Adolf Stoltze
Weltstadtbilder
Adolf Stoltze

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Kapitel 9.

Bringt eine entscheidende Wendung im Leben alter Bekannten, und überläßt es dem Leser, sich seine Glossen dazu zu machen.

Emilie war seit acht Tagen bei ihrer Schwester in Spandau, und es war vor ihrer Abreise, auf ihre Bitte hin, vereinbart worden, daß ihr Freund nicht nach dorten komme. Sie hatte versprochen, täglich zu schreiben, seit den letzten zwei Tagen aber nichts von sich hören lassen, was Holmer in eine begreifliche Unruhe versetzte.

Um den Post- oder Telegraphenboten nicht zu verfehlen, blieb er den ganzen Tag, bis auf die kurze Zeit, wo er im benachbarten Restaurant sein Mittag- oder Abendessen einnahm, zu Hause; war aber nicht im stande, seine Gedanken auf eine Arbeit zu konzentrieren. Jedes Geräusch vor seiner Türe schreckte ihn von seinem Schreibtisch auf, und jede neue Enttäuschung erhöhte seine Sorgen und seinen Mißmut.

Erst gegen Abend erschien der Briefträger und händigte ihm zwei Schreiben ein, von denen er das eine hastig erbrach. Es war von Emilie. Ein schwerer Ohnmachtsanfall, der ihre Kräfte bis aufs äußerste erschöpfte, hatte sie verhindert, ihrem Versprechen nachzukommen; sie bat deshalb um Entschuldigung und versicherte, daß sie sich wieder völlig wohl fühle und keine Schwäche mehr empfinde. Der zweite Brief war von seiner Tante, welche mitteilte, daß seine Mutter bedenklich an Influenza erkrankt sei und große Sehnsucht nach ihrem Sohne habe. »Mache dir aber keine Sorgen, wenn du nicht abkommen kannst,« hieß es am Schlusse, »wie uns der Arzt versichert, ist sie in einigen Wochen wieder vollständig hergestellt; es ist auch nur meine unmaßgebliche Meinung, daß dein Kommen die beste Arznei für sie sei.«

Beide Nachrichten trafen Holmer aufs schmerzlichste und erfüllten seine Seele mit Kummer und bangen Befürchtungen. Rasch traf er seine Vorkehrungen zum Besuche der Mutter, obgleich ihn der Gedanke, sich gerade jetzt von der Geliebten so weit zu entfernen, wie ein stiller Vorwurf bedrückte.

Mit einigen flüchtigen Zeilen verständigte er Emilie über die Ursache seiner plötzlichen Abreise und forderte sie auf, ihm täglich, unter der Deckadresse eines Jugendfreundes, nach seiner Vaterstadt zu schreiben,

Nachdem er noch verschiedene Anordnungen für die Zeit seiner Abwesenheit getroffen, fuhr er nach dem Bahnhofe, um mit dem nächsten Schnellzug der Heimat entgegenzueilen.

Es war bereits Mittag, als er, nach neunstündiger Fahrt, das Elternhaus betrat, wo ihn mit glückstrahlenden Blicken die kranke Mutter empfing.

Seit einem Jahre hatte sie den Sohn nicht gesehen, und sein Erscheinen wirkte auf sie wie ein erster milder Sonnenstrahl auf die in Wintersbanden schlummernde Natur.

Die Krankheit hatte ihren Höhepunkt bereits überschritten, und schon am vierten Tage nach seiner Ankunft durfte die Patientin auf einige Stunden das Bett verlassen. Holmer war fast beständig in ihrer Nähe, und entfernte er sich auf Augenblicke, geschah es nur, um Emiliens Briefe in Empfang zu nehmen.

Als er eben, wie täglich, der Genesenden eine kleine Erzählung aus seiner Feder vorlas, erschien das Dienstmädchen unter der Türe und meldete, daß ihn draußen ein Herr dringend zu sprechen wünsche. Er erhob sich und verließ in sichtbarer Befangenheit das Zimmer.

Es war sein Jugendfreund, der ihn am Aufgang zur Treppe erwartete und hastig eine Depesche übergab.

Holmer erbrach sie mit bebenden Händen und las: Ein Junge – tot – Emilie wohl.

Verlegen steckte er das Papier in die Tasche und murmelte wie geistesabwesend vor sich hin: »Tot – Emilie wohl!«

Sein Freund, der die Lage überschaute, drückte ihm stumm die Hand und entfernte sich eilig.

Wie angewurzelt blieb Holmer noch eine Weile auf demselben Flecke stehen, zog die zerknitterte Depesche wiederholt hervor und las sie nochmals und abermals.

Unruhe und Reue, Besorgnis und Scham beherrschten seine Gedanken, er fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen und konnte zu keinem Entschluß kommen, was er tun sollte. Nach Spandau fahren, Emilie aufsuchen, das hatte keinen Sinn mehr und wäre gegen die Verabredung gewesen, auch würde eine fluchtartige Abreise, seiner Mutter, die noch so sehr der Schonung bedurfte, gefährlich werden können; und hierbleiben, und weitere Nachrichten abwarten, schien ihm lieblos und bei seinem Gemütszustand unerträglich.

Mechanisch stieg er die Treppe hinauf; er wollte sich von der alten Frau auf einige Stunden beurlauben, um auf einsamen Wegen Beruhigung und Sammlung zu suchen.

Mit forschenden Blicken betrachtete ihn die Mutter und fragte besorgt, als er ihr seine Absicht mitteilte:

»Fehlt dir etwas, Robert?«

»Keineswegs,« gab er zurück und sah dabei verlegen durch das Fenster nach der Straße.

