Adolf Stoltze
Weltstadtbilder
Adolf Stoltze

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Kapitel 8.

Spricht von sauren Wochen, denen die frohen Feste fehlen, und daß auch dem süßesten Kelch der Liebe mitunter die bittere Hefe nicht erspart bleibt, sowie von anderen Dingen.

Hatte auch Marie keine hervorragende Stellung in der Nähstube eingenommen, so hinterließ ihr Ausscheiden dort doch eine Lücke, die von allen schmerzlich empfunden wurde. Die Versuche, einen Ersatz für sie zu finden, scheiterten an der langen Arbeitszeit, welche die Mädchen eingeführt hatten, um bei den gedrückten Löhnen ihr seitheriges Einkommen zu sichern, und weil sich nur wenige Nähterinnen meldeten, die genügende Fertigkeit in der Herstellung von Knopflöchern besaßen. Die Kleidermacherinnen mußten sich deshalb in diese ihnen ungewohnte Beschäftigung teilen, was ihren Lohn abermals schmälerte und häufig zu Zerwürfnissen unter einander führte.

Die anstrengende Arbeit, die seither von ihnen nur als ein notwendiges Uebel empfunden wurde, erschien ihnen jetzt als drückende Last; kein frohes Lied verkürzte mehr die Zeit, und selbst die Erzählungen der kleinen Ereignisse, an denen sie außerhalb der Nähstube beteiligt waren, fanden bei der rastlos hastenden Tätigkeit kaum mehr Beachtung.

Nur selten berührten noch die Mädchen in ihren flüchtigen Gesprächen die Beziehungen Emiliens zu Holmer, und wenn es geschah, klang aus leiser Schadenfreude doch auch ein Ton warmen Mitgefühls; dabei vermieden sie es ängstlich, sie durch Stichelreden zu verletzen und ihre Reizbarkeit zu steigern.

Diese zarten Rücksichten fanden ihren Grund in dem Gesundheitszustande Emiliens, der infolge der bangen Sorgen, mit der sie der Zukunft entgegensah, häufigen Schwankungen unterworfen war. Schon mehrfach hatten Ohnmachtsanfälle stundenlange ihre Tätigkeit unterbrochen, und heftige Gemütsbewegungen, über die sie sich keine Rechenschaft geben konnte, sie apathisch gegen alle Vorgänge in ihrem Wirkungskreise gemacht.

So war der Sommer und der Herbst verstrichen, und schon gab der Winter seine Visitenkarte ab. Rauhe Stürme brausten über die Dächer und raubten der kümmerlichen Linde im Hofe die letzten welken Blätter.

Die Mädchen waren, wie gewöhnlich an Montagen, einige Minuten später an ihrer Arbeitsstätte erschienen und suchten nun, durch erhöhten Fleiß, das Versäumte wieder einzubringen.

Nur Lotte fehlte noch.

Als sie endlich kam, wurde sie allseits mit tadelnden Fragen wegen ihres Ausbleibens empfangen.

»Nu is jenug!« rief sie ärgerlich. »Macht euch keene Sorjen, wenn ich was versäumt habe, hole ich's ooch wieder inn. Jestern hatte mein Verhältnis die Spendierhosen an, da sind wir mal enn bisken nich zu knapp jebummelt.«

»Det sieht man dir an, ooch ohne daß du's sagst,« bemerkte höhnisch Auguste.

»Wenn dir man bloß meine Visage nich wehe tut, Juste, is schon jut. Wer weeß wann's wieder mal vorkommt? Wenn ich nach Amerika jehe, sobald nich.«

»Nach Amerika?«

»Nu ja doch, meine Schwester will mir rüber haben – schickt se den nötigen Puttputt, tue ich ihr den Jefallen, warum ooch nich?«

»Hat se'n dann so dicke?«

»Die? die sitzt im Jibs drinn, wie die Made im Speck – ihr Mann is Schlächter, der weeß wofor er schuftet.«

»Und dein Verhältnis?«

»Kommt nach.«

»Ja, Kuchen! Aus den Oogen aus dem Sinn. Uebern jroßen Teich fährt sich's nich wie mit der Untergrund.«

