»Mißvergnügte Leute sehen überall Mißstände, mein Lieber!«

»Ja, soll ich etwa tanzen und springen, weil man mich in der Vollkraft meiner Jahre kaltgestellt hat? Dann hab' ich wenigstens das Recht zur Kritik!«

»Ruhe . . . Ruhe . . .« versetzte von hinten der Husarenmajor Freiherr Wilderich von Koninck in einem Ton, als spräche er zu einem störrischen Schwadronsgaul, faßte den aufgeregten Mann am Arm und führte ihn zur Seite. Zugleich wandte sich der Oberst von Ottersleben an Olaf von Glümke.

»Wenn ich bitten darf, Herr General – Seine Exzellenz hat leider vorhin abgesagt – meine Frau zu führen!«

»Nichts angenehmer als das!« sagte Olaf in seinem verbindlichsten Leutnantston. Er hätte lieber neben der Tochter gesessen. Er schaute während der Tafel immer wieder verstohlen zu Maximiliane hinüber, die weit unten am Tisch saß. Er konnte zwischen zwei Blumenaufsätzen gerade ihren blonden Kopf erkennen. Ein Pionierhauptmann führte sie. Ein kleiner Dragoner war auf ihrer anderen Seite. Es war da unten am Tisch schon ein Gelache und Gekicher zwischen den jungen Mädchen und den Leutnants. Der Sekt rötete die Backen. Man bewarf sich mit Veilchensträußchen, zog vor der Zeit aus den Konfektschalen Knallbonbons und fuhr schuldbewußt, mit einem Blick auf die älteren Herrschaften oben, bei dem Krach zusammen – mitten darin saß Maximiliane von Ottersleben mit einem lächelnden, aber ganz leeren Gesicht, als ob sie das alles nichts anginge, und der General von Glümke dachte sich: ›Komisch! Sie dalbert nicht mit! . . . Sie ist älter als ihre Jahre! Sie hat was hinter sich. Sie hat sich schon mal verbrannt. Aber gründlich!‹

»Nun, gnädige Frau!« sagte er zu seiner Nachbarin. »Wie ist Ihnen denn nun so zumute! . . . Ein nasses und ein heiteres Auge! . . . Hart, seine lieben Mädels so auf einmal alle wegzugeben! Nicht?«

»Eine haben wir ja noch!«

»Aber wie lange?«

Frau von Ottersleben warf einen Blick auf ihre mittlere Tochter.

»Die Maxe wird nicht leicht unterzubringen sein, Herr von Glümke!« sagte sie.

Er riß seine blauen Augen auf. »Die? . . . Na – da muß ich doch lachen!«

»Denken Sie nur: Wie schwer hatte sie's bisher neben Ulla . . . Wenn eine gewisse Ähnlichkeit zwischen zwei Schwestern vorhanden ist und die eine ist dabei eine ausgesprochene Schönheit . . .«

»Schönheit in Ehren . . .« Der General ließ den Blick nicht von dem schweigsamen, kühlen Mädchenkopf da unten. »Aber Schönheit allein ist langweilig. Es gehört doch noch was dazu . . . Rasse! . . . Sehen gnädige Frau doch nur: Eigentlich ist sie doch einfach reizend!«

»Ja, ich finde es heute ja auch!« gestand Frau von Ottersleben. »Es haben's mir auch schon andere gesagt . . .«

». . . und wird noch viel reizender! . . . Dafür hab' ich doch Augen! . . .« Er schaute träumerisch zwischen den beiden Blumenaufsätzen hindurch.

Maxes Mutter seufzte. »Und trotzdem . . . ich wäre ja froh . . . aber das Mädchen ist so sonderbar! Sie macht sich gar nichts aus den jungen Leuten. Das erschwert es so! . . . Beobachten Sie sie einmal: Sie ist direkt unliebenswürdig zu ihrem Tischherrn. Das sind so ihre Mucken. Sie kann unausstehlich gegen Herren sein, wenn sie will . . .«

Und wieder dachte sich der General von Glümke voll Unruhe: Jawohl. Die hat schon ihren Knacks im Herzen weg. Die weiß: Es geht nicht alles so mit Lenz und Liebe! Die ist bereits auf dem Weg zur Vernunft . . .

