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V.

10. August.

Viele Wochen sind vergangen – Wochen, in denen ich nicht wagte, dies Buch zu öffnen – geschweige denn fähig war, in ihm zu schreiben. Nicht die äußeren Geschehnisse waren die Ursache: der Tod von Hannas Mutter, unser – Hannas und mein – Besuch bei Lilli auf Sylt – der Aufenthalt am Meer – ein Besuch bei den Eltern – die Versöhnung mit ihnen nach dem Konflikt – das alles waren nur äußere Hemmnisse.

Aber was zwischen Robert und mir lag – war so unerträglich qualvoll, daß es keine Berührung vertrug, daß ich erst in den letzten Tagen allmählich wieder soviel Kraft und Hoffnung gewonnen habe, um den Dingen ins Auge zu sehen, um über so schmerzliche Erlebnisse überhaupt ein Wort sagen zu können. – – – – – – – – – – – – – –

*

Mitten in unser behagliches Zusammenleben im Juli, das sich gerade so hoffungsvoll entwickelte, kam die Todesnachricht von Hannas Mutter. Auch Robert schien es Pflicht, daß ich Hanna in ihrem Schmerz und ihrer Einsamkeit nicht allein ließ, und ich richtete meine Abreise für den 14. Juli ein.

In den letzten Tagen bestand Unsicherheit darüber, wie es wohl mit mir wäre: mir schiene es so selbstverständlich, so notwendig – erst eine wirkliche Erfüllung unserer Liebe, wenn sie auch die natürlichen Konsequenzen hätte. Mein Liebster schilt manchmal über meine Sorglosigkeit, meinen Leichtsinn in dieser Hinsicht. Aber wenn ich ihn nicht so lieb hätte, daß ich mich nach einem Kinde von ihm sehnte, hätte ich ihm doch auch nie angehören dürfen.

Ich weiß ja natürlich – so kindisch und gedankenlos bin ich nicht –, welche unsäglichen Konflikte aus der Erfüllung meines tiefsten Herzenswunsches entstehen würden; ich weiß, daß ich – Agathens wegen – seinetwegen – meiner Eltern wegen – resignieren muß. Aber ich bringe es nicht fertig, nur daran zu denken, geschweige es mir zu wünschen. Als es sich herausstellte, daß die »Sorge« umsonst war, gab es mir einen Stich durchs Herz – eine schmerzhafte Enttäuschung. So war also meine leise Hoffnung wieder umsonst. Rein instinktiv ist mir manchmal, die Erfüllung dieser Hoffnung müßte die Erlösung aus all unserer Zerrissenheit bedeuten. Aber ich schleppte mich doch heraus zu ihm, um es ihm zu sagen.

Er duldete nicht, daß ich am Abend fortging. In dem kleinen Fremdenschlafzimmer wurde ich sorglich gebettet – wachte mitten in der Nacht auf und sehnte mich nach ihm herüber, der mir so nah und Hedwigs Anwesenheit wegen doch so fern war. Morgens hörte ich dann zum tröstlichen Morgengruß seine liebe Stimme vor der Türe:

»Wie geht es dir, Irene?«

Wenn ich doch an jedem Morgen von dieser Stimme geweckt würde!

Hedwig und Robert hielten mich den Tag über dort, und ich ließ mich gerne halten – trank seinen geliebten Anblick, seine Nähe – im Hinblick auf die bevorstehende Trennung – besonders durstig in mich ein.

Es war solch ein Glück, ihn ansehen zu dürfen, der behaglich in seinem kleidsamen hellen Anzug auf dem dunklen Samt des Sessels saß – bald las, bald mit mir plauderte – mit dem schönen, langgeformten Kopf, dem weichen blonden Haar – der lieben Stimme, die so verführerisch klingt – sich so ins Herz schmeichelt, auch wenn sie nur zärtlich sagt: »Liebe Irene!«

Ein heißer, sehnsüchtiger Kuß in einem Augenblick des Alleinseins machte mich den ganzen Tag froh.

Ich weiß gar nicht, wie es nach diesem glücklich verlebten Tage geschehen konnte, daß er am Abend, als er mich heimbegleitete, unglücklich war: ich hätte etwas von Schwäche, von Energielosigkeit gesagt – das er auf sich bezogen, als einen Mangel an Achtung vor ihm empfunden hatte.

Ich besann mich gar nicht auf diese unglückselige Bemerkung. Es mußte also gewiß ein Mißverständnis sein.