»Wenn er hier bleibt, kannst du dir'n ja angeln?«

»Danke for Obst – bin versehen.«

»Soviel steht fest,« ließ sich jetzt das Mädchen, das Röcke garnierte, vernehmen, »wenn Lotte nach Amerika dampft, drücke ich mir ooch. Zu dritt in der Bude is keen Plan nich, da verdient keene mehr wat, da jeht man jescheiter uff Röcke nähen ins Jeschäft.«

Emilie hatte sich noch nicht an der Unterhaltung beteiligt, bei dieser Erklärung aber, welche eine abermalige Schwächung ihres Unternehmens in Aussicht stellte, stieg ihr das Blut in die bleichen Wangen, und sie sagte nicht ohne Bitterkeit: »Man immer zu! Wenn keene mehr kommt, sparen wir das Jas, die Briketts und die Miete – überhaupt, ohne daß eene der andern in die Hand arbeetet, hat die janze Jeschichte keenen Zusammenhang mehr, da is besser, wir trennen uns lieber heute als morjen.«

»So eilt det nich!« besänftigte Auguste, »aber det mußt du selber zujeben, seitdem uns die Fabrikfritzen die paar Fennije, die wir früher verdienten, abknappsten, is et alle mit der Jemütlichkeit hier.«

»Jeschieht euch recht!« rief die Rockgarniererin. »Warum orjanisiert ihr euch nich? Ueberall jehn die Löhne in die Höhe, bloß bei uns jehn se runter. Nur arbeeten un nich essen, det is schon lange nich mehr nach meinem Jeschmack. Wenn wir orjanisiert sin, sin wir 'ne Macht, und wenn wir's nich sin, sin wir enn Waschlappen, so is et!«

»Nu wird's jut, nu kommt se politsch!« höhnte Auguste. »Recht hat se aber doch, wenn se's ooch bloß wo uffjefangen hat.«

Einige Augenblicke wogte der Redestrom hin und her, bald aber nahm die Arbeit wieder alle so in Anspruch, daß keine mehr aufsah oder ein Wort sprach.

Es war einen Monat später, als Holmer am geschlossenen Fenster seines Zimmers stand und den wirbelnden Schneeflocken zusah, die um Stadt und Land eine dichte, weiße Hülle woben. Ernste Gedanken durchkreuzten sein Gehirn. Er war mit sich selbst und seinen verhältnismäßig geringen, literarischen Erfolgen unzufrieden. Nicht, daß er sich für ein verkanntes Genie gehalten hätte, er wußte genau die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit und fühlte nur zu gut, daß ihm zum Adler die Schwingen fehlten; aber er sah auch Tauben, die sich mit schwachen Fittichen zu beträchtlicher Höhe erhoben, wenigstens in der öffentlichen Meinung, und es verletzte seinen Ehrgeiz, daß er hier zurückbleiben mußte.

Wohl fand er in dem bewegten Treiben der Weltstadt, in ihren schroffen, gesellschaftlichen Gegensätzen und den mannigfachen künstlerischen und industriellen Unternehmungen reichliche Anregungen zu schriftstellerischem Schaffen, aber so befruchtend diese auch auf seine dichterische Phantasie wirkten, so wenig konnten sie im Getriebe der Stadt und der beständigen Unruhe, in der er sich befand, zur Reife gelangen. Dabei bedrängte ihn die Sorge um Emilie mit jedem Tage mehr und trieb sich wie ein Keil zwischen seine Gedanken.

Seit zwei Tage hatte er seine Freundin nicht gesehen, und obgleich sie ihr Fernbleiben entschuldigt hatte, verdroß ihn doch ihre Abwesenheit. Er glaubte, sie auf der Straße erspähen zu müssen und erschrak heftig, als sie an seiner Türe pochte. »Herein!«

Sie trat ein. Ihr Mantel glitzerte vom feuchten Schnee, und ihr dunkeles Haar schien gepudert.

