Adolf Stoltze
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Adolf Stoltze

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Kapitel 5.

Schildert das Vergnügen, das ein Mensch hat, bevor er weiß, wo er sein müdes Haupt niederlegen darf.

Langsam und bedächtig schlürfte Fräulein Martha Henschel, eine große hagere Dame, mit gewelltem, in der Mitte gescheitelten Haaren, ihren Morgenkaffee in dem freundlichen Zimmer eines Mietshauses in der Lindenstraße und bemühte sich dabei, ihre neunjährige flachsblonde Nichte in die Geheimnisse der französischen Sprache einzuweihen. Fräulein Henschel war Gouvernante in einer wohlhabenden Familie in München gewesen, mußte aber diese Stellung aufgeben, weil ihre Pfleglinge nunmehr ein Lausanner Pensionat besuchen sollten. Nach mehrjähriger Abwesenheit war sie wieder nach Berlin zurückgekehrt und hatte sich auf unbestimmte Zeit bei ihrem Schwager einlogiert, um dort die Erlangung einer ihr zusagenden Stelle abzuwarten.

Die familiären Verhältnisse im Hause ihres Schwagers sagten ihr jedoch so wenig zu, daß sie schon nach einigen Tagen erklärte, das ihr zugewiesene Zimmer jederzeit räumen zu wollen, wenn ein anderer Mieter darauf reflektiere.

Die Haushälterin, eine dralle Person mit lüsternen Blicken, hatte darauf sofort den üblichen Vermietungszettel vor die Haustüre gehängt.

»Nun, Minna,« sagte Fräulein Henschel zu ihrer mißmutig dreinschauenden Nichte, »wollen wir nochmals das Gelernte repetieren.«

»Laß mir doch erst meinen Kaffee trinken,« gab der Flachskopf weinerlich zurück, »du hast deinen ja ooch jetrunken.«

»Du sitzt aber nun bereits seit einer Stunde davor.«

»Ja, weil du mir so frühe jeweckt hast.«

»Sieben Uhr ist nicht frühe, wer länger schläft ist ein Langschläfer.«

»Ich habe aber erst um neune Schule.«

»Eben deshalb nehmen wir das Französische nochmals vor. Also, Lektion sieben.«

»Erst muß ick meine Stulle inwickeln, sonst jibts Fettflecke, ick krieje Keile, und du bist schuld dran,« erklärte die Range, rümpfte ihr Stumpfnäschen und wickelte dann mit größter Umständlichkeit ihr Frühstück in ein Zeitungsblatt.

Fräulein Henschel sah ihr gelassen zu, als sie aber damit zu Ende war, sagte sie drohend: »Nun wird's bald, oder soll ich? –«

»Nu ja doch!« rief gähnend Minna, ergriff das Buch und las: »Dieu a fait le monde.«

»Das heißt?«

»Gott hat gemacht.«

»Gut, weiter.«

»Le monde – den Mond.«

»Nein,« verbesserte ihre Tante, »die Welt«.

»Den Mond hat er ooch jemacht,« gab die Kleine mit dem Ausdruck der Ueberzeugung zurück. »Da steht monde, und das e wird nich ausjesprochen.«

»Der Mond heißt lune – Gott hat gemacht die Welt.«

»Is mir Schnuppe! Unser Fräulein hat jesagt den Mond hat er ooch jemacht, und du warst nich dabei.«

Die Tante wollte die Hand zur wohlverdienten Züchtigung erheben, besann sich aber und fuhr in ihrer Belehrung weiter fort: »Schweig! Le monde heißt die Welt; le grand monde, die große Welt; le petit monde, die kleine Welt; le monde entier die ganze Welt; demi monde, halbe Welt.«

»Du weeßt jar nischt!« unterbrach sie patzig triumphierend ihre Schülerin. »Demi monde heeßt wat janz anderes.«

»Wer hat dir das gesagt?«

»Det weeß man so schon von alleene.«

»So! – weiter! On a vu« – –

»Ich mag nich mehr.«

»Du mußt!«

»Bei dir noch lange nich!«

»Auf der Stelle!«

»Nu erst recht nich!«

Fräulein Henschel zog ihre widerspenstige Nichte näher und gab ihr einen leichten Klapps auf die Wange, worauf sich das Mädchen losriß, heulend nach der Türe rannte und schrie: »Juste, Juste! Tante hat mir 'ne Backpfeife jejeben.«

Gleich darauf erschien die Haushälterin auf der Türschwelle und fragte, was los sei.

»Sie hat mir verhauen, weil ick jesagt habe, der liebe Jott hat den Mond jemacht!« brüllte die Range und verbarg ihr Gesicht in die Schürze ihrer Beschützerin.

»Wer denn anders – Sie doch nich!« knirschte die Stütze des Haushalts und setzte schmeichelnd hinzu: »Det arme Wurm! Komm, ich jebe dir enn Schokoladeplätzken.«

»Sie geben Minna nichts; ich habe sie gestraft, weil sie ihr Französisch nicht lernt, das sie heute in der Schule kennen muß.«

»Französisch! ick kann ooch keen Französisch und lebe doch. Wenn se man jut Deutsch kann; 'nen Franzosen heiratet se doch mal nich. Nich wahr, Mauseschwänzeken?«

»Nee, nur eenen von der Jarde,« gab die Kleine, die sich jetzt sicher fühlte, zurück.

»Na also!«

Fräulein Henschel, durch diese Bemerkung noch mehr gereizt, erwiderte in verweisendem Tone: »Schämen Sie sich, meine Nichte so zu verderben!«

Wie von einer Natter gestochen, schnellte durch diesen Vorwurf getroffen die Haushälterin in die Höhe, stellte sich herausfordernd vor ihre Gegnerin und schrie im höchsten Diskant, wobei ihr die haßerfüllten Augen fast aus den Höhlen quollen: »Was tu ick! ick verderbe det Kind? Ick, die ick mir seiner anjenommen habe vor drei Jahren, wie Ihre Frau Schwester mit dem Möblierten ausjerückt is – ick verderbe es!«

»Ich bitte, dieses Thema nicht im Beisein des Kindes zu berühren.«

»O jeh! die weeß mehr als Se glooben. Die weeß, warum det Bild von Müllers Frau nich mehr an der Wand hängt – der machen Se keenen blauen Dunst vor.«

Minna, welche diesen Lobspruch zu würdigen wußte, bemerkte mit Stolz: »Nee, du nich, Tante!«

»Die weeß janz jenau, wat se von ihrer Mutter zu halten hat.«

»Weeß ich ooch – jar nischt.« –

»Haben Sie nu jehört? Kinder und Narren reden die Wahrheit. Sie möchten mir jerne los sin, weil Ihr Schwajer enn Ooge uff mir hat? Oder wollen Se Ihre Schwester wieder rinschmuggeln? Warum sind Se dann überhaupts zu uns jekommen, wo Se doch keener jerufen hat?«

