Adolf Stoltze
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Adolf Stoltze

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Kapitel 2.

Handelt von Emilie und anderen Leuten, auch solchen, die in der Wahl ihrer Eltern vorsichtig waren.

Die Sonne war hinter Moabit verschwunden, und den Westhimmel säumten lichte Rosawölkchen, die sich in den dunkeln Wassern des Humboldthafens spiegelten. Straßen und Plätze, die tagsüber menschenleer gewesen, belebten sich mit heimkehrenden Touristen und Spaziergängern. Hie und da tauchte ein Trupp staubbedeckter Radfahrer auf, die Lenkstangen ihrer Maschinen mit Kirschblüten, die sie in Werder erhandelt hatten, reich geschmückt. Trambahnwagen und Omnibusse füllten sich, und aus den Restaurants erscholl lautes Stimmengewirr. Alles strebte den heimischen Penaten oder einer Bierquelle zu, um sich von den Strapazen des Vergnügens zu erholen oder für den zweiten Feiertag neue Unternehmungen zu beraten.

Holmer hatte sein Heim verlassen und war auf Umwegen durch eine Anzahl Straßen geschlendert und schließlich in die Invalidenstraße eingebogen, um von dort aus, längs dem Hafen, den Lehrter Bahnhof zu erreichen.

Es lag ihm wenig daran Emilie zu begegnen, und dennoch verdroß ihn der Gedanke, sie verfehlen zu können. Er hatte das Bedürfnis mit jemand zu plaudern, wer es und über was es auch sei, denn er fühlte sich einsam in der großen Stadt, zumal an Sonntagen, wo seine wenigen Bekannten das gewohnte Stammlokal nicht aufsuchten. Emilie hatte, das gestand er sich selber zu, eine eigene Art ungenierter Offenheit, die ihm ebenso gefiel wie ihre dunkeln Augen, die eine unbekannte Welt zu suchen schienen – aber – konnte diese Begegnung von dem jungen Mädchen nicht als eine Annäherung betrachtet werden, die Hoffnungen in ihrer Seele erweckten, die er nicht beabsichtigte? Andere junge Männer machen sich sonst weniger Gedanken über solche Fragen, aber Holmer war bemüht alles ferne zu halten, was ihn zerstreute oder von seinen ehrgeizigen Zielen abbringen konnte.

Von solchen widerstreitenden Empfindungen erfüllt, betrat er den Platz vor dem Bahnhofe und überflog mit suchendem Auge die Menge, die eben mit dem Hamburger Zuge angekommen war. Es war jedoch völlig unmöglich, in dem sich hin- und herschiebenden Gewühl die Gesuchte herauszufinden und zu fixieren, und als sich die Reihen lichteten, wandte er enttäuscht dem Bahnhofe den Rücken, um auf demselben Wege, den er gekommen, wieder zurückzugehen. An der Alsenbrücke blieb er eine Weile stehen und sah, über die Brüstung gebeugt, gelangweilt zu den Schiffen hinunter, deren Bewohner auf Deck saßen und mit gleichgültigen Blicken die Passanten musterten. Plötzlich berührte eine weiche Hand seine Schulter, und eine bekannte Stimme sagte: »Suchen woll die Schifferin, die kleene?«

Holmer schaute angenehm überrascht empor und in das erhitzte Gesicht Emiliens, das die Freude über diese Begegnung nur schwach verbarg. »Nein, ich suche sie nicht mehr,« antwortete er galant, »habe sie ja eben gefunden.«

Emilie ward noch röter und rief: »Nee, so'n Zufall!«

»Sie wollten doch in der Invalidenstraße eine Freundin besuchen, und das ist der Weg dorthin.«

»Allerdings, aber – da sind Se uff jut Glück –?«

»Ihnen entgegengegangen? Nach einer Richtung muß man seine Schritte lenken, Fräulein Emilie.«

Ein triumphierendes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie mit einem koketten Augenzwinkern antwortete: »Nu weeß ich wenigstens, daß man bei Ihnen seine Zunge hüten muß.«

»Im Gegenteil, geben Sie mir nur oft solche Winke.«

»Winke – na sowas! Ich habe doch bloß jesagt, daß ich meine Schwester in Spandau unsicher machen würde – und Sie haben nich mal Notiz davon jenommen.«

»Es scheint doch.«

»Das wollen Se mir bloß einbilden. Ich sehe meine Schwester höchstens mal die Feiertage, sonst 's janze Jahr nich. Die hat ihre Not mehr wie unsereener.«

»Ist sie nicht gesund?«

»Na ob – 'ne janze Schachtel Rangen hat se – bei dem Jehalt von so'n Unterbeamten.«

»Wenn sie nur zufrieden ist.«

»Sind Sie mir stille mit die Zufriedenheit. Die Dummen sind zufrieden, die nich merken, was se alles entbehren. Nee, ehe ich mir so verheirate, bleibe ich lieber ledig, alleene hungert's sich schöner.«

Sie waren langsam bis zur Mitte der Brücke gegangen und hatten sich über den Quersteg nach der Alsenstraße gewandt, ohne ein bestimmtes Ziel für ihre Wanderung ins Auge zu fassen.

