Rudolph Stratz
Du Schwert an meiner Linken
Rudolph Stratz

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11

Die Esplanade von Metz war an dem schönen Sonnabendnachmittag farbig von Uniformen, Offizieren und ihren Damen des Waffenplatzes an der Westgrenze, in dem jeder dritte Mensch Soldat war. Es war schon in der zweiten Hälfte Oktober, aber in dieser Gartengegend Lothringens schien die Herbstsonne noch mild und golden über dem tief eingeschnittenen Tal der Mosel, die dort unten strömte. Blaßblau spannte sich der Himmel über dem mittelalterlichen Gassengewirr der grauen Grenzfeste. Trotzig ragte drüben der St. Quentin, das festeste der festen Werke, zu ihm empor. Der leise Rauch einer Militärbäckerei kräuselte sich auf ihm hoch oben aus dem Fort Friedrich Karl.

Es war eine Bewegung unter dem bunten Tuch. Ein Grüßen von rechts und links. Der Generalleutnant und Kommandeur der fünfundvierzigsten Infanteriedivsion Exzellenz Olaf von Glümke kam, die Hände in den Paletottaschen, von der Innenstadt aus quer über den Platz. Er hatte im Gegensatz zu anderen Herren seines Ranges etwas Nonchalantes in seiner Haltung. Er ging wie ein eben aus dem Sattel gestiegener Kavallerist und dankte auf die Honneurs der dunkelblauen preußischen und der himmelblauen bayerischen Infanterie, der hellblauen Dragoner und hechtgrauen Maschinengewehrmannschaften, der dunkeln sächsischen, preußischen, bayerischen Fußartilleristen, der Pioniere und Kanoniere von der Feldartillerie und der Fähnriche der Kriegsschule, die alle Uniformen der preußischen Armee durcheinander trugen.

Eine Abteilung der Metzer Garde, des Königsinfanterieregiments, marschierte vorbei. Augen rechts! Die Beine flogen im Parademarsch. Er dankte den Hundertfünfundvierzigern, winkte ab und dann lebhaft nach vorn. Er hatte da jemanden entdeckt, der ihn höchlichst interessierte, einen großen, breitschultrigen, ruhig, beinahe etwas schwerfällig gehenden Obersten von der Infanterie. Er beschleunigte jugendlich lebhaft seinen Schritt.

»Ottersleben!« schrie er. »Ottersleben! Kriegt man Sie endlich mal zu Gesicht?«

Der Oberst Bruno von Ottersleben wandte sich um und stand militärisch stramm vor dem General, der ihm lachend die Hand drückte.

»Ist das nun nett? Seit fünf Tagen krauchen Sie in Metz und Umgebung herum und lassen sich bei mir nicht sehen?«

»Exzellenz . . . Ich mache mit einer Anzahl meiner Herren aus Straßburg eine kleine taktische Übungsreise über die Schlachtfelder . . .«

»Weiß! Weiß! Keine Zeit. Natürlich. Na – und wie steht's denn sonst bei Ihnen? Gattin munter? Bitte, mich zu Füßen zu legen! Fräulein Maxe auch wohl?«

»Eben hol' ich die auf dem Bahnhof ab!«

Olaf von Glümke riß seine feurigen blauen Augen auf.

»Nanu! Was tut denn die schöne Nichte hier?«

»Sie begleitet auf meinen Wunsch eine Dame, die wir in Straßburg zu Besuch haben, eine Frau Oberstleutnant Torwart. Die möchte gern die Stelle sehen, wo ihr Vater 1870 bei St. Privat fiel. Morgen ist Sonntag. Da fahr' ich dann mit ihnen heim!«

»So . . . so . . .« meinte der andere, anscheinend zerstreut. Aber die paar Worte staken ihm merkwürdig in der Kehle. »Na – famos! . . . Wo sind Sie denn da morgen früh? . . . Am üblichen Standort . . . beim heiligen Michael? . . . Aha! . . . Aber lassen Sie sich nicht aufhalten, lieber Oberst! Sie versäumen sonst noch den Zug!«