»Darüber habe ich Ihnen keine Auskunft zu geben, damit Sie es aber trotzdem wissen, will ich Ihnen sagen, daß ich es für meine Pflicht hielt, nach meiner verlassenen Nichte zu sehen. Wie nötig das war, davon haben Sie mich überzeugt. Ich werde meinem Schwager die Augen öffnen – verlassen Sie sich darauf.«

»Sie Ihrem Schwajer! der weeß, wat er an mir hat – der weeß aber ooch, wat er an Ihrer Frau Schwester jehabt hat! 'Ne nette Planze, die ihren Ollen sitzen läßt und mit dem Zimmerherrn nach Amerika auskneift. – Fui Deibel!«

»Gehen Sie an Ihre Arbeit, wenn mein Schwager aus der Fabrik kommt, will er frühstücken.«

»Herrjott, wat Se uff emal besorgt sind! Seit ick die Wirtschaft führe, hat's noch immer wat zum prepeln jejeben, ob das bei Ihrer Frau Schwester ooch so jewesen is, steht nich im Protoknoll.«

»Ich verbiete Ihnen ein für allemal in diesem Tone mit mir zu reden.«

»Ick Ihnen ooch!« rief die Haushälterin und setzte höhnisch hinzu: »Sie jeben sich 'ne Kraft und 'ne Forsche seit die paar Tage, wo Se hier sind, als wenn Se den Kreuzberg nach dem Tierjarten versetzen könnten. Aber man sachte, Fräulein Henschel, mir kriejen Se nich unter – mir nich – ick sitz feste hier. Wenn Se nur ooch so sitzen würden. So, und jetzt muß Minna in die Schule, und wenn Sie eener fragt, for wat der Disput jewesen war, sagen Se ihm jefälligst, daß ick die Wurst nich anjeschnitten habe. Morjen!« Nach dieser Erklärung faßte sie Minna bei der Hand, machte einen spöttischen Knix und verließ mit dem Kinde das Zimmer.

Vor innerer Erregung keines Wortes mächtig und mit den Zähnen knirschend, sah ihr Fräulein Henschel nach, dann durchmaß sie mit großen Schritten die Stube, bei sich erwägend, ob sie das Haus sofort verlassen, oder, wie schon mehrfach, es nochmals versuchen sollte, ihren Schwager von dem verderblichen Einfluß dieses Weibes zu überzeugen.

Ihr Schwager, der Werkführer der großen, im Hofe befindlichen Fabrik war, hatte sich niemals um sein Hauswesen gekümmert; er gab den größten Teil seines Lohnes an seine Haushälterin ab und überließ es ihrem Ermessen, damit nach Gutdünken zu schalten. Ebensowenig bereitete ihm die Erziehung seiner Tochter Sorgen; er war zufrieden, wenn sie reinlich gekleidet zur Schule ging und nicht über Hunger klagte. Die Magd, die er nach dem Zusammenbruch seiner Häuslichkeit angenommen hatte, wußte den willensschwachen Mann bald derart zu umstricken, daß er sich in fast allen Dingen ihrem Willen fügte und ihr die Rechte einer legitimen Frau einräumte. Trotz dieses guten Einvernehmens hegten beide gegeneinander tiefes Mißtrauen, das sich am deutlichsten bei der beabsichtigten Vermietung des Zimmers zeigte, wo er, durch Erfahrung gewitzigt, mit keinem Herrn, und sie, um ihre Stellung nicht zu gefährden, mit keiner Dame abschließen wollte.

Noch war sich Fräulein Henschel nicht über das, was sie tun sollte klar, als die Türe geöffnet wurde, und die Haushälterin auf der Schwelle erschien. »Fräulein«, sagte sie mit einem Tone. der ihre Schadenfreude nur schlecht verbarg, »der Herr hier möchte jerne det Zimmer ansehen. Da Sie doch ziehen wollen, wird Ihnen det woll nich unanjenehm sin.«

»Keineswegs«, gab Fräulein Henschel, die jetzt plötzlich zu einem Entschluß gekommen war, zurück, »ich reise sowieso in den nächsten Tagen ab. Bitte, mein Herr, treten Sie nur ein.«

Holmer, der seit gestern auf der Wohnungssuche war, folgte der freundlichen Einladung und besah sich den Raum. Lage und Einrichtung schienen seinen Beifall zu finden, denn er erkundigte sich, ob noch mehr Zimmerherren auf dem Flur wohnten.

»Nee, wir vermieten nich aus Jewerbe, nur so nebenbei,« erklärte die Haushälterin.

»Ich reflektiere nämlich,« bemerkte Holmer, »auf ein möglichst ruhiges Zimmer«.

»Det haben Se hier, denn wenn det Fräulein weg is, wüßte ich nich, wer Jeräusch machen sollte. Der Herr is den janzen Tag in der Fabrik, det Kind in der Schule, und ick in der Wirtschaft.«

»Und was kostet es?«

»Vierzig Märker den Monat – aber ick kann nich alleene vermieten, wenn Se eenen Oojenblick verziehen wollen, rufe ich Müllern, der is hinten in die Fabrik.« Nach diesen Worten band sie ihre Schürze ab und entfernte sich eiligst. Schon nach wenigen Augenblicken kehrte sie mit ihrem Dienstherrn zurück.

Herr Müller, ein graubärtiger Fünfziger, auf dessen gedrungenem Körper ein kugelförmiger Kopf mit nichtssagendem Gesichte saß, machte einige plumpe Kratzfüße und betrachtete dann mit mißtrauischen Blicken den Zimmersuchenden. Endlich bewegte er die wulstigen Lippen und sagte: »Wissen Se, die Stube is unjemein jünstig jelegen, direktemang nach Süden, is immer mollich warm, wissen Se; teuer is se ooch nich, wissen Se – nur eenen Fehler hat se, wissen Se«.

»Eenen Fehler!« rief überrascht die Haushälterin, »davon weeß ich aber nischt«.

»Wissen Se,« fuhr der Werkführer mit einem verschmitzten Grinsen fort, »et is doch so. Sie is nämlich noch jar nich frei, wissen Se.«

»Aber sie wird es,« versicherte die Stütze des Haushalts. »Ihre Schwäjerin hat erst eben wieder erklärt, daß se zieht.«

»Det jeht man allens nich so schnelle, wissen Se; det dauert immer noch enn Weilecken, wissen Se.«

»Spätestens übermorgen,« bemerkte Fräulein Henschel. »Ich nehme die mir offerierte Stelle nach Hamburg an.«

»Heute können Se also nich zuziehen, wissen Se.«

»Ist auch meine Absicht nicht,« entgegnete Holmer, »ich kann noch acht Tage damit warten.«

Herr Müller saß mit seinen Hoffnungen auf dem Trockenen. »Hm!« machte er und wandte sich mit einem blöden Gesichtsausdruck an seine Haushälterin: »Juste, wat hälst du davon?«

»Ick meene,« antwortete diese, »daß es keenen Sinn nich hat, die Stube leerstehen zu lassen.«

»Det schon – am Preis wird aber nischt abjehandelt.«

»Versteht er sich mit oder ohne Kaffee?« fragte Holmer und sah sich nochmals in der Räumlichkeit um.