»Meine Schwester,« fuhr Emilie fort, »hat's jroße Los nich jezogen. Enn Witwer mit 'nem Jungen und der Mutter der ersten Frau – na, und jedes Jahr enn Kleenes – ich danke! Die Schwiejermutter von meinem Schwager müßten Se kennen, die kommandiert's Janze, und keen's darf uffmucksen – zu tolle! Nu, freilich spendiert se ooch ihre Pension, von 'nem ollen Herrn, wo se früher mal jedient hat, der Wirtschaft – aber anjenehm for meine Schwester is es doch nich.«

»Das will ich Ihnen gerne glauben,« stimmte Holmer zu und verfolgte mit Interesse ihr Geplauder.

»Wie ich heute Morjen unanjemeldet nach Spandau komme,« nahm Emilie wieder das Wort, »is die janze Familie schon mobil. »Kinder, was jeht vor?« frage ich. »Wir jehn uff den Bock und dann nach Pichelswerder,« sagt die Schwiejermutter, »wenn du dabei sein willst, bist du injeladen.«

»Und die Kinder?« erkundige ich mir. Ich habe nämlich jroßen Respekt vor kleene Kinder.«

»Nur der Alteste jeht mit, die andern bleiben bei Frau Müllern, die mit uff demselben Flur wohnt – bis um sechse sind wir wieder zurück.«

Also jut, ich mit ins Amüsement. Schwiejermutter berappt alles alleene, weil se heute Jeburtstag feiert, sonst is se höllisch jeizig. Der Morjen is herrlich, keen Wölkchen am Himmel. Uff dem Spandauer Bock wird jefrühstückt. Was nich uffjezehrt wird, wickelt Schwiejermutter ins Morjenblatt und steckt's, wie das ihre Jewohnheit is, in Rejenschirm, ohne den se nie ausjeht. Dann machen wir noch enn paar Statiöner; Schwiejermutter winkt zwar rejelmäßig ab, aber mein Schwager schickt seinen kleenen Stiefsohn ins Treffen, und dem kann Jroßmama nischt abschlagen. Nur zweemal hat se enn harten Deez und ruft: »Nee, nich forn Juliusturm jeh ich mit rinn! ne Bierreise steht nich ins Programm;« dann zieht se's Portemonnaie aus der Tasche, nimmt enn paar Märker raus, knüpft den Jips ins Taschentuch, schiebt's in Parapluie und sagt: »Dat is jespart, morjen is ooch noch Feiertag!«

Der Schirm wird, je weiter wir jehn, immer wohlhabender, und wie wir endlich an die Havel kommen, hat er 'nen Umfang wie enn halbjefüllter Luftballon, und die Schnur, mit der er zujebunden is, reißt alle Oojenblicke entzwee.

Mein Schwager, der bei der Marine jedient hat, is for ne Kahnfahrt, also jondeln wir uff Pichelswerder zu. Uff der Mitte vom Fluß will Schwiejermutter mit mir Platz wechseln, weil ihr die Sonne ins Jesicht scheint. Sie erhebt sich, und da der Kahn schwankt, balanciert se mit dem Rejenschirm in der Luft rum. Platsch! platzt die Schnur, und der janze Krempel rin in die Soose. Nur enn Rippenspeer bleibt an Schwiejersmutter Hut hängen, und 'ne Butterstolle fällt mit die jeschmierte Seite meinem Schwager zwischen Weste und Schmisett – sonst alles rinn in die Havel. Schwiejermutter is verschmettert, sinkt uff die Bank und quietscht: »Willem! Um Jotteswillen, Willem, fisch det Taschentuch raus, es sind vier Märker drinn!« Mein Schwager Willem langt ooch mit dem Ruder darnach, aber wie er's berührt, sinkt's unter uff Nimmerwiedersehn.«

Holmer amüsierte sich köstlich über die Erzählung seiner Begleiterin und die lebhafte Art ihres Vortrages und erkundigte sich, ob das kleine Malheur der Stimmung keinen Abtrag getan.

»Mit dem Pläsiervergnüjen war's alle,« erwiderte Emilie. »Schwiejermutter jreinte um den versunkenen Jibs, war uffjebracht, weil wir's Lachen nich verbeißen konnten und schwor, so 'ner undankbaren Bande keenen Jroschen mehr zu spendieren. Uff Pichelswerder aßen wir Mittagbrot, und ich war froh, wie wir wieder nach Spandau fuhren, wo ich mir schleunigst dünne machte.«

Es war allmählich dunkel geworden und ringsum flammten die Straßenlaternen auf. Emilie hatte sich so in die Schilderung ihrer Erlebnisse vertieft, daß sie jetzt überrascht stehen blieb, sich verwundert umsah und rief: »Nu, hört sich allens uff! wie sind wir dann in die Siejesallee jekommen? ich wollte doch umjekehrt in die Invalidenstraße.«

»Ich dachte, Sie hätten das Projekt aufgegeben,« entschuldigte sich Holmer und sah ihr forschend ins Gesicht.

