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X.

Westerland, 16. Juli.

Nun bin ich an der Nordsee, am Meer, das ich so liebe – dem Element, das irgendwie geheimnisvoll mit meinem innersten Wesen verknüpft ist.

Wenn ich von irgendwoher Gesundheit und Lebenskraft wieder gewinnen kann, muß es von hier sein. Hanna ist mit mir hier – die glückliche Hanna; sie hofft, daß der Verlobte uns wird folgen können. Wir leben ziemlich still und zurückgezogen. Während Hanna täglich einige Stunden braucht, um die Briefe des Verlobten zu lesen und zu beantworten, liege ich im Sande und sehe dem ewigen Spiel des Meeres zu. Und versuche, mit mir und dem Wesen des Menschen, den ich über alles liebe – trotz aller seiner Schwächen – ins reine zu kommen. Ich weiß längst: nicht nur gegen große Vorzüge eines Menschen, auch gegen seine Schwächen gibt es kein anderes Rettungsmittel als die Liebe. Nur die Liebe – denn aller Haß zerstört – am meisten den, der ihn hegt – das fühle ich ganz gewiß. Das habe ich als unumstößliche Gewißheit – von Kind auf – instinktiv als höchste Weisheit dessen empfunden, der es als einer der ersten lehrte, daß man auch seine Feinde lieben soll. Und kommt es nicht auf dieselbe Bekämpfung alles Trennenden zwischen den Menschen, denselben Stolz der Überwindung hinaus, wenn der größte Nachfolger dieses tiefen menschlichen Psychologen heute lehrt: wir wollen dem, der uns – wie wir meinen – Böses tat, beweisen, daß er unsGutes tat?!

»Hochherzig vergessen« – hat Robert oft gebeten. Nein, »vergessen«, das kann – das will ich auch nicht. Ich will »überwinden« – das ist etwas ganz anderes: alles sehen – alles im Herzen bewahren – und doch so verwandeln, daß man dabei leben kann, daß man stärker und reicher dadurch wird. Ich weiß, ich muß die Wahrheit sehen und ertragen lernen. Ich will nicht feige fortblicken von dem, was schmerzt und quält – ich will tapfer hineinsehen, um so hindurch und darüber hinwegzukommen.

Ich beiße die Zähne zusammen: also gut: der Mann meiner Liebe ist kein vornehmer Mensch, wie ich es verstehe; er kann es sein, er ist es in einzelnen hohen Augenblicken. Er hat immer Stunden, in denen er alles das erfüllt, was man von einem geistig reichen, sittlich ringenden Menschen erwarten kann; aber er fällt immer wieder aus dieser Höhe herab.

Ich sehe dem ins Auge – und stürze nicht mehr nieder wie sonst, wenn ich diese Konsequenzen ziehen wollte? In dieser letzten Not, wo kein Ausweichen, kein Entrinnen mehr möglich ist, wo ich die Schuldfrage schon bejahen wollte – da ist mir aufgegangen, was das eigentlich bedeutet: »die Unverantwortlichkeit des Menschen für sein Wesen und Sein«. Ich beginne mich meines kindlichen, sittlichen Hochmutes zu schämen – seine völlige Unberechtigung zu erkennen. Wenn ich Eigenschaften zu besitzen glaube, durch die ich mich ihm sittlich überlegen dünke – vorausgesetzt, daß ich sie wirklich besitze: – was tat ich denn, daß ich anders bin als er? Und was tat er, daß er geboren wurde, als der, der er ist?

Nun verstehe ich erst, was das bedeutet:

»Kranker« sollt ihr sagen – und nicht »Schuft« – »Tor« sollt ihr sagen – und nicht »Sünder«.

Wie hat er immer an sich gelitten, an der Schwäche seines Willens – wie unermüdlich immer wieder gegen sie zu kämpfen versucht!

Und dann kam mir eine Erkenntnis, die mir fast das Herz sprengte wegen ihrer ungeheuren Bedeutung für mich:

Vielleicht – vielleicht steckt mehr sittliche Energie in einem solchen Kampf gegen eine tief beklagte, erkannte, angeborene Schwäche des Wesens und des Willens, als in dem pharisäerhaften Gerechtigkeits- und Kraftgefühl jener, denen das Schicksal eine gewisse Festigkeit und Ausdauer gleich – ohne ihr Verdienst und Zutun – in die Wiege legte?! »Alles Gute ist Erbschaft« – ist »Instinkt« – »die Tugend ist die Folge des Glücks« nicht etwa umgekehrt das Glück die Folge der Tugend, wie eine sehr primitive Psychologie lehrte. – O, das alles beginne ich jetzt erst zu verstehen!

Und sind dann nicht vielmehr wir, die wir es scheinbar leichter haben, sind nicht wir es vielleicht, die uns vor denen, denen das Schicksal es so schwer machte, zu schämen haben?

*

Ich bin wie von einem furchtbaren Alp befreit aufgesprungen – ich ging über die Heide hinter den Dünen in tiefer innerer Erregung und Freude – ich wanderte und wanderte, umbraust von dem salzigen, kräftigen Wind, der vom Meere kam und kehrte erst in der Dämmerung zurück – mit dem Gefühl eines Menschen, dem man ein Königreich geschenkt hat. Aber wem kann ich klar machen, was die Erkenntnis für mich bedeutet: den Menschen, den liebsten, geliebtesten Menschen, unter dem man unsagbar gelitten, den ich in meinem Drang zu verehren – als Mensch und als Weib – so gern hoch über mir gesehen hätte, nicht mehr gering achten zu müssen! O, ich weiß, was das heißt, wie das tut: » Was weiß der von Liebe, der nicht gerade verachten mußte, was er liebte?!«

Und nun! Dies ist Rettung – Erlösung – dies ist – ein Geschenk – so groß, so befreiend, so beseligend, daß ich es noch gar nicht fassen kann.

Und nun strömt es mir nur so zu – in innerer Dankbarkeit für alles, was er, was dies schwere Erleben mir gab; nun löst sich wie durch ein Wunder alles das in mir auf, was noch an Härte und Bitterkeit in mir war.

30. Juli

Als ich von meiner bedeutungsschweren Wanderung zurückkehrte, fand ich Hanna mit der frohen Nachricht, daß Reinhold, ihr Verlobter, nun auf dem Weg zu uns sei.

Es traf so gut zusammen: Hannas Freude, die glückstrahlend dem Freunde entgegenfieberte – und meine Befreiung von dem unmenschlichen Druck, der so lange mein Leben zu einer einzigen Passion gemacht hat. So war es uns beiden in unserer hochgespannten Stimmung ein Bedürfnis, unsere frohe Erregung noch in einer Wanderung an dem wundervollen Sommerabend ausklingen zu lassen, während das Blau des Himmels in immer sanftere Töne überging – und an dem sich verdunkelnden Firmament leise hier und da ein Stern aufleuchtete.

»Entsinnst du dich, Hanna,« fragte ich, ungeduldig, sie zu überzeugen, »wie beschränkt und kindisch hochmütig ich mich zuerst immer dagegen abgesperrt habe, in seine Welt zu kommen? Als ob man nicht erst gerade dadurch lernte und innerlich wüchse, daß man auch in die Welt des anderen in Liebe, in Verständnis hineinsehen lernt, hineinwächst. – Und wie unreif war auch das: sich immer nur abschließen wollen vor anderen Menschen – hochmütig sich über sie zu erheben. Nein, nein, ich sehe es jetzt wohl, Robert hat recht: man darf sich nicht in sich selbst vergraben, nur für sich, in sich selbst ein vornehmer Mensch sein wollen – das beweist noch gar nichts. An dem verehrtesten Lehrer, den ich habe, an Nietzsche, hat sich ja so tragisch gezeigt, wie die Qual der Verlassenheit ihn, den seine Krankheit fern von den Menschen verbannte, innerlich zerstörte – wir haben es an Lilli erlebt – und beinahe an mir selbst – wie die Qual der Verlassenheit – des Nur-auf-sich-selbst-Gestelltseins zugrunde richtet. Ich habe das früher nie so verstehen wollen, was Robert meinte: »man muß sich in tausend Beziehungen zu Menschen – auch zu solchen, deren Wesen uns schwer zugänglich ist, beweisen, wer man ist – täglich aufs neue die Liebe zu den Menschen, die Freude am Leben, die innere Freiheit erobern.«

Wir waren stehengeblieben und sahen auf das Meer hinaus, das jetzt wie ein goldener Spiegel dalag, auf dem die leuchtenden Farben des Tages allmählich verglühten. Als hielte es die Glut der Sonne innig dankbar fest – unbekümmert darum, daß die Sonne selbst schon lange hinter dem Horizont versunken war.

Ich sah Hanna an – ob es mir wohl gelänge, sie zu überzeugen. Mit ihr, die mich wie Lilli von Kind auf liebt und versteht, würde ich den schwersten Kampf um meine innere Befreiung zu bestehen haben – das wußte ich: denn sie beurteilte Robert vor allem nach seiner Wirkung auf mich.