Holmer ging ihr entgegen, küßte sie auf den Mund, und sagte, indem er ihr beim Ausziehen des Mantels behilflich war.

»Endlich! ich hatte dich früher erwartet.«

»Hast du mich wirklich vermißt?« fragte sie lächelnd und breitete das abgelegte Kleidungsstück zum Trocknen über eine Stuhllehne, während er die Petroleumlampe anzündete.

»Sollte ich nicht?«

»Das schon, Robert, aber ich sagte dir doch, daß wir jestern ziehen mußten. Zwee Jahre hatten wir in der Nähstube jehaust – nu is alle! Was uns jehörte, enn paar Büjeleisen, 'ne Büste, enn Spiejel und sonstije Kleenigkeiten, den janzen Krempel verkooften wir der Putzmamsell in der Belletaje for sechs Märker, die for'n Vesperbrot bei Kempinski druffjingen. Es war ja das letztemal, daß wir, bis uff Lotte, die ihre Sachen packte, beisammen waren. Lotte trafen wir erst abends uff der Lehrter Eisenbahn; der Abschied dort is uns alle schwer jeworden – ooch mir, obgleich ich keene dicke Freundschaft mehr mit ihr hatte. Nu schwimmt se schon uff Amerika zu.«

»Und ihr Geliebter?«

»Is mit ihr jefahren bis Hamburg. Daß der später mal zu ihr rüber kommt, glaubt se woll selbst nich – ich ooch nich; der hat schon uff der Eisenbahn, wenn Lotte nich hinsah, die Meechens fixiert. Es war ziemlich späte, als wir zu Hause gingen, da konnte ich nich mehr zu dir ruffkommen.«

»Und heute?«

»Habe ich mir nach Arbeet umjesehen.«

»Den ganzen Tag?«

»Den janzen Tag. Was sollte ich anders tun? ich muß doch.«

»Und der Erfolg?«

»Noch nischt – soll überall in'n paar Monaten wieder nachfragen.«

»Das scheint auch mir das Klügste.«

»So – und die Miete, und das Leben, daran denkst du woll nich?«

»Bin ich dafür nicht da?«

»Du!« rief sie und sah ihn erstaunt an.

»Natürlich ich. Wenn du dich wieder kräftig fühlst, und alles vorüber ist, magst du meinethalben ins Geschäft gehen, bis dahin aber ist es meine Pflicht, dich nicht im Stiche zu lassen. Du solltest überhaupt besser leben, dir mehr Ruhe gönnen.«

»Sagt meine Schwester ooch – die hat jut reden – wovon?«

»Laß das doch meine Sorge sein.«

»Deine? Nee, Robert, ich weeß, daß du mir lieb hast und drum sollst du mir nich so einschätzen, das kränkt mich.«

Es klang etwas wie Angst und Trotz aus diesen Worten, die Holmer aufschauen machten. Leise trat er auf sie zu und sagte, indem er ihr die Wange streichelte:

»Sei kein Kind, Emilie, ich tue nur meine Schuldigkeit, wenn ich für deinen Unterhalt aufkomme.«

»Du sollst es aber nich, ich will es nich!«

»Laß uns doch vernünftig mit einander reden. Mir tut das kleine Opfer nicht wehe und gibt mir das befriedigende Gefühl, dir nützlich sein zu dürfen – ich kann es entbehren.«

»Und ich kann arbeeten!« gab sie trotzig zurück.

»Wann aber die Zeit kommt, wo du es nicht mehr kannst?«

»Dann jehe ich zu meiner Schwester nach Spandau.«

»Hast du schon mit ihr gesprochen?«

»Ja – das is abjemacht.«

»Deine Schwester hat aber doch selbst ihre Not, wie du mir erzählt hast; du kannst nicht verlangen, daß sie dich kostenlos aufnimmt.«

Emilie gab keine Antwort, sie saß unbeweglich auf der Kante des Sofas und heftete ihre Blicke auf den Boden, dabei verriet aber ein krampfhaftes Zucken ihres Körpers die tiefe innerliche Erregung, die sie nicht verbergen konnte.