»Druff erpicht bin ich nich – aber ich habe jar nich bemerkt, daß wir vom rechten Weje abjekommen.«

»Ich denke, wir gehen so weiter.«

»Ja, jradaus, nich durch die schummerijen Anlagen.«

»Nach der Leipziger Straße.«

»Wo Se mir hinbringen, is gleich – ich finde mir überall mit der Elektrischen zurecht. Ja, ich wollte nach der Invalidenstraße zu 'ner Schulfreundin, die ladet mir immer inn, aber ich komme nich dazu, se mal uffzesuchen.«

»Daß ich Sie heute davon abgehalten, werden Sie mir also schwer anrechnen, Fräulein Emilie.«

»Warum? Vielleicht unterhalte ich mir so besser. Meine Freundin Therese hat enn plemperiges Liebes-Verhältnis mit 'nem abjedankten Leutnant, da weeß man doch nie nich, ob man rechte kommt.«

»Plemperig!– er erhält sie wohl?« wagte Holmer zu fragen.

»I wo! Er zahlt die Miete und ißt dafür bei ihr Abendbrot.«

»Das nenne ich praktisch.«

»Sie is Malerin.«

»Künstlerin?«

»Bewahre, Übermalerin.«

»Sie übermalt Photographien?«

»Ne, Lebkuchenherzen, ohne Vorlage.«

»Lebkuchenherzen, die werden doch mittelst Farbendruck hergestellt.«

»Nich alle, was ins Innere von Rußland kommt, muß mit der Hand jemalen sein, sonsten kooft's der russische Bauernbursche nich seiner Liebsten.«

»Woher wissen Sie denn das?«

»Von Theresen, die malt schonst seit Jahren for so'n Exportjeschäft und schreibt ooch die russischen Verse druff – aber nich in der Fabrik, dafor is se zu jroßspurig, sondern uff ihrer Bude.«

Sie waren in die Bellevuestraße eingebogen und näherten sich dem Potsdamer Tor. Als sie es erreichten, fragte Holmer seine Begleiterin, ob er sie in ein Restaurant einladen dürfe.

Emilie lehnte erst bescheiden ab, als er aber seine Einladung dringender wiederholte, meinte sie: »Hier is et zu teuer, weiter oben, in der Leipzigerstraße, is ooch jut.«

»Machen Sie sich über die Kosten keine Sorgen,« scherzte Holmer, »Sie werden so knappgehalten, daß mich die Zeche nicht umbringt.«

Emilie rückte den Hut zurecht, knöpfte das Jaquet halb auf, nestelte an der Bluse herum und wars dabei verstohlene Blicke in die großen Spiegelscheiben des Restaurants, die ihr Bild in einer Weise zeigten, daß sie, zufrieden damit, still lächelnd vor sich hinsah.

Es war ein geräumiges, elegantes Lokal, das sie betraten. Mehrere Säle schlossen sich aneinander und täuschten durch ihre mächtigen Spiegel weite Perspektiven vor. Hunderte von Glühlichtern verbreiteten eine angenehme milde Helle. Düfte, pikant gewürzter Speisen, durchfluteten die Luft. Kellner, in langen weißen Schürzen, eilten geschäftig hin und her, die zahlreichen Gäste zu bedienen, und fortgesetzt drehte der uniformierte Pikkolo den Glastriller an der Türe, durch den unausgesetzt Besucher herein- und hinausströmten. Emilie hatte ein derartiges Restaurant noch nie betreten und folgte Holmer, den sie gebeten vorzugehen, auf seiner Suche nach einem freien Tische, wie ein ängstliches Kind seiner Bonne.

Erst als sie zwei leere Stühle gefunden und sich niedergelassen hatten, wich die Befangenheit von ihr, und sie sah sich um und flüsterte: »Ist das noblig hier! Verkehren Sie oft sowo?«

»Hier war ich noch nicht, aber auch sonst besuche ich nur bessere bürgerliche Wirtschaften – schon der Gesellschaft wegen.«

»Da müssen Sie aber eklig reich sin.«

»Nicht einmal – ich besitze ein kleines Vermögen und das Fehlende verdiene ich mir mit der Feder.«

Der Kellner trat heran und legte die Abendspeisekarte vor. Holmer bat Emilie zu wählen. Sie lehnte verlegen ab und überflog erst, auf wiederholtes Drängen, mit flüchtigen Blicken die Preisangaben, um sich schließlich für Schweizerkäse zu entscheiden.

»Sollen Sie bekommen, wenn wir gespeist haben. Ich sehe schon ich muß bestellen.« Und er tat es. Die Speisen, Fisch und Braten, wurden gebracht, und als die Mahlzeit beendet war, und ein frischer Krug Exportbier vor Emilie stand, löste sich allmählich ihre Zunge, und sie plauderte wieder mit der ihr eigenen Ungezwungenheit.

