Rudolph Stratz
Du Schwert an meiner Linken
Rudolph Stratz

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12

Aus der Ferne hätte man glauben können, es bellte nur ein einziger, atemloser, riesengroßer Hund durch das herbstliche Schweigen des Waldes. Jetzt, als die Meute in den Anfang der langen Schneise einbog, sah man: es war ein Dutzend Koppeln, vierundzwanzig schwarze Nasen streiften im Dahinschießen das betaute Gras mit der Spur des hindurchgeschleiften Fleischsackes, vierundzwanzig Kehlen wiesen kläffend dem roten Jagdfeld hinter ihnen den Weg, an dessen Spitze der Master galoppierte, mit langer sausender Holzpeitsche das Rudel zusammenhaltend und darüber wachend, daß nicht Roß noch Reiter an ihm vorbeizog und ein achtloser Pferdehuf das kostbare Hundsgebein schädigte.

Der Waldweg, durch den es dahinging, war schmal, zu beiden Seiten von Tannendickicht eingesäumt. Quer über ihn liefen in regelmäßigen Abständen die kunstvoll aufgebauten Hindernisse: eine Hürde nach der anderen. Die Hunde wälzten sich wie eine weiße, schwarz und braun gefleckte Welle darüber hin. In ihr Gejanke klang von hinten der dumpfe Hufschlag. Gaul auf Gaul schnaufte und flog. Und der Generalleutnant von Glümke, der ganz vorn, dicht hinter dem Master, neben dem Onkel seiner Frau, dem Husarenmajor Freiherr von Koninck, ritt, schrie dem lachend durch den Wind zu: »Heute muß die Gesellschaft Farbe bekennen! Sonst mach' ich's immer so, daß die schwächeren Elemente um die Hindernisse herumreiten können. Aber am Hubertustag gibt's kein Pardon!«

Sie waren aus dem Wald hinaus. Die Fährte bog jäh nach rechts, über freies Stoppelfeld. Ein Graben war davor am Wege: beide nahmen ihn, und im gemächlichen Weiterkantern frug der Husar: »Wie lange besteht euer Schleppjagdverein?«

»Das war mit mein erstes, ihn zu gründen, wie ich vor anderthalb Jahren meine Division wechselte und die vierundfünfzigste hier bekam!« sagte Olaf von Glümke. »Drunten im Reichsland . . . da ist's ja nichts damit, überall Tabak, Spargel, Hopfen, Wein . . . Da könnte man jede Minute stoppen und mit den Wackes den Flurschaden berechnen. Hier, auf unseren ollen ehrlichen Kartoffeläckern hat man doch im Herbst die Ellbogen frei!«

Er streifte sich im Dahinreiten einen Erdbrocken von der Backe, den ihm der Huf vom Gaul des Masters vor ihm ins Gesicht geschleudert. Der Generalleutnant Olaf von Glümke war in den zwei Jahren seiner Ehe nun doch ergraut. Aber es stand ihm vortrefflich: zu dem rosigen Hauch des Gesichts, dem feurigen Blau der Augen dieser silberne Schein. Er verband jetzt Schneidigkeit mit Würde. Wie er da mit seiner straffen Rassegestalt, im roten Frack und hohen Hut, zu Pferde saß, wirkte er wie ein vornehmer Herr, ein Großer des Landes, der vor seinen Gästen meilenweit über eigenen Grund und Boden dahinjagte.

Der Freiherr Wilderich von Koninck war nur zu Besuch von seiner Garnison herübergekommen. Er wischte sich, die Zügel in der Linken, den Schweiß von dem rötlichen, vom Monokel überglitzerten Weingesicht.

»Also bist du mit deinem Garnisonstausch zufrieden?« rief er durch den Heidenlärm der Hunde.