»Ich wollte schon früher mit dir über dieses Thema reden,« nahm nach einer Weile Holmer wieder das Wort, »aber es lag noch keine zwingende Notwendigkeit dazu vor. Jetzt aber, wo du ohne Beschäftigung bist, müssen wir uns aussprechen. Hier hast du vorerst fünfzig Mark, wenn sie alle sind . . .«

Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, denn sie war aufgesprungen und sah ihm mit tränenfeuchten Blicken starr ins Gesicht. »Jeld!« rief sie schmerzlich. »Jeld willst du mir jeben, Robert?«

»Ja, was soll ich sonst tun?«

»Nischt! jar nischt! den Glauben an mir sollst du mir lassen. Warum willst du, daß ich mir verachten soll?«

»Wer will das? Ich doch gewiß nicht. Ich liebe dich weil ich dich achte und will nur, daß du mich nicht hinderst, meine Pflicht zu erfüllen. Komm, sei nicht eigensinnig und nimm es, auf vierzehn Tage reicht's schon, dann sehen wir weiter zu.«

Er wollte sich mit dem Geld ihr nähern, sie aber wich scheu zurück.

»Zwinge mir's nich uff, Robert, ich bitte dich! Ich habe keenen schlechten Streich jemacht, nur 'nen dummen – ich habe dir zu lieb jehabt, nur zu lieb, und jetzt willst du mir dafür abfinden. Nee, tu's nich! tu's nich!«

»Pfui, Emilie! wie kannst du so niedrig von mir denken.«

»Ich denke nich jering von dir, im Jegenteil, denn ich weeß, daß du ohne Falsch bist. Ich will bloß mein Schicksal alleene tragen, nich abhängig werden und nich ausjehalten sin.«

»Das sollst du auch nicht. Werde ruhiger und du wirst ganz anders über mein Anerbieten denken.«

»Du magst es ja jut mit mir meinen, daran zweifle ich nich; aber das Jefühl kann ich nich los werden, daß unsere Beziehungen andere sind, wenn ich Jeld von dir annehme, ich komme mir dann vor, als wann ich mir verkooft hätte. Tausend andere in meiner Lage nehmens und denken nischt dabei, aber ich bin nun mal nich so veranlagt. Immer war mir in deiner Nähe wohl, jetzt is mir uff emal, als wenn sich 'ne Kluft zwischen uns uffjetan hätte.«

»Aber Kind!« rief Holmer, betroffen von der Leidenschaft, mit der sie sprach, »wohin führen deine überreizten Nerven die Gedanken.«

»Bis hierher war ich zufrieden, fand mich in das Unabänderliche und hoffte uff enn jutes Ende. Nu hältst du mir meine Ohnmacht vor und begreifst nich, wie mich das niederdrückt.«

»Einmal müssen wir doch von deiner Zukunft sprechen.«

»Mag sein, aber nu is alle mit meiner Ruhe, nu fühle ich mir so unglücklich, so unglücklich!«

Sie bedeckte ihr todbleiches Gesicht mit den Händen und schluchzte leise vor sich hin.

Holmer stand ratlos vor ihr, er hatte sie noch nie so erregt gesehen, und ihre Tränen weckten sein innigstes Mitgefühl, obgleich die Weigerung, seine Hilfe anzunehmen, ihn verletzte und verdroß. Er konnte sich nicht darüber klar werden, ob ihre Handlungsweise einem stolzen Selbstachtungsgefühl oder einer krankhaften Empfindlichkeit entsprang, und überlegte einen Augenblick, ob er ihre Gemütsaufwallung nicht durch ein Eheversprechen beschwichtigen solle, kam aber ebenso rasch zu der Erkenntnis, daß er noch gar nicht daran denken könne, eine bindende Erklärung abzugeben. Er beschwichtigte deshalb sein Gewissen mit dem Gedanken, daß diese Liebelei ziellos begonnen, keinem Teile Verpflichtungen auferlege, und daß es Emilie selbst ängstlich vermieden habe, jemals die Frage einer ehelichen Vereinigung zu berühren.

