Adolf Stoltze
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Adolf Stoltze

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Kapitel 6.

Beschäftigt sich mit den großen Sorgen kleiner Leute, geknickten Johannistrieben und Dingen, die man nicht vorher verraten soll.

»Habt ihr Worte, Kinder!« rief Lotte, als sie am Mittwoch Morgen vor Pfingsten als letzte in der Nähstube erschienen war, ihren Hut an den Nagel gehängt und ihr Haar glattgestrichen hatte. »Nu is ooch 'ne Fromme bei uns in der Bude.«

»'Ne Fromme!« hallte es erstaunt von allen Seiten. »Nich möglich.«

»Wenn ich euch sage. Sie jeht Werktags in die Kirche, ooch wenn's nicht rejnet un se enn Rejenschirm bei sich hat.«

»Unsinn!« erklärte Auguste und brachte das schnurrende Rad ihrer Maschine zum Stillstand.

»Unsinn, wieso?«

»Weil se zu sowas keene Zeit nich hat.«

»Ueber den Kasus knusus kommt se rüber.«

»Det verstehe ick nich.«

»Sie jeht man nach dem Jeschäfte in die Erbauungsstunde – das heeßt, wenn se alle is, und stellt sich vor's Portal.«

»Ach so – als Alleenestehende, die uff eenen wartet.«

Alle lachten.

»Kirchenkonzert is ooch mal in der Woche,« fuhr Lotte fort und lenkte dabei, durch eine Kopfbewegung, die Aufmerksamkeit auf Emilie, welche eifrig schneiderte und sich den Anschein gab, als ob sie die Anspielungen nichts angingen. »Und die Musike kostet nischt.«

»Wo's wat jratis jibt, jeht se sicher hin – det kann aber ooch wejen ihrer harmonischen Jefühle sin,« erklärte Marie und sah von ihren Knopflöchern auf.

»Jewiß! wejen was sonst? Doch nich, weil ihr Verhältnis, das se nich hat, in der Nähe wohnt.«

Abermals belohnte allgemeines Gelächter diese kleine Bosheit.

»Wohnt er denn so dichte?« fragte Auguste.

»Bei die Kirche? Noch keene zehn Schritte davon.«

»Wo die det allens man her weeß!« rief verwundert die Knopflochmacherin.

»Von sich janz alleene, die hat schnelle Beene,« reimte Auguste.

»Nee, so affig is se nich, daß se ihr nachlooft!« verwahrte sich Lotte gegen den Verdacht der Spionage und wandte sich zu ihrer Rechtfertigung direkt an Emilie mit der Frage: »War ich je hinter dir her?«

»Da habe ich keene Oogen druff – is mir ooch schließlicherweise janz schnuppe,« erwiderte diese in wegwerfendem Tone.

»Herrjeh, tu man bloß nich so!«

»Ich tu, wie mir's jefällt – verstehst du mir – mich; und lasse mir von dir und euch keene Vorschriften machen.«

»Machen dir ooch keene, brauchst aber nich so heimlich zu sin.«

»Das is meine Sache.«

»Ooch jut – wir wollen uns bei dir nich anmugeln.«

»Wäre ooch verjebliche Mühe. Wenn das Verhohnpiepeln nich bald enn Ende hat, könnt ihr mal morjens uff mir warten.«

Eben wollte Lotte auf diese Drohung antworten, als es kräftig wider die Türe pochte und gleich darauf Fräulein Sterzel pustend ins Zimmer trat.

Fräulein Sterzel, eine untersetzte, robuste Person mit energischen, fast harten Gesichtszügen, war seit kurzem im Geschäft, für das die Mädchen arbeiteten, als Directrice für das Auswärtige tätig. Sie hatte die Lieferungen der Heimarbeiterinnen zu kontrollieren und war wegen der Strenge, mit der sie selbst kleine Fehler rügte, allgemein gefürchtet.