Olaf von Glümke setzte langsamer als bisher seinen Weg nach Hause fort. Er bewohnte mit seiner Dienerschaft und seinen Pferden eine eigene Villa draußen in Montigny. Es war ein geräumiges Gebäude, noch aus Fachwerk wie die meisten, hier im ehemaligen Festungsbereich gelegenen Häuser. Das hohe Gehölz eines Parks überschattete das Dach mit seinem herbstlichen Laub. In der tiefen Stille klirrten die Sporen des Generals weithin auf dem Kies des Weges. Das Haus schwieg wie ausgestorben. Es schien ihm feucht in den Zimmern. Der französische Kamin rauchte. Der Diener Joseph, ein früherer Bursche, war dümmer als je. Die Mappe voll Schriftstücken auf dem Tisch barg eine Masse dienstlichen Ärgers. Im Stall hustete Diana, die Fuchsstute. Das Wasser im Saufeimer war zu kalt. In dem Hafer, den er aus der hohlen Hand blies, fanden sich weiß Gott schwarze Wicken. Schweinerei überall! Es schien Olaf von Glümke, als ginge gerade heute alles gegen den Strich. Und er hatte niemanden, mit dem er über solch kleines Ungemach lachen konnte. Er speiste allein zu Abend. Es schmeckte ihm nicht. Er sah über die Tafel hinweg drüben im Leeren immer noch ein zweites Antlitz, ein schmales, unregelmäßig reizvolles Mädchengesicht, mit blonden Haaren – nein – kein Mädchen – eine Frau. Eine junge Frau. Maximiliane von Glümke . . . Es klang ihm gut. Eine junge Exzellenz. Kaum sechsundzwanzig. Und eine schöne . . .

Nachdenken war die Sache Olaf von Glümkes nicht. Bei ihm setzte sich der Impuls in Taten um. Zuweilen ging es damit auch schief. Das hatte er vor zweieinhalb Jahren erfahren. Leider. Er wollte sich nicht wieder die Finger verbrennen. Und so tat er in seiner Unruhe, was er sonst nie tat: er zündete sich eine Zigarre an, ging in der Stille des Herbstabends in seinem Zimmer auf und ab und überlegte.

Und sagte sich: Sie ist doch scheu und spröde. Sie hält sich doch ängstlich vor mir zurück. Vor den Männern überhaupt. Sie hat da irgendwo schlimme Erfahrungen gemacht. Sie traut uns nicht mehr. Wenn sie nun doch nach Metz kommt, auf die Gefahr hin, mir morgen, am Sonntag, wo alles unterwegs ist, zwischen Montigny und ihrem Hotel in der Priesterstraße zu begegnen, so fürchtet sie doch diese Möglichkeit nicht, wenn sie sie auch nicht sucht. Es ist, als wollte sie dem Schicksal ein Hintertürchen offen lassen . . .

Und sagte sich weiter: Ich kann nicht ewig hinüber nach Straßburg! Es fällt schließlich auf. Im Winter ist auch die Hoffnung, sie auf der Straße zu sehen, gering. Und ich stehe nicht so mit Ottersleben, daß ich ihm ohne besonderen Grund einfach ins Haus fallen kann. Vor vierzehn Tagen war sie schon zur Hochzeit ihres Bruders in Berlin, über kurz oder lang geht sie ganz aus Straßburg weg. Und ich steh' da . . .

Diese Ungewißheit quälte ihn die ganze Nacht. Gegen seine Gewohnheit fand er kaum Schlaf. Um vier Uhr früh stand er auf, machte Licht, kleidete sich an und ging durch das tiefe Dunkel hinüber in den Stall. Den erhellte der matte Schimmer einer Laterne. Fünf von dem halben Dutzend Gäulen standen. Contessa, sein Liebling, lag, lang hingerekelt. Das freute ihn. Dann war der gute Kerl heute besonders frisch. Er trat auf den Fußspitzen in die Box, um die Stute nicht zu erschrecken, half ihr in die Höhe und sattelte sie, ohne den nebenan schnarchenden Burschen zu wecken, stieg auf und ritt davon.