Unruhig durchmaß er mit großen Schritten, die Hände auf den Rücken gelegt, mehrmals das Zimmer, unschlüssig, was er tun sollte. Endlich blieb er vor dem noch immer weinenden Mädchen stehen und sagte:

»Wann ist deine Miete fällig?«

Keine Antwort.

»Ich frage dich, Emilie, wann deine Miete fällig ist?« wiederholte er gereizt und versuchte seiner Stimme einen rauhen Klang zu geben.

»Nächste Woche,« antwortete sie und schauerte zusammen.

»Hast du das Geld dazu?«

»Einen Teil.«

»Und wo soll der Rest herkommen?«

Sie schwieg.

»Also wozu die Komödie? Ich werde diese Angelegenheit mit deiner Wirtin direkt ordnen.«

»Du!« rief sie und richtete sich empor. »Wenn du mir so bloßstellst, werde ich nie mehr meine Bude betreten.«

»Dann nimm es direkt von mir.«

Sie gab keine Antwort, sondern zog fröstelnd ihren Mantel an.

»Ist dir kalt?«

»Nee, ich will jeh'n.«

»Eben schon?«

»Ja, ich bin müde – sterbensmüde.«

»Gut, ich werde dich begleiten.«

»Nich, wenn du sonst was vorhast.«

Er warf seinen Havelock über die Schultern und setzte seinen Hut auf; dann trat er dicht an sie heran, ergriff ihre Hände und preßte sie in seiner Rechten zusammen, während er mit der linken Hand ihr drei Goldstücke in die äußere Manteltasche schob.

»Das nimmst du,« redete er energisch auf sie ein, »wenn du nicht willst, daß ich über deinen Kopf hinweg zu deinen Gunsten darüber verfüge. So, und nun wollen wir wieder gute Freunde sein – gib mir einen Kuß.«

Sie war bei seinen Worten zusammengefahren, der drohende befehlende Ton, mit dem er zu ihr gesprochen, schüchterte sie so ein, daß sie keine Bemerkung wagte und wie festgebannt, mit gesenkten Blicken, vor ihm stehen blieb.

»Nun?« fragte nach einer Pause Holmer, da sie keine Miene machte, seinem Wunsche nachzukommen, und faßte sie dabei am Kinn und hob ihr den Kopf hoch. »Nun, hast du mich nicht verstanden?«

Wie ein gehorsames Kind beugte sie sich vor und küßte mechanisch die dargebotene Wange. Sie fühlte, wie unter dem Bann, unter dem sie stand, ihr stolzes Selbstvertrauen zerrann und sie ein Gefühl der Abhängigkeit und Demut beschlich, dessen sie nicht Herr werden konnte.

Nachdem Holmer die Lampe gelöscht und das Zimmer abgeschlossen hatte, verließen beide schweigend das Haus, jedes mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Auch auf der Straße wurde kein Wort gewechselt, und als sie, stampfend durch den tiefen Schnee, ihr Ziel erreichten, bot Emilie mit einem frostigen »Gute Nacht«, Holmer die Hand und stieg keuchend die Treppen zu ihrer Wohnung hinauf.

»Du kommst doch morgen zu mir?« rief er ihr nach.

»Um welche Stunde?« gab sie zurück.

»Wenn es dir paßt, aber zeitig.«

»Ich komme.«

Er hörte ihre Schritte verhallen und war froh, daß er sie zu Hause wußte. Ihr verändertes Benehmen, und daß sie mit keinem Worte für seine Gabe dankte, fiel ihm nicht weiter auf, da er es ihren überreizten Nerven und ihrer Ermüdung zuschrieb. Zufrieden mit der Art, mit der er seine Verpflichtungen erfüllt zu haben glaubte, eilte er nach seinem Stammlokal, in dem er seit den letzten Wochen ein oft gesehener Gast war. Die Unterhaltung war im besten Gange, als er eintrat. Schiroky hatte aus seinen Berufserlebnissen einige Episoden zum besten gegeben, welche die Zuhörer in die fröhlichste Stimmung versetzten.