Olaf von Glümke nickte. »Erstens hab' ich da nicht zu fragen, sondern geh dahin, wo's der Allerhöchste Herr befiehlt. Und zweitens: wenn ich meine Frau hab', meine Pferde und meine Division, dann kann mir der Rest der Welt überhaupt gestohlen werden!«

Sie mußten stoppen. Das Gelände war auf eine Strecke hin zu miserabel. Hinter ihnen kam die Jagd heran. Das weite Ackerfeld war rot von Fräcken und bunt von Uniformen. Rappen und Füchse, Braune und Schimmel stürmten um die Wette. Es waren an die vierzig Reiter, zwischen ihnen auch einige Damen. Der General strahlte plötzlich. Er wies auf Maximiliane, die auf einem hochbeinigen, kastanienfarbenen irischen Hunter unter den vordersten Herren die sanft abfallende Fläche heraufgaloppierte, die schlanke Gestalt elastisch im Sattel gebogen, den blonden Kopf gegen den Wind geneigt, die Wangen unter dem Schleier von der Herbstluft gerötet.

»Nu sieh dir mal die Maxe an! Hand aufs Herz, alter Schwede: ist sie nicht einfach famos?«

Wilderich von Koninck, der graue Junggeselle, mußte über den verliebten Ehemann lachen. Aber innerlich gab er ihm recht: die junge, blonde, rotbefrackte Exzellenz im Sattel da hinten war eine entzückende Frau.

Olaf von Glümke ließ das Auge nicht von ihr, voll Stolz: »Und wie sie reitet! . . . Furcht kennt sie nicht! Vor zwei Jahren, wie wir heirateten, da hatte sie noch nie im Sattel gesessen. Du weißt: ihr Vater, der olle Ottersleben, war nicht sehr für die Gäule! Der hielt's nur mit dem Schießen! Aber sie hat's spielend nachgelernt.«

Sie konnten jetzt schon wieder traben. Die Hunde waren unsichtbar. Man hörte sie nur hinter einem dicken Buschwald. Die ganze Gegend war voll Hecken und eingeschnittene Bäche.

»So ungefähr sah das Vergnügen in Lothringen aus!« sagte Olaf von Glümke zu dem Husaren. »An sich ist's ja eine Ehre, in Metz auf Vorposten zu stehen! . . . Aber 's war für mich auch noch ein besonderer Grund, der mir das Scheiden erleichterte: mein Schwager Logow! Du weißt: den haben sie bald nach meiner Heirat doch als Hauptmann und Kompaniechef in so ein verfluchtes lothringisches Grenznest versetzt! . . . Da sitzt der Mann nun – in einer Gegend, in der sich tatsächlich Fuchs und Wolf gute Nacht sagen!«

»Ein verfluchter Sprung – vom Generalstab in Berlin!«

»Na . . . sollte sich lüften! . . . Macht auch nichts! . . . Eine Weile Frontdienst tut immer gut. Ich bin auch Frontsoldat. Ich möchte jetzt noch beinahe heulen, wenn ich mich hinsetzen und Berichte schreiben muß. Aber glaubst du, der Logow oder seine Frau hätten je in den vier Monaten, die ich nach unserer Hochzeitsreise noch in Metz war, den Weg zu uns gefunden? Oder sonst was von sich hören lassen?«

»Nanu?«

»Schnitten uns! Schnitten uns nach allen Regeln der Kunst! Was wir ihnen getan haben, wissen die Götter. Schließlich: er war ja nicht in meiner Division. Aber ich bin General und er Hauptmann. Man kam sich schon ganz dumm vor, wenn man nach den sonderbaren Leuten gefragt wurde!«

Olaf von Glümke schüttelte sich, mit einer flotten Kopfbewegung, die ganze Geschichte aus dem Sinn. Wozu auch Grillen fangen? Über einem war der Himmel blau, die Mittagsonne vergoldete heiß die Heide, dort bellten die Hunde, da war seine Frau, das Leben war so schön! Er drückte sich die Hutkrempe fester in die Stirne und sprengte wieder zum Galopp an.