»Immer ohne. Bei die jetzigen Lebensmittelpreise, wissen Se, kann man det Frühstück nich unter zehn Mark liefern, wissen Se.«

»Und wie hoch berechnen Sie die Heizung?«

»Det wollen Se ooch wissen?«

»Na, natürlich,« warf die Haushälterin, die sich mehr und mehr für den neuen Möblierten erwärmte, ein, »der Herr muß sich doch klar sin, wat er zu berappen hat.«

»Det kommt janz druff an, wie injeheizt wird, wissen Se.«

»Ich liebe ein warmes Zimmer, denn ich bin den ganzen Tag zu Hause.«

»Den janzen Tag!« rief fast freudig der Werkführer, der hoffte, daß an dieser Erklärung die Vermietung scheiterte.

Ganz gegen seine Erwartung antwortete aber die Haushälterin: »Det stört mir nich.«

»Dir nich, aber mir. Ich bin nich for's Intime.«

»For's Intime bin ick ooch nich!« fuhr die Wirtschafterin auf und wurde kirschrot im Gesicht; »aber eener, der solide is, is mir anjenehmer wie enn Bummelfritze.«

»Zwee Hähne in eenen Korb taugt nischt. Ick mag keenen, der mir den janzen Tag in die Wirtschaft kiekt.«

»Aber eene, nich wahr?« bemerkte giftig, jeden Respekt bei Seite setzend, die Stütze des Haushalts. »Eene is dir immer recht, det jloobe ick!«

Holmer hatte seinen Hut aufgesetzt, blieb aber stehen, weil ihm das Redeturnier, dessen Motive er durchschaute, höchlich ergötzte. Lachend sagte er dann: »Bitte, ereifern Sie sich nicht meinetwegen, es liegt nicht in meiner Absicht, Ihnen lästig zu fallen.«

»Mir fällt keener lästig, wissen Se,« wandte sich der Werkführer, froh, seinen Worten eine andere Richtung geben zu können, wieder an den jungen Mann. »Wenn mir eener lästig fällt, fliegt er raus, wissen Se. Hier schrägavis, wissen Se, is 'ne janze Schachtel voll Zimmern, wissen Se – jondeln Se mal dahin, die sind vielleicht froh, wenn Se eenen in der Bude haben, der nich raus jeht – ick nich, wissen Se.«

Holmer konnte es sich nicht versagen, die Redeweise des höflichen Vermieters zu parodieren und erwiderte: »Wissen Sie, was Sie mir sagen, wissen Sie, das läßt sich alles viel höflicher sagen, wissen Sie. Ueberhaupt, wissen Sie, wenn Sie kein Zimmer vermieten wollen, wissen Sie, dann hängen Sie auch keinen Zettel heraus, wissen Sie.«

Ueberrascht sah der Werkführer den kühnen Sprecher an, dann aber fuhr er auf und schrie: »Wat wollen Se ejentlich mit Ihrem, wissen Se? Det importiert mir doch nich; det is Kaff, wissen Se! Enn vernünftiger Mensch sagt nich alle Oojenblicke, wissen Se; det tut enn Quatschkopp, wissen Se! Enn Mensch, der keene Bildung nich hat, wissen Se. So, nu wissen Se, wat ich von Ihrem, wissen Se, halte.«

Holmer antwortete nicht, sondern verließ in heiterster Stimmung die gastliche Schwelle. Auf der Straße angekommen, betrachtete er sich nochmals die Fassade des Hauses und bemerkte zu seiner Freude in der zweiten Etage den höflichen Zimmervermieter, der ihm mit grimmigen Blicken nachschaute und dann das Fenster klirrend zuschlug. Mit einem Lächeln auf den Lippen ging der junge Mann langsam die Lindenstraße hinunter und wollte eben in die Kommandantenstraße einbiegen, als Fräulein Emilie aus einem Laden kommend ihm den Weg vertrat.

»Nu frag' ich eenen!« rief sie strahlend vor Freude und blieb stehen. »Was führt Sie dann hierher?«

»Ich bin auf der Jagd nach einem Zimmer. Seit gestern durchquere ich Berlin.«

»Ooch das dunkle?« fragte sie schelmisch.

»Vielleicht später – vorerst muß ich wissen, wo ich nächste Woche mein Haupt niederlegen darf.«

»So jeht's, wenn man seine Freunde treulos verläßt. Haben Se noch nischt in Aussicht?«

»Nein, ich bin zu wählerisch, und die Wirte sind es auch,« antwortete Holmer und erzählte ihr sein jüngstes Erlebnis, was sie sehr zu belustigen schien, denn sie kam nicht aus dem Lachen heraus. »Ich habe mir vorgenommen,« fuhr er darauf fort, »solange zu suchen, bis ich eine Stube gefunden habe, die allen meinen Ansprüchen genügt. So verdrießlich auch an und für sich eine solche Tätigkeit ist, gibt sie mir doch Gelegenheit, Leute und Verhältnisse kennen zu lernen, mit denen ich wohl nie in Berührung gekommen wäre.«

»Also betreiben Se das Zimmersuchen jewissermaßen als Studienreise?«

»Das hängt von den Bildern ab, die ich zu Gesicht bekomme,« antwortete Holmer und bat Emilie, ihren Weg fortzusetzen. »Wohin geht die Reise?«

»Jetzt nach der Weidendammer Brücke und dann ins Jeschäft. Ich war in der Fabrik jewesen, for die wir arbeiten, und muß nu noch 'ne Bestellung ausrichten. Daß ich mal um die Zeit wie heute die Bude verlasse, das kommt man rar vor. Wenn Se mir begleiten wollen, werde ich mich dajejen nich sträuben – am Schiffbauer Damm is ooch nich eklich wohnen, da finden Se vielleicht, was Se suchen.«

»Gut, probiere ich einmal dort mein Glück, mir ist egal in welchem Stadtteil sich mein künftiges Heim befindet.«

Nachdem sie den Dönhofplatz überschritten hatten und durch die Leipzigerstraße auf die stillere Seite der Friedrichstraße gelangt waren, nahm Emilie das Wort und sagte: »Ist es nich merkwürdig. Herr Holmer, daß die Meechens im Jeschäft nu ooch schonst wissen, daß Sie ziehen.«

»Sie werden es durch einen Zufall erfahren haben.«

»Nee, das haben se ausspioniert – die spionieren alles aus. Sie wohnen noch keene acht Tage anderswo, wissen se's ooch.«

»Mag sein, trotzdem werden Sie Ruhe vor ihren Spöttereien haben, wenn sie mich nicht mehr täglich sehen.«

»Erst recht nich. Die könnens nu mal nich verwinden, daß eene was für sich behält – alles muß an die jroße Glocke. Ich habe doch jar nischt zu verheimlichen, aber das hilft mir nischt – nee, mich nischt – nee, mir nischt; sie lejen mein Schweijen for Hochmut aus und machen ihre Jlossen, wenn ich Sie mal zufällig bejegne. Früher war's anders bei uns, da habe ich mir – nee, mich uff's Jeschäft jefreut, jetzt ist mir's enn Greuel, wenn ich hin muß. – Haben Se mal jehört, wie es dem Manne Ihrer Wirtin jeht?«

»Nicht gut, wie mir Frau Lampart sagte. Er ist wohl ruhiger geworden, aber sein Lungenleiden läßt das Schlimmste befürchten.«

»Das ist traurig – freilich uff eene Art muß man abschrammen; der eene so, der andere so. – Die Schauspielerfamilie, von der Se mir erzählt haben, hat woll noch nich jeschrieben?«

»Doch – eine Postkarte, heute früh. Sie befindet sich wohl. Der Mann hat Probe gesungen und ist nun fest für den Chor verpflichtet, und seine Frau hofft, bei derselben Bühne als Souffleuse engagiert zu werden. Es ist mir wahrhaft leicht ums Herz, seitdem ich weiß, daß sie endlich ein Plätzchen gefunden haben, wo sie rasten können.«

Unter ähnlichen Gesprächen hatten sie die Weidendammer Brücke erreicht.