»Sie kommen gerade recht!« rief ihm der blonde Bildhauer, der sich dem Journalistenhäuflein angeschlossen hatte, entgegen. »Hier können Sie Stoff zu Humoresken sammeln, der Doktor ist im besten Zuge.«

Die Gesellschaft rückte dichter zusammen, ein Stuhl wurde eingeschoben und Holmer nahm neben Schiroky Platz, der ihm zum Willkomm herzlich die Hand schüttelte und erläuternd bemerkte:

»Ich habe eben von den Leuten gesprochen, die sich mit den Erzeugnissen ihrer Muse an die Feuilletonsredakteure herandrängen, und was für wunderliche Käuze mitunter darunter sind. Sie umfassen alle Klassen der Bevölkerung, aber das größere Kontingent stellen die höheren Töchter, sobald sie die Selekta hinter sich haben, oder in späteren Jahren unglücklich liebten; dann die Primaner und schließlich die pensionierten Beamten. Die höhere Tochter naht sich vorwiegend lyrisch, der Primaner dramatisch und die Beamten episch, natürlich gibt es auch Ausnahmen. Alle verlangen entweder den Abdruck oder die Besprechung ihrer Manuskripte in einer der nächsten Nummern; setzen entweder das Honorar für ihre Beiträge selbst fest, oder erklären überhaupt nicht für schnöden Mammon zu dichten, sondern nur aus idealen Gründen. Manche Manuskripte sind kalligraphische Kunstwerke, die Mehrzahl aber schaut aus, als wenn in Tinte gefallene Mücken über das Papier gelaufen wären. Kein Redakteur einer größeren Zeitung ist im stande, das freundlichst zur Verfügung gestellte Material eingehend zu prüfen, und so geht der größte Teil desselben, mit einem gedruckten Ablehnungsschreiben, dankend an den Absender zurück.

Sind die Zurückgewiesenen beharrliche Leute, finden sie bald einen Ausweg, dem geplagten Redakteur aufs neue ihren literarischen Dolch auf die Brust zu setzen.

Ich kannte einen Herrn hier, der bei seinen Bekannten als eine Leuchte des Humors galt. Seines Zeichens Weinreisender, benützte er seine freie Zeit dazu, alte und neue Witze, die er irgendwo gelesen oder gehört hat, in eine hinkende Reimform zu bringen und sie dann unter eigener Etikette in die Welt zu setzen. Den Erfolg, den er dadurch in den Vereinen und am Biertisch erzielte, verstärkte seine Eitelkeit bis zum Größenwahn und veranlaßte ihn, ein Bändchen »Humoristische Originaldichtungen« drucken zu lassen und mich zu ersuchen, Proben daraus in unserem Blatte aufzunehmen. Da ich jedoch nicht einen einzigen eigenen Gedanken des Verfassers in seinen »Originaldichtungen« entdecken konnte, sandte ich das Werkchen mit einigen höflichen Begleitworten wieder zurück. Wenige Tage später lag es abermals auf meinem Schreibtische, diesmal aber nicht in der Redaktion, sondern in meiner Privatwohnung. In einem beigeschlossenen Briefe sprach der Dichter zunächst seine Verwunderung aus, daß ich seine Humoresken unserem Leserkreis vorenthalten habe, und knüpfte die ganz entschiedene Forderung daran, das Versäumte schleunigst nachzuholen. Ich habe, schrieb er, das Pennal besucht, zwei Semester Jus gehört und bin dann erst, auf Andrängen meines Vaters, zur Kaufmannschaft übergegangen. Ich bin kein professioneller Spaßmacher, sondern ein Amateurhumorist, der in der Dichtkunst nicht die tüchtige Kuh, sondern die hohe, himmlische Göttin sieht.

Schließlich erklärte er, daß er sich sehr freue, meine persönliche Bekanntschaft zu machen, um seine wirksamsten Sachen mir selbst vorzulesen und daß er zu diesem Zwecke mich morgen zwischen zwei und drei, also der Zeit meiner Mittagsruhe, in meiner Wohnung aufsuchen werde.