»Nu kommt der Hauptspaß! Das Hubertushindernis! Da: beim Försterhaus!«

Das Gebäude lag einsam im Walde. Ein umfriedeter Obstgarten davor. Die Meute sprang mit den Vorderpfoten an den Rand der Steinmauer, arbeitete sich hinüber und verschwand. Hinterher die ersten Pferde. Freiherr von Koninck sah sich ratlos zwischen den Bäumen.

»Gerechter Strohsack – wo geht's denn weiter?«

»Da, mitten durchs Haus!« Der Generalleutnant strahlte. Das hatte er sich so ausgedacht und dem Förster dafür hundert Mark gegeben. Er hob warnend die Hand. »Achtung! . . . Bücken! . . . Nicht oben anstoßen!« Die Hufe der Pferde donnerten auf den Backsteinen des Flurs, als wäre man mitten in einer feuernden Batterie. Schattenhaft flogen Dinge vorbei – Hausgerät – ein paar Kindergesichter hinter dem verschlossenen Küchenfenster. Dann führte es auf der anderen Seite durch das breite Tannentor wieder ins Freie. Der Obstgarten hinten war rot von Reitern. Immer neue flogen herüber. Die Backsteinsplitter der Mauer deckten weithin das Gras. Jenseits von ihr war Geschrei und Gelächter. Helle Damenstimmen dazwischen. Ein paar Rosse waren abgeschrammt und wollten nicht über das Hindernis. Ein dicker Herr saß auf dem Boden und hielt krampfhaft an langen Zügeln sein Roß fest, das sich um ihn drehte, als wollte er's longieren. Ein Fähnrich stand neben seinem Rappen und rieb sich mit schmerzlicher Heiterkeit das Schlüsselbein, das seinen ersten Knacks in seiner Kavalleristenlaufbahn abbekommen hatte. Über das Feld hin lief eilig ein reiterloser Gaul in der Richtung auf die Stadt, als habe er dort dringend im Stall zu tun. Vor dem Engpaß des Hausflurs staute es sich in einem Gedränge, daß man nur noch im Schritt hindurchreiten konnte. Von drüben hörte man die dumpfen Hufschläge des Angaloppierens. Es galt, den niederen, schon vielfach zersplitterten Staketenzaun am Weg zu nehmen. Der General von Glümke war schon drüben. Da sah er seine Frau, im Begriff, das Hindernis zu überspringen, und machte eine plötzliche abwehrende Bewegung.

»Nein – du nicht . . . Reite lieber ganz langsam hier durch die Lücke!«

Einen Augenblick zuckte es in ihr von Reiterlust. Dann gehorchte sie ohne Besinnen. Man sah: sie war es gewöhnt, sich ihm vertrauensvoll unterzuordnen.

»Du – warum soll ich denn auf einmal den Drückeberger spielen?« frug sie lachend im Herankommen.

Sein scharfes Auge haftete prüfend an den Beinen ihres Braunen.

»Die ›Griseldis‹ lahmt! . . . Da . . . jetzt sieht man's. Ganz deutlich! Du kannst nicht weiter reiten, Kind! Das Biest gehört schleunigst in den Stall. Hilft nichts! . . . Marsch! Wir müssen heim!«

Sie sah die Betrübnis auf seinen Mienen. Es tat ihr leid, daß er seine geliebte Hubertusjagd, auf die er sich seit Wochen gefreut hatte, nicht zu Ende reiten sollte.

»Schau, daß du den anderen nachkommst!« sagte sie. »Die haben schon einen mächtigen Vorsprung! Da . . . Herr Gutgesell begleitet mich gewiß gern nach Hause!«

»Selbstverständlich, Exzellenz!«

Der Divisionsadjutant, Major Gutgesell, verbeugte sich im Sattel. Olaf von Glümke ließ sich das nicht zweimal sagen. Der Jagdeifer zitterte in ihm und seinem Gaul. Er gab dem mächtigen Wallach den Kopf frei und schoß, gleich einem roten Blitz, durch das krachende Unterholz hinter dem Felde her, das gottlob gerade eben vor einer jähen Bodensenkung den Galopp verlangsamte.