»Es wird mir schwer, dir ganz zu folgen,« gestand Hanna, »ich weiß doch, wie unendlich du ihn liebst – ich habe dich mit großer Sorge in die unmögliche Situation hineingehen sehen. Und er – als der Ältere, Reifere, hätte das doch voraussehen müssen, daß es nie etwas Ganzes, Volles, Harmonisches für euch werden konnte, daß immer unendlich viel Schmerzen für dich daraus entstehen mußten. Das ist es, was ich ihm vorwerfe.«

»Vielleicht hätte er das – vielleicht. Aber das haben wir doch auch immer gewußt, daß ich mein Glück einmal nicht auf den ausgetretenen Pfaden vorgeschriebener Regeln finden, daß ich es mir auf eigenen Wegen würde suchen und erkämpfen müssen. Nicht das ist es, worunter ich bewußt am meisten gelitten habe. So sicher ich die Liebe – die für mich nur die große Liebe sein kann, in der Seelisches und Sinnliches ganz verschmilzt – brauchte und suchte – um zu reifen – so wenig konnte ich – noch so im Beginn des eigenen Werdens – schon Ehe, Haushalt und Kinder gebrauchen. Der Konflikt lag wohl nicht nur in seiner Situation, sondern ebenso in meinen hohen Ansprüchen an das Leben: daß ich alles will: Freiheit und eigene Entwicklung – und Liebe und Kinder. Aber man kann wohl nicht alles haben«, sagte ich ein wenig bitter. »Und nicht wahr, Hanna,« bat ich und nahm ihre Hand, »das siehst du jetzt auch: umsonst sind diese schweren Jahre nicht gewesen?!«

Hanna lächelte durch allen Ernst unserer Stimmung: »Nein, gewiß nicht – ich habe Reinhold schon oft gesagt, wie stark ich das empfinde bei dir: deine größere Weichheit und Geduld allen Menschen gegenüber. – Du bist toleranter und liebenswürdiger geworden, ohne deine Eigenart zu verlieren.«

»Ich beginne mich jetzt ganz leise zu schämen, mit welch naivem Selbstvertrauen ich mich selbst, wenn auch unbewußt, zum Absoluten gesetzt hatte Robert gegenüber, und von da meine großen Ansprüche an ihn, den unendlich sensiblen, eindrucksfähigen Menschen, stellte. Erinnere dich doch, Hanna, was war ich denn, als wir nach München kamen, als er mich fand?«

»Gewiß, wir waren unerfahrene Kinder«, sagte Hanna achselzuckend.

»Ein dummes, hochmütiges Ding war ich«, sagte ich scharf, in heißem Eifer, deutlich zu machen, worauf es hinaus sollte. »Mit all der Härte und Beschränktheit unerprobter Jugend, mit der großen idealen Forderung an die Welt – an die anderen.

Wie hat er mit feinem Verständnis mein Wesen in all seinem Guten und Bösen zu erfassen und zu helfen gesucht, wo es noch fehlte. Wie wenig habe ich all das zuerst geachtet. Und was habe ich nun durch ihn – durch diese Leiden gelernt.

Dazu das Bewußtsein eines starken, ungebrochenen Lebenswillens, den ich nun gewonnen habe – wer so in Nacht und Grauen gelebt, wer so der Vernichtung und Verzweiflung ins Auge gesehen – der hat wohl das Recht, das Leben zu lieben, an das Leben zu glauben!

Das danke ich doch alles dem Erlebnis mit ihm!« –

Es war fast dunkel um uns geworden – der lichte Glanz auf dem Meere drüben jetzt fast erloschen.

Nur wenige Spaziergänger hielten sich noch gleich uns am Strande auf.

Wir wandten unsere Schritte zurück.

»Ja,« sagte Hanna nun, weicher, nachgiebiger, – und mein Ohr fing sogleich das leise innere Zugeständnis auf, »seit ich Reinhold kenne und liebe, beginne ich zu verstehen, warum du so lange ausgehalten, so heroisch um deine Liebe gekämpft hast.

Sicher, es ist armselig, wenn zwei Menschen, Mann und Weib, die sich angehört haben, sich nach einem Konflikt sogleich in Groll und Bitterkeit trennen. Sie haben einander dann nicht bloß äußerlich, sondern – was ja tausendmal schwerer ist – auch innerlich das Bild des geliebten Menschen verloren. Wenn ich mir vorstelle, ich könnte Reinhold je so verlieren!«

Sie schüttelte sich vor Grauen.

Ich nahm ihren Arm, da sie in ihrer Bewegung ein etwas zu schnelles Tempo einschlug.

»Siehst du,« sagte ich nun und spielte damit meinen letzten Trumpf aus, »das war nun fast allein Roberts Verdienst, sein Wunsch, sein Wille, seine Erkenntnis, daß wir uns trotz aller Schmerzen und Schwierigkeiten nicht lassen sollten, daß das Wertvolle an unserem Verhältnis – das Überpersönliche, Geistige – was über das rein Sexuelle hinausging – immer mehr zum Ausdruck kommen sollte. Ohne ihn wäre ich in meinem leidenschaftlichen Schmerz tausendmal davongelaufen.«

»Ja,« sagte Hanna – »das verstehe ich wohl, daß es so weniger unerträglich für dich ist. Aber wie erklärst du dir die grausame Härte, mit der er sich im vorigen März von allen menschlichen Empfindungen lossagte – dich einfach ins Bodenlose fallen ließ? Da bin ich an ihm irre geworden; es hat dich fast das Leben gekostet – und doch hätte es ihn nicht gerührt – damals.«

Mir stieg das Blut heiß ins Gesicht bei Hannas Unerbittlichkeit. Gewiß, das ist der schwächste Punkt meiner Beweisführung – das weiß ich selbst nur zu gut. Es hat keinen Sinn, sich darüber zu betrügen.

Ich atmete tief auf und ging eine Weile schweigend neben ihr her. Über die Unvereinbarkeit dieses Erlebnisses, wie ich es als das Unerträglichste, Zerstörendste erlebt habe, und seiner liebevoll-dringlichen Karfreitagfrage: »Aber hast du denn nur einen Augenblick denken können, ich hätte dich mit ihr betrogen?« habe ich in unzähligen dunklen, qualvollen Nächten gegrübelt.

Dieser Zweifel an seiner menschlichen Würdigkeit hat mich immer bis zum Ekel, zum Zweifel auch an mir selbst geführt: wenn es möglich war, daß meine erste große, ganze Liebe einem Menschen gehörte, der so gewissenlos, so haltlos, so verlogen war – wer bin ich dann – die ich auf meinen wählerischen Instinkt in bezug auf Menschen immer so stolz war?! Dieser Zweifel hat mich oft vor Selbstverachtung dem Selbstmord nahe gebracht. Und erklären? Nein – erklären mit Gründen und Tatsachen kann ich diesen Widerspruch auch heute noch nicht.

Am Wege stand eine Bank, von der man bei Tage einen wundervollen Blick auf beide Meere – auf die offene See und das Wattenmeer hat.

»Laß uns einen Augenblick hier sitzen, Hanna«, bat ich; mir schien, es müßte leichter sein, im Ruhen über diese schmerzliche Angelegenheit sich zu verständigen.

»Erklären, Liebste, restlos kann ich es dir auch heute noch nicht,« sagte ich dann – »nur so viel weiß ich heute schon: es ist doch wohl anders, als ich es gesehen habe, als wir es jetzt sehen können. Es nützt nichts, sich jetzt damit zu quälen. Später einmal, viel später – wenn nicht mehr bei jeder Berührung alles in uns in Schmerz erzittert, dann werde ich vielleicht den Mut haben, Robert danach zu fragen – ich bin sicher, er wird es mir dann so erklären können, daß auch ich es verstehe.

Aber so viel weiß ich schon heute: die Ursache all der Schmerzen ist im Grunde nicht eigentlich er. Wir sind vielmehr Leidensgenossen. Er war glücklich, das steht doch außer jeder Frage, bis er durch meine Ungeduld, mein Ungenügen ganz verwirrt wurde. Daß das, was er mir aus vollem Herzen, mit allen Sinnen gab: ›die größte Leidenschaft, die er je für ein Weib hatte‹, mich nicht vollkommen glücklich machte – war das nicht fast noch schmerzlicher für ihn als für mich? Was würde Reinhold sagen, wenn du so unzufrieden-anspruchsvoll wärst, wie ich es war? Es sein mußte – so wie für meine Natur die Dinge lagen?«

»Ach, Reinhold,« sagte Hanna glücklich, und kehrte aus der mitfühlenden Vertiefung in mein Schicksal mit einem frohen Seufzer der Erleichterung in ihre helle Gegenwart zurück – »das wäre zwischen uns wohl ganz undenkbar. Nein, Irene, so unsäglich schwierige, komplizierte Verhältnisse könnte es für Reinhold und für mich nicht geben!«

»Ich wünsche sie dir auch nicht, gewiß nicht, Hanna, keinem Menschen wünsche ich das«, sagte ich ernst.

»Wer könnte so verwegen sein, das Schicksal so herauszufordern!«

*

Als Hanna schlafen gegangen war, stand ich noch lange auf dem Balkon meines Zimmers und sah hinaus in die Nacht – in die Sterne, die über dem Meer glänzten.

»Nein, es hat keinen Sinn, sich selbst zu belügen,« dachte ich ein wenig schmerzlich, »wenn ich mich nicht schämte, könnte ich Hanna um ihr einfaches, sicheres Glück und Geschick fast beneiden. Das gibt es also auch auf der Welt! Sie liebt, wird wieder geliebt – wird heiraten und Kinder haben – und alles ist in Ordnung.«

Wie schwer ist das, wenn man als Frau von Kind auf eine Lebensaufgabe in sich fühlt, die man erfüllen muß, deren dunkle Forderungen auch alles natürliche Glück als Frau so schwer belasten und gefährden! Dieser Dämon in mir hat mich so hart, so störrisch auch gegen den geliebten Mann gemacht, aus der unbestimmten Furcht, dieser höchsten inneren Berufung untreu zu werden. »Liebe ist durchaus Krankheit«, – o, wie verstehe ich das angesichts meiner Passion.

Ein wenig anders habe ich mir das Glück der Liebe schon gedacht als so – in dieser strengen Entsagung! – Aber vielleicht hat man immer nur die Wahl zwischen dem Glück des Alltags, der Menge – und seiner Aufgabe, dieser starken, eifersüchtigen Göttin.

Oder vielmehr – man hat gar keine Wahl!

*

20. August.

Seit ich zuletzt hier schrieb, sind einige Wochen vergangen – Wochen, in denen ich zum erstenmal, seit ich Robert liebe, nicht mehr unsäglich gelitten habe.