»Das hatte ich mir nicht träumen lassen,« fing sie an, »als ich Sie zum ersten Male am Fenster jeseh'n, daß ich mit Sie jemals zum Bier jehn würde. Damals schrieben Se 'nen Roman – is er schon jedruckt?«

»So rasch, liebes Fräulein, geht das nicht – er liegt dem Verleger vor.«

»Da kann man ihn nich mal lesen?«

»Vorerst nicht.«

»Sie haben doch 'ne Abschrift?«

»Das ursprüngliche Manuskript, darin würden Sie sich aber nie zurechtfinden.«

»Ich habe es mir immer für köstlich vorjestellt, dabei zu sein, wenn so'n Werk entsteht. Haben Se das alles ooch erlebt, was Se schreiben?«

»Das weniger, aber das Leben gab die Anregung dazu.«

Emilie schwieg und schien über das Gehörte nachzudenken. Nach einer Weile sagte sie: »Dichten Se schon lange?«

Holmer trank ihr zu und antwortete, belustigt über ihre naiven Fragen: »Genau weiß ich es nicht, aber es sind mindestens zehn Jahre, daß ich mit einem Liebeslied das Geschäft eröffnete.«

»Da hatten Se damals schon 'ne Flamme?«

»Ist das nötig, um Liebeslieder zu schreiben? Was man nicht hat, stellt man sich vor.«

Emilie sah ihn mißtrauisch an, erhob schelmisch drohend den Finger und sagte: »Herr Holmer, ich gloobe beinahe, Sie sind ooch so eener!« Dann rückte sie ihren Stuhl etwas näher und fragte. »Wie sind Se eijentlich dazu jekommen, jrade Schriftsteller zu werden? Das is doch keen eijentliches Jeschäft nich, und ich stelle mir's höllisch schwer vor.«

»Meine Freunde entdeckten, daß ich Talent habe, noch bevor ich selbst eine Ahnung davon hatte. Und das kam so: Bei einem Abschiedskommers richtete ich einige Reimereien an die Abiturienten, welche die Universität bezogen, und sofort wurde ich zum Koronadichter promoviert. Das war recht nett, solange es im engeren Kreise blieb, als es aber in meiner Vaterstadt ruchbar wurde, daß ich Verse schmiedete, war's mit meiner Ruhe vorbei. Der Sonntagsreiterverein und die Vaterländische Skatgesellschaft, der Heringsesserbund und die Strohwitwervereinigung, der Internationale Rauchklub und die Ziegenmilchtrinkergemeinde, und noch viele andere wichtige Verbindungen beehrten mich mit ihren poetischen Aufträgen. Wenn neun Militäranwärter zusammenkamen, um ein Fäßchen Bier auszutrinken, mußte ich einen Prolog dazu schreiben; wenn der Verein der Eissportler sein Sommerfest feierte, mußte ich einen Prolog dazu schreiben, und wenn die Gesellschaft der Insektenfreunde Fahnenweihe hielt, mußte ich wieder einen Prolog dazu schreiben. Es war einfach zum Verrücktwerden! Ohne einen Prolog bei aller und jeder Gelegenheit schien die gesamte deutsche Vereinsmeierei Bankrott zu machen.«

»Das is hier jenau so! 'Ne Tante von mir hat kürzlich im Witwenverein »Heißes Blut« ooch eenen runterjeleiert.«

»In Berlin lasse ich mir die Sache noch gefallen, da besteigen die Versebedürftigen entweder den Pegasus selbst, oder wenden sich an eine Gelegenheitspoeterei mit beschränkter Haftpflicht, die alles, was auf ihrem Gebiete verlangt wird, zum Zeilenpreise liefert; aber in den Provinzialstädten, wo diese segensreichen Institute fehlen, werden befähigte Schriftsteller förmlich dazu gepreßt, ihr Talent privaten Vergnügungen zur Verfügung zu stellen.«

»Hier bei uns,« meinte Emilie, »muß aber ooch die Jelejenheitsdichterei 'nen joldnen Bodens haben, denn janz in meiner Nähe wohnt eener, der hat drei Jesellen druff sitzen.«

»Es gibt überhaupt wunderbare Existenzen hier,« bemerkte Holmer und nahm mit freundlichem Prosit einen kräftigen Schluck aus seinem Bierkrug. »Von Zeit zu Zeit besuche ich eine Lesehalle in der Nähe des Spittelmarkts. Man zahlt zehn Pfennige Entree und findet dortselbst Tausende von Zeitungen. Die Räume bestehen aus einer Flucht niedriger Zimmer, in deren Mitte längliche Tische für die Leser aufgestellt sind. Längs den Wänden hängen die Journale, oder sind in dort aufgestellte Regale untergebracht. Man bedient sich selbst und bringt auch die Zeitungen wieder zur Stelle zurück, von wo man sie genommen.

Schon öfters, und auch vorgestern wieder, war mir ein älterer, hagerer Herr, mit vorstehenden Backenknochen und grau meliertem, schlecht gepflegten Bart aufgefallen, der mir gegenüber saß. Er hatte eine große Anzahl Tagesblätter vor sich aufgestapelt, die er mit nervöser Hast überflog. Kaum war er mit einem Stoß zu Ende schleppte er einen anderen herbei, und seine fieberhafte Tätigkeit begann aufs neue. Hie und da machte er sich stenographische Notizen oder schob die Brille auf die Stirne und schielte mit scheelsüchtigen Blicken nach dem nächsten Zimmer, wo unter zahlreichen Lesern, ein junger Mann saß, der gleichfalls mit äußerster Flüchtigkeit Zeitungen durchforschte. Ein Stellesuchender konnte mein Gegenüber nicht sein, denn er sah sich die Annoncen nicht an und las auch keine Fachblätter; seine Aufmerksamkeit galt einzig und allein dem Feuilleton, dem Lokalen und den Gerichtsverhandlungen. Als der Alte bemerkte, daß ich ihn über meine Zeitung hinweg spähend beobachtete, wurde er noch nervöser, und als sich unsere Blicke zufällig begegneten, warf er plötzlich den Kopf in die Höhe, stierte mich mißtrauisch an und flüsterte heiser über den Tisch herüber: »Mein Herr, was fixieren Sie mich?«