»Gruß an Mama!« schrie er noch zurück und dann lachend zu dem Major von Koninck, der bis dahin auch bei seiner Nichte geblieben war: »Komisch: so ein alter Kerl wie ich und noch 'ne Schwiegermutter! . . . Aber ich komm' ganz gut mit deiner Schwester aus! Wir haben sie schon vier Wochen zu Besuch!«

»Na – natürlich hat sie vor dir einen Heidenrespekt!«

»Vor mir nicht den geringsten!« sagte der General von Glümke kaltblütig. »Aber die Maxe . . . die imponiert ihr! Denk mal: drei Töchter – die eine 'ne kleene Hauptmannsfrau, die andere 'ne kleene Leutnantsfrau, und nun die mittelste, dies vermeintliche Entenküken, Exzellenz! . . . Nee – sie ist wie Zucker! Ich kann nicht klagen!«

Sie kamen eben noch bei dem Abstoppen zurecht und mischten sich unter die Rotröcke. Dann verlor sich das ganze Hussa und Hallo über den Kamm abwärts, und es wurde totenstill, während Maximiliane von Glümke und ihr Begleiter im Schritt den Rückweg antraten. Eine halbe Stunde ging es. Da hielt sie an und ließ sich von ihm aus dem Sattel helfen.

»Die ›Griseldis‹ quält sich zu sehr! Am besten ist's, Sie reiten voraus und holen für mich einen Wagen. Ich warte unterdessen hier!«

Der Divisionsadjutant gehorchte und sprengte davon. Maximiliane ließ sich auf einem durchsonnten Baumstumpf am Rande einer Lichtung nieder. Das Pferd stand friedlich neben ihr, mit langen Zügeln an einer Wurzel am Boden befestigt, und graste. Es war eine tiefe, feierliche Ruhe umher. Ganz in der Ferne lärmte und krächzte ein Flug Holzhäher in alten Eichen. Dann verlor sich auch das. Manchmal ein leises Schnauben des Gaules und wieder die traumhafte Stille, so unwahrscheinlich für die Ohren, in denen immer noch Hufschlag und Hundegebell nachzitterten, um die immer noch der Wind zu fegen schien, während doch da draußen in der lauen, unbewegten Luft die weißen Sommerfäden kaum merklich dahintrieben und höchstens einmal ein leises Zittern durch die braunen und bunten Blätter ging. Silbern spannte sich der Himmel. Die Sonne schien, nicht mehr mit sengender Glut, nur milde und wärmend. Und die Seele der jungen Frau, die ruhig, den blonden Kopf gesenkt, in ihrem leuchtendroten Frack und dunkeln Kleid, die Hände im Schoß verschlungen, auf dem Baumstumpf saß, war wie ein Widerschein dieses Herbsttags, klar und heiter. Es war ihr neu, diese plötzliche Einsamkeit. Sie konnte sich kaum erinnern, seit langem je so mit sich allein gewesen zu sein, immer waren in diesen zwei Jahren ihrer Ehe Menschen um sie gewesen, immer etwas los, immer schlang sich das Morgen an das Heute, in ewiger glitzernder Kette. Zum Besinnen war eigentlich nie Zeit an der Seite eines so ungestüm lebenden Mannes wie Olaf von Glümke. Der riß einen mit sich fort. Man mußte die Augen zumachen und lachen und sich dahintragen lassen. Es war wie eine einzige wilde Jagd. Es war auch gut so. Zum Kopfhängen war da kein Platz. Und kein Grund. Und gar keine Lust . . . Sie hatte ihren Mann. Er war immer da. Sie hätte ihn hier an ihrer Seite haben können, wenn sie gewollt hätte. Und so würde es bleiben, so lange er lebte. Man war so geborgen bei ihm. Man stand neben ihm hoch über der Menge. Man hatte Grund, dem Schicksal dankbar zu sein.