Eine glückselige Zeit für mich. Nun hat es sich doch wieder bewährt, daß das Meer mein Lebenselixier ist, das mir am stärksten den dionysischen Lebensrausch vermittelt und mir auch diesmal so viel innere Befreiung gebracht hat.

Auf einer unserer Segelfahrten nach den benachbarten Inseln – die für mich zum Schönsten, Genußreichsten gehören, das es geben kann – begriff ich unmittelbar die wundervolle Fabel der Antike als etwas Notwendiges, Wahres, Selbstverständliches: daß die Göttin der Liebe aus dem Schaum des Meeres aufgestiegen ist!

Ja, so muß es sein, kann es nur sein!

»Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser – vor allem die liebende Seele!«

Und neben diesem beglückenden, stärkenden Rausch durch die Natur, die Luft, die ich atmete, in mich einsog, mit allen Fibern, allen Nerven – hat auch das Zusammensein mit Hanna und Reinhold mir unendlich wohl getan.

*

Denn mit Reinhold, der mir schon Hannas bedingungsloser Freundschaft wegen das freundlichste Vorurteil entgegenbrachte, kam ich in ein gutes, erfreulich nahes Verhältnis.

Und wenn ihn auch meine hohen Forderungen an das Leben ein wenig befremden – er versucht doch, mir gerecht zu werden.

Neben dem gesundmachenden Frohsinn, der hier unsere Tage füllt, haben wir auch manche ernste, tiefere Gespräche miteinander geführt. Neulich brachte Reinhold mir an den Strand, wo Hanna und ich schon in köstlichem Nichtstun in der Sonne lagen, einen Brief von Robert mit, der in der Gesellschaft von Agathe jetzt in Tirol ist und mir ganz leidliche Nachrichten gab.

Und angesichts dieser Mahnung an die Schwere der Vergangenheit stieg die Frage in mir auf, wie sich nun wohl unser Leben gestalten wird?

*

Hannas und Reinholds Blicke hingen in freundschaftlicher Sorge an mir – ich fühlte es.

»Sehen Sie, Reinhold,« antwortete ich zwischen Ernst und Scherz auf die unausgesprochene Frage, »das Schlimmste war: meine große Sehnsucht ging von früh auf die große Liebe. ›Meine große Anlage ist Lieben!‹ habe ich mir auch immer eingebildet. Nun habe ich beim ersten Versuch, diese große Liebe zu verwirklichen, unter bitteren Schmerzen lernen müssen, daß es nicht genügt, viel und heftig zu fordern – daß die große Liebe – ganz anders beschaffen sein muß.«

»Aber Roberts Liebe war doch auch immer sehr egoistisch«, wandte Hanna zu meiner Rechtfertigung ein. »Du mußtest doch auch zu deinem Recht kommen als Weib und als Mensch.«

»Ja – und deshalb habe ich mich ja auch ganz einfach lieben lassen und es ganz in der Ordnung und selbstverständlich gefunden, daß er mein Bild in Liebe aufnahm und verklärte«, sagte ich voll Selbstverspottung.

»Aber begreift ihr nicht, daß es vielmehr meine Aufgabe jetzt ist, ihn zu seinem Recht kommen zu lassen, durch immer tiefere Liebe seine Schwächen auszugleichen?

Ich weiß nun, daß Robert – mit seiner vorwiegend ästhetischen Natur eine andere Aufgabe im Leben hat als ich mit meiner leidenschaftlich moralistischen.

Eine absolute Überlegenheit – die gibt es eben im Leben nicht – und die würde man ja auch im Ernst gar nicht ertragen.

Aber das Bewußtsein unserer wechselseitigen Überlegenheit – das habe ich nun – und das möchte ich fürs Leben nicht mehr verlieren.«

Ich sah die beiden an, deren Hände sich in zärtlichem Spiel hielten.

»Meint ihr nicht auch« – und ein Gefühl neuer Sicherheit, tieferer Lebensfreude und Kraft durchströmte mich –, »wenn ich ihm nun so – mit all dem, was ich jetzt an innerer Klärung gewonnen habe, gegenübertrete – muß es dann – nach all dem Schweren – nicht auch noch ein wenig Glück für uns geben?!«

23. Oktober.

Ich bin so froh, so körperlich erfrischt, so innerlich gestärkt zurückgekommen, daß es sich unwillkürlich auch auf Robert überträgt. Es ist seitdem so gut zwischen uns; wir sind so heiter, übermütig oft, daß ich nur wünsche, es bliebe so – immer, immer.

Erst war es ihm fast unheimlich, mich so glücklich zu sehen. Als er mich nach der langen Trennung zur Begrüßung in seine Arme zog und küßte, fragte er ein wenig überrascht und mißtrauisch: »Was ist nur mit dir? Du siehst so strahlend aus? Hast du dich verlobt?«

Ich lachte ihn aus: ach nein, die Sehnsucht nach neuer Liebe habe ich noch keinen Augenblick empfunden; ich habe vollkommen genug an der einen. Erst jetzt habe ich sie ja, wirklich – in einem neuen, besseren Sinne als bisher. Nun bin ich auch frei von der lastenden, ungeliebten Arbeit – nun kann ich endlich – endlich künstlerisch wieder schaffen! Ich lebe wieder.

20. November.

Das ist der erste Konflikt, den wir seit langem haben: daß ich nun wirklich im Frühjahr nach Paris will. Ich hatte neulich Hedwig erzählt, daß ein neuer Mieter für die Wohnung gesucht wird, ich alles für die Übersiedlung rüste.

Als Robert gestern heraufkam, war er zu meiner größten Überraschung höchst unzufrieden mit mir, mit diesem Entschluß.

»Aber ich verstehe dich überhaupt nicht« – sagte ich verwundert, »das ist doch selbstverständlich! Du weißt doch ganz genau, wie lange ich schon auf dem Wege nach Paris bin, daß es nur verzögert worden ist. Was sollte mich denn nun noch halten?«

Er sah mich ein wenig ärgerlich an: »Wenn ich dir meine Meinung sagen soll: Du bist auf ganz falschem Wege, du strebst nach äußerer Anerkennung! Du suchst den Ruhm!«

Ich war so überrascht durch diese ganz unerwartete Gegnerschaft und ihre seltsame Motivierung, daß ich fast den Schmerz über diese Ungerechtigkeit vergaß. Bisher hat er mir immer das Gegenteil zum Vorwurf gemacht: daß ich äußere Dinge, Verhältnisse, Stellungen zu gering schätze. Merkwürdig: er weiß doch alles: weiß, daß ich auf dem Wege fortzugehen allein durch unsere Liebe zurückgehalten wurde, die mich die Kunst fast drei Jahre lang opfern ließ. – Ich bereue es nicht, nein, ganz gewiß nicht. –

Aber nun? – Ich muß doch, um leben zu können, weiter arbeiten, in dem Sinne, wie es von Kind auf unabänderlich für mich feststeht.

*

Es ist mir nicht gelungen, das psychologische Rätsel seiner Gegnerschaft ganz zu lösen. Das kann es doch nicht sein, daß er mich in seiner Nähe behalten will? Daß er fürchtet, ich entwachse ihm auch geistig-seelisch? Daß er mich, vielleicht instinktiv und unbewußt, immer noch tiefer geistig besitzen will, als es ihm bisher gelungen ist? Seiner Meinung nach? Er hatte recht: ich habe geistig von ihm nichts – oder doch nur sehr wenig genommen, seit wir uns als Mann und Weib nahe standen. Erst als die eigentlich sexuelle Verbindung ausgeschaltet war – da begann er mich seelisch-geistig zu erobern.

Darum setzte er auch wohl immer, trotz aller Konflikte, all meinen Befreiungsversuchen sein »Noch nicht!« entgegen – suchte mich immer wieder zu überzeugen, daß wir uns, trotz allem, noch Neues, Tieferes zu geben hätten. Ich verstehe heute seinen Schmerz, daß ich in der Zeit unserer körperlichen Hingabe mich seelisch so starr ablehnend gegen jede Beeinflussung verhielt, daß erst der Kummer, ihn verloren zu haben, den Boden bereitet, mich fähig gemacht hat, auch geistig von ihm zu nehmen. – Ich verstehe auch, daß er sich ohne diese Wechselwirkung kein Verhältnis zwischen Mann und Weib denken kann.

Aber nun ist es doch etwas anderes: was Paris mir geben soll, das sind technisch-künstlerische Werte, Steigerungen meines künstlerischen Vermögens, meiner Leistungen auf Gebieten, wo er gar nicht der in erster Linie Maßgebende sein kann, so sehr auch sein feines künstlerisches Verständnis mir hilft.

Aber – sonst hat er doch alles erreicht, was er will: ich bin viel tiefer mit ihm innerlich verbunden, als ich es je vorher war.

Sollte er das wirklich nicht fühlen?

Wir haben lange eifrig hin und her gestritten; so bereit ich sonst bin, mich seiner höheren Weisheit – wo es nur irgend möglich ist – zu unterwerfen: hier, wo es sich um eine Lebensnotwendigkeit handelt, gibt es für mich kein Schwanken, keinen Zweifel. Es war mir sehr schmerzlich, sie gerade ihm gegenüber erst behaupten, verteidigen zu müssen.

Als er ging nach diesem geistigen Ringen, bei dem ich zum erstenmal nicht daran denken durfte, daß es der Mann ist, den ich liebe, mit dem ich um mein Recht auf freie, ungehemmte Entwicklung kämpfte – als er ging, schien mir, er habe etwas von der Notwendigkeit meines Handelns gespürt. Er hat gewußt, daß ich nicht nur ein Weib, sondern ein Mensch mit eigenen Zielen im Leben bin: er hat mich als Weib freigegeben: wie seltsam, daß er mich jetzt als Mensch fesseln will?

Aber das Unlogische, Inkonsequente, Irrationale aller Liebe steckt vielleicht auch noch in dieser Abneigung, mir nun den Weg freizugeben, den ich für mich gehen muß.