»Sie bekommen ja auf einmal einen ganz roten Kopf, Herr von Glümke . . .« sagte neben ihm die Dame des Hauses.

Er fuhr zusammen und lachte: »Wissen Sie, warum? . . . Ich war heilsfroh, daß unserem tüchtigen Divisionskommandeur die ehrenvolle Aufgabe der Festrede zufiel. Nun kriegt der aus heiterem Himmel wieder mal sein Podagra, und ich muß hier aus dem Stegreif einen Speech loslassen . . .«

»Es wird schon gehen!«

»Na, es muß gehen!« sagte Olaf unbekümmert, klopfte an sein Glas und erhob sich.

Es war still geworden. Seine helle Kommandostimme hallte durch den weiten Saal.

»Ja . . . meine verehrten Herrschaften . . . das wußt' ich ja . . . ich seh' aller Augen vorwurfsvoll auf mich gerichtet. Die Damen scheinen mich sämtlich mit ihren Blicken zu durchbohren: Was haben denn Sie elender alter Junggeselle einen Toast auf Neuvermählte auszubringen? Was verstehen denn Sie davon? . . . Stimmt! . . . Ich habe einen unterdrückten Neid gegen meine beiden glücklichen jungen Kameraden da vor mir, Herrn von Logow und Herrn Grotjan. Ich hab', wie ich in deren Alter war, leider den Anschluß verpaßt. Aber warum? Sehr einfach! Es wollt' mich keine haben! . . . Jetzt darf ich's ja sagen! Nee – lachen Sie nicht: das ist eine sehr traurige Geschichte . . . und ich finde es eigentlich furchtbar nett von mir, daß ich mich trotzdem hier zum Sprecher aufgeschwungen habe, um unser aller Empfindungen Ausdruck zu verleihen, den Glück- und Segenswünschen für das Haus Ottersleben! . . .

»Meine Damen und Herren . . . im Ernst gesprochen: Ich hab' immer einen Riesenrespekt vor diesem Hause gehabt, meine unbegrenzte Verehrung für dies schöne vorbildliche Familienleben, gerade weil es mir selber versagt geblieben ist – für Sie, mein lieber Herr Oberst, und Sie, meine verehrte gnädige Frau! . . . Und ich hab' mich immer gefreut, wenn ich mit den Truppen unten vorbeigekommen bin und an den Fenstern drei Köpfe gesehen hab' – einen schwarzen, 'nen blonden und einen noch blonderen . . .«

Er machte eine Pause und fuhr dann gelassen fort: »Anderen Leuten haben die auch gefallen! Sehr begreiflich! Und zwei von ihnen ziert nun heute der Myrtenkranz. Mein lieber Logow . . . dumm sind Sie nicht, nach dem allgemeinen Urteil Ihrer Vorgesetzten – heute dürfen die Ihnen ja ausnahmsweise auch einmal etwas Schmeichelhaftes sagen – Sie sind – nehmen Sie mir's nicht übel – sogar ein verflucht gescheiter Kerl. Aber das Gescheiteste in Ihrem Leben haben Sie heute getan. Und Sie, mein lieber Herr Leutnant Grotjan . . . ich habe ja nicht das Vergnügen, Sie so gut zu kennen wie Ihren nunmehrigen Schwager – aber ich bin überzeugt: Sie auch! . . .«

Er wandte sich an die jungen Frauen.

»Und Sie, meine verehrte Frau von Logow, und meine verehrte Frau Grotjan – ich weiß, Sie werden Ihre Wahl nicht bereuen! Wir Männer sind ja durch die Bank ein mangelhaftes Stück Schöpfung. Man muß uns nun mal nehmen, wie wir sind. Aber die beiden da sind, wie ich schon sagte, relativ gelungen. Ihnen hat sicher Ihr Gefühl das Richtige eingegeben, als Sie sich sagten: Für den und keinen anderen verlasse ich mein Elternhaus . . .«