Der Gaul erschrak über etwas und machte einen Sprung am Zügel. Sie hob ärgerlich den Kopf und rief: »Steh still, du alte Rammsnase!« Sie war böse auf das Tier, daß es ihr das Jagdvergnügen gestört hatte, und gestand sich gleich darauf selber: wenn einem so was noch Kummer bereitet, dann hat man wirklich keine großen Sorgen im Leben! – Ihre Züge wurden dabei ernster. Sie saß mit halbgeschlossenen Lidern und träumte. Es war so wundersam, dieser Frieden, diese Einkehr, dies Schweigen im Walde. Es war wie eine verwunschene Welt. Die Gegenwart weg. Man schaute hellsehend auf sich und sein bißchen armen krausen Lebenslauf zurück und konnte die Hände falten und sich in der Stille sagen: ›Gottlob – ich hab' mich nicht in mir verzehrt! Ich hab' die Kraft gefunden, über mich und meinen Schmerz hinauszukommen. Das Irren und Sehnen liegt hinter mir. Ich hab' begraben, was mir nicht beschieden war. Mein Mann ist mir nah. Ich steh' mit beiden Füßen fest im Leben, und meine Augen sind klar.‹

Aus der Ferne tönte, rasch näherkommend, das Rollen eines Jagdwagens. Der Major Gutgesell lenkte ihn selbst. Ein Bursche mit einer Stalldecke saß hinten. Maximiliane von Glümke fuhr sich mit der Hand über die Wimpern und wurde wach. Und während sie sich elastisch erhob, atmete sie tief auf und sagte sich noch einmal: »Ja. Es war besser so. Tausendmal besser!«

Zu Hause eilte sie, so wie sie war, das kurze Reitkleid raffend, in hohen Stiefeln und Sporen, den Hut schief auf den zerzausten blonden Haaren, aus denen die Hälfte der Nadeln beim Galoppieren herausgeflogen war, den dünnen Reitstock in der Hand, hinüber in das Gastzimmer zu ihrer Mutter und rief schon beim Eintreten: »Was hör' ich denn da, Mama? Die Leute sagen, du packst? Was ist denn passiert?«

Frau Oberst von Ottersleben war in den Jahren nach dem Tode ihres Mannes, seitdem nicht mehr die Sorgen des großen Hausstandes auf ihr lasteten und die Kinder alle untergebracht waren, eher jünger geworden. Sie hatte noch die hohe, schlanke Gestalt ihrer Tochter und sah mit ihren verwitterten, aber vornehmen Zügen so aus, als sei sie in ihrer Jugend ebenso schön gewesen wie jene. Sie nickte, neben einem offenen Koffer stehend, der jungen Exzellenz zu. »Ich bin zu besorgt, Maxe . . . Vorhin ist ein Brief von Ulla gekommen. Sie schreibt, es gehe ihr seit ein paar Tagen ganz elend! Oder vielmehr – sie schreibt nicht selbst. Es ist eine fremde Hand. Nicht die Erichs. Sie diktiert offenbar einer Pflegerin. Das ängstigt mich zu sehr! Wenn sie dort schon so weit sind . . .«

»Mama . . . Ulla fehlt doch immer etwas!«

»Ja, aber das klingt diesmal anders, Maxe! Ich kann mir nicht helfen . . . Ich fahr' mal hin!«

Frau von Ottersleben packte weiter.