»Dann hat dir wohl der Besuch unangenehme Mitteilungen gemacht.«

»Auch das nicht, Mutter.«

»Etwas ist vorgefallen, dein bleiches Gesicht verrät es – hast du so wenig Vertrauen zu mir?«

»Aber ich bitte dich, was soll denn vorgefallen sein? Hugo war da und lud mich zu einem Spaziergange ein – das ist alles.«

»Alles – und das sagst du deiner Mutter, Robert? Ich will mich zufrieden geben, aber es schmerzt mich, daß du mir etwas verbirgst – oder sollte gar eine Frau – – Na, das Alter hast du ja dazu.«

Holmer fühlte die Glut, die sein Gesicht rötete und bis zur Stirne emporstieg, er wandte sich rasch ab und sagte, indem er seinen Überrock anzog, mit einer Stimme, die unbefangen klingen sollte: »Du machst dir wirklich unbegründete Sorgen.«

»Desto besser,« erklärte sie und fuhr fort: »Ich hätte wahrhaftig nichts dagegen, wenn du mir eine gute Schwiegertochter ins Haus brächtest; ein unbescholtenes Mädchen, von dem ich überzeugt wäre, daß es dich um deiner selbst willen liebte.«

»Ich denke vorerst nicht ans Heiraten.«

»Das solltest du aber. Wenn wir gemeinschaftlich Haushalt führten, könntest du recht gut herumkommen, auch wenn dein Einkommen nicht bedeutend wäre. Freilich sagt man, die Herren hätten das Heiraten in Berlin nicht nötig, von dir aber weiß ich, daß du ein Mann von Grundsätzen bist.«

Holmer gab keine Antwort, sondern ergriff seinen Hut und verließ mit der Versicherung baldiger Rückkehr das Zimmer. Erst in der kalten Winterluft atmete er wieder freier; die Worte, die er daheim vernommen, waren wie glühende Kohlen auf sein Haupt gefallen. Gestern konnte er noch in Erwägung ziehen, ob er sich seiner Mutter, wenn sie völlig genesen, entdecken solle, heute war das ausgeschlossen.

Planlos wanderte er eine Zeitlang durch die stillen, verschneiten Straßen der Vorstadt, dann suchte er die Wohnung seines Freundes auf, wo er einen langen Brief an Emilie schrieb. Er bat sie dringend darin, ihn nicht in Ungewißheit über ihr Befinden zu lassen, und ihm mitzuteilen, ob er etwas für sie tun könne.

Als er nach mehrstündiger Abwesenheit wieder nach Hause kam, war seine Mutter bereits zu Bette gegangen, und so konnte er sich, nach einer kurzen Begrüßung, ungestört seinen Betrachtungen hingeben.

Sie waren tiefernster Natur und beschäftigten sich mit der Zukunft Emiliens, die sicherzustellen er als seine Pflicht ansah, aber wie er sein Gehirn auch abmarterte, er fand keinen Ausweg aus dieser Klemme.

Die nächsten drei Tage vergingen, ohne daß eine Nachricht aus Spandau eintraf, was seine Stimmung noch mehr verdüsterte und ihn einsilbig und verdrießlich machte, auch fühlte er sich von seiner Mutter beobachtet, obgleich diese keinen Versuch machte, in seine Geheimnisse einzudringen.

Endlich am vierten Tage suchte ihn sein Freund auf und brachte die ersehnte Botschaft. Es waren nur wenige Zeilen, von Emilie selbst geschrieben. Sie erklärte, sich zwar schwach, aber trotzdem wohl zu fühlen, lehnte dankend jede weitere Hilfe als entbehrlich ab und versprach, Ende nächster Woche ausführlicher zu berichten. Verdroß Holmer auch der trockene, fast geschäftsmäßige Stil dieses Briefes und die lange Frist, bis er wieder Nachricht erhalten sollte, so beruhigte ihn doch der Gedanke, daß Emiliens Zustand zu Besorgnissen keinen Anlaß gab.

So vergingen weitere neun Tage, in deren Verlauf die Genesung seiner Mutter so bedeutende Fortschritte machte, daß er an seine Rückkehr nach Berlin denken konnte.

Er verzögerte seine Abreise nur noch bis zum Eintreffen des Briefes aus Spandau, der ihm pünktlich, wie in Aussicht gestellt, zuging.

Er trug den Poststempel Berlin und lautete:

»Lieber, guter Robert!

Wenn diese Zeilen in deinen Besitz gelangen, bin ich nicht mehr bei meiner Schwester, die mir eine treue Pflegerin gewesen war.

Ich gehe einen Tag früher, als in meiner Absicht lag, von Spandau fort, weil mir die Stichelreden der Schwiegermutter nicht passen, und ich gerade jetzt bei einer Schneiderin Stellung und Unterkunft finden kann.

Heute Abend fahre ich nach Berlin, um dort, unter gänzlich veränderten Verhältnissen ein neues Leben zu beginnen.

Lieber Robert, ich habe lange mit mir gerungen, bis ich mich zu dem Entschluß durchkämpfte, mit allem, was mich in der Vergangenheit glücklich machte, zu brechen.

In schlaflosen Nächten habe ich mich, während der traurigen Zeit, wo ich ferne von dir war, gefragt und immer wieder gefragt, was ich dir im Leben sein könnte, und ob ich nicht ein Hindernis für deine Zukunft sei; und da ist mir klar geworden, daß ich ein Verhältnis nicht fortbestehen lassen darf, das dir über kurz oder lang zur drückenden Last werden muß, und mir den letzten Rest meiner Unabhängigkeit raubt. Zu schwach, dir etwas zu versagen, fliehe ich lieber die Gefahr, die uns beiden droht, und sollte ich noch so schwer darunter leiden müssen.