»Man muß doch leben können«, sagte er bitter. »Du weißt ja, wieviel Wochen es jetzt ist – seit ich so unter deiner Unterschätzung leide! Dann liebst du mich eben nicht. Was hältst du denn eigentlich von mir?!«

Ich war so gar nicht vorbereitet auf diese Stimmung des Mißtrauens, der Verzagtheit, daß ich in meiner Bestürzung, aus allen Himmeln gerissen, nichts zu antworten wußte. Aber wir nahmen sehr lieb Abschied voneinander. Ich mußte versprechen, die Reise nach Berlin um einige Tage zu verschieben, damit er mich noch einmal sehen könne.

Am Abend vor meiner Abreise ging ich daher, wie versprochen, zu Hedwig. Robert war den Tag über durch einen Jugendfreund abgehalten worden, zu mir zu kommen, der nach zehnjähriger Abwesenheit – er lebt als Forscher auf einer der Südseeinseln – viel Interessantes zu berichten hatte und stark Beschlag auf ihn legte. Als Robert mich am Abend heimbegleitete, erzählte er mir sogleich, mit welcher Spannung er das Drama eines modernen Dichters gelesen, das ich ihm mitgebracht hatte: die Heldin, eine kluge, geistig selbständige Frau, liebt – nacheinander – drei Männer: erst einen Jugendfreund, einen primitiven Kämpfer, der für seine Überzeugung ins Gefängnis gegangen ist, von dem sie sich befreit, als sie spürt, daß sie sich seelisch über ihn hinausentwickelt hat – dann einen reifen Mann, einen Gelehrten und Weisen, der ihr menschlich-geistig unendlich viel zu geben vermag – bis sie auch über diese Liebe hinaus-, aber nicht hinaufwächst – um endlich in der Leidenschaft für einen geistig unbedeutenderen Mann, der Jugend, Eleganz und sinnliche Anziehung besitzt, vorläufig zu enden. Am Ende erwartet die Heldin ein Kind von diesem Manne, den sie nun zu heiraten verspricht.

Mich hatte an dieser Dichtung die Vielfältigkeit der Anziehungen beunruhigt, durch welche die Heldin sich bestimmen läßt – und so sympathisch mich die Freiheit und Selbständigkeit ihrer Entscheidungen berührte, so wenig war ich mit ihrer letzten Wahl zufrieden. Sie schien mir fast beschämend.

Auf Robert hatte die Dichtung einen tiefen Eindruck gemacht.

»Ich würde es nicht so heroisch-überlegen ertragen, wie es hier Alexander – der Gelehrte – (die wertvollste Gestalt unter den drei Männern der Heldin), erträgt, wenn du einmal einen anderen Mann liebst!« bekannte er.

»Aber nicht wahr, deine Freundschaft, die läßt du mir doch auf jeden Fall?!«

Ich verstand seine Frage in diesem Augenblick gar nicht.

»Es hat mich so gequält, was du kürzlich von meiner Energielosigkeit sagtest«, fuhr er fort.

»Du vergißt immer, welche Lähmung das Schicksal selbst auf mich gelegt hat – Agathe ist meine Frau – aber sie ist nicht mein Weib!«

»Und ich?« fragte ich in qualvoller Spannung.

»Du warst es – und im Sinne unserer Reise – unseres innigsten Zusammenseins bist du es noch. Du bist es nur insofern nicht, seit ich weiß, daß ich nicht dein Mann bin. Und doch habe ich für dich die größte Leidenschaft empfunden, die ich je für ein Weib hatte.«

Wir gingen weiter – seine hoffnungslose Stimmung – so am Vorabend unserer Trennung – legte sich mir wie ein Alp auf die Seele – fand mich vollkommen wehrlos bei meiner in diesen Tagen ohnehin verringerten Widerstandsfähigkeit. So traf mich denn seine gequälte Bitte: ob wir einmal versuchen wollten – ob es nicht besser gehen würde, wenn wir nur Freunde wären – so unvorbereitet nach dem innigen Zusammensein der letzten Tage, daß ich wie irrsinnig vor Schmerz taumelte und zusammengesunken wäre, wenn er mich nicht gehalten hätte. Ich begriff kein Wort davon: wie konnte man von einer so schauerlichen, unausdenkbaren Möglichkeit so reden – plötzlich – einfach beim Nachhausegehen – auf der Straße?! Es war, als sänke ich in einen tiefen Abgrund – ohne Hilfe, ohne Rettung! Das Unfaßliche traf mich wie eine ungeheuerliche, lieblose Roheit: ohne Vorbereitung, ohne eine solche harte Notwendigkeit mit mir gemeinsam zu erkennen, in bewußter Übereinstimmung herbeizuführen! Ein Aufschrei aus gequälter Seele antwortete ihm: »Ich wollte, ich hätte dich nie gesehen!«

»Aber nimm mir doch nicht auch, was war,« bat er nun, »wenn du es bereust, dann nimmst du mir ja wieder, was du gabst!«

In nie vorher gefühltem Schmerz irrte ich an seiner Seite hin – das kleine Paket, das Hedwig mir für die Reise mitgegeben, entfiel meinen Händen, flog in der Verzweiflung meiner Qual auf die Erde – er hob es auf, legte meinen Arm in seinen und führte mich nach Hause. »Hilfe! Wo gibt es die?« stammelte ich verzweifelt.