»Darf ich aus Sie warten?« fragte Holmer, als seine Begleiterin erklärte, am Ziel zu sein.

»Bitte, nich, sonst verspäte ich mich noch mehr. Jehn Se man janz jemütlich weiter uff die Zimmerjagd, ich fahre mit der Stadtbahn nach dem Jeschäft.« Sie reichte ihm die Hand, die er herzlich drückte, und verabschiedete sich mit den Worten: »Also morjen Abend, wie jewöhnlich!«

Holmer sah ihr nach, bis sie in dem Torweg eines großen Hauses verschwunden war, und lenkte dann seine Schritte nach dem Schiffbauerdamm.

Vor einem alten aber stattlichen Hause blieb er stehen und besah sich die ausgehängten Zettel: »Zimmer mit Alkoven, Aussicht nach der Spree. Dritter Stock, rechts,« las er und stieg kurz entschlossen die drei Treppen empor.

Aus einem kleinen Messingschild stand: Anna Ferber. Hier klingelte er.

Sofort öffnete sich das Guckloch in der Korridortüre, und eine heisere Frauenstimme fragte: »Sie wünschen?«

»Ich möchte mir gerne das Zimmer ansehen, das hier zu vermieten ist.«

»Bitte, einen Augenblick.«

Gleich darauf wurde die Sicherheitskette ausgehängt, der Schlüssel knarrte im Schloß, die Türe ging auf, und Holmer sah sich einer Dame gegenüber, die sich vergeblich bemühte, in die erweiterten Knopflöcher ihrer Taille die baumelnden Knöpfe festzuzwängen, ein Bemühen, das sie ununterbrochen wiederholte. Die Dame war nicht mehr jung, aber sie hätte bei der Schlankheit ihres Körpers dafür gelten können, wenn sie ihr rotblondes Haar nicht gescheitelt und, mit Hilfe von Pomade, fest auf die Haut gestrichen getragen hätte.

»Sie wünschen das Zimmer zu sehen? Bitte, treten Sie näher.« Mit diesen Worten öffnete sie die Türe eines geräumigen Gemachs und bat Holmer durch eine Bewegung mit der Hand einzutreten.

Es war ein freundlicher, in der üblichen Weise möblierter Raum mit zwei Fenstern, an denen einige verkümmerte Pflanzen standen. Im Hintergrunde befand sich der, durch einen grünen Vorhang verhüllte, fensterlose Alkoven, der als einzige Möbel das Bett und einen Nachttisch enthielt.

»Das ist das Zimmer,« sagte sie. »Die Aussicht ist wundervoll, kein direktes Visavis. Unten die staubfreie Spree, oben der tiefblaue Himmel, man glaubt gar nicht, daß man in Berlin ist. Einige Schritte und Sie sind im Bahnhof Friedrichstraße, im Herzen des Verkehrs; und wenn Sie sich in der Nähe amüsieren wollen, haben Sie den Wintergarten, die Komische Oper, das Neue und das Lessingtheater fast vor der Türe.«

»Die Aussicht ist hübsch,« gab Holmer zu. »Für mich handelt es sich aber hauptsächlich darum, daß die Lage nicht zu geräuschvoll ist.«

»Sie wohnen hier wie auf dem Lande, so ruhig. Es ziehen ja nur Schiffe vorüber, und die paar Wagen, die über die Straße rollen, hört man in der dritten Etage nicht. Das ist der Vorzug der oberen Stockwerke, daß das Nervensystem nicht unter dem Lärm der Großstadt leidet. Ich bin nicht nervös, aber ich verstehe mich auf Nerven, denn ich war früher beim roten Kreuz und später freie Krankenschwester.«

»Krankenschwester?«

»Fünfzehn Jahre lang – ich bin nämlich sehr jung dazu gekommen,« fuhr die gesprächige Dame fort. »Meine Studien habe ich in meiner Vaterstadt Dresden gemacht. Als freie Schwester übernahm ich schließlich die Pflege eines Herrn Hunold, der an Arterienverkalkung litt und etwas gelähmt war. Er war Berliner, und so kam ich hierher. Sechs Jahre stand ich seinem Hauswesen vor, und als er starb, fiel mir diese Einrichtung und ein kleines Kapital als Erbschaft zu. Da blieb ich dann hier und behielt auch die Wohnung, weil sie so gemütlich ist. Das Zimmer gefällt Ihnen doch?«

»Das kommt auf den Preis an.«

»Vierzig Mark hat der frühere Mieter gezahlt. Wenn Sie ein Anhänger des Naturheilverfahrens sind, können Sie hier Sonnenbäder nehmen, denn niemand kann Ihnen in die Stube sehen.«

»Haben Sie noch mehr Zimmer vermietet?«

»Noch eines, an zwei Pianistinnen.«

»Um Gotteswillen! Pianistinnen?«

»Ja, Pianistinnen außer dem Hause, hier haben sie kein Klavier. Sie spielen in einer Musikalienhandlung den Kunden vor; gehen morgens schon vor acht Uhr fort und kommen abends erst nach zehne zurück.«

»Da ist die Wohnung also absolut ruhig?«

»Nur ruhig! Wenn Sie die Fenster schließen, hören Sie ein Mäuschen über den Boden huschen – das heißt, jetzt sind keine Mäuse mehr da, aber als ich hierherzog, wimmelte es davon.«

»Eine solche Belästigung würde mich veranlassen sofort auszuziehen.«

»Da haben Sie recht – ich wäre auch nicht geblieben, wenn ich sie nicht hätte ausrotten können. Es sind auch keine Schaben mehr vorhanden, wissen Sie, die gelben Käfer, die so gerne in die Suppe fallen. Die habe ich gründlich mit Zucker und Borax vertrieben und dann mit Insektenpulver nachgestäubt. Reinlichkeit war von jeher meine schwache Seite, hier gibt es das alles nicht, was man sonst in älteren Häusern findet . . .«

»Das setze ich als selbstverständlich voraus,« erklärte Holmer und überschaute nochmals die Einrichtung. »Der Raum ist recht wohnlich – wie hoch sagten Sie, daß der Preis sei?«