Du warst mir viel, du warst mir alles! Tausend herzinnigen Dank für das, was du an mir getan, für deine Liebe und Nachsicht! Trennen sich von nun ab auch unsere Wege, so trage mir doch keinen Groll nach, wenn ich dich je gekränkt habe und verachte mich nicht, wenn du dich einstens einer Frau näherst, die deiner würdiger ist als ich. Vergiß mich, und wenn du es nicht kannst, so behalte nur das Gute von mir im Gedächtnis.

Und nun lebe wohl, mein lieber, lieber Robert! Dein Bild wird in mir fortleben wie die Erinnerung an das Märchen vom Glück.

Emilie

Holmer griff sich nach der Stirne, als wollte er krampfhaft seine Gedanken zusammenhalten. Er konnte das Schreiben nicht fassen, nicht begreifen. Mit bebenden Lippen und zitternden Händen las er es nochmals; Wort für Wort leise vor sich hinsprechend, als wenn er seinen Augen allein nicht mehr traute. Was konnte sie veranlassen, gerade jetzt, wo er sie noch so sehr auf seinen Beistand angewiesen glaubte, zu brechen? Hatte er seine Pflicht ihr gegenüber versäumt, sie gekränkt, verletzt? Er war sich keiner Schuld bewußt. Und doch, wenn er nachdachte, hatte sie nicht recht, eine Liebelei zu lösen, der kein Ziel winkte? Er fühlte, wie eine Träne sich ihm ins Auge stahl, wie sein Herz hörbar schlug, und suchte seinen Schmerz niederzukämpfen, indem er seine verletzte Eitelkeit heraufbeschwor. Wenn sie ihm wenigstens Gelegenheit gegeben hätte, sich mit ihr auszusprechen, aber so – wie man eine Wohnung kündigt – Nein, nein, das hatte keine Art, so entläßt man einen Dienstboten, aber nicht einen Menschen, der unserem Herzen am nächsten stand! Es mußte zur Aussprache kommen, das stand bei ihm fest. Aus ihrem Munde wollte er nochmals die Gründe ihrer Gesinnungsänderung hören, und wenn sie in seiner Gegenwart noch auf eine Trennung bestände, dann wollte er sich gerne bescheiden.

Mit hochgerötetem Gesicht eilte er nach dem Telegraphenamt und gab eine Depesche mit bezahlter Rückantwort an Emilie auf, worin er sie bat, ihm ihren neuen Aufenthaltsort mitzuteilen; aber statt der ersehnten Antwort lief nach kurzer Zeit die Nachricht ein, daß Adressatin, ohne Angabe ihres künftigen Wohnsitzes, Spandau verlassen habe.

Dieser erste Mißerfolg entmutigte jedoch Holmer keineswegs, befestigte vielmehr seinen Entschluß, unentwegt sein Ziel zu verfolgen.

Ohne Zögern verabschiedete er sich von seiner Mutter und veranlaßte sie, ihre Absicht, ihn nach dem Bahnhof zu begleiten, aufzugeben. Er betrieb seine Abreise mit solcher Hast, daß er keine Zeit fand, seinem Freunde persönlich Lebewohl zu sagen, sondern hierzu sich der Postkarte bediente.

Die Fahrt nach Berlin dünkte ihm eine Ewigkeit, aber als er endlich im Anhalter Bahnhof den Zug verließ und sich gleich darauf im lärmenden Getriebe der gewaltigen Stadt befand, fiel es ihm erst ein, daß er sich noch gar nicht klar darüber war, was er zunächst beginnen sollte.

In seiner Wohnung angelangt, fand er zahlreiche Briefe vor, jedoch keinen, wie er gehofft, von Emilie.

Zeitig am nächsten Morgen begann er seine Ermittlungen. Er wandte sich zunächst an das Meldeamt, und als ihm der Bescheid wurde, daß die Gesuchte nicht gemeldet sei, auch an die Polizeibehörde der großen Vororte, mußte sich aber, nach dreitägigem Bemühen, sagen, daß auf dem eingeschlagenen Wege nichts zu erreichen sei.

Er entschloß sich nunmehr, so peinlich es ihm war, persönlich bei ihrer Schwester Erkundigungen einzuziehen, allerdings nicht unter Nennung seines Namens, den er um so leichter verschweigen konnte, als Emilie keine Photographie von ihm besaß; sondern indem er sich als Vertreter einer Damenkleiderfabrik vorstellte, welche Personal zu engagieren wünsche.

Zur Ausführung dieses, etwas romantischen Planes, fuhr er nachmittags nach Spandau und fand ohne Schwierigkeit die gesuchte Wohnung.

Auf sein Klingeln öffnete eine ältere, hagere Frau, mit einem kleinen Kinde auf dem Arme, die Türe und fragte mürrisch nach seinem Begehr.

»Wohnt hier vielleicht Fräulein Emilie Tränkler?« erkundigte sich, mit scheuer Verlegenheit, Holmer.

Die Alte betrachtete ihn forschend von oben bis unten, strich sich die grauen Haare aus dem Gesicht und sagte dann mit einer schnarrenden, unangenehmen Stimme: »Wollen Se nich lieber enn Oogenblick rinnkommen? For det arme Wurm taugt die kalte Luft nischt.« Dabei öffnete sie eine Türe, die zu einem ärmlichen, aber reinlichen Zimmer führte.

Holmer trat etwas befangen ein und wiederholte seine Frage.