»Christus!« sagte er.

»Nein,« sagte ich hart – »wer könnte mir jetzt helfen? Das kann nur ich selber!« – – – – – – – – – – –

*

In meiner einsamen Wohnung saß ich wie betäubt von diesem Schlag die lange Nacht. Das konnte ja gar nicht wahr sein! Ich wagte es nicht, mich niederzulegen: als müßte das Grauen, der Schmerz mich ersticken. Kein Schlaf half mir über die Schrecken dieser Nacht barmherzig hinüber.

So wenig ich seine Bitte, seine trostlose Resignation verstand, so wenig begriff ich, wie er am Morgen – unter diesen Umständen – mit einem großen Strauß Rosen vor mir stehen konnte, um mich zur Bahn zu begleiten. Es kam mir wie vollendete Sinnlosigkeit, wie Hohn auf meinen Schmerz vor.

»Hättest du mir die Szene gestern nicht ersparen können?« fragte er vorwurfsvoll.

Ich sah ihn sprachlos an: »Was ich – ihm – hätte – ersparen können?!«

Aber sein Gesicht trug so deutlich Spuren seelischen Leides, sah so schmerzdurchwühlt aus, daß ich begriff: auch er hatte gelitten! Obwohl ich nicht verstand, warum, wieso! Ich hatte ihn doch so unsinnig lieb – und wenn er mich auch liebte, so liebte, wie er immer behauptete, warum mußten wir uns dann diesen grausamen, schauerlichen Verzicht auferlegen? Ich stand vor einem Rätsel. Aber ich erwiderte nichts mehr.

»Denke sehr lieb an mich!« war seine letzte Bitte vor der Abfahrt.

Ich überstand den Tag der Reise, las unterwegs in Stendhal: Über die Liebe! Aber in meinem zerstörten Gemütszustand war das keine trostvolle Ablenkung – so geistvoll diese Analyse ist. Man müßte etwas haben in solcher Not, was wunden Herzen wohltut – so wie fromme gläubige Seelen früherer Zeit zur Bibel greifen oder sich der Madonna zu Füßen werfen konnten. Wenn man leidet und nach Trost sucht, merkt man erst, daß aller Geist, alle Erfindungen des Verstandes, der Phantasie nicht zu helfen vermögen, wie wenig große, warme, aufrichtende, trostvolle Dichtung es gibt: etwas, das stärker ist als das eigene Leid, uns mit der Welt wieder versöhnt. In ernster, resignierter Stimmung kam ich bei Hanna an.

Das Begräbnis war vorüber – Hanna war mir dankbar, daß ich sie in diesen ersten schweren Tagen der Einsamkeit nicht allein ließ. So fest mein Herz in München verankert ist: ich sah, ich müsse meinen Kummer zurücktreten lassen, um ihr ein Halt und eine Stütze sein zu können.

Ich hatte alle Kraft nötig – denn die Zeilen, die ich zuerst von Robert erhielt, waren so trostlos, voll bitterster Resignation, daß es mir fast das Herz zerriß.

»Laßt, die ihr's leset, alle Hoffnung fahren« – das war der einzige erschütternde Eindruck.

Ich mied mit dem letzten Willen zur Selbsterhaltung so viel als möglich Grübeln und Alleinsein, half Hanna bei der Ordnung ihrer geschäftlichen Angelegenheiten und freute mich, daß sie sich entschloß, Lillis Bitte zu folgen und auf zehn Tage mit mir nach Sylt zu fahren. Lilli scheint sich dort in der Tat ein wenig zu erholen.

Ein paar weniger deprimierte Zeilen von Robert aus letzter Zeit – voll leiser Hoffnung – ließen in mir die Daseinsfreude wieder riesengroß anschwellen – nicht zu bändigen ist diese angeborene grundlose Lebenszuversicht in mir:

Wie habe ich nur seine Resignation, fühle ich seitdem – unter dem Eindruck der Dichtung von der untreuen Heldin, meiner vermeintlichen Kritik seiner Energielosigkeit, meiner Forderung nach mehr Liebe, entstanden – so tragisch nehmen, sie als endgültige Entscheidung über unser Schicksal, unsere Gemeinschaft auffassen können!