»Nun habe ich doch recht, daß ich nur noch dein Kritiker sein darf«, sagte er am Ende ein wenig melancholisch, während seine Hand mir sanft über Schläfe und Wange strich.

5. Dezember.

Ich habe jetzt eine eigene, größere, künstlerische Arbeit begonnen, und Robert kommt öfters ins Atelier, um die Fortschritte in meiner Arbeit zu beobachten, der er ein unbestechlicher, verständnisvoller Richter ist. Seit er das Mißtrauen überwunden hat, das aus meiner Lebensfrische stammt, seit er fühlt, daß nicht die Spur einer anderen Liebe dazwischen ist – seit er wissen muß, daß ich – unter allen Bedingungen der Entsagung, unter denen wir leben – ihn liebe, ihn allein – ohne zu fordern –, seitdem ist eine warme, innige Strömung zwischen uns, die mich sehr glücklich macht. –

*

Ich glaube jetzt auch zu verstehen, warum Gretchen zugrunde geht.

Das alte Faustproblem vom Liebeskonflikt zwischen Mann und Weib, in dem die grausamen Geschlechtsvorurteile, die Mann und Weib erniedrigen und entfremden, so erschütternd zum Ausdruck gelangen, läßt mich nicht los.

Gretchen geht zugrunde, glaube ich jetzt, weil sie nur empfindend, nur Weib ist, gar keinen anderen Lebensinhalt hat. Und man muß zugrunde gehen an der Liebe als Frau – wenn sie uns verläßt oder zerstört wird –, wenn man nicht andere Kräfte seines Wesens in der Not zu Hilfe rufen kann.

Ich wäre sicher zugrunde gegangen an dem Übermaß der Empfindung, des Schmerzes, der Verzweiflung, wenn ich nicht geistige, sittliche Kraftquellen in mir gespürt hätte, die mich vor dem Letzten, Äußersten behüteten, die meinem Leben – selbst ohne das Glück der Liebe – doch einen Sinn geben. Gerade um des Lebens, um der Liebe willen scheint es mir notwendig, daß die Frau über die bloße Geschlechtseigenschaft des rein empfindenden, passiven, leidenden Wesens hinauswächst.

Robert wollte meine Erklärung erst nicht gelten lassen – aber nun gibt er es zu.

Er selbst war es doch übrigens immer, der mich in den schlimmsten Zeiten gemahnt hat, ich dürfte nicht nur ein empfindender Mensch bleiben – ich müßte das starke Wollen, die klare Reflexion neben die warme Empfindung stellen.

15. Dezember.

Vorgestern war eine Gesellschaft bei Hedwig und Robert – neben dem Maler Martin, den ich sehr gern mag und seiner Jugendfreundin, die zu Besuch ist, war unter anderen ein sehr frischer, temperamentvoller jüngerer Kollege von ihm anwesend: Dr. Anders, Privatdozent für Philosophie. Er war mein Tischnachbar, und wir gerieten in eine so lebhafte und übermütige Unterhaltung über Kunst, über Lebenskunst vor allem, verstanden uns rein temperamentmäßig so gut, daß Robert, zum erstenmal, vielleicht ein wenig – aber wirklich nur ein wenig – Ursache hatte, eifersüchtig zu sein.

Dr. Anders wollte durchaus in mein Atelier kommen, um meine Bilder zu sehen – und sich dazu meine Adresse und die Stunden aufschreiben, in denen ich zu treffen bin.

»Lassen Sie sich doch einmal von Professor Braunwald seinen goldenen Bleistift geben« (den ich ihm geschenkt habe), riet ich ausgelassen, da er selbst nichts zur Hand hatte.

»Das ist unerhört, Irene, den bekommt kein anderer –« wehrte Robert zornig ab – in drolliger Empörung.

»Und dabei muß ich nun ruhig zusehen«, sagte er vorwurfsvoll, wie wir einen Augenblick allein an seinem Schreibtisch standen. Aber ich sah ihn so heiter und mit so gutem Gewissen an, daß er wissen mußte, wer die letzte, tiefste Ursache meiner übersprudelnden Lebensfreude ist.

Als er gestern hier war, hat er sich für meinen Übermut gerächt, mich mit zärtlicher Tyrannei der Liebe kommandiert und kritisiert. Er ließ sich meine letzten Skizzen zeigen und behauptete, er sähe daran, wie er mich vernachlässigt habe, daß er viel nachholen müsse – ich solle nur ganz weiblich einfach alles das tun, was er für richtig hielte.

Und ich lachte nur dazu. So im Scherz und Spiel der Liebe ist das wunderschön – im Ernst des Lebens – wir wissen nun beide, daß es da ein wenig komplizierter zugeht. Denn eine Lösung des fast unlösbaren Problems, die Selbstbehauptung der Persönlichkeit mit der Hingabe der Frau zu vereinen, mit dem wir so unsäglich schmerzlich gerungen haben, kann eben nur darin liegen, diese »Unterwerfung« auf die Stunden der Liebe zu beschränken. Aber außerhalb dieser Sphäre der Leidenschaft kann es nur freie, ebenbürtige Persönlichkeiten geben, die ihre wechselseitige Überlegenheit anerkennen.

31. Dezember.

Eine erschütternde Begegnung hatte ich in diesen Tagen: ich habe Lilli besucht! – Es war ein unsäglicher Schmerz, in der Anstalt für – Geisteskranke die Jugend- und Kampfgenossin vieler schöner und reicher Jahre – hinter fest verschlossenen Türen zu finden.

Auch sie wurde durch unser Wiedersehen tief erschüttert: nächst dem Manne, den sie liebte – hat ihr kaum ein Mensch so nahe gestanden wie ich, hat sie keinem dies tiefe Zutrauen geistigster Freundschaft entgegengebracht.

»Weißt du, Irene,« sagte sie – und ihr Schmerz, ihre Klage zerriß mir das Herz –, »kein Mensch, der es nicht erlebt hat, kann ermessen, was das heißt, zu jenen zu gehören, die ausgestoßen sind. Und das ist das Furchtbarste: obwohl es mir jetzt im Augenblicke besser geht, zu wissen, daß es wie ein Damoklesschwert über mir hängt und jeden Tag aufs neue wieder ausbrechen kann. Sterben scheint mir dagegen leicht.«

Des Ausbruches der Krankheit – aller möglichen Einzelheiten entsinnt sie sich noch ganz genau.

»Siehst du,« schloß sie in herzzerreißender Sachverständigkeit, »es gibt dreierlei Wahnsinn: religiösen Wahnsinn, Größenwahnsinn und erotischen Wahnsinn – ich habe alle drei zusammen gehabt!«

Nie kam ich mir so hilflos, so beschämt, so unwürdig vor wie in diesen Stunden am Bett der psychisch kranken Freundin.

Wo bleibt da der kleine dumme Stolz auf das, was man aus seinem Leben »gemacht« hat! Was können wir Menschen »machen«? Was für ein fast noch tieferes Begreifen von der Unverantwortlichkeit des Menschen für sein Wesen und Sein – tiefer noch als bei des geliebtesten Freundes mich so schmerzenden Schwächen – ging mir hier auf!

Welche Vererbung, welche Verkettung von Ursachen ist es, die diesen schönen, begabten Menschen so früh aus der Kette der Schaffenden reißt – ihn verdammt – nicht zu frühem körperlichen Tod – es sind die Lieblinge der Götter, die früh sterben – sondern zu tausendfachem, seelischem Tode – geistigem Sterben. Was ist all das Leid, das ich durchkämpft habe, gegenüber dieser unsagbaren Marter!

Lilli erzählte von all dem, was sie durch die Krankheit gelitten – und von der Größe des katholischen Glaubens, in dem sie nun einen Halt zu finden hofft. Wie man auch zu dem Problem einer Weltanschauung stehen mag, in der die Institution das Individuum oft zu vernichten scheint – auch dieser Glaube ist ja in seiner Art gerechtfertigt, wenn er noch in einer Nacht des Jammers, einer Tiefe des Ausgestoßenseins einem Menschen Hilfe leistet, in die keine Freundeshand, keine Philosophie der Kraft mehr hinabreicht.

Dann wollte Lilli auch von mir und meinem Schicksal wissen.

Ich werde nie den Ausdruck tiefer Ergriffenheit vergessen, mit der sie meinen Worten folgte – und dann, feierlich, ernst, mit der ihr eigenen Inbrunst sagte: »Ja, Irene, nun weiß ich es gewiß: ›Auch das Schwerste ist durch Größe zu tragen, und – die Frau hat ihre Welt noch vor sich.‹«

Oft werde ich noch an dies Wort denken, das sie mir mit auf den Weg gegeben hat, wie eine Verpflichtung, es wahr zu machen – auf den Weg, der mich wieder ins schaffende Leben hineinführte, während die Pforten der Anstalt sich hinter ihr schlossen und sie bei den geistig Toten zurückließen.

3. Januar.

Robert hat mir versprochen, es soll ein sehr schönes Jahr werden – ich bin sehr glücklich darüber.

12. Januar.

Gestern habe ich mich fast drei Stunden lang von Robert ausschelten lassen müssen: ich wäre nie mehr zu treffen, ich scheine mich doch allzu sehr zu zersplittern.

Er ist drei-, viermal vergebens hier gewesen – das verträgt er immer sehr schwer.

Mir ist sein Ärger immer so eine leise Genugtuung für die schweren Zeiten meines vergeblichen Wartens, so sehr ich natürlich selbst bedaure, ihn versäumt zu haben.

Aber während ich so seinen Groll und seine Zweifel um mich genoß, mich freute zu spüren, wie ernstlich er sich für mich verantwortlich fühlt, habe ich eigentlich versäumt, ihm vernünftig zu antworten, ihm zu sagen, was das jetzt bedeutet für mich: die Freiheit vom Zwang nach der unnatürlichen, für mich direkt naturwidrigen Einkerkerung der letzten Jahre!