Allmählich wurde es morgenhell. Dampfende, weiße Nebel hingen über der Moselniederung. Herbstlicher Tau glitzerte auf den schon halb kahlen Bäumen und Büschen. Durch die stille Luft klangen die Frühglocken der Dörfer. Es war jetzt am Sonntag kaum ein Mensch unterwegs. Der General von Glümke ließ seinen Gaul ausgreifen. Er trabte die Pappelallee von Amanweiler her gegen Norden. Dabei schirmte er die Augen mit der Hand und blickte ungeduldig nach vorne. Vor ihm lag ein kleines lothringisches Dorf. Nicht anders wie hundert andere, höchstens die Kirche neu, die Häuser alle wie vor wenigen Jahrzehnten neu gebaut und gedeckt. Es sah nach nichts aus und hieß doch St. Privat. Und war einmal für acht heiße Stunden der Brennpunkt der Weltgeschichte gewesen.

Vor dem Dorf, wo sich eine mächtige Ebene sanft gegen Westen hin abböschte, hielt, von des Kaisers Hand entworfen, der heilige Michael mit flammendem Schwerte auf hohem Denkmal Wacht. Ein junger Infanterieoffizier stand unter ihm, den Blick geradeaus, in die Betrachtung des Schlachtgeländes versunken. Man konnte aus seinen Zügen die Empfindung lesen, die jeden Militär an diesem Ort übermannte: ›Welch eine furchtbare Stellung – die der Franzosen am 18. August . . .‹

Außer ihm war niemand da. Die Züge des Generals von Glümke verdüsterten sich. Er galoppierte ungestüm heran. Zum Glück hatte er wenigstens auf den Achselstücken des Leutnants die Nummer 244 erkannt. Et hob leutselig die Hand zur Mütze.

»Morgen, Herr Kamerad! Haben Sie vielleicht hier irgendwo Ihren verehrten Oberst gelassen?«

»Zu Befehl, Exzellenz! Der Herr Oberst kommt dort eben!«

Der Offizier trat an das Pferd heran und stand dienstlich da.

»Gestatten Euer Exzellenz, daß ich mich ganz gehorsamst vorstelle: von Gesierowski, Regimentsadjutant.«

»Danke sehr! . . . Glümke!« Der Generalleutnant verbeugte sich leicht und ritterlich im Sattel. Und schaute dann vor sich, über die weiten Felder hin. Er kannte längst dies Bild. Und doch ergriff es auch ihn immer wieder aufs neue. Hier, über diese völlig kahle, schutzlose Fläche war die Garde zum Sturm auf St. Privat vorgegangen. Es war nicht nötig, daß man das Generalstabswerk im Kopf hatte. Man brauchte nur seine Augen aufzumachen, so sah man die Angriffsrichtung all der Regimenter: denn jeder Truppenteil hatte seine Grabmale auf der Spur seines Vorwärtsdringens zurückgelassen. Die ganze Ebene war mit Denksteinen, Marmorkreuzen, bronzenen Adlern, Erdhügeln übersät, und all diese Linien liefen, von fernher im Halbkreis angesetzt, unerbittlich, wie von einem unsichtbaren, todesmutigen Willen getrieben, auf die paar Häusergruppen des ärmlichen lothringischen Grenzdorfs hier oben zusammen.

Nichts rührte sich auf dieser blutgetränkten Erde, durch die schon längst wieder der Landmann friedlich seine Pflugschar lenkte und die Schafherden auf den Stoppeln weideten. Nur ein paar Gestalten bewegten sich langsam auf St. Privat zu. Olaf von Glümke erkannte den Oberst von Ottersleben. Er führte Frau Torwart, die vom Grabe ihres Vaters kam. Hinter ihnen schritt, den Rock wegen des Taues gerafft, sich ernst nach rechts und links umschauend, ein großes, schlankes, blondes Mädchen. Wie das Bild des Lebens selbst ging sie, in ihrer Jugend, im Sonnenschein, in der Frühe des Morgens, zwischen den Gräbern. Sie lachte, als sie den General sah, der vom Pferd gesprungen war, den Oberst begrüßte und sich seiner Begleiterin vorstellen ließ, und sagte, ihm die Hand schüttelnd, ehrlich: »Gott . . . Exzellenz . . . Sie sieht man aber doch auch überall!«

Er scherzte ebenso.