»Fünfundvierzig Mark mit Alkoven.«

»Gesund scheint es auch hier oben zu sein.«

»Das will ich meinen! Jeden Sonnabend wird bei mir die ganze Wohnung desinfiziert. Vor einem halben Jahre ist mir ein Zimmerherr gestorben, so etwas kommt ja schließlich überall einmal vor; sofort habe ich Fußböden, Türen und Wände, vierzehn Tage lang, täglich mit Karbol abwaschen lassen; meiner alten Scheuerfrau war das zu viel, sie kündigte mir. Habe ich Ihnen das Bett schon gezeigt?«

»Noch nicht.«

»Das müssen Sie in Augenschein nehmen!« rief die Dame mit dem Ausdruck des Stolzes und zog den Vorhang am Alkoven zurück. »So ein gediegenes Bett finden Sie in ganz Berlin nicht wieder, es stammt noch von der Gewerbeausstellung und ist, irre ich nicht, ein Innungsmeisterstück. Als geprüfte Krankenpflegerin verstehe ich mich auf Betten. Da sind keine gerissenen Hühnerfedern, sondern echte Eiderdaunen in den Kissen. Wenn Sie in diesem Bette liegen, wollen Sie überhaupt nicht mehr aufstehen – noch alle meine Zimmerherren haben verschlafen.«

»Das ist aber schlimm!«

»Wenn es verlangt wird, wecke ich. Es ist doch auch für einen alleinstehenden Herrn ein tröstlicher Gedanke, wenn er weiß, daß er bei einer Erkrankung nicht auf das Hospital angewiesen ist, sondern bei sich zu Hause sachgemäße Pflege finden kann. Ich kenne ja Ihren Beruf nicht, aber ich glaube, daß das Zimmer Ihren Wünschen entspricht.«

»Zum Teil, gewiß.«

»Nun also, wenn Sie die Annehmlichkeiten, die Sie hier haben, alle in Erwägung ziehen, finden Sie den Preis von fünfzig Mark für Zimmer und Alkoven sicherlich äußerst billig.«

»Sie sagten vorhin fünfundvierzig Mark.«

»Nicht möglich! Da müßte ich mich versprochen, oder Sie sich verhört haben. Bedenken Sie nur die Aussicht und das Bett.«

»Bevor ich über den Preis mit Ihnen verhandle, muß ich bemerken, daß ich während des ganzen Tages zu Hause bin.«

»Das ist mir sehr angenehm, denn bei dem vielen Gesindel, das sich in der Stadt herumtreibt, ist ein Mann immer ein angenehmes Ding in der Wohnung.«

»Und dann muß ich in meinem Zimmer völlig ungestört sein.«

»Ich wüßte nicht, wer Sie beunruhigen sollte – wenn Sie es wünschen, stelle ich Ihnen den Kaffee vor die Türe.«

»Gut,« erklärte Holmer, »die Bedingungen sind mir soweit recht, bis auf den Preis, den Sie um mindestens fünf Mark herabsetzen müssen. Sie sagten doch selbst, der frühere Mieter habe sogar nur vierzig Mark gezahlt.«

»Der frühere allerdings; aber nicht der letzte, der überhaupt das Zimmer nur acht Tage im Besitz hatte. Der frühere war der vorletzte; als er auszog, mußte ich alles neu herrichten lassen, denn der Eigentümer des Hauses läßt für seine Kosten noch keinen Nagel einschlagen. Von der hellen Tapete im Alkoven kostet allein das Stück vierzig Pfennige.«

»Trotzdem ist es dort dunkel.«

»Das kommt von dem grünen Vorhang.«

»Sie gestatten doch, daß ich mir die Schlafstelle nochmals ansehe?«

»Natürlich,« antwortete die Vermieterin, machte aber doch ein verdutztes Gesicht, als Holmer seine Wachshölzchen aus der Tasche zog, eines anzündete und in den Alkoven leuchtete.

»Wenn Sie gerne im Hellen schlafen, brauchen Sie nur von der Wand abzurücken – das Bett ist breit genug, da können drei nebeneinander liegen.«

»Das schon,« meinte Holmer und besichtigte eine Stelle der hinteren Wand mit größter Aufmerksamkeit. »Die roten Flecken auf der hellen Tapete gefallen mir nicht.«

»Die rühren wahrscheinlich vom Kleister her.«

»Oder von –!«

»Wo denken Sie hin!«

»Unzweifelhaft rühren sie davon her – Pfui!«

»Und wenn auch – die tuen Ihnen nichts mehr.«

»Ich danke!« rief Holmer und ergriff seinen Hut. »Wenn ich nur daran denke, juckt's mich.«

»Das verstehe ich nicht, sie sind doch alle tot! Ich lasse einen Streifen Tapete über die beschmutzte Stelle kleben.«

»Meinetwegen zehn – adieu!«

»So hören Sie doch! Sie sollen das Zimmer mit Alkoven für vierzig Mark – –«

Holmer vernahm das verlockende Angebot nicht mehr, er hatte das Wanzenheim eilig verlassen und war wie ein Verfolgter die Treppen hinuntergesprungen. Auf der Straße angekommen, blieb er stehen, holte tief Atem und überlegte einen Augenblick, ob er heute die Zimmersuche fortsetzen oder auf morgen verschieben solle. Er wählte das Letztere und suchte seine Wohnung auf. Kaum hatte er seine Stube betreten, als sich Frau Lampert bei ihm einfand. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet, sonst aber war sie gefaßt.

»Mein armer Mann hat ausgelitten,« sagte sie mit sanfter Stimme. »Heute um die Mittagsstunde wurde er erlöst.«

Holmer wollte ihr seine Teilnahme ausdrücken, sie aber unterbrach ihn und bemerkte: »Das schmerzlichste für mich ist nicht sein Tod, sondern daß eine so hoffnungsvoll begonnene Laufbahn so trostlos enden mußte. Jeder Groll ist zwar aus meiner Seele gewichen, ich vergegenwärtige mir nur noch die lieben Erinnerungen, aber ich muß mir trotzdem sagen, es war ein verfehltes Leben, und was schlimmer ist, ein durch eigene Schuld verfehltes Leben.«

»Denken Sie nicht mehr darüber nach, liebe Frau Lampert; an dem Geschehenen läßt sich nun einmal nichts ändern.«

»Das weiß ich wohl, aber können Sie in solchen Stunden den Gedanken Halt gebieten? Sie kommen immer und immer wieder.« Und als wollte sie sich gewaltsam von diesem Banne befreien, erkundigte sie sich nach einer Pause, ob ihr Mieter schon ein neues Quartier gefunden habe.

»Noch nicht, aber ich denke morgen, wo ich mein Glück einmal in Berlin W. versuchen will.«

»Sie haben ja noch sechs Tage Zeit, und wenn es sein muß, stelle ich Ihnen darüber hinaus meine Stube zur Verfügung und wohne solange in der Küche. Es wird mir sehr einsam vorkommen, wenn Sie mich verlassen haben, denn ich verkehre, außer mit Ihnen, mit keinem meiner Mitbewohner.«

Nach dieser wehmütigen Bemerkung reichte sie dem jungen Manne die Hand und entfernte sich, um Vorbereitungen für die Beerdigung zu treffen.