Nie hätte meine Not, meine Ungeduld um ihn diese gefährliche Höhe erreicht, wenn ich dabei in jeder anderen – geistigen – Beziehung ein freier, mich fröhlich weiter entwickelnder Mensch hätte bleiben können.

Und nun freilich – nun stürze ich mich mit wahrer Wollust in alles für mich irgend Erreichbare an Vernunft und Kunst und Wissenschaft – des Menschen allerhöchste Kraft.

Musik, Musik, meine gefährliche, gewalttätige Freundin, wage ich wieder zu hören – sie war mir in den Jahren meiner Qual um ihn fast verboten, unmöglich, mich völlig auflösend, vernichtend.

Nun habe ich, als ich die Neunte Symphonie Beethovens kürzlich hörte, wunderbare tiefe Kraft zu neuer, höherer Lebensführung daraus gewonnen.

Auch von den Konflikten der Gegenwart muß ich wieder mehr wissen. Hanna, deren Hochzeit auf das Frühjahr festgesetzt ist – war auf kurze Zeit hier – und wir haben – wie in den Anfängen unserer schönen Münchener Zeit – an allem teilzunehmen gesucht: die Kämpfe der Arbeiter um eine menschenwürdige Existenz – die Forderungen der Frauen, die Versuche, den religiösen Geist außerhalb der Kirche zu pflegen – das Leben überhaupt neu zu gestalten.

Ungeheuer erregt mich der Kampf der Arbeitslosen, die in öffentlichen Demonstrationen auf ihre Not aufmerksam machen, die Bedrohungen, mit denen man von seiten der Regierenden, Besitzenden sie durch Militär in Schach zu halten sucht.

Ich verstehe nicht viel von wirtschaftlichen Problemen – aber so viel verstehe ich: eine Gesellschaft, die nicht die Verpflichtung anerkennt, für alle ihre Glieder menschenwürdige Zustände zu schaffen, ist nicht wert zu bestehen. »Alle Freudenquellen rinnen sparsam für den Bildungslosen, in körperlicher Arbeit Verlorenen!« Wer darf sich das verhehlen?

Woher nimmt ein Mensch das Recht, andere von den höchsten Freudenmöglichkeiten auszuschließen? Ihnen die Seele sozusagen zu rauben?

Das alles bewegt mich tief – läßt mich nach Menschen, nach Mitteln und Wegen suchen, um das zu ändern.

Christus, Beethoven, Nietzsche, das werden wohl die stärksten, die vornehmsten Menschen, wie ich sie verstehe, bleiben – die Erzieher, an denen ich wachsen und reifen möchte zu dem Ziel, das mir vorschwebt.

Roberts aristokratische Resignation, seinen kühlen Skeptizismus, daß doch nichts Wesentliches zu ändern ist – daß man also gar nicht zu versuchen braucht, es besser zu machen – kann ich mir nicht aneignen –

Eine solche Auffassung würde allen Lebensmut in mir lähmen und ersticken.

Zur Kunst – die Robert und mich ja viel enger verbindet – zieht mich wieder unendliche Sehnsucht nach Glück, nach Freude: die Kunst, »die Schönheit als ein Versprechen des Glücks« – die auch in das ärmste Leben einen Schimmer von Wärme, von Sonne trägt. Aber es quält mich oft, daß ich nicht weiß, was das Dringendere, Notwendigere ist: die Kunst oder die Mitarbeit an der Umgestaltung der Welt. Und das ist dann das, was Robert meine gefährliche Zersplitterung nennt.

Ich ließ ihn also – wie gerne – ruhig mich ausschelten und sagte nur so: »Ach, weißt du, wenn du ein anderer, fremder Mensch wärest, dann wollte ich dir schon antworten, mich verteidigen.«

Aber ihm gegenüber? Was kommt darauf an, recht zu haben? Ich war gar nicht in der Stimmung dazu. Zum Schluß dankte ich ihm dann sehr für seine Scheltrede.

»Es ist doch lauter Liebe und Sorge um dich«, sagte er, als er ging.

29. Januar.

Heute las ich in der Zeitung, daß der Maler Petermann auf der Höhe seines Ruhmes – aus einer glücklichen Ehe heraus – eine sehr seltene, vornehme Frau hatte er gewählt –, sich einer hoffnungslosen Erkrankung wegen erschossen hat. – Welch tragisches Geschick! Bis in Lillis tödliche Abgeschiedenheit wird diese Kunde kaum dringen. Aber es erschüttert mich tief: hat der Blick der Überzarten doch richtig erkannt – als sie ihn vor einem Jahre für gefährdet hielt – daß Todesgefahr ihm drohte? Vermögen die geheimnisvollen Kräfte der Liebe und Sympathie – dieses ach noch so unerforschte elektrische Fluidum zwischen den Menschen – doch mehr, als wir bisher klar zu erkennen vermögen? Wird es in späteren Jahrtausenden und Jahrmillionen einmal möglich sein, das Wesen dieser Anziehung so klar zu erkennen und so genau zu bestimmen, daß nur noch Platos vorbestimmte Hälften sich treffen, daß all unser Kummer von heute über die Verschiedenheiten des Wesens zwischen Liebenden ein überwundener Standpunkt sein wird – daß nur noch Glückliche der Liebe existieren?

Aber wenn der dunkle Hintergrund der Schmerzen, die Mühsal des Ringens nach immer tieferer Verständigung und Vereinigung fehlt – ob dann nicht auch das Glück matter und farbloser sein wird?

19. Februar.

Ich bin sehr glücklich: mein Bild ist beendet – die erste größere künstlerische Arbeit seit – damals. In diesen schweren Jahren habe ich ja selbst innerlich an mir zu zweifeln angefangen – ob ich wohl fähig sein würde, produktiv zu schaffen. Nie habe ich Robert so voll von hilfreichem Interesse gesehen – wie jetzt in diesen Monaten. Seine Kritik hat mir sehr geholfen; es ist so – in diesem Sinne – fast eine gemeinsame Arbeit geworden, wie er es sich immer gewünscht hat. Und, was das beste ist: es scheint ihn ebenso glücklich zu machen wie mich.

Neulich stand er hinter mir, als ich gerade auf der Palette nach einer Farbe suchte und an nichts Böses dachte. Da nahm er in überströmender Zärtlichkeit meinen Kopf zwischen seine Hände, bog ihn zu sich herüber, so daß ich selig die Augen schloß und sagte: »Ist das nun nicht wunderschön, daß wir so zusammen arbeiten?«

»Ja, gewiß ist das wunderschön!«

»Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie etwas so gern getan!« behauptete er.

»Und ich habe noch nie etwas so gern genommen!« sagte ich.

»Du hast es doch gut, daß du den Menschen gefunden hast, der dir durch seine Kritik helfen kann.«

»Ja, das habe ich.«

Und dann machte er mir auch Mut: es würde so gut, wie er kaum gedacht, daß es werden würde!

»Ich danke dir!« sagte ich, als er ging, und gab ihm beide Hände.

Er nahm sie lieb in die seinen und zog mich einen Augenblick näher zu sich heran.

5. März.

Gestern hatte ich wegen meines Bildes eine Besprechung mit dem Kunsthändler, das hier vielleicht noch zur Ausstellung gelangen soll. Als ich zurückkam, war ich betrübt zu hören, daß inzwischen Robert wieder einmal vergeblich da war, um mir Apfelsinen zu bringen, die ich sehr liebe.

Es ist nicht leicht, jetzt fortzugehen – er ist jetzt ganz so, wie ich es brauche, mir immer gewünscht habe. Seit kurzem schweben übrigens Verhandlungen mit Göttingen – wegen einer Berufung. Diesmal scheint es Ernst zu werden. Das, was war, hier in diesen schönen und schweren Jahren, löst sich also auf; ein wenig erleichtert mir der Gedanke, daß auch Robert selbst nicht hier bleibt, das Weggehen nun doch. Aber ich habe auch gar keine Wahl mehr: meine Wohnung ist vermietet: in Paris bin ich durch eine Empfehlung meines Lehrers schon angemeldet, aufgenommen. In zehn Tagen bin ich fort.

Und das ist am Ende gut so – notwendig – jedenfalls für mich.

Nicht nur für die Künstlerin in mir.

Auch für die Frau – für die Frau erst recht.

Keinen Augenblick habe ich mir vorgeredet, es sei Freundschaft, was ich für ihn empfinde, seit die Katastrophe unserer Liebe den Ausdruck erotischen Verlangens zwischen uns unterdrückt hat.

Ich konnte, weil es so sein mußte, auf den körperlichen Ausdruck dieser Liebe verzichten.

Aber mit voller, wacher Klarheit darüber, daß es nur die Größe, die Stärke, die Tiefe meiner Liebe ist, die mich zu dieser schmerzhaften Verwandlung überhaupt befähigt.

Und darum muß ich gehen – mit oder ohne seine Zustimmung.

Ich will das, was ich mir jetzt errungen habe – unter so unsäglichen Kämpfen und Schmerzen – nicht wieder gefährden, nicht wieder verlieren.

Ich kann ihm das, was ich in diesen Monaten innerlich erlebt habe, nicht mit Worten sagen. Ich kann es ihm nur, so gut es geht, durch mein Wesen zeigen.

Und wenn nun den Reizbaren, Sensiblen, dem die Frauen zustreben – wer verstände das besser als ich? – wieder einmal ein Reiz packt: – ich bin nicht alt genug, ich werde auch nie kalt genug sein, das ohne Schmerz ertragen zu können.

Wie ich mich auch als Mensch durchgerungen habe – als Frau würde ich leiden, immer wieder unaussprechlich leiden.