»Morgenstunde hat Gold im Munde, Fräulein Maxe! . . . Sonst hätt' sie mich nicht heute durch Zufall gerade hierhergeführt!«

Sie erwiderte nichts. Er ahnte, was sie sich dachte: ›Als ob du nicht gewußt hättest, daß wir heute hier heraus wollten und wann der erste Morgenzug von Metz nach Pagny geht. Da war's kein Kunststück, uns hier beinahe auf die Minute zu treffen!‹ . . . Sie schaute zur Seite und klopfte zerstreut den Hals seines Rappen, der von Schweiß metallisch glänzte, und hörte neben sich die erläuternde Stimme ihres Onkels: »Sehen Sie – drüben, gnädige Frau, gegen den äußersten rechten Flügel der Franzosen, kam des Abends der Kronprinz von Sachsen und entschied durch seine Umgehung die Schlacht. Gottlob, wir hatten den Tag über keine rechten Geschäfte gemacht! Zugleich mit ihm erschienen dort auf der anderen Seite in letzter Stunde auch noch die Pommern!«

»Nun, haben Sie auch was profitiert, Fräulein Maxe?« forschte der General von Glümke. Sie nickte nur. Sie war jetzt ganz befangen. Das plötzliche Ahnen einer nahenden Entscheidung legte sich ihr auf die Seele. Er stand dicht neben ihr. Er erklärte ihr in seiner frischen, lebhaften Art: »Da bei den Pappeln, Fräulein Maxe, gar nicht weit von hier, ist die französische Grenze. Ein paar Jahre nach dem Krieg war hier Manöver. Da ritt unser alter Kaiser Wilhelm von dort herüber quer über feindliches Terrain! Er erfuhr erst hinterher, daß das Stück Land drüben im Frieden wieder an Frankreich gekommen war.«

Es war eine Pause. Maxe Ottersleben las mechanisch auf dem Sockel des heiligen Michael vor ihr die Inschrift: »Hier verlor das erste Garderegiment zu Fuß seinen Kommandeur, 38 Offiziere und 1066 Mann.« Die Zahlen sagten ihr nichts Neues. All die Familien, wie die ihre, die aus der Garde stammten, hatten hier Väter, Gatten, Brüder, Vettern liegen. Sie wandte den Kopf nach der von Glümke gewiesenen Richtung und sagte: »Also von dort kommen die Franzosen?«

»Ach – wenn sie nur kämen!«

Es lag so viel ehrliche Ungeduld eines Kriegsmannes in diesem Stoßseufzer, daß sie lachen mußte. Er gefiel ihr in diesem Augenblick in seiner jugendlichen Kampflust. Er machte ein paar Schritte und zog den Rappen am Zügel hinter sich her.

»Ich muß dem Gaul ein bißchen Bewegung geben!« erklärte er. »Sonst erkältet er sich. Der Morgen ist frisch!«

Sie gingen beide langsam längs des Randes von St. Privat hin. Hinter ihnen trappelte und pustete das Pferd. Olaf von Glümke wies auf das Dorf.

»Das ist ja nun alles neu!« sagte er. »Sie können sich denken: das ganze unselige Nest war zuletzt bis auf die Grundmauern zusammengeschossen und niedergebrannt. Stellen Sie sich vor, daß abends gegen sieben Uhr über hunderttausend Menschen mit vierhundert Geschützen um die paar elenden Häuser rangen . . . Deubel ja – wurde hier gekämpft! . . . Mein älterer Bruder war dabei. Mein Vater war zwei Tage vorher bei Mars-la-Tour gefallen. Mir Unglücksbengel fehlten daheim noch ein paar Jahre! . . . Darüber könnt' ich mir jetzt noch die Haare ausraufen! Denn seitdem ist die Welt ja blödsinnig friedlich geworden!«

Sie hatten das Ende der Gehöfte erreicht. Er blieb stehen, ziemlich weit von den anderen entfernt.