Mit einem kurzen Kopfnicken begrüßte sie die sich jetzt plötzlich schweigend über ihre Arbeit beugenden Schneiderinnen und schritt direkt auf Emilie zu, die sie mit schnarrender Stimme anfuhr:

»Ich bin nur gekommen, Fräulein Emilie, Ihnen zu sagen, daß ich mit Ihren Leistungen sehr unzufrieden bin. Wir zahlten seither dreißig Mark für das Dutzend Kostüme und durften hoffen, bei diesem Preise, vorzüglich bedient zu werden – aber gerade das Gegenteil ist der Fall.«

»Sie haben sich doch noch nie nich beklagt.«

»Weil ich auf Ihre Gewissenhaftigkeit vertraute und erst nachsah, als Klagen kamen. Das ist nun aber vorbei, ich werde Ihnen ganz gehörig auf die Finger gucken, verlassen Sie sich darauf; und kommen abermals Beschwerden vor, sind Sie und Ihre Genossinnen die längste Zeit für Kohlmann & Sohn tätig gewesen – merken Sie sich das.«

»Ich weeß wirklich nich, Fräulein Sterzel,« stotterte Emilie, welche bis über die Stirne hinaus rot geworden war, »woruff Sie zielen. Wir haben nich besser un nich schlechter jearbeitet wie die janze Zeit über.«

»So – na, dann haben Sie eben immer schlecht gearbeitet.«

»Wenn wirklich mal was so sein sollte, wie es nich sein sollte, so läßt sich das ja wieder jut machen, bitte machen Sie mir man darauf aufmerksam.«

»Dazu habe ich keine Zeit, ich muß mich auf Sie verlassen können. Wir haben keine Reparaturwerkstätte im Hause, bei uns muß alles tadellos sein.«

»Was war denn nich in Ordnung?«

»Alles! Soll ich vielleicht noch Buch darüber führen? Die Konkurrenz liefert besser und billiger, wir müssen also auf der Hut sein und können künftig höchstens siebenundzwanzig Mark für das Dutzend Kostüme bewilligen, vorausgesetzt, daß die Arbeit besser ausfällt als seither.«

»Nee, liebes Fräulein, das jeht nich; wir verdienen ja sowieso nischt!«

»Wir auch nicht. Kohlmann & Sohn halten das Geschäft überhaupt nur noch wegen ihrer Arbeiterinnen, sonst hätten sie es schon längst aufgegeben. Die jungen Mädchen mögen sich etwas einschränken, wir müssen es auch. Freilich, wenn jede jeden Sonntag mit ihrem Verhältnis Ausflüge machen will, kostet das Geld – dafür kann die Firma nicht aufkommen.«

»Aber siebenundzwanzig Mark, bedenken Se man Fräulein Sterzel, ob eene for so'n Lohn uff Kostüme nähen kann.«

»Wenn Sie es nicht können, gibt es andere, die es fertig bringen. Ueberlegen Sie sich die Sache bis morgen, wo Sie abliefern – Morjen!«

Nachdem sie diese kategorische Erklärung abgegeben hatte, verließ sie hochgehobenen Hauptes das Zimmer, es den Insassen überlassend, die Türe hinter ihr zu schließen.

Einen Augenblick herrschte tiefe Stille in der Arbeitsstube, dann aber, als sich die Mädchen unbelauscht glaubten, machten sie ihrem gepreßten Herzen Luft, wobei sie in nicht gerade schmeichelhafter Weise der Firma Kohlmann & Sohn im allgemeinen und des Fräulein Sterzel im besonderen gedachten. Allmählich aber legte sich dieser Sturm im Wasserglase, und die Mädchen, ihre soziale Abhängigkeit überdenkend, berieten, ob sie nicht durch vermehrte Arbeitszeit den drohenden Verlust wieder ausgleichen könnten.

Das Resultat dieser Beratung war der Beschluß, morgens eine halbe Stunde früher zu beginnen und den Erfolg dieser Maßregel abzuwarten.

»Es is man jut,« meinte Marie, »daß ich mir nich mehr lange so abmarachen muß.«

»Du willst woll det jroße Los jewinnen?« lachte Lotte.

»Det weniger, aber heiraten will ich.«

»Wir ooch!« schrieen die Mädchen durcheinander.