Ich gehe nicht »freiwillig« – wie er vielleicht denkt –, ich gehe auch in meinem Herzen nicht fort von ihm. Ich weiß, ich bin gebunden – wo ich auch bin – »unlösbar« wirklich – wie er damals voraussagte. Ja, ich bin viel tiefer meinem Wesen nach gebunden als manche Frau, die mit dem Mann ihrer Liebe durch einklagbare Rechte und Pflichten verkettet ist. Ich weiß, solang ich lebe, wird es von Bedeutung für mich sein, wie ich den Mann meiner ersten, großen Liebe sehe. Jedes Erlebnis, das sein Bild in dem Sinn ergänzt, wie ich es ersehne und hoffe, macht mich glücklicher – jede Enttäuschung – alles, was es entstellen könnte, läßt mich leiden – wird mich leiden lassen bis ans Ende meiner Tage.

Ich behaupte nicht, ich glaube auch nicht etwa, daß ich nie einen andern Mann lieben werde als ihn. Ich kann mir sehr wohl denken, daß mir ein Mann begegnete, der meinem Temperament wie meiner Weltanschauung viel näher stände als Robert es tut, mit dem die Liebe viel einfacher, natürlicher, glücklicher sein würde als die mit Robert es war. –

Aber auch diese andere, vielleicht sonnigere Liebe würde, wie ich mein Wesen zu kennen glaube, die Liebe zu Robert nicht aus meinem Herzen reißen können, die mich aus einem unerfahrenen Kinde – in den Gluten der Trübsal – beinahe zu einem reifen Menschen geläutert hat. Auch wenn ich den Mann fände, mit dem ich mein Leben ganz leben könnte: der Schmerz um Robert, das Glück durch ihn würde bleiben. Es käme mir ebenso unmöglich und unnatürlich vor, den Mann, an dem ich zum Weibe und Menschen gereift bin, in diesem letzten, höchsten Sinn nicht mehr zu lieben, wie wenn eine Mutter ihr Kind verleugnen wollte.

Eine solche Verbindung wie die zwischen uns bleibt und ist unzerstörbar. – – – – – – – – – – – – –

10. März.

Als ich gestern zu Hedwig ging, um sie zu fragen, ob ich ihr meine Palme, ein Geschenk von Robert, zur Pflege bringen dürfte, erfuhr ich, daß Robert auf ein Telegramm aus Göttingen in seiner Berufungsangelegenheit habe reisen müssen. Vor meiner Abreise hoffe er zurück zu sein.

Ich war erst wie gelähmt vor Schrecken: übermorgen will ich ja reisen – zunächst nach Frankfurt, wo Hannas Hochzeit gefeiert werden soll – dann zu den Eltern, um Ende des Monats, wie vereinbart, in Paris sein zu können.

Ich versuchte vor Hedwig die Sache ganz leicht zu nehmen und sprach vom Wiederkommen. Aber nun hier, bei mir allein – nun erst geht mir ganz auf, was mein Fortgehen eigentlich bedeutet, wie tragisch-unlöslich nun schon so lange in meinem Leben Glück und Qual der höchsten Intensität in eins verschlungen sind. Wird das für mein Leben so bleiben?

Das Glück, hinaus zu dürfen in ein unbekanntes Land – neue Kunst und Kultur in mich aufzunehmen, mein Wesen zu erweitern, meine Fähigkeiten zu stärken – dies langersehnte, heißerstrebte Glück persönlichsten Werdens soll mir nun wirklich zuteil werden. Paris – Paris – um das schon meine frühesten künstlerischen Träume sich rankten, als ich zu begreifen anfing, was ich brauchte. Nun stehe ich auf der Schwelle – endlich! Ach! –

Aber während ich so mit dem einen Teil meines Wesens beglückt dieser neuen Zeit entgegenjuble, beginne ich schaudernd zu verstehen, was Robert meinte, wenn er mich daran erinnerte: »In jeder großen Trennung liegt der Keim zum Wahnsinn.«

Ich sehe mich um in der kleinen Wohnung, die unsere Freude und unseren Schmerz gesehen hat – ich trete auf den Balkon, von dem man die Baumwipfel des Englischen Gartens herüberwehen sieht, um einen Hauch kühlender Nachtluft in diesen ohnehin so entnervenden schwülen Vorfrühlingstagen zu spüren. Mir ist, als wachte ich aus einer Lethargie auf, in der ich seit Jahren gelegen – einer künstlichen, fast bewußten Lethargie, die mich freilich vielleicht allein vor dem Absturz ins grausige Nichts bewahrt hat.

So stolz war ich bisher auf diese Umwandlung meiner Liebe und Sehnsucht, in etwas, das mich noch leben ließ. Aber als – Krüppel – empfinde ich es heute, als – Selbstbetrüger schreit es in mir auf.

Lang gebändigte, von einem harten grausamen Schicksal eisern niedergehaltene Gewalten stehen in mir auf – in flammender Revolution.

Ich gehe ruhelos – wie in einem Käfig – auf und nieder in den stillen Räumen – ich wage nicht, mich zum Schlafen niederzulegen in namloser Seelenqual.

Als hätte ich einen sechsten Sinn – ein Gefühl, ein Gehör, ein Gesicht über das alltägliche hinaus in dieser ungeheuren Steigerung meines ganzen Wesens, in diesem elementaren Aufruhr durch den Schmerz.

Nun begreife ich mit einem Male, warum Robert nicht da ist – warum ich ihn auch nicht erwarten darf.

»Ich könnte es gar nicht ertragen, mich so von leidenschaftlichen Schmerzen zerreißen zu lassen wie du – es würde mich völlig vernichten«, hat Robert oft gesagt.

Das Telegramm – die Abreise – das ist kein Zufall, – es ist das, was notwendig war – für ihn.

Aber für mich??

Ich bäume mich auf in plötzlich hellseherisch gewordener Raserei der Leidenschaft: ich muß noch einmal, ein einziges Mal ihn sehen, zu ihm sprechen können! So – wie es wirklich ist – über alle kluge, lebenskünstlerische Beherrschung, über alle bewußte künstlerische Stilisierung unseres Empfindens hinaus. Unfaßlich, untragbar erscheint mir plötzlich das Schicksal, das unser Schicksal geworden ist.

Aber meine Hände greifen ins Leere.

»Ich bin ja noch so jung – viel zu jung für diese schauerlich-raffinierte Sublimierung, zu der ich mich – aus Liebe, aus lauter hilfloser Liebessehnsucht gezwungen, gezüchtet habe. Ich will ihn haben, wirklich haben!«

Ich fluche dieser grausig-asketischen Liebe – die ich – vielleicht unbewußt – zu meiner Rettung und Betäubung, wohl eine ästhetische Liebe: die Liebe zum Bild, zum Ideal des Geliebten nannte.

Aber nichts antwortet meiner Verzweiflung in meiner Einsamkeit: in einer ungeheuren nie vorher erlebten Spannung des Gefühls, als wollte sich in diese eine Nacht, in diese wenigen Stunden noch einmal alles zusammendrängen, was ich je an Glut empfunden – als würde ich nun, wo ich ihn endgültig hergeben soll, erst ganz sein, ganz wach, zum erstenmal voll bewußt meiner unauslöschlichen, flammendroten Liebe auch des Weibes zum Manne – erscheine ich mir als der seligste und unseligste Mensch auf Erden zu gleicher Zeit.

Ich weiß mir nicht anders zu helfen in meiner Not, als wenigstens im Geist zu ihm in seiner Ferne zu sprechen, an ihn zu schreiben.

Zum erstenmal, zum letztenmal ganz rückhaltlos zu ihm zu sprechen – und weiß doch im tiefsten Herzen schon ganz genau, daß ich nie den Mut haben werde, ihm diesen Brief zu senden, daß er Robert vielleicht erst am Ende unseres Lebens erreichen wird. Aber wie es auch werden mag: ich muß zu ihm reden dürfen, wenigstens hier für mich allein, damit es mich nicht erwürgt:

»Das ist das unsagbar Harte und Grausame an unserem Schicksal, daß unsere Trennung – in ihrem Anstoß jedenfalls – auf einem schauerlichen Irrtum beruht.

Denn wir waren glücklich, hatten zartes, tiefes, seltenes Glück miteinander genossen – trotz allem Leid, allem Ungenügen durch die schwere äußere Situation.

Tausend Glücksmöglichkeiten lagen für uns noch offen – unausgeschöpft, die wir miteinander trotzig dem Geschick hätten abringen können, abringen müssen. Wie durften wir so schnell die Hoffnung, den Willen aufgeben, weiter mit dem Schicksal um unser Glück, um eine immer reichere, tiefere Gemeinschaft zu Kämpfen?!!

Daß eine Liebe, eine Leidenschaft, die ihre natürliche Entwicklung hatte – wenn sie ihren Gipfel erreicht, allmählich herabsinkt und stirbt – wie alles – nachdem es gelebt hat, entspricht dem Lauf der Natur.

Aber – wir – – aber hier – aber so – aber bei uns! Erstickt, erwürgt – mitten im Wachsen und Blühen, im Moment zartester, verheißungsvollster Entwicklung. Es ist etwas mit uns geschehen, was ich – jung und hilflos durch die Gewalt meiner Empfindung, ohnmächtig deiner größeren Reife und Klarheit gegenüber – trotz meines stärkeren Kampfwillens, meines härteren Lebenstrotzes – geschehen lassen mußte.

Was ich selbst durch Torheit und Unverstand noch unwillentlich gefördert habe.

Und was doch ein Verbrechen – an dir, an mir, an unserer Liebe ist.

Eine Sünde gegen den heiligen Geist des Lebens, die niemals vergeben werden kann.

Wo wir noch vor dem Gipfel standen – eben die ersten tastenden Schritte taten – dem Gipfel höherer Gemeinschaft, tieferen Glücks entgegen! Wo ich allmählich zu reifen begann für das, was ich für dich hätte werden können und sollen.

Dieser Mord an dem keimenden Leben unseres Glückes – das ist das namenlose Schwere, was das Erlebnis zwischen uns auf immer unüberwindbar macht.