Als ob wir uns nicht liebten! Über alle Qual, alle Hemmungen der Situation, alle Verschiedenheiten der Naturen hinweg!

Seitdem sind mir die Tage von stiller, gefaßter Heiterkeit. Ich sehe jetzt, rückblickend, wohl, wieviel ich durch die Heftigkeit meines Empfindens gefehlt, zerstört, gefährdet habe – wieviel sorgsamer, behutsamer ich hätte mich ihm gegenüber geben müssen. Wie unsäglich seine an sich selbst stets zweifelnde Natur durch meine sorglose, scharfe Kritik – bei seiner Empfindlichkeit und seinem Mißtrauen – gelitten haben mag!

Zu dieser Reue über meine eigene Unüberlegtheit kommen nun noch mit verdoppelter Gewalt die süßen Erinnerungen an unsere Liebkosungen und Umarmungen – Erinnerungen, die es mir einfach unmöglich machen, seinen Verzicht endgültig ernst zu nehmen.

Nein – ohne seine Liebe zu mir – meine Liebe zu ihm kann ich, will ich nicht mehr leben. Was liegt an unseren Verschiedenheiten? Ich weiß nur, daß ich ihn über alles lieb habe, daß ich alles tun will, was in meiner Macht steht, ihn wieder froh und glücklich zu machen. Nichts will ich, als mich schweigend in seine Arme schmiegen und das Bewußtsein seiner Nähe genießen – – – – – – – – – – –

*

Auch zu den Eltern – ein schwerer Gang – begleitete mich Hanna, die sich vor dem Alleinsein, vor der Rückkehr in die verlassene Wohnung fürchtete. Die Lösung der Spannung zwischen mir und den Eltern gelang nur durch meine Erklärung, nunmehr fürs erste in München bleiben zu wollen, an das mich ja nun auch die Wohnung, der Mietskontrakt für mehrere Jahre kettet. Für später allerdings hoffe ich, meine künstlerische Weiterbildung in Paris wieder aufnehmen zu können. Mit Hannas verständnisvoller Unterstützung kam jedenfalls ein Ausgleich, eine Versöhnung mit den Eltern zustande. Und nun hoffe ich, in acht Tagen wieder bei meinem Liebsten zu sein.

30. August.

Seit zwei Wochen bin ich wieder zurück. Wenn mein armer Liebster sich vielleicht heimlich vor Gemütserregungen, die meine Rückkehr bringen könnte, fürchtete, so ist er um so froher erstaunt, mich ruhig und freundlich zu finden. Ich bemühe mich, alles zu vermeiden, was ihn erregen könnte – und spreche zu ihm liebevoll wie eine Mutter zu ihrem kranken Kinde.

Seinem Resignationsvorschlag gegenüber, der mich in so tiefe Verzweiflung gestürzt hatte, wirkte die sehnsüchtige Unruhe seltsam aufreizend, in der ich ihn fand: dreimal war er vergeblich am Bahnhof, um mich abzuholen.

Auch nicht einen Tag lang hat er übrigens versucht, seinen Vorschlag mit der »Freundschaft« zu verwirklichen. Ich mußte es – tragikomischerweise – sein, die auf seiner Realisierung bestand.

Aber lange hat natürlich mein platonischer Widerstand, mein Kampf für ein Verhalten, von dessen vollkommener Sinnlosigkeit ich überzeugt bin, nicht gereicht. Für mich gibt es jedenfalls nur zwei Wege: entweder ein Ende – ganz und gar – oder immer wieder Liebe, Geduld und Verzeihen. Aber solange wir uns sehen, solange er überhaupt hierher kommt – undenkbar, unsinnig ist das mit der »Freundschaft«!

Hedwig wird noch einmal verreisen: Agathe für ein paar Wochen Gesellschaft leisten, da Robert in seinem jetzigen Gesundheitszustand nicht zu ihr reisen soll. Aber seiner hochgradigen Erschöpfung wegen ist die Abreise um ein paar Tage verschoben. Robert kam selbst, mir das zu sagen, da er versprochen hatte, gleich nach Hedwigs Abreise bei mir zu sein.

Ich ging ihm entgegen, sah sein müdes, angegriffenes Gesicht, nahm ruhig ihm gegenüber Platz und plauderte mit ihm.

»Bist du denn gar nicht froh, daß ich gekommen bin?« fragte er enttäuscht.

Es ist merkwürdig: nun ich so ruhig und anspruchslos bin, wie er mich doch immer haben wollte, ist er mit der seltsamen Inkonsequenz liebender, leidender Seelen damit auch nicht zufrieden.