Etwas verlegen, weil ich mich bei meinen Beobachtungen überrascht sah, antwortete ich höflich ausweichend: »Sie irren, nicht Ihnen, sondern dem ganzen Interieur hier gilt meine Aufmerksamkeit.«

»Das hat der da unten auch gesagt,« brummte verbissen der Alte und deutete mit einer flüchtigen Handbewegung nach dem jungen Manne im anderen Zimmer, »und jetzt sucht er mich aus dem Sattel zu werfen – mich einen Familienvater, der Schurke!«

»Ich bedauere, Sie nicht verstanden zu haben,« versetzte ich.

»Merkwürdig!« höhnte mein Visavis. »Sie sind doch, wie ich vermute, auch einer von der Feder, Zeitungskorrespondent oder dergleichen.«

»Allerdings bin ich Schriftsteller, aber ich schreibe nur ausnahmsweise etwas für die Presse.« Mit diesen Worten schob ich ihm meine Karte zu.

Nachdem er sie gelesen, hellten sich seine Züge merklich auf, und, wie von einer Sorge befreit, sagte er zu mir: »Pardon, man kann sich täuschen! Aber wenn man einmal einen glücklichen Gedanken hatte, den ein anderer aufschnappte und ausbeutete, dann wird man eben mißtrauisch gegen seine Herren Kollegen.«

Ohne eine Antwort auf die dunklen Anspielungen des mürrischen Graukopfes zu geben, wollte ich in der Lektüre meines Journals fortfahren, als sich derselbe erhob, um den Tisch ging und sich neben mir niederließ. »Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig,« flüsterte er, »und Sie sollen sie haben: Wie Ihnen bekannt, ist das Brot eines Reporters, und ich bin Reporter, nicht gerade mit Honig bestrichen; man muß immer auf neue Tricks sinnen, um mit seinen Notizen ungekürzt ins Lokale zu kommen. Nun hatte ich den Einfall, in Provinzialblättern, die den Redaktionen nicht zu Gesicht kommen, nach den Schicksalen der im In- und Ausland lebenden Berliner zu forschen und dann mein gesichtetes Material den Zeitungen zur Verfügung zu stellen. Wurde einem Berliner irgendwo eine Auszeichnung zu teil, oder einer zu längerer Gefängnisstrafe verurteilt, machte einer eine Erfindung oder ging einer in Aufsehen erregender Weise mit eines anderen Frau durch; bekam einer einen Orden oder eine Tracht Prügel, ganz einerlei, er kam in meine Korrespondenz: »der Berliner im Ausland«, und ich verdiente ein hübsches Stück Geld dabei.«

»Das ist aber eine Tätigkeit,« warf ich ein, »die noch vor der Tretmühle oder dem Roßgang kommt.«

»Da haben Sie freilich recht,« stimmte mir der Reporter bei. »Wenn man täglich seine zwei- bis dreihundert Zeitungen durchstöbert hat, ist's alle mit dem selbständigen Denken. Aber es war lohnend, solange einer allein die Kuh gemolken; war solange lohnend, bis der Halunke dort mir ins Garn ging. Hier, wo ich eben sitze, saß er noch vor einem Jahr und trug mir seine Mitarbeit an, und ich war töricht genug, darauf einzugehen und die Schlange an meinem Busen zu nähren. Als er mir meine Vorteile abgesehen, kündigte er seine Tätigkeit und ward mein Konkurrent. Was konnte ich dagegen tun? Nichts!«

»Sie hätten sich vielleicht mit ihm verständigen können,« meinte ich.

»War auch meine Absicht,« erwiderte der Alte, »aber er setzte sich aufs hohe Roß, wollte dem »Berliner im Ausland« einen literarischen Anstrich geben und feuilletonistisch ausbeuten, und das paßte mir nicht. Es war auch gar nicht seine Absicht, er wollte mir die Sache nur verekeln. Ich ging sogar soweit, daß ich ihm die Hand meiner Tochter in Aussicht stellte, und ich darf wohl sagen, meine Tochter ist ein hübsches, kluges Mädchen und tüchtige Stenographin, aber er schlug sie aus – natürlich – der Schurke war verheiratet und hatte in Breslau Frau und Schwiegermutter sitzen. Nun werden Sie begreifen, weshalb ich gegen Kollegen mißtrauisch bin.«

Als Holmer mit der Leidensgeschichte des betrogenen Reporters zu Ende war, meinte Emilie, daß es bald Zeit zum Aufbruch sei: »Meine Freundin Lotte, mit der ich dasselbe Zimmer bewohne, wird Oojen machen, wenn ich so späte zu Hause komme.«

»Trifft sie denn immer vor Torschluß ein?« fragte Holmer.