Der General von Glümke schwieg einen Moment und ließ das Auge über die Tischgesellschaft gleiten. Er zögerte. Maximiliane hatte die Lippen zusammengepreßt und die Augen gesenkt. Sie wußte: nun kam wieder die unvermeidliche Anspielung auf sie – der heute schon zehnmal gehörte Vergleich mit ihren Schwestern: ›Ich sei, gewährt mir die Bitte – in eurem Bunde die Dritte!‹ – Aber nein: Olaf warf seinen Kopf zurück. Seine Stimme wurde markig und ernst: »Meine Herrschaften . . . der Sekt wird warm, der Braten kalt . . . ich will Ihre Geduld nicht überspannen! Ich hebe mein Glas, und hinter mir steht im Geist die Armee, stehen all die Menschen, die Sie kennen und schätzen, und hundert und tausend Stimmen rufen Ihnen, den jungen Paaren, durch mich zu: ›Alles Gute! Alles Schöne! Glück und Segen auf den neuen Weg!‹ Ich bin kein Bibelheld und hab' daheim nicht mehr nachschlagen können – aber irgendwo steht's geschrieben, womit ich meine Rede schließen möchte und die ich, wie Sie inzwischen leider bemerkt haben werden, unvorbereitet begonnen hab': Fürchtet Gott! Ehret den König! . . . Habt einander lieb! Mehr kann das Leben uns nicht geben! . . . Meine Damen und Herren: Wir leeren unser Glas: Herr und Frau Hauptmann von Logow, Herr und Frau Leutnant Grotjan . . . Hurra! Hurra! Hurra!«

»Uff!« sagte er dann lachend, sich in dem allgemeinen Tumult und Gläserklirren setzend, und sonderbar: zu gleicher Zeit sah er einen Blick Maximilianes von drüben auf sich gerichtet. Den ersten. Es war wie ein Dank. Dann schaute sie wieder weg und gleichgültig vor sich hin, während an der Tafel allmählich Ruhe eintrat.

Sie dachte auch gar nicht mehr an den General von Glümke, sondern nur: ›Gott sei Dank . . . nun ist bald alles vorbei! Er ist fort . . . Dann hab' ich Ruhe! Ich werde ihn mir aus dem Kopf schlagen, so wie er sich nie um mich gekümmert hat. Ich werde vergessen, was er mir war. Er ist nur noch mein Schwager, den ich alle Jubeljahre mal irgendwo auf kurze Zeit sehe. Weiter nichts . . .‹

Ihr Tischherr gab sich Mühe, sie zu unterhalten. Er erzählte ihr von der beabsichtigten Verlegung des dreißigsten Pionierbataillons nach Thorn, wo schon die Siebzehner standen. Da würde die Frau Schwester bis an die Weichsel verschlagen, bis an die russische Grenze.

Und sie erwiderte zerstreut: »Ach . . . die Dorle ist eine fidele Haut! Die fühlt sich überall wohl!«

Sie sah von ihrem Platz aus Logows scharfes schnurrbärtiges Profil. Er wandte sich gegen seine Frau. Er lächelte und flüsterte ihr etwas zu. Einen Augenblick waren seine Züge sonnenhell. Dann legte sich wieder die gewohnte Ruhe darüber. Ein ehernes Selbstbewußtsein, das heute etwas Feierliches an sich hatte und noch gehoben war durch die Generalstabsuniform, die außer ihm im Saal nur noch sein Onkel Bruno trug. Wieder fuhr es ihr durch den Kopf: ›Bald ist er fort!‹ Es war so unwahrscheinlich: dies Gefühl der räumlichen Entfernung. Alle diese Jahre hatte sie ihn neben sich in derselben Stadt gewußt, ihn in Gedanken über die paar Gassen und Plätze hinweg in ihre Nähe rufen können. Er war erreichbar . . . sichtbar gewesen. Auch als Bräutigam war er im letzten Vierteljahr noch jeden zweiten Sonntag von Berlin herübergekommen. Nun wurde er für sie eine Erinnerung . . . Und die blieb . . .

Es wurden die eingelaufenen Glückwunschdepeschen verlesen. Otto von Ottersleben hatte den ganzen Stoß vor sich liegen und verkündete sie der Reihe nach: lange und kurze, in Vers und Prosa, ernste und heitere. Ein paarmal lachte Logow herzlich zu irgendwelchen Anspielungen der Kameraden. Sie hörte nicht zu. Seine gute Laune tat ihr im tiefsten Herzen weh. Sie sagte sich: ›Ich muß etwas tun. Ich muß mich gegen ihn wappnen. Gegen mich. Ich kann doch nicht ewig an ihm kranken. Es ist ja schrecklich, welche Macht er über mich hat – jetzt noch mehr – wo ich weiß, daß ich ihn verloren hab' – jetzt gerade – aus purer Verzweiflung . . .‹