Ich mußte unwillkürlich lächeln, ging zu ihm heran und zog seinen Kopf zärtlich an mein Herz.

»Gewiß bin ich froh darüber – aber ich bin nicht froh, daß es dir so schlecht geht! Wenn ich dich jetzt nur wenigstens pflegen dürfte! Ich weiß ja, wie du immer wieder durch spätes Zubettgehen – durch nächtliches Arbeiten oder Geselligkeit – dich schädigst. Ich bin außerdem glücklicherweise auch ein gut Teil vernünftiger geworden seit der Reise.«

»Aber das heißt doch alles Liebe aufgeben«, beklagte er sich.

»So – und wer hat mir immer gepredigt, daß ich vernünftig werden müßte?!« entgegnete ich erstaunt.

»Weißt du übrigens,« meinte ich, »mit dem Zusammenarbeiten, von dem du manchmal sprichst, würde es wohl nicht viel werden.«

»Ja, du hast recht,« stimmte er zu, »ich würde wohl immer ganz andere Wünsche im Sinn haben.«

»Das meinte ich nicht«, sagte ich. –

»So, würdest du das nicht zulassen?« fragte er gespannt.

»Daran dachte ich jetzt gar nicht«, wich ich aus; »aber wir wollen vom Leben ganz etwas anderes. Das macht ein gemeinsames Schaffen für mich undenkbar. Gerade deshalb verlange ich so danach, diese Verschiedenheiten durch gemeinsame Studien zu überbrücken, durch gemeinsame Arbeit auszugleichen.«

»Übrigens werde ich über die Bedeutung der künstlerischen Persönlichkeit des achtzehnten Jahrhunderts arbeiten, sobald meine Rembrandtarbeit beendet ist«, erzählte er.

»Ach, warum immer über das vorige Jahrhundert!« sagte ich unbesonnen, enttäuscht.

»Weil jetzt alles zurückgegangen ist«, betonte er etwas gereizt.

»Alles?« zweifelte ich. »Aber es gibt doch auch in unserem Jahrhundert vieles – Strömungen und Persönlichkeiten, die es wert sind, daß man ihnen näher tritt – die moderne Kunst, die soziale Bewegung und Nietzsche zum Beispiel.«

»Ach, um Nietzsche recht zu verstehen, muß man auch erst das achtzehnte Jahrhundert und seine Philosophen gründlich kennen.«

Es ist ja gewiß Richtiges in dem, was er meint – ich verkenne das nicht. – Aber wenn man sich so in die Vergangenheit vertieft wie er, kommt man sehr schwer dazu – die Geister ganz zu würdigen, an den Bewegungen teilzunehmen, die für unsere Zeit charakteristisch sind. Und ist das nicht auch ein Verlust, ein Mangel? Vielleicht der größere Mangel? Aber diese Ketzerei behielt ich für mich.

»Nun muß ich dich wohl fortschicken,« sagte ich, »du siehst müde aus und sollst dich gleich hinlegen.«

»Ja, das mußt du wohl«, bestätigte er. »Wenn ich nur die Zeit deiner Abwesenheit anders hätte verbringen können!« sagte er mit deutlichem Vorwurf.

Ich machte ein trauriges Gesicht, sagte aber nichts. Warum soll ich ihn durch Widerspruch reizen und ihn fragen, ob er uns nicht durch seinen Entsagungsvorschlag ganz unnütz gequält hat?!

»Ja, du denkst, ich wäre leidenschaftslos, weil ich äußerlich ruhig bin – aber bei mir ist es mehr im Innern. Und dann kommt es nachts über mich – so schrecklich!« klagte er. »Und jede Nacht habe ich dann von dir geträumt, mich nach dir gesehnt und nach dir gerufen. Sogar Hedwig, die nebenan schläft, hat sich schon darüber beklagt. In meinem ganzen Leben hat mich bewußt nichts so erregt wie dies Erlebnis mit dir, diese Leidenschaft für dich!

Ach Liebste, Liebe, du bist ein Vampyr – du saugst mir alles Blut aus und sagst dann lachend: ›Ja, aber ich bin immer frisch!‹«

4. September.

Heute ist es ein halbes Jahr, daß wir uns gelobten, uns fürs Leben liebzuhaben – »in guten und bösen Tagen«. Wir haben schon recht viel böse Tage gehabt – aber wenn mir aller Mut und alle Hoffnung schwinden will, dann fällt mir ein: »Was ist das für eine Liebe, die nicht auch in bösen Tagen standhält!«

Und dann nehme ich mein Kreuz wieder auf und schleppe es ein Stückchen weiter.

Hedwig ist abgereist. Es geht Robert ein wenig besser – er ist dann gleich wieder übermütig.