»I wo! Die tuschelt noch auf der Straße mit ihrem Lulatsch, wenn ich schonst lange im Bette lieje – aber von mir is se das nich jewohnt.«

Holmer beglich seine Zeche und verließ mit seiner Begleiterin das Restaurant. Als sie ins Freie traten, bemerkten sie erst, daß das Wetter völlig umgeschlagen war. Ein rauher Wind blies aus Nordost über die Leipzigerstraße, und von dem grauschwarzen Himmel grieselte ein kalter Regen. Der Asphalt des Fahrdammes glänzte im Schein der Bogenlampen wie ein schmutziger Spiegel, in dem sich schläfrige Droschkenpferde mit gesenkten Köpfen betrachteten.

Nachdem Emilie ihre Röcke mit Hilfe eines Halters, hochgeschürzt und ihren Entoutcas schützend über den neuen Hut, dessen Schonung ihr besonders am Herzen lag, ausgespannt hatte, bot ihr Holmer den Arm, den sie mit flüchtigem Erröten gerne annahm.

»So'n Wetter, nach dem herrlichen Tag!« murrte sie. »Es is man jut, daß ich am Dönhoffplatze Fahrjelejenheit nach der Frankfurter Straße habe.«

»Ich werde Sie begleiten,« bemerkte galant Holmer und preßte ihren Arm zärtlich an sich.

»Nee, das kann ich Ihnen nich anmuten.«

»Warum nicht? Ich genieße Ihre liebe Gesellschaft desto länger.«

»Is ooch was!« erwiderte sie leichthin und sah verstohlen nach ihrem Begleiter. »Wenn es nur nich so kühle wäre.«

»Sie frieren?«

»Manchmal so'n Schauer, ich hätte mir wärmer kleiden sollen.«

»Wir nehmen hier in der Nähe einen Grog, der wird Ihnen gut tun.«

»I wo, da wird es ja noch später.«

»Das ist weiter kein Unglück, Ihre Linie verkehrt bis ein Uhr nachts.«

Emilie widersprach nicht und folgte willig ihrem Begleiter, der sie in ein elegantes Café führte, welches sich in der ersten Etage eines monumentalen Hauses befand. Die Räume waren mit fürstlicher Pracht ausgestattet, und die Gesellschaft, welche darin verkehrte, schien von den Kämpfen ums tägliche Brot keine Ahnung zu haben. Alte, jugendlich zurechtgestutzte Gecken mit gefärbten Haaren und bis in das Genick gescheitelten Puppenköpfen, rekelten auf eleganten Divans und bemonokelten die anwesenden Damen, die zum Teil, wie gezähmte Lindwürmer, Tabaksqualm aus Mund und Nasenlöchern bliesen. Jugendliche Greise mit abgelebten Zügen und blöden Augen regalierten einige Lebefrauen mit französischem Sekt, den diese wie Wasser tranken oder verschütteten. Die übrige Gesellschaft setzte sich aus Fremden und aus Emporkömmlingen, welche durch den Besuch teuerer Lokalitäten beweisen wollen, daß sie der feinen Welt angehören, zusammen. Holmer nahm mit Emilie in der Nähe eines Tisches Platz, an dem zwei Herren mit aufgezwirbeltem Schnurrbart und zwei dekolletierte Damen saßen, die sich bald flüsternd, bald in auffallend lauter Weise unterhielten. Es schienen vorwiegend sehr eindeutige Witze zu sein, an denen sie sich erbauten, denn wenn auch die beiden Schönen nicht erröteten, gaben sie doch durch die Art ihres Lachens deutlich zu erkennen, daß es sich um gesalzene Pikanterieen handelte.

Mitten in diese gemütliche Unterhaltung warf plötzlich das jüngere Fräulein, eine Blondine mit schwarzen, stechenden Augen, halblaut die Frage hinein: »Herr Zipatsch, sind Sie noch nicht vorgeladen?«

Emilie, welche mit Wohlbehagen an ihrem Grog sog, warf Holmer einen bedeutsamen Blick zu und lauschte aufmerksam der Worte, die am benachbarten Tische sielen.

»Mich geht die ganze Geschichte nichts an,« erklärte gedämpft der mit Zipatsch angeredete Herr und drehte verdrossen seinen roten Schnurrbart zu nadelspitzen Fühlhörnern.

»Das hat Henry auch gesagt, aber ich fürchtete, Sie würden als Auskunftsperson vernommen.«

»Vor allem, Elsa, muß ich dich bitten, mich aus dem Spiele zu lassen!« wandte sich der andere Herr fast barsch an die Blondine. »Ich habe nur ganz beiläufig erwähnt, daß meinem Freund Zipatsch in der Eremitage eine unliebsame Geschichte passiert ist, bei der sich seine Begleiterin sehr korrekt benommen hat.«

»Natürlich, die Zernitzky benimmt sich immer korrekt,« höhnte Elsa.

»Man spricht von verheirateten Frauen nicht mit ihrem Familiennamen,« hofmeisterte sie abermals Henry.