Sie fröstelte bei der Vorstellung der Öde, die von morgen ab kam: Die Schwestern aus dem Hause, Papa im Dienst, Mama in der Stadt auf Besorgungen – da saß man nun, die Hände im Schoß. Wozu war man eigentlich auf der Welt? Wie füllte man seine Tage aus? Und die dehnten sich ohne Ende vor einem, in schnurgerader Linie, wie die Kilometersteine an der Chaussee . . . Sie hatte ihren Zorn gegen sich, daß sie von dieser Furcht vor dem Nichts nicht loskam. Sie hatte sich so gewünscht, daß die Prüfung vorüber sein möge. Aber nun stand dahinter erst, noch viel schlimmer, das Morgen.

Diakonissin? Im Gelächter und Stimmengewirr um sie her, dem Schmettern der Musik, dem Duft der Blumen, sah sie einen stillen, dämmerigen Saal vor sich, Kranke in den Betten, durch den Mittelgang schreitend, unhörbar, in dunkler Tracht jemanden – das war sie – nein – das war nicht sie . . . der Trotz bäumte sich in ihr auf . . . Selbstgefühl . . . Daseinslust trotz alledem . . . sie wollte nicht ihr Leben lang Trauer tragen für einen, dem sie nie etwas gewesen war . . . das war ein unnützes Opfer. Sie stand hastig mit den anderen auf – denn nun endlich, endlich wurde die Tafel aufgehoben – und nahm den Arm ihres Tischnachbarn, der sie in die Nebenräume führte.

Dort trank man den Kaffee. Unter dem großen Kronleuchter stand das junge Ehepaar Logow und hielt eine Art Cour ab. Von allen Seiten wurden sie umdrängt. Um die Grotjans kümmerte man sich weniger. Ulla erschien jetzt, wo sie allmählich ihre Farbe zurückgewonnen hatte, wieder viel reizvoller. Sie strahlte in ihrer tannenschlanken, tiefdunklen, schwermütigen Schönheit. Ihr Mann wurde hinausgerufen und kam lachend, einen mächtigen Blumenstrauß in der Hand, zurück.

»Die Unteroffiziere meiner alten Kompanie lassen schönstens Glück wünschen!« sagte er. »Eben war eine Deputation mit dem Feldwebel an der Spitze da. Heute in aller Gottesfrühe ist schon mein verflossener Bursche im Hotelzimmer bei mir angetreten. Auch mit 'nem Bukettchen in der Faust, der biedere Kerl! . . . Anhängliche Leute – nicht, Neugereuth?«

»Ja – die Mannschaft hatte Sie furchtbar gern in der Kompanie . . .« bestätigte sein ehemaliger Hauptmann. Eine Stimme rief: »Silentium!« Eine Depesche vom Sitz des Generalkommandos war, etwas verspätet, eingetroffen. Der Allgewaltige des Armeekorps sandte seine Glückwünsche zur Otterslebenschen Hochzeit, und Erich von Logow verbeugte sich beim Anhören leicht, mit einem ehrerbietigen Lächeln, als stände die Exzellenz selber vor ihm.

Und Maximiliane dachte sich in ihrer Ecke: ›Er ist doch schon so glücklich! Was braucht man es ihm noch aufzudrängen, um ihn herum zu wetteifern, vom Kommandierenden bis zum Musketier? Warum verwöhnen ihn alle Menschen so? Und warum nimmt er das so hin, als ob sich das von selbst verstände, und zertritt dabei gerade mich? Warum büße ich für alle, die hier fröhlich und zufrieden sind?‹

Sie wandte sich zur Seite, um ihr leeres Mokkatäßchen wegzustellen, und erblickte den Generalmajor von Glümke, der neben sie getreten war. Er schüttelte das Haupt, sah auf sie hinunter – er überragte sie trotz ihres hohen Wuchses noch um einen guten Kopf – und meinte halblaut: »Na . . . Sie armes Aschenbrödel . . .«

Es war, als wollte er sie absichtlich reizen. Ihr Stolz flackerte auf. Sie furchte die Stirne und blickte ihn feindselig an: »Herr von Glümke . . . was heißt denn das? . . . Warum seckieren Sie mich denn fortwährend? Ich hab's jetzt satt!«