Da mir eine innere Stimme sagte, daß ich den Herrn Amateurhumoristen nur los werden könne, wenn ich ihn empfing, fügte ich mich in mein Schicksal.

Zur vorgeschlagenen Zeit erschien er pünktlich und erklärte sich sofort bereit, mich mit Perlen seiner Dichtungen vertraut zu machen.

»Nicht nötig,« erwiderte ich ihm, »ich habe mir Ihr Werk gründlich angesehen.«

»Das allein tut's nicht,« meinte er, »bei dem Humor ist der Vortrag die Hauptsache.«

»Wenn Sie das glauben, hätte eigentlich das Gramophon Ihre Dichtungen verbreiten müssen – ich habe am Buche schon genug.«

»So? Hm, ja! Sie fanden doch sicherlich auch, daß die Pointen meiner Humoresken lauter Schlager sind?«

»Gewiß, ich bestätige gerne, daß Sie in der Wahl Ihrer Adoptivkinder sehr vorsichtig waren,« gab ich dem anmaßenden, zudringlichen Bengel zurück. »Schaffen Sie nun auch mal was Neues, aus eigenem.«

Er gab sich den Anschein, als hätte er mich nicht verstanden und bemerkte überlegen: »Neues! Ihr Herren von der Presse habt gut reden; Verse wollen gemacht sein, sagt Bodenstedt, trotzdem werden Sie wieder bald von mir hören, denn ich arbeite immer drauf los.«

»Das dachte ich auch, als ich Ihr Bändchen las.«

»Die Verse fließen mir nur so, ich brauche nie einen Reim zu suchen.«

»Deshalb sollten Sie sich auf eigene Füße stellen.«

»Darauf stehe ich, oder glauben Sie, ich hätte Helfershelfer bei meinen Poesien?«

»Ich werde mich hüten, jemand zu nahe zu treten.«

»Nun also, weshalb nehmen Sie nichts von mir auf?«

»Weil ich für Deckblattgedichte nichts übrig habe.«

»Deckblattgedichte?« fragte er etwas unsicher. »Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen.«

»Ich meine solche, die lediglich Einwickelpapier für fremde Gedanken sind.«

»Und hierzu zählen Sie meine Werke?«

»Sagen Sie lieber Ihre Verse!« platzte ich heraus. »Ihr Buch wimmelt ja von fremden alten Witzen.«

»Soll ich vielleicht Ihnen zuliebe neue machen?« rief er ergrimmt und erhob sich.

Auf diese Frage war ich nicht gefaßt und tief beschämt stotterte ich: »Um Gotteswillen, nein! Dichten Sie ruhig weiter, als Originalamateurhumorist.«

»Das werde ich auch,« erklärte er stolz, und verließ mich, nachdem er mir einen verächtlichen Blick zugeworfen hatte.«

»Na, schön war es gerade nicht von Ihnen, lieber Doktor,« meinte lachend Holmer, »den Lorbeerkranz des Bruders in Apoll so schmählich zu zerzausen.«

»Im Gegenteil, man kann nicht genug Steine auf den gläsernen Himmel der Eitelkeit werfen,« erklärte Schiroky. »Weit sympathischer, wie jene geschwollenen schöngeistige Dilettanten, sind mir die Leute, die aus materiellen Gründen den Schriftstellern ins Handwerk pfuschen, sie sind wenigstens nicht dünkelhaft und verraten in ihren Anschauungen häufig eine Naivität, die uns heiter stimmt.