»Aber schließlich müssen wir eben sehen, Fräulein Maxe . . . wie wir uns in dem faulen Frieden einrichten! . . . Ich bin so froh, daß ich Sie mal wiederseh! . . . Ich denk' oft an Sie!«

Das junge Mädchen wurde etwas blaß.

Er fuhr fort: »Wissen Sie, daß ich manchmal ganz plötzlich über meinen Akten, als Divisionskommandeur und Gerichtsherr und was weiß ich, mir an die Stirne fasse und mich frag': Herrgott – was wird denn nu schließlich mit ihr?«

Sie legte das Haupt in den Nacken.

»Warum zerbrechen Sie sich denn meinen Kopf, Exzellenz?«

»Da haben wir wieder die Exzellenz!« sagte er gottergeben. »Es ist furchtbar! Das ist Ihre letzte Waffe, daß Sie mir die Exzellenz zu Gemüte führen! . . . Nee, aber im Ernst . . .« Er wurde heftig. »Kind . . . wo soll denn das hinaus? . . . Haben Sie's denn nicht schon selber dick, so in der Welt herumgeschubst zu werden wie ein Postpaket – mal in Berlin beim Schwager, mal in Straßburg beim Onkel, mal in Darmstadt bei Muttern – so als ob niemand Sie recht brauchen könnte. Und aus Ihnen läßt sich doch so viel machen . . . gerade aus Ihnen . . .!«

Maxe Ottersleben stand mit festgeschlossenen Lippen. Es war jetzt schon morgenwarm um sie geworden. Die Sonne schien heiß. Tiefblau spannte sich der wolkenlose Herbsthimmel. Olaf von Glümke rang, die Zügel über dem Ellbogen, in seiner Aufregung die Hände.

»Maxe . . . ist Ihnen dies Zigeunerleben nicht gräßlich? Ist Ihnen das nicht zu viel, immer nur zu Gast zu sein bei anderen Menschen? Möchten Sie denn nicht lieber die Füße unter den eigenen Tisch strecken?«

»Das möchte jeder . . . wenn er's eben kann!«

»Ja, warum heiraten Sie eigentlich nicht? . . . Verzeihen Sie die Frage! . . . Sie brauchen nicht so ein frostiges Gesicht zu machen! Ich hab' natürlich nicht das Recht dazu! . . . Aber alle Welt wundert sich darüber!«

»Wenn die Leute nichts Gescheiteres zu tun haben . . .«

Neben ihnen begann die Stute friedlich auf dem immer noch nassen Boden zu grasen. Olaf von Glümke bemerkte das mit Mißfallen und riß sie an der Trense in die Höhe. Dann fuhr er gedämpft fort: »Sie haben doch natürlich schon Anträge genug gehabt, Fräulein Maxe . . . nicht wahr?«

»Ich! . . . Ich hab' doch kein Geld . . .«

»Ach . . . reden Sie doch nicht! Jemand wie Sie . . . das weiß ich besser! Sie haben also Ihre Gründe gehabt, weswegen Sie nicht . . . Gut! . . . Ich ehre das alles! Ich forsche nicht nach! Es ist mir heilig! . . . Aber sehen Sie, Maxe: Sie müssen doch auch an Ihre Zukunft denken und nicht nur an Ihre gegenwärtige oder vergangene Stimmung . . .«

Maxe von Ottersleben schwieg. Aber sie hörte doch zu. Hörte geduldiger zu, als er gehofft hatte. Er war auf mehr Herbheit und Trotz gefaßt gewesen. Nun schien sie ihm eher weich, beinahe ängstlich. Seine Zuversicht stieg. Er wurde eindringlich.