Er wurde noch leidenschaftlicher als sie. Er zog die Augenbrauen hoch, eine Bewegung, auf die im Dienste ein furchtbares Donnerwetter folgte, schaute sich um, ob niemand in der Nähe sei, beugte sich ein wenig zu ihrem Ohr und versetzte mit unterdrücktem Grimm: »Ja . . . ist's denn nicht wirklich toll? Die verkehrte Welt! Sie . . . Sie . . . Sie stehen da in der Ecke, und da drüben springen sie und tanzen . . . Und alles hat nur Augen für Ihre Schwestern, statt daß man sich um Sie reißt? Ja, sind die Leute denn alle blind? . . . Nein von Gott verlassen ist ja die ganze Gesellschaft . . .«

Sie wandte sich zum Gehen.

»Herr von Glümke . . . jetzt hab' ich aber genug gehört . . .«

Er stellte sich vor sie. Er, der abgebrühte alte Junggeselle und Damenheld, war plötzlich blaß geworden. Er drängte – er befahl förmlich: »Nee – bleiben Sie mal, Kind! Ich muß Ihnen einen Vorschlag machen! Etwas sehr Wichtiges!«

Dabei lachte er verwegen unter seinem kurzen, blonden, kaum merklich angegrauten Schnurrbart. Dieser Gesichtsausdruck war so recht Olaf, der Mann der tausend Streiche, den man trotz Rang und Würde außer Dienst nie ganz ernst nahm. Sie mußte unwillkürlich mitlachen.

»Das wird wieder was Rares sein, Herr General!«

Er machte eine geheimnisvolle und aufgeregte Miene. Er schien ihr mit einemmal verändert, obwohl er immer noch lächelte.

»Also, hören Sie mal, Fräulein Maxe . . . Es liegt in Ihrer Hand, diese blinden Hessen hier alle zu strafen – die ganze Blase einfach niederzuschmettern . . . Ein Trompetentusch . . . ein Hallo . . . Und der ganze Zauber da vor uns ist wie weggeblasen! . . . Sie sprengen das alles in die Luft. Sie steigen – wie heißt das Fabelwesen doch gleich? – wie der Phönix aus der Asche! . . . Sie sind mit einem Schlag der Mittelpunkt! Sie sind die Königin . . .«

Sie schaute ihn mißtrauisch an. Hatte er doch am Ende ein Gläschen zu viel erwischt? Aber den Eindruck machte er eigentlich nicht. Er sah, trotz seiner Erregtheit und überhasteten Sprechweise, merkwürdig ernst aus. Sie erwiderte kühl: »Ich versteh' kein Wort, Herr General, was Sie da . . .«

Olaf von Glümke ließ sie nicht weiterreden. Er hob die Rechte: »Nee – nee ich sag' Ihnen ja . . . Es liegt in Ihrer Hand – weil ich Ihnen die Hand dazu biete . . . Sie bitten möchte . . .« Es war ein plötzliches werbendes Flackern in seinen blauen Augen, seine Stimme flüsterte eindringlich: ». . . weil ich Sie inständig bitten möchte . . . Fräulein Maxe . . . verstehen Sie mich? . . . Ich kann nicht so viel Worte machen . . . Es sind zu viel Leute hier im Saal . . . Fräulein Maxe . . . ich mache Sie zur ersten Dame hier im Saal . . . in der ganzen Stadt . . . der Divisionär ist ja Witwer – weit und breit sind Sie die Erste . . . In 'nem Jahr sind Sie Exzellenz, wenn's unserem Herrgott und Seiner Majestät gefällt . . .«

»Um Gottes willen – hören Sie auf, Herr von Glümke!«

»Nee . . . ich fang' erst an! . . . Denken Sie: so mit einem Schlag über Ihre Schwestern – Ihre Freundinnen – ganz oben! Denken Sie, wie sich Ihre Eltern freuen würden! . . . Ach, was red' ich da! Was liegt an den ollen Herrschaften – an dem ganzen Klimbim hier? Auf Sie kommt's an . . .« Er sprach leidenschaftlich und gedämpft. Beide standen mit leerem Lächeln, eine Maske vor dem Gesicht, um kein Aufsehen zu erregen. »Sie sind das Mädchen danach! Ich würd' es keiner anderen sagen. Aber Sie sind anders als die anderen. Das hab' ich Ihnen auch schon gesagt! Wissen Sie – damals im Wald! . . . Das war die entscheidende Stunde. Seitdem hab' ich kein Auge von Ihnen gelassen, seitdem hab' ich immer mehr . . . Kommen Sie, Fräulein Maxe . . . Ich bitt' Sie . . . Kommen Sie . . .«