»Nee, wohnen tut se nich mehr,« antwortete die Frau, »aber se hat hier jewohnt, ne janze Weile lang.«

»Dann können Sie mir vielleicht ihre jetzige Adresse angeben?«

»Ooch nich. Kann sin, daß se se ihrer Schwester jesagt hat, mir nich. For mir war se verschlossen wie der Juliusturm, denn se konnte allens, bloß keenen juten Rat vertragen. Sie sind woll ihr Verhältnis?«

Diese unerwartete Frage brachte den jungen Mann fast aus dem Gleichgewicht und stockend antwortete er: »Das weniger – ich kam – ich –«

»Nu ja! Ziehen Se sich die Jacke nich an, wenn se Ihnen nich paßt – dachte man bloß.«

»Ich erkundige mich nur im Auftrage meines Prinzipals, bei dem sie sich seinerzeit in Berlin als Schneiderin empfohlen hatte.«

»Wat, Sie kommen nach Spandau rüber, um eene uff Kostüme zu suchen – det kommt rar vor! Wo is denn Ihr Jeschäft, wenn man fragen darf?«

»Ganz in der Nähe der Reichsbank.«

»An der Ecke, nichwahr?«

»Dicht dabei.«

»Jott soll mir 'nen Taler schenken! Det is ja da, wo ick mir die Bluse hier jekooft habe, mit der ick so rinjefallen bin. Mit die Firma können Se keenen Staat nich machen.«

»Sie waren also unzufrieden?«

»Wütend war ick! So 'ne Beschummelei! Wat glooben Se woll, wieviel ick for die ausjefallene Idee berappen mußte?«

»Das kann ich unmöglich wissen.«

»Da fühlen Se mal, det soll Wolle sin, die reene Baumwolle is et – und det Taljenklot; nach zwee Tage war's durch. Sie müssen doch wissen, wat die wert is.«

»Nun – fünfunddreißig Mark.«

»Die Bluse! Sind woll nich bei Jroschens? Fünf Märker hat se jekostet und war zur Hälfte zu teuer.«

»Ich bin mehr im Kontor als im Laden beschäftigt.«

»Scheint so, denn in der Konfessionsbranche sind Se nich uffjewachsen, dadruff fällt keener bei Ihnen rinn.«

»Sie kennen also nicht die nähere Adresse von Fräulein Emilie?«

»Nee, is ooch nich nötig, wenn Se bloß enn Meechen for's Jeschäft suchen. Ne Nichte von mir is ooch nich ohne in der Schneiderei; die macht mir eben 'ne Jacke, so wat patentes haben Se in Ihrem janzen Jeschäft nich; die kann for Miele inspringen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten machte die listige Alte nach dieser Empfehlung die Türe auf und rief: »Juste! Juste, komm mal rüber!«

Die Gerufene, die im gegenüberliegenden Zimmer arbeitete, erschien sofort auf der Schwelle, über und über mit bunten Garnfäden bedeckt und den flachen Busen mit zahlreichen Stecknadeln versehen. Es war eine mittelgroße, schmächtige Person, welche von ihrer Jugend sich nichts als ein artiges Knixen bewahrt hatte, von dem sie auch jetzt Gebrauch machte.

»Der Herr will dir engagieren,« sagte die Tante.

»Mir, der Herr?«

»Nu, ja doch! er kommt extra von Berlin.«

»Erlauben Sie,« warf Holmer ein, »ich habe nur den Auftrag Fräulein Emilie –«

»Det is janz ejal, Miele oder Juste, uff Kostümenähen sind sie beede perfekt.«

Eben wollte der junge Mann weitere Einwände machen, als sich die Türe öffnete und eine jüngere Frau, der zwei kleine Kinder und ein größerer Junge folgten, eintrat.

Der große Junge bemerkte kaum das schmächtige Fräulein, als er sich in dessen Nähe schlich, plötzlich einen verborgen gehaltenen Schneeballen aus seiner Jacke hervorzog und mit solcher Wucht nach dem Haupte der Ahnungslosen schleuderte, daß deren kunstvoll aufgebaute hohe Frisur zusammenbrach, wobei zwei mächtige Kammwollrollen zur Erde fielen.

»Jroßmutter, Jroßmutter!« schrie der Bengel, als er den angerichteten Schaden sah, und brachte seine Person hinter dem Rücken der alten Frau in Sicherheit. »Ick habe Tante Juste nich ballern wollen, janz gewiß nich! Der Schnee war man so eklich kalt, daß ick ihn nich mehr halten konnte; det kannst de glooben, so is et!«

»Sei man stille, Willem! Tante is nich so, die versteht 'nen Feez und zudem hat ja det Schneevergnüjen bald enn Ende«, beschwichtigte ihn die Großmutter und wandte sich dann, indem sie auf die jüngere Frau deutete, an Holmer. »Det is ihre Schwester, die Frau von meinem Schwiejersohn; vielleicht kann se Ihnen sagen, wo Miele wohnt. – Der Herr kommt nämlich von Berlin, is aber nich ihr Verhältnis – sie soll in det Jeschäft intreten, weeßt de, wo ick mit der Bluse so rinjefallen bin.«

»Det wird sich nich jut machen«, meinte Emiliens Schwester und betrachtete mit lebhaftem Interesse den jungen Mann. »Miele is schon in Stellung.«

»Das stört nicht, sagen Sie mir nur wo?«

»Wenn ick det wüßte! Sie hat jestern von Berlin jeschrieben, daß se bei 'ner kleenen Schneiderin wohne und arbeete, aber 'ne Adresse hat se nich anjegeben. Det macht se immer so, sie hat schon enn janzes Jahr nischt von sich hören lassen, uff eemal is se wieder uffjetaucht. Ihr Verhältnis weeß ooch nich, wo se is, det hat sojar 'ne Depesche jeschickt, die nich bestellt werden konnte.«

»Weil se nu nich uffzefinden is, habe ick Juste for die Stelle vorjeschlagen, die hat Mumm dafor, und verstehen tut se ooch wat«, bemerkte die Alte und bemühte sich, dem ärgerlich dreinschauenden Fräulein bei dem Wiederaufbau ihrer Frisur behilflich zu sein.