»Von solch einer Stimmung können Sie nicht leben, wenn's mal zu spät geworden ist! . . . Sich der so hinzugeben, ist ein Luxus, den Sie teuer bezahlen! . . . Den Sie einmal bereuen müssen! . . . Vielleicht haben Sie sich in ruhigeren Stunden das alles schon selbst gesagt! . . . Nein: Antworten Sie mir jetzt nichts! Ich bitte darum! . . . Ich will Sie nicht noch einmal überfallen! Ich hab' von damals gerade genug . . . Der heutige Tag ist noch lang . . . Ich werde Sie am Abend etwas fragen . . . Sie haben vollauf Zeit, es sich zu überlegen, Fräulein Maxe . . . Jetzt können wir doch nicht weiter reden. Da kommen Ihre Leute . . .«

Er ging wohlgelaunt dem Oberst von Ottersleben entgegen und seiner Begleitung und küßte Frau Oberstleutnant Torwart, einer schmächtigen kleinen Dame, die noch in Gedanken an ihren Vater Tränen in den Augen hatte, die Hand.

»Ich bitte, mich jetzt beurlauben zu dürfen, gnädige Frau! Aber nur mit einer Bitte an die Herrschaften alle . . . Ihr Zug nach Straßburg geht doch erst gegen Abend! Seien Sie, bitte, vorher zu Tisch meine Gäste . . .«

»Ich weiß aber wirklich nicht, Exzellenz . . .« begann Herr von Ottersleben.

General von Glümke legte ihm, schon im Sattel, die Hand auf die Schulter: »Nee – nee, mein bester Oberst! Das ist abgemacht! . . . Nicht wahr, gnädige Frau? Fräulein Maxe hat auch nichts dagegen! . . . Also auf Wiedersehen um fünf!«

Er wartete keine Antwort ab, jagte im Galopp davon. Er saß prachtvoll im Sattel, hochaufgerichtet, ungezwungen, mit langen Bügeln.

Oberst von Ottersleben schüttelte den Kopf.

»Ja, Herrschaften, so 'ne Einladung ist ein halber Befehl. Das hilft nu nichts!«

Neben ihm stand Maxe und sah stumm dem Reiter nach, der in der Entfernung zwischen den zerstreuten Gräbern des Totenfeldes immer kleiner und kleiner wurde und schließlich in einer Talsenkung gegen den Bois de la Cusse hin verschwand.

Er jagte blind dahin, eine Weile so dicht längs der Grenze, daß er jenseits auf dem Feldweg den Dreispitz eines französischen Gendarmen aus kaum hundert Schritt Entfernung sah, durch ein Dorf, rechts der rot-weiß-blaue, links der schwarz-weiß-rote Pfahl, schwarze Elsässer Flügelhauben, grüne Zolluniformen, preußische Pickelhauben in der sonnenflimmernden Weite und da sein Haus in Montigny. In dem angekommen, schickte er ein paar Zeilen an seinen Generalstabsoffizier und dessen Frau und an seinen Divisionsadjutanten mit der Einladung, heute nachmittag auch seine Gäste zu sein, zündete sich eine Zigarre an und atmete auf. Uff! Nun war der Stein im Rollen. Wenn man nur eine Ahnung hätte, ob er die rechte Richtung einschlug. Olaf von Glümke setzte sich, streckte die bespornten Beine weit von sich und nagte tiefsinnig an dem blonden, leise angegrauten Schnurrbart. Im Spiegel drüben sah er sein verwegenes, vom Ritt gerötetes Gesicht. Aber auch die vielen kleinen Fältchen in dessen gesunder Frische. Nun – er war kein Jüngling mehr – und sie wurde sechsundzwanzig. Frage: was war bei ihr heute stärker: Kopf oder Herz? Das mochte der Kuckuck im voraus wissen! . . . Er stand wieder auf und fuhr sich mit der Hand zwischen Hals und Kragen. Er war doch wahrhaftig ein Kerl, der den Deubel selber am Schwanz zupfte, wenn es gewünscht wurde, aber jetzt hatte er Angst – lächerliche Angst, vor einem neuen Korb. Und dann sein altes Gottvertrauen: diesmal wird's schon werden . . .