»Ich habe man bloß »Ja« zu sagen, dann is die Jeschichte fertig.«

»Mit deinem Verhältnis?« fragt spöttisch Auguste. »Der verdient ja for sich alleene nich jenug.«

»Nee, nich mit meinem Verhältnis, aber mit dem Optikieker Welker, wenn ihr ihn kennt, der bei uns im Hofe wohnt und jetzt von seiner Ollen jeschieden is – der verdient enn Heidenjeld.«

»Hat der nich ooch Familie?«

»Zwee Rangen von sechs und sieben Jahren. Etwas Unanjenehmes muß man sich jefallen lassen, wenn man sich anjenehm versorjen will. Er hat mir schon zweemal 'nen Heiratsantrag jemacht.«

»Davon hast du uns bis heute keen Wort nich jesagt.«

»Weil ich noch nich einig mit mir war.«

»Und nu bist du's?«

»Seit jestern, wo ich mir die Karten lejen ließ.«

»Bei der Ollen am Mühlendamm, wo wir mal waren?«

»Nee, die is nischt – bei der in der Kochstraße.«

»Wohnt da ooch eene?«

»Wo wohnt in Berlin keene Wahrsagerin? Die in der Kochstraße hat wirklich wat los.«

»Blamiere dir nich!« rief Lotte dazwischen. »Was die kann, kann Lehmanns Kutscher ooch.«

»Det verstehste nich! Bei ihr is noch allens injetroffen,« versicherte Marie. »Sie hat mir jesagt, daß mein Verhältnis keen Verhältnis for mir is, daß ich 'ne jute Partie machen kann, wenn ich mir spute, und daß ich noch mal eklig reich werde.«

»Und det gloobst du?«

»Warum nich? Es is ja nich unanjenehm.«

»Da tust du ooch darnach?«

»Soll ich nich? Mein Hujo is keen Unmensch, wenn er sieht, daß ich mir verbessern kann – so feste hackt er nich an mir.«

Die Angelegenheit Mariens lieferte den Mädchen einen Gesprächsstoff, der sobald nicht zu erschöpfen war. Alle Möglichkeiten, die eine Verlobung fördern oder hindern konnten, wurden eifrig durchgesprochen, und die Aussichten auf eine glückliche Ehe eingehend erwogen. Aber auch die Frage. ob die ausscheidende Arbeitskraft durch eine neue ergänzt, oder ob eine andere Verteilung der Leistungen eingeführt werden sollte, wurde nach allen Seiten hin erörtert.

Emilie beteiligte sich nur wenig an den Gesprächen, sie war zufrieden, daß eine andere die Kosten der Unterhaltung bestritt, und als die Feierabendstunde schlug, verließ sie wieder, wie in früheren Tagen, ohne Verbitterung die Stätte ihrer Tätigkeit.

In der Regel kam ihr Holmer bei verabredeten Zusammenkünften auf halber Strecke entgegen, und nur wenn er sie verfehlte oder verhindert war, rechtzeitig abzukommen, fanden sie sich in den Anlagen vor seinem Hause oder unter dem Portal der dort befindlichen Kirche. Auch heute mußte sie dieses Ziel aufsuchen, und als sie es erreicht hatte, ließ sie sich ermüdet auf eine Bank nieder. Sehnsüchtig schweiften von hier ihre Blicke durch die Zweige der im frischen Grün prangenden Bäume, nach den von der Abendsonne in Feuergold getauchten Fenstern ihres Freundes.

Die Beziehungen der beiden jungen Leute hatten sich noch nicht geklärt. Ihr Verkehr miteinander war bei aller Herzlichkeit nicht frei von einer gewissen Zurückhaltung; ja, es schien sogar, als wenn sie es ängstlich vermieden, sich bei ihren Neigungen ertappen zu lassen, die jeder Teil wie ein süßes Geheimnis für sich zu bewahren bemüht war.

Die Sonne verglühte in den Fenstern, und die Schatten wurden länger und länger, aber noch immer kam der Ersehnte nicht. Emilie hatte sich erhoben und überlegte, ob sie die Strecke, die sie gekommen, nochmals zurückgehen sollte.

Schon wandte sie sich zum Gehen, als in der Ferne die schlanke Gestalt Holmers auftauchte und sich ihr mit raschen Schritten näherte.