Holmer erledigte noch einige Briefe, überflog die Abendzeitungen und suchte dann sein Stammlokal auf, das er seit längerer Zeit nicht mehr besucht hatte. Seine Mitteilung, daß sich der Doktor, nach überstandener Haft, mit seiner Nichte verloben wollte, erregte bei der Tischgesellschaft allgemeine Sensation und bildete bis spät in die Nacht hinein fast das alleinige Gesprächsthema.

Als Holmer am nächsten Nachmittag seine Wohnung verließ, um auf die Zimmersuche zu gehen, schien eine frühlingswarme Sonne vom wolkenlosen Himmel auf die feuchte Erde herab. Der Frost, welcher den milden Tagen vor Ostern gefolgt war und Blüten und junges Grün geknickt hatte, war allmählich einer steigenden Temperatur gewichen, und schon wagten sich wieder neue Knospenspitzen ans Licht, und hie und da schwirrte ein frühreifer Käser oder Schmetterling durch die Luft.

Holmer hatte den Königsplatz und die Siegesallee überschritten und schon mehrere Straßen des eleganten Tiergartenviertels durchquert, als sein Blick auf ein Haus fiel, dessen einfache Fassade den Schluß auf einen erschwingbaren Preis für ein Junggesellenheim zuließ. »Zimmer mit Kabinett, zweite Etage«, stand auf einem Zettel, der neben der verschlossenen Haustüre hing. Holmer drückte auf die elektrische Klingel, und gleich darauf öffnete sich die Pforte, durch die er in ein kleines pompejanisch ausgemaltes Vestibül trat, auf dessen rechter Seite sich die Loge des Hausmeisters befand. Ohne sich um den würdigen Wächter des Hauses, der an seinem kleinen Fenster saß und sein Nebengewerbe als Flickschneider betrieb, zu kümmern, stieg er über die mit Läufern belegte Treppen zu den oberen Stockwerken empor.

»Heda!« rief ihm der Hausmeister, der sein Fensterchen geöffnet hatte, ärgerlich über die Nichtbeachtung seiner Person, nach. »Heda, det is die Herrschaftstreppe! Lieferanten jehn man über die Looftreppe.« Erweiterte aber, als er keine Antwort bekam, seine Belehrung noch durch den Nachsatz: »Ooch Weinreisende jehn hingen ruff!«

Holmer hatte inzwischen das zweite Stockwerk erreicht und an einem Glasverschlag, an dem auf einem Porzellanschild »Rat Zernitzky« zu lesen war, geklingelt. Das Wörtchen Rat stimmte ihn nachdenklich. Was mochte das für ein Rat sein, der Zimmer vermietete? War es ein Wirklicher Rat, Oekonomie- oder Waisenrat, Berg- oder Kommissionsrat, ein Stadtrat, Hof- oder Kanzleirat? Hundert Spielarten deutscher Räte blitzten ihm durchs Gehirn, bis endlich die Türe geöffnet wurde und ein schläfriger junger Bursche mit unglaublich dummem Gesichtsausdruck die auswendig gelernte Frage hersagte: »Wen darf ich anmelden?«

»Ich möchte mir das Zimmer, das zu vermieten ist, ansehen,« antwortete Holmer und trat in den Vorplatz der Wohnung.

»Das Zimmer,« wiederholte mit einem verschmitzten Lächeln der Bursche, den man in eine viel zu weite, schäbige Livree mit blanken Knöpfen, die mit einer Grafenkrone verziert waren, gesteckt hatte. »Bitte, hier,« darauf führte er Holmer nach einem Salon, dessen Türe er beim Verlassen geräuschlos hinter sich schloß.

Es war ein eleganter, im Jugendstil ausgeschmückter Raum. Rechts und links geöffnete Flügeltüren, welche jedoch keinen Einblick in die dahinterliegenden Gemächer gestatteten, weil die Portieren dicht zugezogen waren. Den Boden bedeckte ein weicher Teppich, der jeden Schritt dämpfte. Die Wände waren mit besseren Kopien moderner Meister, unter denen Stucks Sünde einen bevorzugten Platz einnahm, geschmückt.

Holmer war an das Fenster getreten und sah hinab nach der stillen, vornehmen Straße.

»An Bescheidenheit stirbst du mal nicht, Erna!« hörte er eine gedämpfte Männerstimme im Boudoir nebenan sagen.

»Wenn man Zipatsch heißt, sind fünfhundert Kronen kein Opfer,« antwortete eine Frau.

»Aber fünftausend Mark sind es.«

»Halb so viel, als du auf einmal beim Jeu verloren, du weißt, daß ich es haben muß, wenn mir die Einrichtung nicht gepfändet werden soll.«

»Das hättest du früher überlegen müssen.«

»Freilich – und hätte überlegen müssen, daß ich meinen Ruf dir zu Liebe, wie schon so oft geschehen, nicht aufs Spiel setzen sollte.«

»Vergiß nicht, daß ich es war, der verflossenes Jahr deinem Manne beisprang, als er dumme Streiche gemacht hatte und seinen Abschied nehmen mußte. Nun soll ich schon wieder bluten, weil du nicht haushalten kannst.«

»Nur diesmal noch.«

»Wer's glaubt – das sagst du seit Jahren.«

»Pst! – die Dienerschaft hat Ohren.«

Ein erregtes Flüstern folgte dieser Mahnung. Plötzlich aber wurde die Männerstimme wieder lauter und sagte: »Keine Vorwürfe, Erna! Unser Klub mußte von hier fort, er hätte euch und ihr ihn kompromittiert. Wo so hoch gespielt wird, muß man sicherer sein.«

»Nun kann ich einen Chambregarnisten aufnehmen – daß du gar nicht eifersüchtig bist!«

»Weil ich von deiner Treue überzeugt bin.«

»Wärst du es nicht.«

Abermals ging die Unterhaltung in Flüsterton über, um gleich darauf wieder deutlicher zu werden.

»Nein, nein!« rief halblaut die Frau, »in dieser Gesellschaft kannst du nicht verlangen, daß ich verkehre.«

»Na, dann soupieren wir im Monopol – allein.«

»Heute unmöglich.«

»Weshalb?«

»Weil mein Mann mit dem Abendzug von Stettin kommt.«

»Das ist doch kein Grund.«

»Es fällt auf, wenn ich nicht zu Hause bin.«

»Da mach ihm ein Wippkens vor.«

»Ich kann mich auf deine Hilfe verlassen?«

»Darüber reden wir heute Abend.«

»Rudolf, wenn mein Mann ahnte – –«

»Bah! würde er meine Darlehen doch nicht zurückerstatten.«

Das Gespräch verlor sich jetzt wieder in unverständliches Gemurmel. Holmer stand auf heißen Kohlen, er hatte seine Anwesenheit schon mehrfach durch Räuspern anzudeuten versucht, jetzt hüstelte er ziemlich laut.