»Ich werde Ihre Offerte meiner Firma unterbreiten, und sie wird Ihnen darüber schreiben«, erklärte nicht ohne Verlegenheit Holmer und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.

»Wie is dann der werte Name Ihrer Firma?«

»Kohn.«

»Nee, Kohn nich.«

»Und Kompagnie.«

»Ooch nich. Kohn heeßen die Schuhfritzen, schree über.«

»Und das Haus das ich vertrete.«

»Da is et doch nich, wo ick die Bluse jekooft habe.«

»Vermutlich.«

»Janz jewiß nich. Wat haben Se dann for 'ne Hausnummer?«

»Siebzehn, Jägerstraße.«

»Jägerstraße – nee, da war's nich. Wenn ick dir raten soll, Juste, stellst du dir dort selber vor.«

»Es dürfte vielleicht klüger sein, die Aufforderung hierzu abzuwarten.«

»Wer weeß, wie lange det dauert. Is die neue Jacke for mir fertig, jehe ick mit ihr hin, da seh'n Se ooch, wat se kann.«

Holmer atmete erleichtert auf, als er die Straße wieder betrat. Er fühlte, daß er kein Talent zum Detektiv besaß, und schämte sich fast der Rolle, die er gespielt hatte.

Mit sich selbst, und noch mehr mit der Erfolglosigkeit seiner Bemühungen unzufrieden, suchte er seine Wohnung auf, hoffend, bei emsiger Arbeit die Widerwärtigkeiten des Tages zu überwinden. Aber so sehr er sich auch bestrebte, den Gedanken eine seinen Absichten entsprechende Richtung zu geben, stets schweiften sie wieder anderen Dingen und schließlich Emilie zu. So vergingen die Stunden mit fruchtloser Tätigkeit, und als er sich spät abends zur Ruhe begab, mußte er sich sagen, daß er einen Tag seines Lebens vergeudet habe.

In ähnlicher Weise verfloß eine ganze Woche, dann wurde er allmählich ruhiger und suchte wieder regelmäßig seine Stammkneipe auf, wo er Anregung und Zerstreuung fand, die neue Schaffensfreude in ihm weckte.

Brachte der nahende Lenz einen sonnigen Tag, eilte er ins Freie, um sich im Tiergarten zu ergehen, oder die Vororte in Gesundheitsmärschen zu durchqueren. Bei solchem Anlaß führte ihn sein Weg, an einem klaren Apriltag, über die Invalidenstraße, die er seit Monaten nicht betreten hatte. Vor dem Hause, in dem Therese wohnte, blieb er unwillkürlich stehen. War es nicht merkwürdig, daß er nie daran gedacht hatte, sich hier, wo er es ohne Scheu tun konnte, nach Emilie zu erkundigen? Er machte sich einen Augenblick über seine Kurzsichtigkeit Vorwürfe und überlegte, ob er das Versäumte nachholen, oder die Wunde weiter heilen und vernarben lassen sollte. Nach kurzem Besinnen kam er zu dem Entschluß, noch einen Versuch wagen zu wollen. Mit raschen Schritten suchte er den Hof auf und stieg die zwei Treppen nach Theresens Wohnung empor.

Er mußte mehrmals klingeln, weil ein Walzer, aus einem verstimmten Klavier holprig vorgetragen, das Zeichen übertönte. Endlich ging die Musik zu Ende, und Therese öffnete die Türe und begrüßte mit freudigem Erstaunen den seltenen Gast.

»Is't de Menschenmöglichkeit, Herr Holmer! Die Ehre hätte ick mir heute nich träumen lassen, nee, weeß Jott nich! Is man bloß jammerschade, daß Leitnant nich zu Hause is; hätte der sich jefreut. Leitnant hat nämlich 'ne feste Stelle, det wissen Se noch jar nich; bei 'ner Lebensbank. Ick male ooch nich mehr, ick habe jenug jemalen, ick bilde mir jetzt for Musike aus, det is lohnender. Bitte, kommen Se rin.«

Holmer folgte der Einladung und sagte, als er das Zimmer betrat: »Da mich mein Weg durch Ihre Straße führte, wollte ich nicht an Ihrem Hause vorübergehen, ohne Ihnen guten Tag zu wünschen und mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen.«

»Det hätte schon früher jeschehen sollen – jawoll! Nu aber müssen Se, zur Strafe der Unterlassung, 'ne Tasse Tee mit mir trinken.«

»Ich danke wirklich, ich komme eben aus dem Kaffeehaus.«

»Machen Se sich man keen Fleck! An 'ner Tasse Tee, nach 'ner Tasse Kaffee is noch keener jestorben, und wat zum knuspern, is immer da.« Mit diesen Worten zündete sie die Spiritusflamme unter der Teekanne an und setzte sich Holmer gegenüber an den Tisch. »Sie waren verrissen?«

»Ja, vor einigen Wochen bei meiner Mutter.«

»Is se nu wieder janz mobil?«

»Gott sei Dank!«

»Von Emilie haben Se noch nischt jehört?«

»Sie wissen also?«

»Na ob, sie war, seit se von Spandau weg is, schon zweemal bei mir.«

»Und hat sich ausgesprochen?«

»Mit Treenen, jawoll. Ick verstehe nich, tat ick ihr ausenanderpolken, wie man weenen kann, wenn man absichtlich sich wat injebrockt hat. Wenn mir mein Verhältnis nich schnuppe is, jebe ick et ooch nich uff; tue ick et aber doch, dann muß et mir ooch schnuppe sind.«

»Haben Sie nicht gefragt, wieso sie überhaupt auf den Einfall kam?«

»Jewiß! Se wollte Sie nich unjlücklich machen, hat se jemeent. Ick bin ihr aber ins Wort jefallen und habe jesagt: Weeßt de dann, ob er dir heiratet? Wenn er nu unjlücklich jemacht will sind, jeht det dir wat an?«