So besucht mich seit Jahren ein älterer, wohlbeleibter, pensionierter Steuersekretär, um mir seine Manuskripte vorzulegen und mich um Rat zu fragen, wie er sie verwerten könne. Er versichert mich jedesmal treuherzig dabei, daß ich der Einzige sei, von dem er überzeugt wäre, daß ich mir seine Ideen nicht zu eigen machte. Das erste Mal brachte er mir einen Roman, der die Geschichte einer Pfändung behandelte, die schließlich ihre Lösung dadurch fand, daß der Exekutor mit der Tochter der auszupfändenden Witwe in den Tod ging. Das Thema war unglaublich naiv behandelt, die Sprache reiner Amtsstil. Ich sagte dem Manne, daß es ihm schwer fallen dürfte, für seine Erzählung eine Zeitung zu finden. »Wenn Sie das glauben,« antwortete er mir, »schreibe ich eine andere Geschichte, ich habe ja die Zeit dazu.«

Schon nach einem halben Jahre brachte er mir eine neue umfangreiche Arbeit, die womöglich noch unklarer als die erste war. Da ich ihm aber nicht wieder alle Hoffnung rauben wollte, riet ich ihm, seinen Roman von einem als wagemutig bekannten Verleger nachprüfen zu lassen. Er tat es, und der Erfolg war natürlich negativ. So schrieb er beharrlich jahrelang, ohne jemals etwas aus seiner Feder im Druck erscheinen zu sehen. Vor einigen Wochen nun kam er mit zufriedenem Schmunzeln zu mir und sagte: »Herr Redakteur, ich habe die Romanschreiberei endgültig aufgegeben.«

»Da gratuliere ich Ihnen von ganzem Herzen,« erwiderte ich.

»Ja, es ist zu mühsam, und das Angebot zu groß, man bringt nichts unter.«

»Freuen Sie sich, daß Sie zu dieser Erkenntnis gekommen sind.«

»Von jetzt ab arbeite ich nur noch für die Bühne.«

»Halten Sie das für leichter?«

»Nein, aber für lohnender.«

Nach diesem Bekenntnis wickelte er zwei dicke Schreibhefte aus einem blauen Umschlag und breitete sie vor mir aus.

»Das eine hier ist eine Operette, es fehlt nur noch die Musik dazu; der Mann, der das besorgt, wird sich hoffentlich finden lassen. Es wird heutzutage ja so viel blödsinniges Zeug komponiert, daß es mir auch nicht fehlen dürfte.«

»Und das andere?«

»Das andere ist ein modernes Stück und heißt: »Der vergessene Regenschirm«, Sensationsschauspiel in vier Begebenheiten.«

Kopfschüttelnd warf ich einen Blick in die beiden Bücher und fand, daß ihr Verfasser keine blasse Ahnung von einer Theaterdichtung hatte. Lediglich aus Mitleid mit dem Schreibseligen, der seine Zeit so zwecklos vergeudete, sagte ich dann: »An Ihrer Stelle würde ich auch keine Stücke schreiben.«

»Glauben Sie nicht, daß sie aufgeführt werden?«

»Vorerst sicher nicht.«

»Nun dann später, auf einen Hieb fällt kein Baum.«

»Ja,« fragte ich, durch seine Beharrlichkeit stutzig gemacht, »müssen Sie denn unter allen Umständen dichten?«

»Müssen!« gab er mir verwundert zur Antwort, »müssen muß ich nicht – ich habe ja meine Pension. Aber ich frage Sie, Herr Redakteur, soll der Lehar von der »Lustigen Witwe«, der Sudermann, Blumenthal, Hauptmann und wie sie alle heißen, die Tantiemen allein einstecken?«

»Allerdings, von diesem Standpunkt aus – –«

»Geben Sie mir recht,« unterbrach er mich und wickelte seine Werke wieder ein. »Wenn Sie es erlauben, werde ich Ihnen ganz demnächst zwei neue Stücke vorlegen.«

Unter vielen Bücklingen verschwand er; aber glauben Sie mir, wie er tauchen jährlich tausend neue auf, die nichts anderes wie der pekuniäre Gewinn, den einige Glückliche einheimsen, veranlaßt, den Pegasus zu besteigen.«

Schiroky hatte seine Ausführungen beendet und die Unterhaltung wandte sich wieder allgemeinen Dingen zu, wobei die Zeit rasch verflog. Als sich Holmer auf dem Heimwege befand, schlug die Uhr bereits die zweite Morgenstunde; dafür war aber auch aller Verdruß, den ihm der Auftritt mit Emilie verursacht hatte, aus seiner Seele gewichen.


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