»Wohin?«

»Zu Ihren Eltern! . . . Denken Sie: wenn wir auf einmal dastehen . . . mitten im Saal . . . und der Jubel losbricht . . .«

Maximiliane antwortete nicht. Sie war völlig betäubt. In willenloser Angst folgten ihre Augen seinem Blick, der kriegerisch ihre Eltern suchte. Da war Mama. Sie kam gerade auf sie beide zu, wie durch ihn gerufen. Er lachte. Ein Schein von Triumph glitt über seine Züge. Nun war er des Erfolges seines Husarenritts schon halb sicher. Er raunte: »Darf ich reden, Maxe?«

»Nein . . . nein . . .«

»Aber warum noch warten . . . es ist gerade der Moment . . .«

»Sie müssen mir doch Zeit lassen . . . Sie überrumpeln mich da auf einmal . . . Ich bin ja wie aus den Wolken gefallen . . . Ich weiß gar nicht, ob ich wache oder träume . . . ob Ihnen das überhaupt ernst ist . . .«

»Aber . . . Maxe . . .« Er sah sie vorwurfsvoll und zugleich aufmunternd an. Er nannte sie einfach beim Vornamen. Es fehlte wenig, so nannte er sie schon Du. Er betrachtete sie schon halb als sein Eigen. Wenn sie auch noch nicht ›ja‹ gesagt hatte, eines ›Nein‹ war sie nicht fähig. Das merkte er. Dazu war sie zu erschrocken. Oder geblendet von der Zukunft, deren Vorhang er mit einem Griff vor ihr weggerissen. Sie schwieg und zitterte. Über ihre Wangen jagte eine fliegende Röte und machte tiefer Blässe Platz. Frau von Ottersleben kam an sie heran.

»Ach . . . verzeihen Sie einen Augenblick, Herr von Glümke! Du hör mal, Maxe . . . die Dorle ist in allen Zuständen. Sie zieht sich eben oben im Hotel um, und nun fehlt die kleine goldene Brillantuhr, das Geschenk von Onkel Bruno. Zum Brautkleid hat sie sie natürlich nicht angehabt, und in dem Korb mit den Sachen aus der Wohnung ist sie nicht mitgekommen. Sie schwört, die Uhr müsse dort noch irgendwo liegen! . . . Geh! . . . Sei lieb und fahr rasch hin und hol sie!«

»Aber das kann doch auch einer von den jungen Leuten besorgen!« sagte der General. Er hatte einen roten Kopf bekommen und trat vor Ungeduld von einem Fuß auf den anderen.

»Ach, die finden doch nichts! . . . Nein . . . es ist schon besser . . . Du bist ja in fünf Minuten wieder da, Kind . . .«

Maximiliane ließ es sich nicht zweimal sagen. Sie lief förmlich davon. Sie dankte ihrem Schöpfer, daß sie Zeit gewonnen hatte. Sie schlüpfte atemlos in einen der geschlossenen Wagen draußen. Der rasselte mit ihr dahin. Sie saß aufrecht und still, die Hände zwischen den Knieen zusammengepreßt, den Rosenkranz auf dem blonden Scheitel. Ihr Herz hämmerte. Auf der Straße gingen die Leute. Die Läden waren offen. Die Kinder kamen aus der Schule. Es war ein Werktag wie sonst. Und in ihr eine Empfindung, als sollte die Welt untergehen. Sie war nahe daran, in ihrer Ratlosigkeit und Hilflosigkeit in Weinen auszubrechen. Sie fühlte sich so schwach. Gerade heute. Glümke hatte sich den Tag gut gewählt. Dann unterdrückte sie ihre Tränen. Sie nötigte sich zur Ruhe, zur Überlegung. Sie sagte sich immer wieder: Ich lasse mich nicht zwingen. Ich hab' mein Schicksal in der Hand . . .