Ich bin sehr froh, daß es mir gelungen ist, ihn einmal zu einem Tagesausflug zu bereden. Dieses Eingeschlossensein in der Stadt ist für mich, die ich bisher gewohnt war, alle paar Tage, zumindest jeden Sonntag, draußen im Freien zu verbringen, draußen zu arbeiten – eine wahre Qual. Ich möchte meine innere Erregung im liebsten durch körperliche Anstrengung bekämpfen: wandern, wandern, bis mich die Füße nicht mehr tragen.

Ich schelte ihn einen Stubenhocker – er würde sicher seine Depressionen eher überwinden, wenn er öfter mit mir hinaus käme in die Natur.

Nun waren wir draußen – seit unserer Osterreise das erstemal richtig allein zusammen in der Natur. Der Ausflug hat uns beiden gut getan. Ein paar tiefe Atemzüge freier Bergluft – man ist ein anderer, besserer, freierer Mensch.

Auf mich jedenfalls wirkt das ebenso wie Kunstgenuß oder produktives Schaffen: all das Quälende, Bedrückende, das aus unserer glücklich-unglücklichen Liebe sich oft auf mich legt, ist dann wie fortgeweht: ich bin ein Mensch, der fest auf sich selber steht, sich selber ganz wieder hat und weiß, was er im Leben will. Ich kann dann auch ihm gegenüber ruhig und liebevoll sein – ohne leidenschaftlich zu fordern –, so wie er es jetzt in seinem nervösen Zustand braucht. Wir waren beide in sehr guter, dankbarer Stimmung über die genossene Erholung. Als er es bei der Rückfahrt übersah, mir beim Einsteigen zu helfen, konnte ich sogar wagen, ihm zu sagen: »Weißt du, was ich manchmal finde: dir fehlt oft die Fürsorge des Mannes für die Frau.«

Er lachte: »Aber ich bringe dir doch Blumen und Süßigkeiten und allerhand Schönes mit. Wie soll ich dich denn sonst noch verwöhnen?«

»Ich dachte nicht nur an mich dabei,« sagte ich ruhig, »ich meine, dir selbst muß etwas fehlen dadurch.«

»Ja, gewiß entbehre ich selbst dadurch,« sagte er nun ernster, »aber das haben nur die Menschen, die glücklich sind, die wirklich das geworden sind, was sie werden sollten. Und daher brauche ich es jetzt gerade, mich von dir verwöhnen zu lassen, du unaussprechlich Liebe, Gute!«

Es macht mich sehr glücklich, daß ich jetzt – nach all den bitteren Erfahrungen – endlich gelernt habe, so zu sein, wie er es brauchen kann, wie er es nötig hat.

»Ich weiß ja,« sagte er, »daß Geben seliger ist denn Nehmen, aber vorläufig bin ich dafür, von dir zu nehmen.«

Er konnte sich nur sehr schwer trennen; als wir in der Stadt ankamen, machte er allerlei Vorschläge zum Zusammenbleiben: in eine Weinstube zu gehen oder noch gefährlichere Sachen. Aber da ich doch jetzt die Vernünftigere sein muß – so schwer es mir fällt, so wenig Talent ich dazu habe –, so schlug ich alles ab, um die gewonnene Erholung nicht zu gefährden. Daß er wieder gesund und froh wird – das ist ja das einzige, worauf es jetzt ankommt!

6. September.

Es geht Robert wirklich etwas besser – ich bin sehr glücklich darüber.

»Also ich werde gewisse Leute jetzt noch mehr verwöhnen«, begrüßte er mich beim Wiedersehen nach unserem Ausflug: wir hatten uns für die Pinakothek verabredet.

Wir wanderten durch die herrlichen Rubenssäle – die er mich so viel besser verstehen gelehrt hat. Mir ist das immer solch ein Glück, irgendwie wieder das Bewußtsein seiner Überlegenheit zu gewinnen – gerade weil er ein so zersetzender Kritiker seiner eigenen Persönlichkeit ist.

Wir saßen zuletzt vor dem wunderbaren »Raub der Töchter des Leukyppos«, dieser ungeheuer dramatischen, blutvollen Darstellung männlichen Begehrens nach dem Weibe.

Es ist für mich gewiß nicht die tiefste und letzte Offenbarung der Liebe – es ist überhaupt nicht die Liebe, wie ich sie meine.

Aber es liegt so eine starke, ehrliche Daseinsfreude darin, ist so fern jeder verlogenen Halbheit und Heuchelei, daß ich es aufrichtig, herzlich, künstlerisch zu genießen vermag.