Es war ja nicht, daß dein Wunsch, dein Wille an mir schon gesättigt war, als wir uns trennen sollten. – Im Gegenteil: du warst es ja, der ›aus allen seinen Himmeln‹ gestürzt wurde, der meines vermeintlichen ›Glückes‹ halber zu diesem Verzicht glaubte greifen zu sollen, zu müssen. Welcher Hohn! Welche Narren des Schicksals sind wir!

So wenig hatte ich die Möglichkeit, dich davon zurückzuhalten, das Grab unserer Liebe zu graben, wie der im Starrkrampf Liegende es hindern kann, daß man ihn begräbt. – – –

Irgendwo in den Sternen war ein tiefes gemeinsames Glück für uns bereitet – wir haben es versäumt.

Dieses nun – das frevelhaft Versäumte, Unausgelebte unserer Liebe – das ist das ›unlösbare Band‹, das uns beide bindet. Das uns binden und halten wird – auch wenn du längst einer anderen Frau gehörst, wenn ich – einem anderen Manne mich verbunden habe.

Ein Band, das über unser Leben vielleicht in eine Sphäre hineinreicht, wo es eine Auflösung für die schrillen Dissonanzen des menschlichen Daseins gibt.

Aber die gibt es wohl nur im menschlichen Herzen.

Doch ein Tag wird kommen – und ich lebte nicht, wenn ich das nicht glauben, für ihn nicht wirken dürfte! – ein Tag, wo der eine versteht, wenn der andere es ihm sagt –, wo wir schon gut machen, was wir einander schuldig geblieben sind, indem wir erkennen, was wir miteinander versäumten – ein Tag, an den ich glaube, auf den ich hoffe – – und wenn es unser letzter Tag sein sollte!« –

*

Auf dem Dampfer »Mauretania« unter dem Äquator, August 1920.

Lieber, alter Freund!

Mehr als ein Menschenalter ist vergangen, seit wir Abschied nahmen. Wir trennten uns, als ich nach Paris ging, um meiner Kunst hingebender, ausschließlicher zu leben, als ich es in Deiner lieben, allzu schmerzlich lieben Nähe vermochte. – Du nahmst zur selben Zeit einen Ruf an die Universität Leipzig an. Unser einst so innig verbundenes Leben ging fortan in getrennten Bahnen weiter – das Leben, das wir einmal unablöslich miteinander verwachsen glaubten. Du gingst Deinen ruhigen stetigen Schritt aufwärts. In Zeitungen, wie durch die Lektüre Deiner Arbeiten habe ich zuweilen einen Schimmer Deines Lebens erhascht. Vielleicht ging es Dir ähnlich mir gegenüber – denn einmal, so schien es fast nach den Beschreibungen des unbekannten Käufers – ist ein Bild von mir in Deine Hände, Deinen Besitz gelangt. Aber über die grausame Kluft jener Trennung hat seit mehr als dreißig Jahren keine Brücke geführt. Heute, nach einem Menschenalter, möchte ich sie schlagen.

Wenig nur weiß ich von Dir – und doch bin ich gewiß, Du hast nicht vergessen. Es ist – was war – auch in Deinem Herzen – wenn auch tief begraben. Wie es in meinem begraben – lebendig begraben – war – und dennoch lebt – lebt – heute wie damals in der unsterblichen Kraft junger unbedingter Leidenschaft. Daß ich es heute wage, über diese bittere Trennung des ganzen Lebens herüber eine Hand zu reichen, eine Freundesstimme, einen warmen Ton zu senden, ehe wir beide hinüberwandern in jenes dunkle Land, aus deß Bezirk kein Wanderer wiederkehrt – daran sind besondere Umstände schuld.

Als Du Deine Frau verlorst vor einigen Jahren, da hätte mich das beinahe, als ich es hörte, veranlaßt, das Schweigen zwischen uns zu brechen, Dir herzliche Worte des Anteils zu sagen. –

Bedenken verschiedenster Art hielten mich zurück.

Mein Mann, mit dem ich mehr als fünfundzwanzig Jahre die Freuden und Mühen des Lebens teilte, hat nie verschmerzen können, daß er nicht die Liebe meines ganzen Lebens war; er hätte jedes freundschaftliche Herübergrüßen in eine Vergangenheit, an der er keinen Teil hatte, nie verstanden, nie ertragen. So mußte auch für mich begraben sein, was vergangen war – um seiner Ruhe, seines Glückes willen.

Ich leugne nicht, daß das oft eine schmerzhafte Vergewaltigung für meine immer nur in der Fülle und Weite des Lebens atmende Natur bedeutete. Denn siehst Du, das ist mein Wesen geblieben, wie Du es kanntest, als der Erste, dem ich mein Werden und Sein, mich selber ganz zu geben versuchte – der mir das Tor zum Leben – und Leiden erschloß: was in mir gelebt hat, was ich einmal in mich aufgenommen – das lebt ewig, unzerstörbar in mir, stirbt nur mit mir selbst. Für mich gibt es in diesem Sinne keine Vergangenheit, keinen Tod – für mich ist alles ewiges Leben, stete lebendige Gegenwart.

Aber keinen Tag vor diesem Tage hätte ich ein Wort darüber sagen können zu Dir – vielleicht am wenigsten zu Dir. Nie kann der Geliebte der Jugend in unseren Augen altern – nie hätte ich ohne die tiefste Erschütterung der Seele vermocht, fremd, gleichgültig-freundlich neben Dir zu gehen.

Alle Asche des Vergessens, heißer Lebensarbeit, schwerer Kämpfe ist nicht imstande gewesen, mir jene Kälte der Unverwundbarkeit zu geben, die einen kühl-gelassenen nachbarlichen Austausch – ohne innigste Verbundenheit der Seele – mir ermöglicht hätte. Auch heute noch könnte ich das nicht. Verstehst Du nun, warum es damals so unsagbar schwer war? Und wenn ich heute die Hand zu Dir herüberstrecke, ist es nicht, weil ich Dich wiedersehen will. Um keinen Preis möchte ich das. So, von hier aus kann ich Dir ja sagen, daß ich es auch heute noch nicht, – also am Rand des Grabes schon vielleicht – des Alters doch gewiß – ertrüge, Deine Augen anders als mit jener tiefen Zärtlichkeit auf mich gerichtet zu sehen, die mich einst in Deine Arme trieb.

Du darfst mich nicht mißverstehen – auch heute noch nicht. Ich meine nicht – und meinte nie – das war gerade unser tragisches Mißverständnis – daß Deine Augen in jedem Augenblick von dem Begehren des Mannes erfüllt sein sollten. – Aber ich meine es so, wie es mir für jede innige menschliche Beziehung selbstverständlich ist: daß auch Dir in jedem Augenblick die Tiefe unserer inneren Verbindung – wenn auch unbewußt – gegenwärtig sein sollte, wie sie es mir war – daß ich nie für Dich in die Reihe gleichgültiger, alltäglicher Menschen sinken könnte, denen man ohne inneren Anteil gegenübersteht. Ich meine einen »ewigen Karfreitag« – jener Ostern vor mehr als drei Jahrzehnten, wo – obwohl nur unsere Augen und Hände – und unsere Herzen – sich berührten – sich mir alles erfüllte, was für mich und Dich noch – nach der Krisis unserer Leidenschaft – zu wünschen möglich war. Diese Karfreitagsstimmung als den wahren, innerlich-notwendigen Ausklang unseres Begegnens uns vor dem Abschied aus dem Leben zum Bewußtsein zu bringen, sie noch einmal zu genießen – das ist einer der tiefen, unausrottbaren, heißen Wünsche meines Lebens.

Lächelst Du, daß mein Herz so jung geblieben ist? Daß ich das heute noch in unverminderter Intensität begehre – wie vor drei Jahrzehnten? Ach, ohne diese Jugend des Herzens, seine Idealität trotz aller Skepsis unseres Geistes – lohnt es doch nicht zu leben in dieser Welt. – – – – – – –

*

Nein, nicht um Dich wiederzusehen, schreibe ich heute.

Ich bin, wenn Du diese Zeilen erhältst, wie der Poststempel Dir zeigt, gar nicht mehr in Deiner Nähe – nicht einmal mehr in Europa.

Ich bin mit meinem einzigen Sohn auf dem Wege zu meinem Bruder, der seit dem Tode meines Mannes im vorigen Jahre nicht aufgehört hat, uns zu sich herüber zu bitten, wo er auf einer der Javainseln – fern den chaotischen Widerwärtigkeiten der Zeit – uns eine Heimat bieten kann. Es ist mir nicht leicht geworden, gerade jetzt Deutschland zu verlassen – in seiner Not, seiner Niedergebeugtheit. Aber es braucht, so hoffe ich, ja nicht für immer zu sein. Vielleicht können wir in ein, zwei Jahren gemeinsam zurückkehren, um irgendwo mitzuhelfen, Deutschland wieder aufzubauen – in besserem Geiste, als der war, der zu diesem tiefen Zusammenbruch führte. – – –

Als ich in den letzten Wochen vor der Abreise alles für diese entscheidende Übersiedlung rüstete, da kamen mir beim Aufräumen auch jene Blätter wieder vor Augen, die von den Jahren unserer Liebe erzählen, – so gut, ach öfter wohl so schlecht ich es damals verstand.

Alles Glück, alle Seligkeit, alle Qual und Not jener Jahre stieg in blutwarmer Lebendigkeit, in unzerstörter Kraft daraus empor, ließ mich lächeln in tiefer Freude, mich grämen in Verzweiflung wie einst. Heute, wo das Geschick jener beiden Menschen – welche die große Liebe gefunden zu haben glaubten, sie verloren und immer wieder nach ihr suchten – uns als ein schöner und schmerzhafter Teil des menschlichen Lebens überhaupt berührt – heute vermögen wir vielleicht zu erkennen, welches Schicksal wir gemeinsam durchlebten, – nicht nur, wie einst, was jeder für sich in der qualvollen Abgeschiedenheit seines Ich durchlitt. In diesen Blättern sind wir – mit all unserem Guten und Bösen, unseren Schwächen und Härten, unserer Reife und Unreife, wie mit unserem Kampf und Mühen um immer bessere, höhere Liebe.