»Pardon, Emilie, daß ich Sie warten ließ!« rief er ihr, als er sie erreicht hatte, entgegen. »Ich vermochte aber mit dem besten Willen nicht früher zu kommen.«

»Machen Se sich keene Sorjen darüber,« erwiderte sie mit freundlichem Lächeln und legte ihren Arm in den seinigen. »Der Abend is so schön, und die Kinderkens spielten so herzig um mir – nee, um mich rum, daß mir die Zeit nich lange jeworden is.«

»Was halten Sie davon, wenn wir hier in der Nähe ein Glas Bier trinken würden?«

»Die Idee is nich schlecht, und zu Schultheis am Kreuzberje nich weit.«

»Ich würde ein ruhigeres Etablissement vorziehen.«

»Mir janz eingal, wo Sie mir hinführen.«

»Ich denke dort an der Ecke in die Gartenwirtschaft. – Verzeihen Sie mir, wenn ich etwas wortkarg bin, ich bin heute sehr verstimmt.«

Emilie sah betroffen zu ihm empor und bemerkte jetzt erst, daß er ungewöhnlich blaß und ernst aussah. »Es fehlt Ihnen doch nischt?« fragte sie besorgt.

»Eigentlich nicht. Kommen Sie, wir kehren da ein.«

Sie gingen durch den mit Landschaften bemalten Torweg und gelangten in einen mittelgroßen Hof, der mit seinen Tannenbäumchen in Kübeln und Epheuspalieren in Kasten einen Garten vortäuschen sollte.

Es waren nur wenige Gäste anwesend, welche der Wirt bei seinem Rundgang mit einem »Juten Abend, die Herrn!« freundlichst begrüßte.

Auch zu Holmer und Emilie trat er und entschuldigte sich nach der üblichen Anrede, daß er die Saison so spät hier eröffnet habe. »Ick hätte den Jarten schon früher rausjestellt,« versicherte er, »wenn ick der Witterung jetraut hätte – aber et war nischt. Wenn man die Katzen nich wären, hing ick hier noch enn paar Lerchen und Finken uff, um die richtije Sommerstimmung rauszukriejen, da's aber nich jeht, muß ick mir mit 'nen Jramophon behelfen.«

Nach dieser tröstlichen Versicherung begab er sich einen Tisch weiter, um sich in ähnlicher Weise seinen Gästen angenehm zu machen.

Emilie hatte die ganze Zeit über vergeblich versucht, sich die Ursache der Verstimmung ihres Freundes, die sie beunruhigte, zu erklären, und es drängte sich deshalb, als sie Holmer mit einem Lächeln ansah, unwillkürlich die schüchterne Frage auf ihre Lippen, ob es ein Geheimnis sei, was ihn bedrücke?

»Das weniger – Sie werden es heute Abend oder morgen in den Zeitungen lesen.«

»Na, dann dürfen Sie es mir ooch sagen.«

»Wenn Sie darauf bestehen – gut. Sie erinnern sich vielleicht noch, daß ich Ihnen von einem Herrn aus meiner Stammkneipe erzählte, welcher wegen Preßvergehen sechs Wochen Plötzensee abzusitzen hatte.«

»Jewiß! Doktor Pinnow, nich wahr?«

»Ganz recht – Vorgestern war die Strafe verbüßt. Nun lesen Sie diesen Brief, der mir heute Morgen durch die Rohrpost zuging.«

Holmer griff in die Tasche, zog ein Schreiben hervor und übergab es Emilie. Diese las:

»Mein lieber, junger Freund!

Es hatte in meiner Absicht gelegen, in Gesellschaft guter Freunde die Wiedererlangung meiner Freiheit festlich zu begehen. Ich habe dieses Vorhaben aufgegeben, freiwillig – unfreiwillig.

Wer mich näher kennt, weiß, daß mir Enttäuschungen niemals die Daseinsfreude verkümmern konnten – und doch – – eine alte Geschichte – und wem sie just passieret – – Sie werden vielleicht über mich lachen – warum auch nicht? Fühle ich doch selbst, daß es ein unbilliges Verlangen ist, mit sechzig Jahren mehr als Erinnerungen vom Leben zu fordern und sich einzubilden, daß Herbst und Frühling ein leidliches Gespann abgeben könnten.

Ich habe mich aber so sehr in meine egoistischen Gedanken hineingelebt, daß es mir unmöglich ist, mich von ihnen zu trennen, und so sehen Sie mich am Ende.