»Danke für Knigge!« gab gereizt die Blondine zurück und warf ihre brennende Cigarette ärgerlich auf den Boden, daß die Funken sprühten. »Tust, als wenn die Sache in unserer Gesellschaft ein Geheimnis wäre – lächerlich!«

»Na, na, na!« beschwichtigte Zipatsch. »Das ganze Vorkommnis ist kaum der Rede wert. Ich lernte den Doktor von Reibenstein im Klub kennen, wer ihn dort eingeführt, wußte ich nicht. Beim Spiel erleichterte er mich mal um ein paar braune Lappen. Leutnant Bellmann mußte gründlicher dran glauben; natürlich, seine Schwester ließ sich den Hof von dem Herrn Doktor machen. Er gab sich eben als patenter Kerl, so echt wie unsereiner. Freitag trafen wir uns in der Eremitage. Leutnant Bellmann, in Zivil natürlich, mit seiner neuen Flamme vom Apollotheater; von Reibenstein, und ich als letzter mit Frau – na, ihr wißt ja wer – die ich zufällig auf dem Schillerplatz getroffen.«

»Bitte, Zipatsch, keine Entschuldigung!« rief mit spöttischem Lachen die zweite Dame, eine reife Schönheit mit kühn geformten Augenbrauen und sinnlich aufgeworfenen Lippen. »Ich bin nicht eifersüchtig – ihr Mann ist ja dein Freund.«

»Unsinn, Freund!« gab Zipatsch verächtlich zurück, »ich habe ihm mal ein paar hundert Mark geliehen – das ist die ganze Freundschaft. Na also, wir sitzen noch keine zehn Minuten, tritt ein Herr auf uns zu und flüstert dem Doktor von Reibenstein etwas ins Ohr. Der verfärbt sich, läßt die Arme sinken und stottert einige unverständliche Sätze. Noch bevor wir ahnen konnten, was vorging, erscheint ein zweiter Herr auf der Bildfläche, stülpt dem völlig Geknickten den Hut auf den Kopf und läßt dabei in seiner Tasche ein unheimliches Klirren vernehmen. Durch dieses Geräusch schien der Doktor aus seiner Erstarrung zu erwachen, denn er erhob sich und folgte schwankenden Schrittes den beiden Unbekannten, von denen der eine seinen Überrock über den Arm geworfen hatte.«

»Angenehme Situation für Kavaliere!« bemerkte die Blonde und ließ sich ihr Glas aufs neue mit Sekt füllen.

»Verflucht angenehm! Die Sache spielte sich glücklicherweise so rasch ab, daß keiner der Gäste merkte, was vorging. Wir hatten uns von unserem Staunen noch nicht erholt, als sich abermals ein Fremder unserem Tische näherte und sich höflichst erkundigte, ob der Herr, der eben das Lokal verlassen, uns bekannt sei? Meine Begleiterin, welche die Lage gleich übersah, schnitt uns die Antwort ab, indem sie kurz und bündig erklärte: »Nein, zum ersten Mal gesehen!« Sie konnte das mit gutem Gewissen behaupten, denn bei ihr war es der Fall. Der Detektiv, es war natürlich einer, verbeugte sich und ging. Wir verließen gleichfalls das Restaurant und zwar in so rosiger Stimmung, daß wir sogar auf das geplante Souper bei Dressel verzichteten. Leutnant Bellmann war derart erregt, daß er am nächsten Morgen keinen Dienst tun konnte, dafür aber durch seinen Onkel, der Justizrat ist, nach dem Gegenstand unseres Verdrusses recherchieren ließ. Resultat: Doktor von Reibenstein, alias Christoph Müller, erst Hausknecht, dann Kellner, jetzt von fünf Staatsanwälten gesuchter Hochstapler – sieben Jahre Zuchthaus hinter sich. Danke! so ein Lump!«

»Nun wird er sich mit euch herauszureden suchen,« meinte die Blondine.

»Unsinn! wird sich hüten seine Opfer zu nennen – ist schon von Hamburg reklamiert. Jetzt ärgern mich nur noch die zweitausend Märker, die er mir abgeknöpft.«

»Geschah dir recht!« zischelte schadenfroh die reifere Schöne. »Wärst du beim Spiel knauseriger und bei mir freigebiger, wäre uns beiden geholfen. Wie oft glaubst du wohl, Elsa,« wandte sie sich an ihre Freundin, »daß ich ihn um ein Boudoir im Jugendstil gebeten? Hundertmal, und immer vergeblich.«

»Dasselbe in grün, bei Henry!« rief gedämpft die Blondine. »Beständig die Hände auf den Taschen – und so etwas nennt sich Lebemann. Da ist von Wintershalter anders, hat Helene gestern einen neuen Landauer spendiert.«

»Warum nicht!« lachte Henry und warf einen Blick in seinen Taschenspiegel, um sich zu überzeugen, daß sich kein Härchen in seinen Scheitel gedrängt. »Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft. Von Wintershalter heiratet nächste Woche, da muß er sich den Rückzug sichern.«

»Rückzug ist gut!« bemerkte Zipatsch. »Wenn ich das Wort »Rückzug« höre, fällt mir 'ne Geschichte ein – großartig, klassisch, kann sie kaum zum besten geben.«

Da er sie aber doch zum besten gab, rückte die Gesellschaft dichter zusammen und lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit der im Flüsterton vorgetragenen Erzählung. Sie mußte sehr pikant gewesen sein, denn am Schlusse brachen alle in ein schallendes Gelächter aus, und die Blondine hob ihr Glas und sagte anerkennend: »Zipatsch, Sie sind doch ein pyramidales Schwein!«

»Pst!« mahnte Henry, »nicht so laut, die andern brauchen's nicht zu wissen.«

Emilie hatte ihren Grog ausgetrunken und erkundigte sich bei Holmer nach der Zeit, aber auch die animierte Gesellschaft in ihrer Nähe traf Anstalten zum Aufbruch. Zipatsch verlangte vom Zahlkellner die Nota; sie betrug für fünf Flaschen Sekt und einigen Speisen einhundertzehn Mark, die er beglich und noch ein ansehnliches Trinkgeld hinzufügte. Dann verließen sie in gehobener Stimmung den Saal, begleitet von den Bücklingen der Kellner und dem süßesten Lächeln der Büffetieren. Holmer und Emilie folgten, ohne sich der Mühe unterziehen zu müssen, für die Artigkeit des Personals extra zu danken.