»Nun und?«

»Nu hat se mir klar machen wollen, det et so besser wäre. Uff die Dauer paßten se doch nich zusammen, Sie stünden zu hoch über ihr. Bist woll anjebufft, det is doch keen Fehler nich! habe ick ihr uffjeklärt. Enn Mann steht nie zu hoch for 'ne Frau, umjekehrt kann det der Fall sind. Meenste, wenn mein Leitnant Jeneral jeworden wäre, ick hätte deshalb mit ihm jebrochen? Nee, so duzelig bin ick nu doch nich!«

»Glauben Sie, daß Emilie noch heute so denkt wie damals?«

»Warum nich? Die hat jar 'nen harten Demel und is höllisch übelnehmsch. Sie hat ooch schauderös viel durchjemacht in Spandau, bei die olle Lärmstange von Schwiejermutter. Sowat rujeniert det beste Jemüt – na, und enn jebranntes Kind scheut der Feuer. – Sehen Se, det Wasser kocht schon, nu können wir jleich Tee trinken.«

Während sie das Getränk bereitete und einen Teller mit Cakes auf den Tisch stellte, sah Holmer sinnend vor sich hin und sagte erst, als sie die würzige Flüssigkeit in seine Tasse goß:

»Ich spiele in dieser Sache eine wenig beneidenswerte Rolle – Liebhaber a. D. – aber trotzdem sie mir den Stuhl so unerwartet vor die Türe gesetzt hat, hege ich doch keinen Groll gegen sie.«

»Da haben Se ooch keenen Jrund zu«, erklärte Therese, »der Entschluß, sich von Ihnen zu trennen, is ihr nich leicht jeworden, det habe ick aus jedem Wort jehört, det se darüber jesprochen hat.«

»Mein Wunsch ist heute noch, ihr auf irgend eine Art nützlich zu sein.«

»Ick weeß nich, ob Se wat damit erreichen.«

»Ist auch meine Absicht nicht – sie sollte sich nur gründlich erholen können.«

»Det tut se. Wie se mir voricht Woche besucht hat, war se schonst wieder uff'n Damm und schien sich in allens rinjefunden zu haben. Et fehlt ihr ja ooch nischt; se wohnt bei 'ner verheirateten Schulfreundin, der se schneidern hilft, und wo se, wie se sagt, jehalten wird wie det Kind vom Hause.«

»Hier in Berlin?«

»Det is 'ne Jewissensfrage – det heeßt: Nichts Jewisses weeß man nich. Se is mit dem Namen ihrer Freundin und Wohnung so verschwiejen, als wenn bei ihr zu Hause falsches Jeld gemacht würde.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Leitnant ooch nicht, höherer Mumpitz is et, sagt er. Ick jloobe, se tut det man bloß wejen Sie.«

»Das dürfte überflüssig sein«, erklärte Holmer, durch diese Möglichkeit offenbar verletzt, und erhob sich. »Es ist wahr, ich hätte mich gerne mit ihr über mancherlei ausgesprochen, aber seitdem ich annehmen muß, daß ihr das peinlich ist, verzichte ich natürlich darauf. Um eines aber, Fräulein Therese, möchte ich Sie bitten –«

»Schießen Se man los.«

»Daß Sie mir über Emilie Nachricht zukommen lassen, sobald deren Verhältnisse eine Aenderung erfahren. Sind auch die Beziehungen zu ihr gelöst, so nehme ich trotzdem regen Anteil an ihrer Zukunft.«

»Wenn Se sonst nischt wollen, kann Ihnen jeholfen werden. Sie wohnen noch, wo Se jewohnt haben?«

»Gewiß, Sie kennen ja meine Adresse. Im übrigen bitte, Emilie gegenüber, um Diskretion.«

»Natürlich! Wat wir jesprochen haben, bleibt in der Familie. Verweilen Se doch noch en bisken, Leitnant muß alle Oogenblicke kommen.«

Trotz dieser freundlichen Aufforderung verabschiedete sich Holmer unter dem Vorwand, in Moabit noch einen Besuch abstatten zu wollen, und entfernte sich mit der Zusage, gelegentlich wieder vorzusprechen.

Nachsinnend kehrte er nur langsam und auf Umwegen nach seiner Wohnung zurück. Es war ihm während dieser Wanderung vollständig klar geworden, daß er sich künftig einzig und allein auf sich selbst besinnen und von weiteren Versuchen, eine Unterredung mit Emilie zu erlangen, absehen müsse.

Schon in den nächsten Tagen wandte er sich wieder mit der ganzen Energie seines Geistes langgeplanten neuen Arbeiten zu und hatte nach deren Vollendung die Genugtuung, daß sie in weit höherem Maße als seither Anerkennung und Verbreitung fanden. Auch der Umstand, daß er sich mehr und mehr einzelnen Gliedern seiner abendlichen Stammtischrunde näherte, förderte sein Emporkommen. Namentlich war es Schiroky, mit dem er sich in letzter Zeit inniger angefreundet hatte, der vermöge seiner vielfachen Beziehungen zur Presse den Holmerschen Dichtungen Aufnahme und Besprechung in den angesehensten Zeitungen verschaffte.

So war Frühling und Sommer vergangen, und schon streute der Herbst welke Blätter über das Land, als Schiroky, der sich einer Augenoperation unterziehen mußte, im Einvernehmen mit dem Verlag seiner Zeitung, Holmer den Vorschlag machte, vertretungsweise, bis zu seiner Genesung, die Redaktion des Feuilletons zu übernehmen.