Wenn Sie diese Zeilen lesen, ist der Vorhang über die Komödie meines Lebens gefallen, und die Unterhaltungsrezensenten der Gesellschaft sind schon daran, sie auszuschlachten; doch wie ihr Urteil auch ausfallen mag, ich bin in der Lage es zu ignorieren.

Daß Ihre Mühe, unsere Freunde über meine Pläne aufzuklären, zwecklos geworden ist, ändert nichts an dem Dank, den ich Ihnen dafür schulde – und schuldig bleiben muß. Bewahren Sie mir ein freundliches Gedenken und bitten Sie meine Freunde, ein Gleiches zu tun. Und nun mein lieber, guter Holmer, leben Sie wohl, möge Sie ein heller Stern geleiten! – Pinnow.«

»Das lautet ja beinahe – –« sagte Emilie, als sie geendet, »wie wenn? Nee, das verstehe ich nich.«

»Sie werden es, wenn Sie auch dieses Papier lesen.«

Er reichte ihr ein Zirkular, aus dem in zierlicher lithographischer Schrift die Worte standen: »Hugo Keller. Cornelia Walter. Vermählte.« Darunter war mit einem Tintenstift geschrieben: »Lieber Onkel, verzeihe mir, daß ich dich nicht früher von meiner Absicht unterrichtete, aber mir fehlte der Mut dazu. Wenn du die leidige Zeitungsschreiberei mal aufgibst, ziehst du zu uns nach Böhmen auf die Glasfabrik meines Mannes. Dort gibt es kein Plötzensee! Tausend Grüße und Küsse! Deine ewig dankbare Nichte Co– –«

Die Unterschrift war nicht zu lesen, sie sah aus, als wenn ein Wassertropfen darauf gefallen wäre.

»Und weiter?«

»Weiter – Ich fuhr so rasch als möglich nach Schöneberg und suchte seine Wohnung auf – sie war verschlossen. Ich verständigte die Polizei, und als die Türe durch den Schlosser geöffnet war, trafen wir den Doktor auf dem Sofa liegend – er hatte sich eine Kugel in den Kopf gejagt.«

»Um Gotteswillen!«

Auf seinem Schreibtisch fanden wir eine Lebensversicherungspolize über zehntausend Mark zu Gunsten seiner Nichte, sie war bereits vor zwei Jahren ausgestellt.«

»Nu kriegt die ooch noch Jeld zu?«

»Das weiß ich nicht, da hier Selbstmord vorliegt.«

»Sie hat den Mann doch in den Tod jetrieben.«

»Das dürfen Sie nicht sagen, Emilie, der Doktor hätte sich früher äußern müssen.«

»Die wußte janz jenau, woran sie war. Jedes Mädchen weeß sofort, ob se eener jerne sieht oder nich.«

»Darauf kommt es hier nicht an, er mußte sich vorweg vergewissern, ob seine Neigung erwidert wird.«

»Hätte se keenen Zweifel über ihre Jesinnung uffkommen lassen, wäre er das bald jewahr jeworden. Nee, nee! da lasse ich mir nich irre machen – schön war das nich von ihr.«

»Gut, bleiben Sie bei Ihrer Meinung. Sonnabend bei dem Begräbnis wird man sich noch einmal mit diesem Fall beschäftigen, und eine Woche später denkt schon kein Mensch mehr daran.«

»Haben Sie mit Ihren Freunden darüber gesprochen?«

»Nur mit Schiroky, den ich in der Redaktion aufsuchte.«

»Da müssen wir zeitig aufbrechen – Sie werden doch jewiß in Ihrem Stammlokal erwartet.«

»Das schon – aber bis dahin können wir noch ein Weilchen miteinander plaudern. Ihre Nähe tut mir wohl, doppelt wohl heute.«

»Na, Sonntag sind wir ja den janzen Tag beisammen, wenn wir nach Potsdam dampfen – oder haben Se was anderes vor?«

»Nur wenn das Wetter uns einen Strich durch die Rechnung macht.«

Früher als sonst trennten sich die jungen Leute. Emilie suchte ihre Wohnstätte auf, Holmer seine Bekannten, bei denen das tragische Schicksal des Doktors allgemeine Sensation erregte und die widersprechendste Beurteilung fand. –

Ein wolkenschwerer Himmel schaute am nächsten Sonntag auf die sich nach dem Potsdamer Bahnhofe drängenden Passanten, die, ausgerüstet mit Regenschirmen, entschlossen waren, der Wetterprognose Trutz zu bieten und sich ihren Pfingstausflug nicht verkümmern zu lassen.