Daher glaube ich, daß diese Blätter nicht mir allein gehören, – daß Du ein Recht auf sie hast.

So möchte ich sie nun in Deine Hände legen. Das ist der Inhalt des Blätterstoßes, den Du mit diesem Brief empfängst.

Als unsere Lebensschicksale sich kreuzten: Du schon erfahren, beladen mit Verantwortungen, schwer kritisch gegen Dich – allzu kritisch wohl oft – ringend nach höherer Vollendung – ich jung, heiß, im Selbstbewußtsein der Unerfahrenheit Absichten und Ziele oft schon mit Leistungen verwechselnd – da gab es Zusammenklänge innig harmonischer Art, aber auch schrille Dissonanzen, die unsere Herzen zerrissen, Deine Nerven ermatteten.

So wie Du eher unsere volle, letzte Vereinigung erstrebtest als ich – so erkanntest Du auch früher die Notwendigkeit der Trennung. Aber Du erkanntest sie – das meine ich auch heute noch, nein, heute erst recht – nach der Erfahrung eines ganzen Lebens – weder in ihren Ursachen noch in ihren Folgen richtig – ganz bis ins Tiefste. Du griffest daneben in Deiner Abwehr, wie ich es in meinen Forderungen getan hatte. Das grausame Mißverständnis, das zu unserer Trennung führte, – das ich von Anfang an dumpf-schaurig ahnte, – ist mir heute noch viel schärfer als ein tragischer Irrtum klar geworden.

Mich traf es jedenfalls wieder wie einst – mit demselben unverminderten, immer noch unverwundenen Entsetzen – wie ich jetzt las, aus welcher Situation, aus welcher Bitte, welcher zärtlichen Klage sich die Katastrophe der Trennung zwischen zwei Menschen wie uns damals entwickelt hat. Ob es Dir nicht jetzt ebenso gehen wird?

Nun schmerzt es mich nicht nur für die arme, törichte, heiße Irene, ein unerfahrenes Weibkind, die erst durch so viel glühende Schmerzen zum Weibe geläutert werden sollte – es schmerzt mich auch nicht allein die Enttäuschung eines geprüften Mannes, der nach manchen bösen Irrfahrten zum ersten Mal ein reines, volles Glück zu umschließen glaubt. Nun schmerzt mich die Liebe zwischen Mann und Weib überhaupt, daß sie »so arm, so hilflos, so ungeschickt ist, gerade da zu verwunden und zu zerstören, wo sie nur heilen und helfen, wachsen und blühen machen möchte«.

Ich glaube nicht ungerecht zu sein, wenn ich heute meine, daß beide nicht recht, nicht tief genug auf den anderen Teil lauschten. Wir hatten beide recht und unrecht gegeneinander zu gleicher Zeit. Da, wo die Frau zu unbedingt mit der idealen Forderung der großen Passion kommt – der ach, so entschuldbare Fehler heißer unerfahrener Jugend – da hat der Mann vielleicht nicht aufmerksam genug gelauscht auf die Motivierung ihrer Klage. Er hat – seiner starken, reiferen Liebe bewußt – im Schmerz der Kränkung – vielleicht nicht fein genug unterschieden, das Verlangen der Frau nach »mehr Liebe« zu einfach nach Männerart interpretiert: also mehr sinnliche Leidenschaft.

Du, der Du doch sonst der Mensch warst, zu wissen, daß alle Wahrheiten, die geistiger Natur sind, ganz und gar auf der Nuance beruhen, Du hast hier die Nuance, auf die es ankam, die Tod oder Leben für uns bedeutete, verhängnisvollerweise nicht erfaßt: daß es galt, der sinnlichen Glut der Liebe immer mehr auch die seelisch-altruistische Erotik zugesellen, die freilich zugleich bis in die letzten Tiefen der sinnlichen Vereinigung hinab-, wie »Art und Grad der Geschlechtlichkeit eines Menschen bis in den letzten Gipfel seines Geistes hinaufreicht«.

Sieh, das ist es nun, was ich mich sehne, noch im Leben von Dir zu hören, daß Du mich, daß Du unser Schicksal heute richtig verstehst. Das Verlangen nach mehr Liebe kann doch niemals eine Kränkung für einen der Liebenden bedeuten, kann im Gegenteil immer nur das gemeinsame Ziel, die Aufgabe eines ganzen Lebens für beide Liebende sein. Heute, wo weder die »Gefahr« noch die Hoffnung besteht, als könne unsere späte Erkenntnis unser Leben noch umgestalten, wo kaum die Spur einer Möglichkeit, einander noch zu begegnen im Leben, bleibt, – heute finde ich vielleicht Worte, die Dich überzeugen, die mir so oft – in der Scheu der Jugend Deiner reicheren Erfahrung gegenüber – fehlten. Vielleicht hat auch Dich – der Du ja schon so viel klüger und weiser warst als ich, wie wir uns begegneten – das Leben inzwischen verstehen gelehrt, wie unendlich viel wir beide hier versäumt haben.

Denn das will ich Dir jedenfalls – über alle Not, alle Entfremdung, alle Ferne und Stummheit hinüber – heute ein einziges Mal noch klar und deutlich sagen: nie habe ich es je verschmerzen, nie werde ich es bis zum letzten meiner Tage verschmerzen können, daß die Ungeduld unserer Leidenschaft unsere Leidenschaft auseinandergerissen hat, – lange, ehe es hätte sein dürfen. Ehe ich gereift genug war, alles das zu empfangen, was einzig Du mir hättest geben können – reif genug, alles das zu werden, was ich Dir hätte werden sollen – ehe wir so verwachsen waren, einander alles mitzuteilen, was gerade wir uns hätten geben können und sollen – auch den Austausch so zarter geistiger Erotik, wie er vielleicht nur unter Menschen möglich ist, die einander ganz angehört haben – wie wir es in wenigen, unvergeßlichen Stunden erlebten. Aber in der Blüte unserer Leidenschaft ist unser Schicksal mit der barbarischen Gewalt sinnlosen Naturgeschehens, blinden Zerstörungstriebes über uns hergefahren, hat mitten im Werden und Entstehen jäh vernichtet – was erst sich entwickeln und reifen sollte – Kostbares, Seltenes, Unwiderherstellbares unter den Trümmern begrabend. – –

Mein Leben ging weiter – wie das Deine – trotz alledem. Es ist köstlich gewesen in Mühe und Arbeit – an menschlicher Liebe, an menschlichem Leid. Aber so bis in die Wurzeln des Seins konnte kein noch so heißes, reiches, glückerfülltes Erleben mehr erschüttern, weil ich keinem mehr geben konnte, was ich Dir gab: den Traum der Ewigkeit, den Glauben an die Einzigkeit und Unzerstörbarkeit der Liebe. Denn an jener Stelle, wo ein ernstes Gelöbnis gegeben war: »beieinander ausharren zu wollen in guten und bösen Tagen, bis der Tod uns scheide,« – schmerzte stets eine Lücke, die sich nie schloß, – eine Wunde, die nie ganz verheilen konnte.

Weißt Du noch, wie ich immer sagte: » Das werde ich nie verstehen, wie zwei Menschen, die sich so lieben – sich dann je so fremd werden können?!«

Nun, wie viel schmerzliche Weisheit ich notwendigerweise inzwischen gelernt, wie Schweres und Schönes ich erfahren habe – dies gerade verstehe ich auch heute noch nicht.

Ich habe versucht, im Leben gutzumachen, was ich damals vielleicht in blinder Jugendglut, in heißem Jugendsehnen, in hilfloser Ungeduld – versäumt, verkannt, zerstört habe – – aber das alles hat mir nicht genug getan. – – – – –

*

Daß Du einst – in der wirren überschäumenden Fülle meiner Jugend – das Zukünftige erkanntest, mir zeigtest, wie das Fehlende zu dem Instinktiven, Glücklich-Ererbten mit Bewußtsein, mit Anstrengung und Mühe hinzu zu erwerben sei – und so mir halfest, zu werden, was ich war – das ist, neben dem Glück und den Schmerzen unserer Liebe, Deine Gabe an mich für das Leben gewesen – eine unverlierbare – unvergängliche.

Aber über dem, neben dem, was ich Dir danke, blieb jenes harte, grausame Schicksal unserer Trennung – das unverwindbare, unverwundene.

Daher sehne ich mich, aus Deinem Munde noch zu hören, daß Du heute begreifst – und Dich freust, daß wir beide noch leben – einander noch sagen dürfen, was wir versäumten – um uns so aus der Ferne den letzten Frieden, jene tiefe Versöhnung und Entsühnung zu geben, die Du einst in meinen Armen zu finden glaubtest.

Wenn ein Wort von Dir zu mir herüber käme – mir sagte, daß Dir unser Bild aus unseren liebsten Tagen, innigsten Nächten klar vor Augen steht, daß Dir auch heute noch, auch heute wieder – der Schmerz, den wir umeinander gelitten haben, lieb ist – wie einst – dann wären gewiß nicht alle meine Lebenswünsche erfüllt – ach, was blieb da trotz tiefer kostbarer Erfüllung an himmelstürmender Sehnsucht noch ungestillt! – wohl aber das verwirklicht, was ich für uns beide heute noch zu hoffen wagen kann.

Vielleicht – warum sollte das Wunder nicht möglich sein – bringen Dir diese Zeilen dasselbe Gefühl innerster Genugtuung, später Erfüllung einer noch ausstehenden Forderung an das Leben, wie es für mich die Bestätigung aus Deinem Munde sein würde, daß Du mich verstehst, heute bis ins Letzte verstehst!

In dieser Hoffnung lebe ich, liebe ich Dich, grüße ich Dich.

Irene.

 


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