Obgleich innerlich widerstrebend kam der junge Schriftsteller diesem Anerbieten dennoch nach und fand zu seiner eigenen Ueberraschung, nachdem er die ersten Schwierigkeiten in dem ungewohnten Wirkungskreise überwunden hatte, sogar Gefallen an seiner neuen Tätigkeit, welche ihm genügend Zeit zu eigenem Schaffen ließ.

Es dauerte fast ein halbes Jahr, bis Schiroky wieder in der Lage war, seinen alten Posten einzunehmen. Holmer arbeitete zur Uebergabe der Geschäfte noch einige Tage an seiner Seite, und bei dieser Gelegenheit fragte ihn Schirocky, ob er nicht gewillt sei, nachdem er sich als Redakteur bewährt habe, eine feste Stelle als solcher anzunehmen. »Es ist immer ein sicheres Stück Brot, lieber Holmer, selbst wenn man nicht darauf angewiesen ist,« sagte er, »und nichts hindert Sie dabei, Ihre hochfliegenden Pläne weiter zu verfolgen. Gerade im Augenblicke könnte ich Ihnen zur Erlangung einer höchst ehrenvollen Stellung bei einem großen süddeutschen Blatte, in der Nähe Ihrer Vaterstadt, behilflich sein.«

Holmer erbat sich Bedenkzeit, während der er das Für und Wider reiflich erwog und schließlich in der Erinnerung an seine Mutter zu dem Entschlusse kam, der Offerte näherzutreten.

Schon nach kurzen Verhandlungen kam ein Vertrag zu stande, demzufolge er bereits am ersten Juni die Stelle eines Redakteurs beim Feuilleton zu übernehmen hatte.

Die wenigen Wochen, die ihn noch von diesem Termine trennten, schwanden im Fluge dahin, und als der letzte Sonntag des Mai über Berlin in wunderbarer Pracht emporstieg, rüstete er sich zur Abreise.

Er wählte den Abendzug zur Fahrt, weil er hierdurch Zeit gewann, noch einige versäumte Abschiedsbesuche nachzuholen. Da er sich dabei einer Automobildroschke bediente, hatte er bereits um zwei Uhr alles erledigt und suchte nun, gemächlich durch die Straßen schlendernd, ein erstbestes Restaurant auf, das er bald fand, um dort sein Mittagsmahl einzunehmen.

Von dem Tische, an dem er sich niedergelassen hatte, fiel sein Blick, sobald er von seinem Teller aufsah, durch die weit geöffneten Fenster über einen freien Platz nach dem Portal einer gotischen Kirche.

Eben öffnete sich von innen die Türe des Gotteshauses, und ein dickbäuchiger Küster, ein Samtkäppchen auf dem ergrauten Scheitel und eine rotangehauchte Habichtsnase im gelben Gesichte, trat auf die Straße und sah sich nach allen Seiten um.

Er hatte nicht nötig, lange zu lauern, denn bald strömten zahlreiche Mütter, mit Täuflingen auf den Armen, begleitet von ihren Ehemännern und den Paten oder Patinnen herbei, um sich nach der Kirche zu begeben.

Alle, die zu Fuße kamen, ließ der Mann im Samtkäppchen ungehindert und unbeachtet passieren, sobald aber eine Droschke vorfuhr, regte sich sein gefälliges Gemüt und mit freundlichem Kopfnicken öffnete er den Wagenschlag und geleitete den jungen Weltbürger bis zu dem Orte, wo seine Aufnahme in dem Bunde der Nächstenliebe erfolgte.

Nachdem die Taufakte vorüber waren, nahmen die Trauungen ihren Anfang.

Jetzt verwandelte sich das Bild. Mitglieder von Gesangvereinen versammelten sich auf dem freien Platze. Brautleute und Trauzeugen betraten die Kirche, Freunde und Bekannte erwarteten Neuvermählte am Portal; und Neugierige, die sich am Anblick einer Braut erfreuen, oder schlechte Witze über das junge Paar reißen wollten, drängten sich herbei und versperrten den Weg. Der Mann mit dem Samtkäppchen bemühte sich eifrig, die Passage frei zu halten, vergaß aber dabei nicht, alle Augenblicke in die Ferne nach näherrollenden Karossen, mit vergoldeten Adlern auf den Laternen, auszuschauen. War er so glücklich, ein solches Gefährt zu erblicken, stürzte er schnaufend nach der Kirchentüre, zerrte aus einem Winkel einen Ballen Läufer hervor, rollte ihn bis zum Rande des Bürgersteiges auf und erwartete dann, in dienstfertiger Haltung, das Vorfahren der Hochzeitskutsche. Kaum war das Brautpaar ausgestiegen und im Halbdunkel der Kirche verschwunden, brachte er den schmalen Teppich eilig wieder an die alte Stelle zurück, auf daß Paare, die mit Hilfe von Taxametern oder gar per Pedes in den heiligen Stand der Ehe traten, vom Hochmutsteufel besessen, nicht über das blumige Gewebe schritten.

Der Traubetrieb war heute ein besonders reger, mehr als zwei Dutzend Heiratslustiger nahmen in der kurzen Zeit von kaum anderthalb Stunden den priesterlichen Segen für ihre Ehe in Anspruch. Der Läufer rollte deshalb alle Augenblicke hin und her und vermittelte allen denen, die in der Wahl der Mitgift vorsichtig waren, den Weg nach und von dem Altar.