Unter diesen Mutigen befand sich auch Holmer und Emilie. Sie hatten diese Partie schon vor längerer Zeit vereinbart, und Emilie hatte Nächte hindurch an der Herrichtung ihrer Kleider gearbeitet.

»Nun, wollen wir es wagen?« fragte Holmer, bevor er die Fahrscheine löste.

»Das muß ich Ihnen überlassen.«

»Ich meine wegen Ihrer Garderobe, Sie sehen heute allerliebst aus.«

»Nehmen Se man daruff keene Rücksicht, was ramponiert wird, richte ich schon wieder.«

Als sie in Potsdam eintrafen, fiel ein feiner, warmer Regen, der Stadt und Umgebung in einen dichten Nebelschleier hüllte und sie zwang in einem Restaurant Zuflucht zu suchen, wo sie im Kreise zahlreicher Schicksalsgenossen ihren Verdruß mit Bier hinunterspülen konnten. Endlich, unmittelbar nach dem Mittagessen, hellte sich der Himmel auf, und als sie ins Freie traten, teilte sich völlig der Wolkenflor, und ein warmer Sonnenschein überflutete die glitzernde Landschaft.

Sie lenkten ihre Schritte zunächst nach Sanssouci und betraten durch das grüne Gittertor den Park. Die große Fontäne sprühte wuchtig ihre Wasser in allen Regenbogenfarben turmhoch empor, und in das melodische Plätschern der fallenden Tropfen mischten sich die Lieder der gefiederten Sänger, die ringsum von den Zweigen der Sträucher und Bäume erklangen.

Holmer erwies sich als sachverständiger Führer. Er erklärte seiner Begleiterin alle plastischen und baulichen Kunstwerke und nannte ihr die Meister, die sie geschaffen. Er sprach ihr von Friedrich dem Zweiten, von Voltaire, von Knobelsdorff, dem Erbauer des Schlosses und anderen, und fand in Emilie eine aufhorchende Schülerin, die mit steigender Bewunderung zu ihrem Freunde emporsah. Wie ganz anders erschien ihr jetzt diese historische Stätte, die sie früher einmal in Gesellschaft ihrer Schwester und ihres Schwagers besucht hatte; damals ging sie verständnislos an den stolzen Bauwerken und zahlreichen Statuen vorüber, nur die bekannte Erzählung von der Windmühle war ihr geläufig; und heute, welche neue Welt, welche große Welt zeigte sich ihren erstaunten Blicken, sie konnte es nicht fassen, daß Holmer in allen diesen Dingen Bescheid wußte.

»Leider,« erklärte dieser, »ist unsere Zeit so kurz bemessen, daß wir an allem Schönen und Bedeutenden nur flüchtig vorüberschweifen können, wenn wir noch die Landschaft genießen und eine kleine Dampferfahrt unternehmen wollen. Ich denke, wir gehen alsbald nach der Holzmarktstraße und lassen uns mit der Fähre nach Babelsberg übersetzen.«

Emilie war mit allem einverstanden, und als sie durch die Hofgärtnerei hinaus zu den schattigen Anlagen des Babelsberger Parkes schritten, auf den Flatowturm zu, von dem ihr Holmer erzählte, daß er bis auf die sagenhafte Wetterfahne eine getreue Nachbildung des Eschenheimerturmes zu Frankfurt am Main sei, da schwelgte sie förmlich im Naturgenuß, und ihr Entzücken löste sich im Liede, das sie mit kleiner, aber angenehmer Stimme sang:

»Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
Den schickt er in die weite Welt;
Dem will er seine Wunder weisen
In Berg und Tal und Strom und Feld.«

Sie bestiegen den Turm und genossen von der Zinne desselben die Aussicht auf die wundervolle Landschaft. Zu ihren Füßen die breite Havel, die sie mit ihren Krümmungen, Buchten und Seen bis in die Ferne verfolgen konnten. Wie ein silbernes Band umschlossen ihre Wasser das im goldenen Sonnenschein prangende Potsdam mit seinen hochragenden Schlössern und duftigen Gärten.