Die Droschke hielt vor dem Elternhaus. Sie stieg die Treppen hinauf und öffnete mit dem Drücker die totenstille Wohnung, in der alles in der Unordnung der Festvorbereitungen durcheinander stand und lag. Mitten auf dem Tisch natürlich Dorles Uhr. Sie steckte sie zu sich. Dann setzte sie sich auf einen Stuhl und versank in Sinnen. Es war kein Mensch in den Räumen. Niemand störte sie. Sie war mit sich allein . . .

Eine fremde Summe von irgendwoher frug sie: Wie lange willst du eigentlich allein bleiben? Doch nicht dein ganzes Leben hindurch? Die Eltern werden eines Tages von dir weggehen. Sie hinterlassen dir nicht einmal genug Geld. Du wirst in die Welt hinausgestoßen, um dir dein Brot zu verdienen als alte Jungfer – wegen eines Mannes, der von deinem Opfer nichts ahnt, dem du so gleichgültig bist, wie dir die Spatzen da vor dem Fenster. Nein. Lieben kannst du freilich nie mehr. Aber heiraten wirst du doch – rein aus Vernunft, gerade wie die Ulla . . . Und auf wen anderen willst du dann noch warten? . . . So etwas bietet einem das Schicksal nur einmal. Gerade er, der da drüben, denkt in seinen Jahren nicht mehr daran, daß du dich noch über die Ohren in ihn verlieben könntest. Dazu ist er viel zu erfahren. Er schlägt dir einen ehrlichen Handel vor. An ihm begehst du kein Unrecht . . . im Gegenteil: du versündigst dich an dir und deiner Zukunft und deinen Eltern, wenn du diesen Antrag nicht annimmst . . .

Schon aus Trotz! Schon aus einer Art Rache! Sie erhob sich. Jetzt wurde auch das in ihr lebendig. Dann glaubte kein Mensch mehr, daß sie je an einen Hauptmann von Logow gedacht – sie, die Generalin – erhoben über ihre Schwestern, ihre Freundinnen – über Mama selber. Man würde sie bewundern . . . beneiden . . . sie hatte ihre Netze gut ausgeworfen, in aller Stille . . . Erich von Logow mußte sich dann selbst gestehen: sie hätte ihn nie genommen – auch wenn er je um sie geworben hätte . . .

Das alles war kein Trost. Aber es erzeugte in ihr immer wieder dies dumpfe, nicht abzuschüttelnde Bewußtsein: Du mußt! Du mußt ›ja‹ sagen. Und dadurch kommst du wirklich und endgültig von jenem anderen los, von dem Mann deiner Schwester – wenn du selber einen Mann hast, der dich beschirmt und auf den du dich stützest . . . Sie seufzte schwer auf. Es mußte sein. Was sie sich nicht hätte träumen lassen, das erfüllte sich: ehe die Sonne heute über den Dächern da gegenüber sank, war sie auch Braut . . .

Sie sah auf die Uhr und erschrak. Fast eine halbe Stunde hatte sie hier gesessen und gesonnen. Sie mußte sich eilen und stieg doch langsam, mit gesenktem Haupt, in ihrem rauschenden Festkleid, die Treppe hinunter, wie zu einem schweren Gang, und fuhr in einer eigenen, eiskalten Ruhe, in der sie das Herz in sich tot und ihren Kopf klar und lebend fühlte, in das Hotel zurück.

Ihre Mutter empfing sie mit Vorwürfen, wo sie denn nur um Gottes willen gesteckt habe? Grotjans seien schon auf dem Bahnhof. Dabei gab sie die Uhr einem der Kadetten. Er solle rennen und sie ihnen noch an den Zug bringen. Maximiliane hatte kaum zugehört. Sie trat mit einem leeren, zerstreuten Lächeln auf den Lippen in den Saal. Da wurde jetzt getanzt. Die Regimentskapelle spielte. Die Paare flogen vorbei. Immer irgendeine Uniform und ein Flattern von Rosa oder Blau oder Weiß. Sie sah es geistesabwesend. Dann packte sie plötzlich jemand und walzte lachend mit ihr los. Es war ihr Bruder Otto, der schon einen kleinen Hieb hatte. Er wirbelte sie wie rasend einmal rund herum, bis sie sich von ihm befreien konnte. Sie blieb schweratmend stehen. Es drehte sich ihr alles vor den Augen. Und da – in diesem Nebel – war auf einmal der General von Glümke da und sagte zu ihr, mit einer Stimme, die wie aus weiter Ferne zu klingen schien: »Kommen Sie, Maxe . . . Wir wollen ein bißchen da hinaus.«