»Ihr Mann klagt doch immer, daß sie mit ihrer Gesundheit so dumme Streiche macht!« meinte sie dabei. »Es ist ja überhaupt eine unselige Ehe! . . . Wenn ich an die stillen, zufriedenen Grotjans denke . . . Oder nun gar an dich . . . Man muß nur nicht unfreundlich gegen seine Geschwister sein, wenn man so hoch gestiegen ist wie du. Dann gerade nicht!«

»Das liegt auch wirklich nicht in meiner Art, Mama! Sag mir nur, wo ich helfen kann!«

»Ach . . . helfen . . . Kind . . . nur ein gutes Wort mal an rechter Stelle . . . Ein wenig freundliches Entgegenkommen . . . Sieh mal . . . Den Logows geht es wirklich nicht gerade gut. Sie sitzen da in einer Garnison, die schauerlich ist – und vielleicht auf lange Jahre . . . Denn wer weiß, ob Erich je wieder in den Generalstab zurückkommt? Mir scheint, seine Aktien stehen nicht sehr günstig . . .«

»Auf das alles kann ich doch keinen Einfluß nehmen, Mama . . .«

»Nein . . . ich meine nur . . . Wenn ich jetzt hinkomme, könnte ich vermitteln . . . Du könntest den ersten Schritt tun . . . ihnen die Hand hinhalten . . . denn es ist doch irgend etwas vorgekommen . . . Es muß etwas gewesen sein zwischen euch . . .«

»Nicht das Geringste!«

»Aber ihr habt euch doch seit zwei Jahren, seit Ottos Hochzeit, nicht mehr gesehen . . .«

»Kann ich dafür? Von ihrer Garnison nach Metz waren es zwei Stunden Eisenbahnfahrt. Sie sind nie gekommen. Ich hab' im Lauf der Zeit dreimal an Ulla geschrieben. Sie hat nie geantwortet. Ja, ich kann ihnen doch nicht nachlaufen!«

»Freilich nicht!« pflichtete Frau von Ottersleben bei. Sie war schließlich immer der Meinung der Tochter, die sie jetzt als das eigentliche Familienhaupt betrachtete. Sorgenvoll fuhr sie mit ihr zum Zug und freute sich doch in ihrem Mutterstolz über die ehrerbietigen Blicke, die sich von überallher auf die blonde Exzellenz richteten. Die stand auf dem Bahnsteig und winkte ihr nach. Und mit dem rasch kleiner werdenden, in die Dämmerung hinausrollenden Wagen flogen auch Maximilianes Gedanken noch einmal hinüber in das Reichsland. Aber das war so fern. Die Vergangenheit dort in der Weite schlief. Die Maxe Ottersleben von einst war tot. Um sie war die Gegenwart. Und die Gegenwart hatte recht. Die schöne junge Generalin von Glümke hatte ihren Wagen vorausgeschickt und schritt zu Fuß durch das Menschengewimmel der Straßen nach Hause. Die Damen, die ihr begegneten, neigten eilig zuerst den Kopf, die Offiziere grüßten in jähem, beinahe dienstlichem Zusammenfahren, die Herren vom Zivil mit tiefem Hüteabnehmen. Die Geschäftsinhaber verbeugten sich in ihren Ladentüren, Stadträte machten im Vorbeigehen ihren Bückling, Dienstmänner und Droschkenkutscher lüfteten ihre roten Kappen und weißen Zylinder – sie war die erste Dame nicht nur der Garnison, sondern der ganzen großen Stadt. Denn der Regierungspräsident, der dem Divisionskommandeur im Range gleichstand, war Witwer.

Ein Krümperwagen mit einem Dragoner auf dem Bock rasselte vorbei. Innen saßen, dicht aneinandergeduckt, ein paar der Rotröcke in dicken Mänteln, mit hochgeschlagenen Kragen, und eine kleine, in einen Automobilpelz eingemummelte Blondine. Die Jagd war zu Ende. Frau von Glümke blieb stehen und rief mit ihrer hellen Stimme: »Liebste Mensingen . . . Ist mein Mann schon zurück?«

»Eben ist er in Ihr Haus, Exzellenz!« klang es aus dem Pelzgewirr.

Maximiliane eilte sich, heimzukommen. Oben auf der Treppe traf sie den General und fiel ihm lachend um den Hals. Er küßte sie zärtlich. Er war in rosigster Laune. Die Hubertusjagd war herrlich verlaufen. An Akzidents nur ein angeknicktes Schlüsselbein und ein gequetschter Knöchel. So fiel kein Schatten auf den Ball heute abend.