Die Portiere des Nebenzimmers öffnete sich, und eine hohe Frauengestalt, deren Wangen unter einer Puderschicht erglühten, erschien auf der Schwelle.

»Mein Herr!« sagte sie, unangenehm überrascht, »ich hatte keine Ahnung, daß jemand im Salon ist.«

»Ihr Diener bat mich hier einzutreten,« erklärte Holmer mit einer leichten Verbeugung.

»Mein Diener. – Bitte, einen Augenblick.« Sie öffnete die Türe nach dem Flur und rief hinaus: »Jean, warum haben Sie den Herrn nicht gemeldet?«

»Gnädige Frau hatten befohlen, nicht gestört zu werden,« antwortete grinsend der Bursche.

»Sie sind ein Esel!« zankte höchst ungnädig die Gnädige und schlug die Türe zu.

»Ich komme wegen des Zimmers.«

»Und mußten lange warten?«

Holmer war galant genug zu versichern, daß er eben erst eingetreten sei.

Die Dame atmete erleichtert auf. »Sie sind wohl Mitglied des Reichstags?«

»Vorerst noch nicht, gnädige Frau.«

»Ich weiß selbst nicht, wie ich zu dieser merkwürdigen Vermutung komme, aber als ich Sie sah, glaubte ich, einen Politiker oder jungen Diplomaten vor mir zu haben.«

»Sehr schmeichelhaft, aber nicht zutreffend.«

»Mein Irrtum ist verzeihlich, wenn Sie bedenken, daß in unserer Straße fast ausschließlich distinguierte Herren wohnen, von denen mindestens jeder Reserveoffizier ist.«

»Ist diese Würde unerläßlich, um hier ein Zimmer zu ermieten?« fragte Holmer, während ein sarkastisches Lächeln seine Lippen umspielte.

»Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch, ich will damit nur sagen, daß wir Rücksicht auf die gesellschaftliche Stellung unserer Mieter nehmen müssen.«

»Nun, ich bin Schriftsteller.«

»So – Schriftsteller! – Das Zimmer mit Kabinett kostet hundertfünfzig Mark pro Monat, fünfzehn Mark Frühstück, fünfzehn Mark Heizung, fünfzehn Mark Beleuchtung und fünfzehn Mark Bedienung.«

»Also netto zweihundertzehn Mark?«

»Pro Monat. Finden Sie den Preis zu hoch?«

»Im Gegenteil – ich habe noch nie so billig gewohnt.«

Frau Rat Zernitzky biß sich auf die Lippen, gab sich aber den Anschein, als hätte Sie den Sinn der Antwort nicht begriffen. »Darf man fragen, wo Sie zur Zeit Ihr Domizil haben?«

»Gewiß,« erwiderte Holmer, verletzt durch die Geringschätzung, mit der er sich behandelt fühlte. »Im Monopol.«

Die Gnädige hatte verstanden, aber bevor sie antworten konnte, erschien Zipatsch unter der Portiere, drehte zwischen den Fingern die gewichsten Spitzen seines aufgezwirbelten roten Schnurrbarts und sagte:

»Pardon! Frau Rat, wenn Sie erlauben, möchte ich mich bald verabschieden.«

»Bitte, lassen Sie sich durch mich nicht stören,« erklärte Holmer, »ich kann nochmals vorüberkommen.«

»Wie Ihnen beliebt – wenn Sie sich für das Zimmer interessieren, soll es Ihnen der Diener zeigen.«

»Danke, ein andermal, wenn gnädige Frau mehr Zeit haben. Habe die Ehre!« –

Holmer hatte das elegante Haus verlassen und mit Eifer seine Zimmersuche fortgesetzt, deren Resultat ihn jedoch überzeugte, daß in diesem Viertel die geforderten Mietpreise über seine Mittel gingen. Kurz entschlossen wandte er sich deshalb nordwärts, durchschritt die Breite des Tiergartens und versuchte in der Nähe des Helgoländer Ufers aufs neue sein Glück.

Gleich das erste Haus, das er betrat, hatte etwas Anheimelndes für ihn. Peinliche Reinlichkeit, größte Stille, Sonnenschein schon im Treppenhause. Wohlgemut kletterte er zur dritten Etage empor. Eine behäbige, geschmackvoll gekleidete junge Frau mit einem Vollmondgesichtchen und tiefe Grübchen in Wangen und Kinn öffnete auf sein Klingelzeichen und führte ihn, nachdem er ihr den Zweck seines Besuches mitgeteilt hatte, nach einem freundlichen Zimmer.

»Das ist es,« sagte sie, »zwei Fenster nach Süden und Separatausgang.«

»Und der Preis?« fragte Holmer.

»Darüber reden wir später, sehen Sie es sich nur erst genau an. Sie sind kein Berliner?«

»Nein.«

»Ich auch nicht, ich bin Rheinländerin.«

»Ah! da sind wir ja beinahe Landsleute.«

»Das freut mich. Ich hatte sofort an dem Klang Ihrer Sprache erkannt, daß auch Ihre Wiege nicht fern von den Ufern des Rheines gestanden. Schon der Gedanke, daß ich einen Landsmann vor mir habe, ruft hundert liebe Erinnerungen an die Heimat in mir wach.«

»Sie sind noch nicht lange in Berlin?«

»Zwei Jahre. Mein Mann wurde hierher versetzt, starb aber schon einige Monate nach unserer Uebersiedelung.«

»Das ist traurig.«

»Allerdings, namentlich wenn man so ganz allein steht wie ich. Nun, wie gefällt Ihnen das Zimmer?«

»Bis jetzt recht gut.«

»Und sicherlich später noch besser. Bitte, sehen Sie sich auch mein Logis an, und wenn Ihnen meine Akkuratesse zusagt, dann bedenken Sie, daß ich das Hauswesen allein besorge und nur für die grobe Arbeit eine Scheuerfrau halte. Das ist der Salon und hier das Wohnzimmer, da sitze ich den ganzen Tag und unterhalte mich mit meinem Kanarienvogel.«

»Die große Photographie da ist wohl Ihr Herr Papa?« fragte Holmer und deutete auf ein Brustbild, das einen Fünfziger mit graumeliertem Bart, großer Glatze und ungewöhnlich hohem Stehkragen darstellte.