Holmer sah dem lebhaften Treiben mit Gleichgültigkeit zu und schlürfte dabei behaglich seinen Kaffee nach dem Mahle. Er hatte sich eine Zigarre angesteckt und blies den Rauch in Ringelform dem Fenster zu. Jetzt richtete er sich empor, griff nach seinem Zwicker und schaute mit erhöhter Aufmerksamkeit nach der Straße. War das nicht Leutnant Langenfeld und Therese? Wahrhaftig! Er trug eine Rose im Knopfloch, und sie einen Maiblumenstrauß im Gürtel. Seit einem Jahre hatte er die beiden nicht gesehen und schon wollte er die Gelegenheit ergreifen, auch ihnen ein herzliches Lebewohl zu sagen, als sein Auge eine andere Gruppe fesselte. Es war eine junge Frau in Begleitung eines älteren Mannes, um den ein Junge und ein Mädchen tollten und wider die Leute rannten. Holmer besann sich, er hatte die Frau schon irgendwo gesehen – endlich fiel ihm ein, daß es eine der Schneiderinnen war, die im Nachbarhause seiner früheren Wohnung gearbeitet hatten. Mit diesem Erkennen bestürmte sein Gehirn eine Fülle von Erinnerungen, aber er fand keine Zeit, ihnen nachzuhängen, denn eine hagere alte Frau, den geschlossenen Regenschirm in der knöchernen Rechten, nahm plötzlich sein ganzes Interesse in Anspruch. Sie drängte sich durch die Reihen der Umstehenden und pflanzte sich breit vor der Kirchentüre auf, wo sie einem Postunterbeamten in schäbiger Galauniform und dessen Frau, die einen großen, ungezogenen Rangen nachzerrte, mit grimmiger Gebärde zuwinkte, sich zu beeilen und neben ihr aufzustellen.

Abermals waren Neuvermählte über den streng behüteten Teppich nach ihrem Wagen geschritten, und der Küster bemühte sich bereits, denselben wieder zusammenzurollen, als eine Droschke vorfuhr, der ein gesetzter, kräftiger Mann im Hochzeitsstaate entstieg und einer Braut, im schwarzen Kleide mit langem weißen Schleier und Blumen im Haar, die Hand bot, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein.

Holmer hatte sich erregt von seinem Sitze erhoben und starrte mit pochendem Herzen hinüber. Noch konnte er ihr Gesicht nicht sehen, doch jetzt, als sie den Arm ihres Bräutigams nahm und dabei eine Wendung mit dem Kopfe machte, erkannte er sie und bebte zusammen – Emilie! – – – – – –

Kaum war das Brautpaar in der Kirche verschwunden, verließ er, von den widerstreitendsten Gefühlen verwirrt, das Restaurant und durchmaß planlos die durch das herrliche Wetter verwaisten Straßen, den Zufall verwünschend, der ihm am letzten Tage seines Aufenthalts in der Weltstadt noch eine Wunde geschlagen. Als er an die Janowitzer Brücke kam, tönte Musik und Gesang von den Dampfern zu ihm empor und erfüllte seine Seele mit unsagbarem Weh.

Er zählte die Minuten bis zu seiner Abreise, und als er seine Wohnung zum letzten Male betrat, um die während des vormittags eingegangenen Briefschaften in Empfang zu nehmen und die Schlüssel an seine Wirtin abzuliefern, kam ihm der sonst so traute Raum frostig und unbehaglich vor und er war froh, daß er ihn verlassen konnte.

Erst als er sich allein in einem Abteil seines Zuges befand und aus der weiten Halle des Anhalter Bahnhofes hinausfuhr, fühlte er sich leichter, holte die Postsachen, die er unbesehen in die Tasche geschoben hatte, hervor und besah sie näher. Es waren Zeitungen und Abschiedskarten, auch ein Brief war darunter, den er erbrach und las:

»Geehrter Herr Holmer!

Sie werden sich wohl kaum noch unserer erinnern, solange ist es her, daß Sie, trotz Ihrer Zusage, nicht mehr bei uns waren. Da ich Ihnen aber bei Ihrem letzten Besuche versprochen hatte, Sie über die Schicksale Ihrer einstigen Liebe zu unterrichten, so teile Ihnen mit, daß sich Emilie vor sechs Wochen mit dem Bruder ihrer Freundin, bei der sie wohnt, verlobt hat und bereits morgen getraut wird. Ihr Bräutigam ist ein einfacher und, wie es heißt, sehr fleißiger Mann, der in Rixdorf eine kleine Schlosserei betreibt. Ein langes Verhältnis hat nicht bestanden, es ist eine sogenannte Vernunftsheirat. Leutnant meinte, ich sollte Ihnen nichts davon schreiben, ich aber sagte ihm, daß meine Nachricht Ihnen nur angenehm sein könnte, da Sie nun wüßten, daß Sie aller Verbindlichkeiten ledig wären. Habe ich recht?

Hoffentlich beehren Sie uns mal wieder mit Ihrem Besuche, Sie brauchen nicht zu fürchten, mit Emilie zusammenzutreffen, denn sie hat selbst erklärt, sich künftighin rar halten zu müssen. Mit herzlichen Grüßen von Leutnant und mir, verbleibe Ihre ergebene Therese Waldau.«

Als Holmer zu Ende gelesen, zerknitterte er unabsichtlich mit zuckenden Fingern den Brief und sah dabei sinnend, durch das offene Fenster hinaus, in die milde Maiennacht, wo die fliehenden Lichter gespenstig vorbeihuschten und fern und ferner in der Dunkelheit erloschen. Dann zerriß er das Schreiben in kleine, kleine Stückchen und gab sie dem Winde preis, der sie im tollen Wirbel zurückzuführen schien, von wannen sie gekommen, mit sich nehmend alle Erinnerungen an eine glückliche Jugendtorheit. Als der letzte Fetzen seinen Blicken entschwunden, lehnte er sich in das Polster zurück, und ein sanfter Schlummer umfing seine müden Sinne; er träumte von seiner Vaterstadt, von seinem alten Mütterlein, das seiner mit Sehnsucht harrte, und ein glückliches Lächeln umspielte seine Lippen.


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