»Weißt du,« sagte er zärtlich, als wir vor dem Bilde rasteten, »wie lieb du das letztemal warst? Am liebsten habe ich dich auch so wie die Rubensschen Frauen – ganz nackt – ganz frei von aller Konvention. Ach, Liebste, mir ist das stets solch ein Glück mit dir – und du willst einen anderen, einen ›leidenschaftlicheren‹ Menschen!«

Ich wurde heiß und rot unter seinen beschwörenden Worten.

»Ach, du bist töricht, wenn du das denkst«, erwiderte ich nur.

Wie, wie soll ich es ihm denn erklären, was für ein unsinniges, schreckliches Mißverständnis es ist, wenn er das so auffaßt? Um etwas ganz anderes handelt es sich.

Nicht an sinnlicher Glut hat er es fehlen lassen. Im Gegenteil: ich habe ja oft geklagt, daß über dieser Glut die geistige Gemeinschaft zu kurz käme. Auch hat nie ein anderer Mann mich überhaupt als Mann angezogen, habe ich nie je einen anderen begehren können. Nur brauche ich die unmittelbare Gewißheit, daß diesem Begehren nach dem Weibe die Liebe zu dem Menschen in mir gleich ist – daß er meine Seele mit gleicher Intensität liebt, wie ich sein Begehren nach meinem Körper spüre. Immer, wenn ich diese Gewißheit einmal nicht hatte, habe ich gelitten.

Wie kommt es, daß er, der so viel klüger, erfahrener und reifer ist als ich, das gar nicht zu verstehen scheint? Daß er nicht sieht, daß Lieben, recht Lieben eine Aufgabe, eine Kunst, vielleicht die schwerste Kunst ist, die es gibt? Daß eine so kostbare Frucht gehütet und gepflegt werden will und auch erst langsam reifen kann? Daß selbstverständlich Konflikte, Empfindungs-, Temperaments-, Charakter- und Anschauungsverschiedenheiten zwischen Menschen von so ausgeprägter Eigenart auftreten müssen? Ich weiß nun schon, wieviel ich selbst versäumt, zerstört habe – aber das soll mich nicht entmutigen.

Die Rücksichtnahme auf einen anderen Menschen will mit Anstrengung erworben sein, wie ich es jetzt, ungeschickt wohl noch, aber mit vollem Bewußtsein, mit heiligem Ernst versuche.

Ach, wenn ich doch nur den Mut, die Fähigkeit hätte, ihm das alles deutlich zu sagen! Aber ich sagte nur blutübergossen auf seine Klage, ich wolle einen leidenschaftlicheren Menschen: »Ach, bist du töricht, wenn du das denkst!«

8. September.

Diese herrlichen Herbsttage benutze ich, um noch so viel wie möglich draußen zu sein. Ja, so weit versuche ich schon, mich zu emanzipieren, daß ich Verabredungen treffe für Ausflüge oder gemeinsame Arbeit im Freien mit Kolleginnen, wenn ich sicher zu sein glaube, daß Robert doch nicht kommen kann oder nicht mit hinausfährt. Hermine Langheim ist für kurze Zeit in den Ferien nach ihrem ersten Semester hier. Wir verabredeten einen gemeinsamen Ausflug an den Kochelsee.

Wir hatten wundervolles Wetter, genossen den Tag sehr, und sie erzählte mir viel Erfreuliches und Interessantes über ihr Leben in Zürich.

Wenn ich nicht nach Paris müßte, möchte ich wohl auch in Zürich leben – mit seinem freien, internationalen Zug, seiner herrlichen Lage am See und in den Bergen. Ich versprach Hermine, sie nächstes Jahr, wenn irgend möglich, zu besuchen. Daß ich mein Kunststudium unterbrochen habe, versuchte ich damit erklärlich zu machen, daß es Lillis und der Eltern wegen geschehen sei. Wenn sie die Wahrheit wüßte – daß es ganz allein die dumme Liebe war und ist, die mich festhält – sie würde mich gewiß verachten.

Ich selbst komme mir deswegen nicht verächtlich vor – töricht vielleicht und hart ist es natürlich. Aber zu einem ganzen wirklichen Leben gehört doch alles: Kunst und Arbeit an den Menschen, unter den Menschen – und Liebe – und Kinder.

Aber wie schwer wird es uns Frauen gemacht, alles zu haben!

Der Tag mit Hermine hat mich recht erfrischt – obwohl ich ihr so vieles aus meinem innersten Wesen verhehlen mußte. Nach solcher Erholung draußen kann ich ihm dann immer um so freier, heiterer entgegentreten. Es freut ihn – aber zugleich ist er ein wenig eifersüchtig darauf, schmerzt es ihn leise, daß ich fern von ihm so unbefangen froh zu sein vermag. –

*

Gestern gab es ein sehr liebes Zusammensein: er kam in der Dämmerstunde, hatte sich den Abend für uns frei gemacht – und so konnten wir einander mit größerer Ruhe als sonst oft genießen.