»Da wirst du die Schönste sein,« sagte er strahlend. »Immer bist du die Schönste! . . . Was? Mama ist abgereist? So – so? Na . . . Das ist nu ja recht schade!«

Er heuchelte Kummer über die fehlende Schwiegermama. Er baute als Militär dem fliehenden Feind goldene Brücken. Innerlich dankte er seinem Schöpfer, daß er mit Maxe wieder allein war. Er faltete vor Entzücken die Hände, als er sie ein paar Stunden später in ihrem Ballstaat vor sich sah, in einem ausgeschnittenen schwarzen Seidenkleid, das, mit einem zarten Rankengeflecht weißer Rosen bemalt, ihre blonde Schönheit umschloß.

Maximiliane hatte ein paar fast gleichaltrige Freundinnen unter den höheren Chargen der Garnison. Der Zufall wollte es, daß Frau Generalmajor Klober erst zu Mitte der Dreißig stand, und Frau Oberst von Mensingen sogar noch ein paar Jahre weniger zählte. Die jungen Spitzen der Gesellschaft bildeten auf dem Ball eine Ecke, Hauptmanns- und Leutnantsfrauen um sie herum. Und in dem Gefächel und Geschwatze eine ewige Reihe von Anliegen, Bitten, kleinen und großen Sorgen und Nöten, die sich an Maximiliane drängten. Eine grauhaarige Matrone hielt ihre Hände fest und dankte herzlich: »Es ist wirklich zu gütig, Exzellenz, wenn Sie meine Tochter mit zum Ball des Kommandierenden nehmen! Das wird das arme Kind ein bißchen aufheitern! Exzellenz wissen ja . . .«

». . . daß man den nicht immer kriegt, den man haben möchte!« sagte Maxe leise. ». . . Ja . . . leider . . . das ist der Lauf der Welt.« Sie wandte sich zu einer anderen. »Ja – natürlich komm' ich zur Einsegnung Ihrer Grete – das fehlte noch! . . .« und nickte dann einem jungen ernsten Offizier zu, der sie schweigend, fast ängstlich ansah. »Ich denke, wenn Sie durchaus auf acht Wochen nach England zu Studienzwecken müssen, wird man höheren Orts wohl nichts dagegen haben!« Und noch im Weggehen fügte sie lachend und leise hinzu: »Aber zu Ihrer Hochzeit mit Miß Jones laden Sie mich dann ein, Herr von Petersheim! Das bitt' ich mir aus!«

»Maxe . . . du mußt das Protektorat über den Basar am Fünfundzwanzigsten übernehmen!« rief Frau Klober ihr entgegen, als sie zu den Damen zurückkehrte, und die Generalin von Glümke seufzte: »Kinder . . . ich glaub', es ist dies Jahr schon der elfte! Und drei Tage später drüben der Ball beim Oberpräsidenten! Da gehen immer zwei Tage drauf, mit der Eisenbahnfahrt und dem Übernachten! Der Divisionsball dort steht auch noch aus. Ich kann mich doch bald auf mein Zimmer Nummer Fünfundvierzig im ›Deutschen Kaiser‹ abonnieren.« Sie setzte sich und strich sich die rosenbemalten Seidenfalten ihres Rockes glatt. »Wißt ihr, wieviel Leute ich den Winter einladen muß? Nicht will, sondern muß? Ratet mal: Vierhundertelf! Angenehm? Nicht? . . . Nächste Woche hab' ich die Regierung bei uns . . . Herrenessen . . .« Sie drehte das blonde Haupt zu einer Dame, die hinter ihr stand. »Ja natürlich, Liebste, geb' ich den großen Saal in unserer Dienstwohnung zur Tanzstunde! Schickt nur eure Lämmer! . . . Aber nachgerade wird's mir schon ein bißchen schwubblig!«

»Wart nur, bis du erst Kommandierende bist!« meinte die Generalin Klober, und Maxe lachte und spitzte die Lippen.