Holmer hatte seinen Arm um Emiliens Taille gelegt und flüsterte ihr zärtliche Worte zu, die sie mit glücklichem Lächeln vernahm. Erst die Ankunft neuer Turmbesucher weckte beide aus ihren süßen Träumen und verscheuchte sie von dem herrlichen Punkt. Langsam stiegen sie hinab und wanderten durch die Anlagen an der Gerichtslaube und dem malerischen Schlosse vorüber, hinunter nach der Haltestelle des Dampfbootes, das sie über den Griebnitzsee nach Neu-Babelsberg führen sollte, von wo sie die Rückfahrt nach Berlin antreten wollten.

Als sie das Schiff erreichten, ging der Tag zur Rüste, und die lichten Wölkchen am tiefblauen Abendhimmel, die sich in den dunkeln Wassern spiegelten, säumten sich mit goldenen Rändern. Nur einige Passagiere beteiligten sich an der Fahrt und nahmen auf dem Hinterdecke Platz, während Holmer und Emilie das Vorderteil aufsuchten.

»Sehen Sie, wie der Hecht jagt?« fragte sie Holmer, als sich das Schiff in Bewegung gesetzt hatte, und deutete auf silberweiße Zickzacklinien, die ab und zu, bald aus der Mitte, bald an den Ufern des Sees blitzartig auftauchten und ebenso schnell wieder verschwanden.

»Ich sehe keenen Hecht!«

»Gewiß nicht, aber betrachten Sie nur die Silberstreifen genauer, und Sie werden finden, daß es Fische sind, die über das Wasser emporschnellen, um sich vor dem heranschießenden Räuber zu retten. Alle Augenblicke ändert er die Richtung, um seine Beute sicherer zu erhaschen. Sehen Sie dort, jetzt jagt er ganz in unserer Nähe; er ist so kühn, daß ihn selbst das Dampfboot nicht schreckt.«

»Wahrhaftig! die armen Fische.«

»Es geht ihnen wie den Menschen, auch sie müssen auf ihrer Hut sein.«

Während die waldreichen Ufer des See's tiefer und tiefer in Dämmerung versanken, färbten sich die Fluten, im Widerschein der Abendröte, mit funkelnder Purpurglut, als wenn geheimnisvolle Feuer in ihrem Grunde lohten. Der Anblick war überwältigend schön, und Emilie, bewegt von dem Bilde, ergriff die Hand ihres Freundes und drückte sie sanft in stummer Dankbarkeit. »Wie enn Märchen,« sagte sie darauf, »wenn ich mir die Elfen dort im Walde und die Nixen hier uff dem See zudenke. Haben Se ooch schon Märchen jedichtet?«

»Schon manches.«

»Davon weeß ich jar nischt. Wie hat dann Ihr letztes jeheeßen?«

»Das Märchen vom Glück.«

»Vom Glück« – wiederholte sie sinnend. »Das is sicher nich lange.«

»Warum? Es gibt auch ein Glück das Dauer hat.«

Sie schüttelte ungläubig, fast traurig den Kopf.

Holmer neigte sich dicht zu ihr, und als seine Wange die ihrige berührte, hauchte er mit heißem Atem ihr ins Ohr. »Hast du mich nicht lieb, Emilie?«

Ein Wonneschauer durchrieselte ihren Körper, sie hätte aufjauchzen mögen im Ueberschwange ihrer Empfindungen, aber sie beherrschte sich und sagte innig, mit bebender Stimme: »Das fragst du mich, Robert?«

Aneinandergelehnt, Hand in Hand, schauten sie beide schweigend, jedes in seine eigenen, glückseligen Gedanken versunken, hinab auf die sich kräuselnden Wellen, in die der Tag schnell und schneller verblich.

»Und ich darf dein Märchen hören, ehe es enn anderer jelesen hat?« fragte nach einer Weile Emilie.

»Es ist ja dein Märchen, meine Liebe.«

»Und wann darf ich es hören?«

»Morgen.«

»Und wo?«

»Bei mir – morgen Abend, wann du willst – oder scheust du dich zu kommen?«

»Nee, wo du bist, fürchte ich mir nich.« Und indem sie ihm einen glühenden Kuß verstohlen auf die Wange drückte, flüsterte sie: »Ich komme, ich komme!«


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