»Nein, das ist mein Mann – er war zwanzig Jahre älter als ich. Es ist die letzte Aufnahme, da war er schon nicht mehr rüstig. Seit seinem Tode fühle ich mich doch recht einsam in der großen Stadt.«

»Das wird bei Ihrer Jugend ja voraussichtlich nicht immer so bleiben.«

»Immer! Wenn ich mich wieder verheiraten wollte, müßte ich auf meine Witwenpension verzichten und nach testamentarischen Bestimmungen das Vermögen meines Mannes an dessen Geschwister herausgeben. Da ziehe ich es doch vor, das zu behalten, was ich besitze – die Ehe ist sehr oft ein zweifelhaftes Geschäft. Wollen Sie sich nicht das Zimmer nochmals ansehen?«

»Nicht nötig, aber der Preis würde mich interessieren.«

»Nun, wie hoch glauben Sie?«

»Das ist eine heikle Frage.«

»Ich will gleich bemerken, daß ich das Zimmer nur an jemand abgebe, der mir gefällt, und daß sich darnach der Preis richtet.«

»Also muß ich wieder fragen, gefalle ich Ihnen?«

»Ich hoffe, wenn wir uns näher kennen lernen.«

»Das kann aber doch erst nach der Ermietung geschehen.«

»Weshalb? Wir können uns auch schon vorher über manches aussprechen. Sie sind mir sympathisch, weil Sie ein Landsmann von mir sind und auf mich einen günstigen Eindruck machen. Was ich suche, das ist ein Mieter, der mir meine Einsamkeit erträglicher macht, jemand, mit dem ich ab und zu auch ein paar Worte plaudern kann. Sie werden denken, ist das eine emanzipierte Witwe, aber warum soll ich mit meinem Verlangen hinter den Bergen halten? Ich mag keinen Griesgram um mich haben.«

Holmer sah die junge Frau, die aus ihrem Herzen keine Löwengrube machte, lächelnd an und sagte: »Im Grunde genommen haben Sie recht, ob ich aber Ihren Erwartungen entspreche, ist eine andere Sache.«

»Deshalb reden wir ja darüber. Ich muß nicht vermieten und tue es auch des Gewinnes wegen nicht, ich will nur nicht vertrauern in diesen vier Wänden. Ich habe ein Recht auf Freude und will es geltend machen, solange ich jung bin.«

»Kommt Ihnen Ihr Vorhaben nicht gefährlich vor?«

»Nicht gefährlicher als wenn ich als alleinstehende Frau ohne solche Voraussetzungen an einen Herrn vermiete. Ich muß meine Würde zu wahren wissen, das ist es, worauf es ankommt.«

Holmer mußte dieser Ansicht zustimmen und hätte vielleicht das verlockende Anerbieten in Betracht gezogen, wenn die Beziehungen zu Emilie nicht gewesen wären.

»Ich bin,« nahm die lebenslustige Witwe nach einer kleinen Pause wieder das Wort, »zwei lange Jahre in Sack und Asche gegangen, nun aber will ich wieder unter Fröhlichen fröhlich sein. Ich will wieder singen, wenn ich jemand um mich habe, der mich begleitet. Sie spielen doch Klavier?«

»Ein wenig.«

»Das genügt. Finden Sie es nicht auch gemütlicher, gemeinsam den Tee zu schlürfen und etwas zu knuspern, oder eine festliche Veranstaltung aufzusuchen, selbstredend jeder Teil für seine eigene Rechnung, als allein im Roßgang des Lebens wandeln?«

»Was aber wird die Welt dazu sagen?«

»Die Welt! was kümmert mich die Welt. Legen Sie Wert auf ihr Urteil? Ich nicht. Ich bin unabhängig und hoffe, daß Sie es gleichfalls sind – ist das nicht der Fall, ändert das natürlich die Sache. Doch, Sie wissen noch immer nicht, was das Zimmer kostet. Dreißig Mark, finden Sie diesen Preis zu hoch?«

»Zu hoch nicht, aber ich muß noch überlegen, ob – – –«

Die junge Frau ließ ihn nicht zu Ende reden, sondern lachte hell auf und rief: »Aber und überlegen! Sie mieten das Zimmer nicht, das weiß ich nun. Ich hätte aber auch gar nicht so rasch zugeschlagen, als Sie vielleicht nach meinen Worten annahmen. Mindestens hätte ich Erkundigungen über Sie eingezogen, wie ich das bei Ihren Vorgängern gleichfalls getan und deshalb noch keinen Mieter nach meinem Geschmack gefunden habe.«

»Dann wäre ich wohl auch abgeblitzt?«

»Schon möglich, vielleicht auch nicht. Ueberlegen Sie sich die Sache in Ruhe – bis morgen will ich Ihnen das Zimmer frei halten.«

Als Holmer wieder auf der Straße war, dachte er mißmutig darüber nach, wie schwer es sei, ein gemütliches Heim zu finden, und ob es nicht klüger wäre, eine Pension aufzusuchen, statt seine Zeit mit fruchtlosen Bemühungen zu vergeuden. Trotzdem wollte er es nochmals wagen, und so sah ihn der nächste Morgen wieder auf der Suche. Straße auf, Straße ab, Treppen auf, Treppen ab, ging es stundenlang. Je mehr er Räume ansah, desto wählerischer wurde er, aber auch die Vermieter stellten zum Teil unerfüllbare Bedingungen, oder ihre Wohnungen boten Annehmlichkeiten, auf die er verzichten mußte. Der eine Wirt wollte tagsüber das Zimmer selber benützen, der andere forderte unsinnig hohe Preise, der nächste hatte eine ganze Herde »Möblierter«, und der folgende eine Musikschule in der Wohnung. Einer erkundigte sich nach seinem Religionsbekenntnis und erklärte, nur einen Mieter aufzunehmen, der Sonntags die Kirche besuche; ein anderer hatte drei Töchter und ließ durchblicken, daß bei ihm ein Zimmerherr Gelegenheit habe, eine tüchtige Ehefrau heimzuführen, und ein dritter erkundigte sich angelegentlich, als er hörte, daß der Suchende Schriftsteller sei, ob er auch nicht sozialdemokratischen Tendenzen huldige, da er als Fahnenträger in einem Kriegerverein unmöglich mit einem Umsturzmann unter einem Dache wohnen könne. Endlich krönte Erfolg seine Beharrlichkeit, denn er entdeckte in der Nähe des Halleschen Tores ein Zimmer, das im großen und ganzen seinen Wünschen entsprach. Es befand sich in der dritten Etage eines ruhigen Hauses, das schräg einer Kirche gegenüber, an einem großen, mit Schmuckanlagen versehenen Platze lag. Von den nach Westen gelegenen Fenstern schweifte der Blick über die auf der anderen Straßenseite befindlichen Häuser hinweg, nach einer Anzahl alter Friedhöfe, deren hochragende Baumkronen die Nähe eines Waldes vortäuschten und der Aussicht einen anmutigen Abschluß verliehen. Das Zimmer, das früher geschäftlichen Zwecken diente, war in der üblichen Weise möbliert und hatte nur einen, durch Doppeltüren verschließbaren Ausgang, welcher direkt nach der Treppe führte. Die Wirtin, eine Altberlinerin, wohnte eine Etage höher und kam mit ihrem Zimmerherrn nur gelegentlich der Mietzahlung in Berührung, da Bedienung und Reinigung durch eine, im Hinterhause wohnende, Scheuerfrau besorgt wurde. Holmer verständigte sich rasch über den Preis und die sonstigen Bedingungen und bezog bereits nach drei Tagen sein neues Quartier, in dem er sich bald heimisch fühlte und sich ungestört seinen Arbeiten hingeben konnte.


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