»Tü – tü . . . um Gottes willen, beruf's nicht! Wenn das mein Mann hört . . . Der ist darin abergläubisch wie ein Türke . . . vorläufig bin ich auch so zufrieden!«

»Das glaub' ich!« sagte Frau von Mensingen zu ihrer Nachbarin. »Noch nicht achtundzwanzig und schon zwei Jahre Exzellenz . . .«

Die Nacht war weit vorgerückt. Ein feiner Hauch von Staub, ein Zittern von Hitze, eine helle Flut von Licht lag über dem Wiegen der Walzertakte, dem Wirbeln und Schleppenfegen der Paare. Maximiliane von Glümke tanzte, von der Jagd noch müde, weniger als ihr Mann. Sie sah seinen ritterlichen Graukopf drüben im vollen Trubel.

Eigentlich war das Fest schon zu Ende, der Schlußgalopp getanzt, die meisten brachen auf. Aber Olaf von Glümke hatte noch lange nicht genug. Er etablierte mit seiner Frau, deren Freundinnen und der jungen Welt eine Kaffeeecke. Aus dem Kaffee wurde unter seinen Händen Sekt. Immer neue Flaschen! ›Herrgott, Kinder – nu mal los! Nur keine Müdigkeit vorgeschützt! . . .‹ Seine Augen blitzten. Er lachte. Er trank den Damen zu. Er schwatzte Unsinn. Der Morgen graute schon, als man endlich nach dem Bahnhof schickte, um Nachtdroschken zu holen. Denn ehe er die eigenen Pferde im Winter stundenlang warten ließ, wäre der General lieber mit seiner Frau zu Fuß im Schnee heimgegangen.

Im ersten Dämmern fuhren sie durch die menschenleeren Straßen nach Hause. Er sprach unterwegs in einem fort. Er war unermüdet. Der anstrengende Tageslauf – gerade jetzt vor vierundzwanzig Stunden heraus – ein Morgenritt über die Exerzierplätze der verschiedenen Waffen, Aktenarbeit mit dem Adjutanten, die Hubertusjagd, wieder nachmittags Schreibwerk mit dem Generalstabshauptmann und nun der Ball – das alles war beinahe spurlos an seiner Elastizität vorübergegangen.

Sie hatten ihre Dienstwohnung erreicht. In der Vorhalle lag eine uneröffnete Depesche. Exzellenz von Glümke hauchte den verschlafenen Burschen an.

»Warum hab' ich die nicht gleich nachgebracht gekriegt – he? Du möchtest wohl abgelöst werden, mein Sohn? . . . Du sehnst dich wohl danach, draußen mal wieder so recht nach Herzenslust Griffe zu kloppen – was?«

»Nein, Exzellenz!«

»Na – dann ab!« Der General öffnete das Telegramm. Sein Gesicht wurde ernst. Er reichte das Blatt seiner Frau.

Sie las: »Bin soeben hier angekommen. Finde Ulla zwischen Tod und Leben. Plötzliche schwere Lungenentzündung. Mama.«

Die beiden Gatten sahen sich stumm an. Dann sagte er: »Ja – da hilft nichts! Wie sich die Logows sonst zu uns gestellt haben, das ist in so 'nem Moment ganz egal! Du mußt hin . . . Schon, um deine Mutter in einer so schweren Stunde nicht allein zu lassen! . . . Ich kann dich beim besten Willen nicht begleiten, mit der Rekrutenvereidigung morgen . . . Ich komme, so bald ich kann, nach . . .«

Er sah seine Frau forschend an. Es wunderte ihn, daß er ohne Antwort blieb. Aber da versetzte sie schon ruhig: »Du hast recht! Da gibt's keine Wahl. Ich fahre mit dem nächsten Zug.«



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