Als die Gäste kamen, hatte Exzellenz von Glümke wieder ganz seine weltmännisch sorglose Haltung. Er zeigte ihnen, ehe es dunkel wurde, Haus und Hof, Stall und Park. Da waren die Köter: Bob, der Foxterrier, Pluto, der sanftäugige Vorstehhund, Herr Meier, der Hanswurst und Teckel, mit seinem griesgrämigen Spitzbubengesicht. Und da die Hühner! Sie waren schon schlafen gegangen. Aber er lockte sie durch eine Handvoll Körner, die er sich im Stall aus der Haferkiste holte, wieder von der Leiter. Maxe Ottersleben mußte lachen: ein preußischer General, der Hühner fütterte! Aber er tat es so unbefangen, mit sachlichem Ernst, er erinnerte hier in Hof und Feld, zwischen seinem Getier, so sehr, nicht an einen Würdenträger, sondern an einen einfachen frischen Landedelmann, daß er ihr dadurch menschlich näherrückte, ihr geradezu gefiel. Und er selber hob den Kopf von der Spielerei mit dem Geflügel und nickte ihr zu: »Sie sehen, Fräulein Maxe: ich hab' schon alle häuslichen Tugenden. Ich bin ein Mensch wie ein Kind . . .«

Dann führte er die Herren zu seinem kleinen Pistolenschießstand. Es gab etwas ganz Besonderes zu sehen: eine neue Art von Aufsatzspiegel für eine Birschbüchse, die alles Bisherige übertraf. Gerade jetzt, im Zwielicht, ließen sich die Vorzüge des Apparats erkennen. Die Offiziere, alle leidenschaftliche Jäger, umdrängten ihn. Sie stritten und zielten mit ungeladenem Gewehr in die Dämmerung hinein . . . Den Damen war es zu kalt geworden. Sie suchten das Haus auf. Nur Maxe Ottersleben stand noch für sich allein, etwas abseits, in dem kleinen Park. Das feuchte Herbstlaub raschelte unter ihren Füßen. Ein schwerer, würziger Hauch stieg aus ihm empor. Vor ihr ging die Sonne unter, dort drüben, im nahen Frankreich. Als glühende Purpurscheibe leuchtete sie, blutige lange Schatten werfend, zwischen den Stämmen. Die erschienen dagegen tiefschwarz. Weiße Nebel umspannen sie, rieselten in leisem Tropfenfall – es war ein Herbstabend wie andere und doch für sie eine unheimliche, atembeklemmende Stimmung und Stille. Sie wußte: nun kam die Entscheidung . . .

In einem neuen Anfall der Hilflosigkeit, die sie seit vierzehn Tagen, seit der Rückreise von Berlin, gelähmt hielt, dachte sie sich: Ich bin so einsam. Ich bin so schwach. Viel schwächer, als ich mir einbildete. Das Zusammentreffen mit Logow hat es mich gelehrt. Seit er es gesagt hat, daß er mich . . . Das ausgesprochene Wort hat solch eine furchtbare Macht! Es wird zum Herrn, nicht nur des Mundes und Menschen, der es sprach – nein – auch des anderen, der es hörte, wider Willen hören mußte, wie ich! Jetzt ist mir, als gehörte ich zu ihm. Und darf doch nicht. Und will doch nicht! . . . Und sträube mich dagegen mit allen Fibern meiner Seele und fürchte mich doch jetzt schon vor der Macht der Stunde, die uns einmal wieder zusammenbringen kann und zusammenbringen muß. Ich brauche eine starke Hand, die mir hilft – die mich hält . . .

Sie trat noch weiter in das vom Abendrot purpurschwarz flimmernde Gehölz hinein, blieb wieder stehen und sagte sich: Ich brauche einen Boden unter den Füßen, eine Pflicht vor den Augen, einen Zweck im Leben. Wenn ich den habe, dann kann ich vielleicht auch wieder froh werden! Ich war's seit Jahren nicht. Ich möcht' es so gern. Ich möchte mein Dasein genießen wie die anderen. Und wenn es auch nicht das Glück ist – du lieber Gott, wo ist überhaupt das Glück? . . . mein Glück? . . .