Am Ende der Marmortreppe, über die der Weg nach der Straße führte, stand ein armes vergrämtes Mütterchen und bot den späten Gästen Zündhölzchen zum Kauf an. Der gutmütige Groom, der dort die Türe öffnete und schloß, hatte der alten siechen Frau gestattet, sich hinter dem Glasverschlag aufzustellen, wo sie Schutz gegen den kalten Regen fand.

Als sich die beiden Kavaliere mit ihren Damen der Alten näherten, streckte diese die knöcherne Hand mit der bescheidenen Ware aus und sagte im flehenden Tone: »Wachshölzchen, bitte Wachshölzchen! nur zehn Pfennig.«

»Verfluchte Bettelei!« fuhr Zipatsch auf und wandte sich dann ärgerlich an den erschrockenen Groom: »Nicht nur daß man von dem Gesindel auf der Straße attackiert wird, auch hier noch! Das alte Mensch soll arbeiten.«

Nach diesem Gefühlsausbruch verließ die Gesellschaft in rosigster Laune das Haus, bestieg ihr knurrendes Automobil, und gab dem Chauffeur die Weisung, sie nach einer anderen Stätte ersprießlicher Tätigkeit zu befördern.

Der Groom hatte die alte Frau bereits hinausgewiesen, als Holmer und Emilie ihrer ansichtig wurden. Emilie steckte ihr im Vorbeigehen heimlich ein Nickelstück zu, hing sich an den Arm ihres Begleiters und drängte zur Eile.

Es war der letzte Wagen der elektrischen Trambahn auf dieser Strecke, welcher sie nach der Frankfurterstraße brachte. Als sie ihn verließen, sagte Emilie: »Wir sind am Ziel, dort im dritten Hause wohne ich, im zweiten Hofe rechts. Nu müssen Se die janze Strecke bis zum Alexanderplatz alleene fahren – ich weeß wirklich nich, wie ich Ihnen danken soll für alles, was Se mir jeboten.«

Holmer lächelte und versicherte, daß er ihr Schuldner sei, da ihm dieser Abend stets eine angenehme Erinnerung bleiben werde. Dann aber fragte er sie plötzlich: »Und was gibt es morgen, Fräulein Emilie?«

Obgleich sie diese Frage erwartet hatte, durchschauerte sie doch ein beseligendes Gefühl, und sie antwortete mit vibrierender Stimme: »Sagen Se nich mehr, Fräulein Emilie – Emilie tut's ooch. Morjen – morjen muß ich Theresen in der Invalidenstraße besuchen, sonst wird se eklich falsch zu mir – und dann – dann –«

»Sind Sie bei mir.«

»Nee!« rief sie fast erschrocken. »Nee, uff Ihre Bude, das tu ich nich!«

»Sollen Sie auch nicht. Wenn es Ihnen recht ist, treffen wir uns um fünf auf dem Alexanderplatz an der Berolina.«

Emilie plänkelte mit Einwendungen und meinte, es ginge doch nicht an, daß sie seine Nobligkeit so ausnütze, und er dürfe sich ihretwegen keine weiteren Opfer auferlegen; als aber Holmer ihre Bedenken beschwichtigte und erklärte, keine kostspieligen Vergnügungen aufsuchen zu wollen, versprach sie pünktlich zur Stelle zu sein.

So waren sie flüsternd bis an das Haus, in dem sie wohnte, gekommen. Holmer hatte seinen Arm um ihre Taille gelegt, und als sie jetzt in den Schatten einer Litfaßsäule traten, preßte er ihre bebende Gestalt innig an sich. Er fühlte an seiner Brust ihren Busen sich heben und senken, und das wallende Blut der Tugend verlangte seine Rechte. Mit der freien Hand hob er ihr Kinn empor, und seine Lippen senkten sich in sinnlicher Glut auf die ihrigen. »Gute Nacht! gute Nacht, bis morgen!« hauchte er mit heißem Atem ihr ins Gesicht.

»Gute Nacht!« zitterte ihre Stimme und sie suchte sich freizumachen; als er sie aber fragend ansah, schlang sie die Arme leidenschaftlich um seinen Nacken und drückte einen langen Kuß auf seinen Mund. »Gute Nacht!« Dann riß sie sich los, eilte auf ihre Haustüre zu, die sie hastig aufschloß, und indem sie dahinter verschwand noch einmal mit gedämpfter Stimme zurückrief: »Gute Nacht!«

Holmer hörte den Riegel knarrend ins Schloß fallen und stand allein in der menschenleeren Straße.


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