Er nahm ihren Arm und führte sie in den Garten hinter dem Hotel, da, wo zuvor die Gruppenaufnahme stattgefunden hatte. Es war ganz still zwischen den grünen Büschen. Die Sonne schien heiß auf die Kieswege. Über ihnen blaute die Himmelswölbung. Er sprach gedämpft, herzlich, bittend ihren Arm an sich drückend: »Maxe . . . liebe Maxe . . . nun sagen Sie ›ja‹.«

Sie rang danach. Sie brachte es noch nicht heraus. Sie gingen die paar Schritte weiter bis zur rückwärtigen Gitterpforte, vor der eine leere Droschke hielt, und kehrten wieder um.

»Maxe . . . nur das eine kleine Wort . . .«

Sie wollte es aussprechen und blieb stehen. Es kam ihnen da jemand vom Hotel her auf dem Weg entgegen, nach dem Wagen zu. Ein Paar. Ihre Schwester Ulla, in grauem Reisekleid und Hut und Schleier, und neben ihr in Zivil ihr Mann. Sie wählten den Hinterausgang, um unauffällig zu verschwinden. Der General trat diskret seitlich, in einen umbuschten Rundpfad zurück.

Ulla von Logow küßte hastig ihre Schwester: »Herrgott – da sehen wir uns doch noch! Mama sagte vorhin, du seist in der Wohnung! Adieu, Schatz! Adieu! Adieu!«

Dann reichte ihr der Hauptmann von Logow heiter und eilig die Hand.

»Adieu, Maxe! . . . Laß dir's gut gehen! Mach's bald nach, so wie die Ulla und 's Dorle! Und besuch uns recht oft in Berlin, wenn wir zurück sind . . . hörst du? . . .«

Sie hatte ihn noch nie anders als in Uniform erblickt. In dem lichten Sommeranzug, den weichen grauen Filzhut auf dem Kopf, sah er verändert aus. Und doch – das war er. Immer er. Er blieb, was er war. Für sie blieb er's . . . Sie stand und schaute den beiden nach und nickte ihnen noch einmal mechanisch zu. Dann rasselte der Wagen um die Ecke, und in demselben Moment zog ihr eine blinde, alles verachtende, alles mit Füßen tretende, alles gleichgültig in die Ecke schleudernde Verzweiflung das Herz zusammen.

Der General von Glümke hatte sich ihr genähert. Er murmelte: »Maxe . . .«

Da schüttelte sie starr den Kopf, ohne ihn nach ihm zu wenden.

»Ich kann nicht.«

»Aber, um Gottes willen . . . Maxe . . .«

»Ich kann nicht!«

Er rang die Hände ineinander: »Was haben Sie denn gegen mich?«

»Nichts. Gar nichts, Herr von Glümke.«

»Warum wollen Sie denn dann sich und mir das Leid antun?«

Sie rang mit sich. Sie rang nach Luft.

»Ich möcht' ja gern! Ich tät' es ja gern! . . . Aber ich kann nicht . . .«

»Auch nicht, wenn Sie es sich noch einmal überlegen, Fräulein Maxe?«

»Ich hab's mir ja überlegt! Nein . . . Auch dann nicht! . . . Bitte, gehen Sie . . . Quälen Sie mich nicht mehr . . . Und seien Sie mir nicht böse . . . Ich kann nicht . . .«

Sie hatte es kaum mehr hörbar zwischen ihren blassen, zusammengepreßten Lippen gemurmelt. Er stand noch ein paar Sekunden und wartete. Dann, da sie schwieg, war es auch für ihn entschieden. Er machte eine leichte, höfliche Verbeugung, wandte sich auf dem Absatz um und trat in das Haus. Von dort tönte die Tanzmusik. Um sie wiegten sich leise die grünenden Knospen im Maiwind. Ein feiner, süßer Frühlingsduft stieg vom Hyazinthenbeet am Boden. Schmetterlingsgegaukel wiegte sich darüber im Sonnenschein. Sie stand still und schloß die Augen. Es war alles wie ein Traum . . .



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