Ihr Herz stand still. Sie sah vom Haus aus durch das Abendgrauen den General von Glümke auf sich zukommen. Er hatte die Herren hineingebracht und ging, um sie zu suchen. Sein scharfer Blick hatte sie schon erkannt. Er näherte sich ihr rasch und elastisch, hoch aufgerichtet, mit bloßem Kopf. Es war Freudigkeit, Werben in seinem Wesen. Selbstbewußtsein. Er erschien ihr in diesem Augenblick, wo man trotz der Dämmerung den leisen Silberglanz auf seinem blonden Scheitel sah, älter als sonst. Aber gerade das gab ihr ein unerklärliches Zutrauen.

Er blieb vor ihr stehen und sagte: »Ich hab' die Gesellschaft drinnen verstaut! Ein paar Minuten haben wir Zeit. Aber lange nicht . . .«

Dann nach kurzem Schweigen: »Fräulein Maxe! Sie wissen natürlich genau, was ich Sie fragen will! Haben Sie es sich überlegt, den Tag über?«

Sie fing heftig an zu zittern.

Er fuhr fort: »Sonst . . . noch einmal dränge ich Sie nicht! Ich will gern warten, bis Sie mit sich ins reine gekommen sind!«

Er harrte, ob sie sich Bedenkzeit ausbitten würde. Als sie stumm blieb, meinte er: »Fräulein Maxe . . . Sie sind inzwischen doch auch ein paar Jahre älter geworden! Sie haben Ihren Vater verloren. Sie haben kein Elternhaus mehr. Sie haben den Ernst des Lebens erkannt. Sie haben gewiß in dieser Zeit doch auch mehr als einmal gefühlt, wie einsam man sein kann! . . . Sie haben sich gewiß manchmal nach irgendeinem Menschen gesehnt, der es gut mit Ihnen meint. Sie brauchen doch Schutz und Schirm . . .«

Es war beinahe dasselbe in seinen Worten, was ihr vorhin die eigenen Gedanken gesagt hatten: das Sich-Flüchten zu einem, bei dem man geborgen war. Sie konnte sich nicht helfen: sie brach plötzlich in Weinen aus. Da merkte er, daß er sein Spiel gewonnen hatte. Er faßte im Halbdunkel ihre Hände und zog sie zu sich heran und sagte: »Und Sie haben doch Ruhe und Frieden und Liebe so nah, Maxe! . . . Wenn Sie nur wollen . . .«

Drinnen in dem Hause, dessen Fenster hell in die Nacht hinausschimmerten, stockte allmählich das Gespräch zwischen den Gästen. Der Oberst von Ottersleben in seiner Ahnungslosigkeit wurde unruhig. Er stand auf. »Ich muß doch mal sehen, wo unser verehrter Festgeber eigentlich steckt!« sagte er, »und meine Nichte auch!« Zugleich lachte die am Fenster sitzende junge Frau des Generalstabshauptmanns.

»Sie marschieren ja schon die ganze Zeit vor dem Haus auf und ab und erzählen sich was! Arm in Arm!«

»Wer?«

»Exzellenz und Fräulein von Ottersleben! Da sind sie ja!«

Die Tür ging auf. General von Glümke stand triumphierend, mit blitzenden Augen auf der Schwelle.

»Meine Herrschaften! Gestatten Sie: Meine Braut!«

Einen Augenblick war alles sprachlos. Dann entstand ein Durcheinander. In ihm die Stimme des Obersten: »Na, das ist allerdings eine Überraschung!«

General von Glümke schlug ihn auf die Schulter: »Aber 'ne famose! Was? Ich bin so glücklich! Ich möcht' gleich in die Luft springen!«

Er strahlte und wandte sich an Maxe: »Und gefackelt wird nicht? . . . Nicht wahr? Wir heiraten gleich. In acht Wochen bist du Exzellenz!«



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