»Wie schön ist es, dich zu haben«, sagte er – er hatte mich zu sich auf den Diwan gezogen – mit ein Kissen in den Rücken gegeben und sich in meinen Schoß, den Kopf dicht an meine Brust, gebettet. Er legte meine Hände an sein Gesicht und schloß die Augen. –

»So bin ich ganz wunschlos.« Wir schwiegen beide eine Weile – das Bewußtsein der gegenseitigen Nähe genießend.

Er nahm meine Hände zwischen seine: »Ach, deine Hände, die sind so unbeschreiblich zärtlich und so charakteristisch für dich – und deine Augen – all dein Empfinden, deine ganze Seele liegt darin, du liebe Menschenseele du!« Er küßte mich leise, innig auf die Augen.

»Weißt du,« klagte er, »ich muß erst selbst etwas werden, ich bin krank – oder mein Wille vielmehr, und alle Menschen hacken nun auf mir herum wegen meiner Krankheit. Und du bist am schlechtesten dabei weggekommen, Liebste!«

»Ich glaube es fast auch«, lächelte ich; »aber weißt du, schilt nicht immer auf das Leben, das nichts wert sei: wir sind es doch selbst, die es machen.«

Wir hatten uns aufgerichtet – er lehnte sich an mich und zog mich nun sanft auf seinen Schoß, meine Arme um seinen Hals geschlungen, während er seine Arme um meinen Leib legte.

»Ja, ja, du hast recht«, meinte er nun. »Es ist so furchtbar, daß ich mit meiner Begabung bis jetzt nicht mehr geleistet habe. Ich streue alles in meinen Vorlesungen aus – aber zu den großen Werken kommt es gar nicht. Ich will lernen, mich zu konzentrieren.«

Ich war sehr froh, das von ihm zu hören.

Es kam noch die Rede auf die junge Verehrerin, die Tochter der Generalin. Ich mag diese Mischung von Junkerin, Jüdin und Gelddame rein instinktiv nicht – es ist wirklich nicht nur Eifersucht, wenn ich ihr Wesen ablehne.

»Ihre Neigung ist ernster als du denkst«, sagte er; »sie fühlt, daß ich eine Art habe, vornehm über die Dinge zu denken, die sie nicht hat. Und weiß Gott, wenn ich mit ihr rede, bestärke ich sie noch in ihrer Art.«

»Weißt du, das Beste ist, dich gar nicht mit Menschen zusammenzubringen, die frivol sind – ich wollte schon dafür sorgen«, meinte ich.

»Du hast recht – ›wer nicht die Welt in seinen Freunden sieht –‹ – ich will es auch mehr tun!

Aber liebst du mich denn auch noch, wenn du so alle meine Fehler kennst?!« fragte er bang.

»Ich habe dich im Gegenteil viel lieber als früher!« sagte ich zuversichtlich, überzeugend – »im Anfang unserer Liebe stand ich doch allem voll Naivität gegenüber – es war wie ein lyrisches Gedicht, ein vager Traum. Nun ist es das wirkliche Leben – ich lerne dich kennen mit allem Guten und Bösen und dich liebhaben wie du bist – wenn auch oft mit Schmerzen. Denn die Willkür und Inkonsequenz in deinem Wesen – die quält mich freilich manchmal sehr.

Aber im ganzen habe ich dich viel wirklicher lieb als früher.«

»Hat es mir denn nun wohl geschadet, wie ich früher mein Leben geführt habe?« fragte er nachdenklich.

»Ich glaube doch, daß manches für uns – anders, besser wäre, wenn es für dich dasselbe bedeutete wie für mich: eine erste große Liebe! Es ist eben nicht deine erste Erfahrung!«

Er zog mich zart und ernst an sich und küßte mich ehrfürchtig.

»Doch, Liebling, was ich bei dir erfahren habe, das habe ich zum erstenmal erfahren. Es ist schon ein Reichtum damit in mein Leben gekommen, den ich erst verarbeiten muß und den ich in seiner ganzen Reinheit noch nicht ergriffen habe.«

»Also hoffen wir«, sagte ich still, tief glücklich.

11. September.

Es ist wunderschön, daß es mir gelingt, ihn aus dem dumpfen Brüten im Zimmer ein wenig herauszulocken – gestern zum Beispiel zu einem Ausflug ins Isartal. Es ist solch eine Freude für mich und ihn. Wir können uns jetzt auch viel besser verstehen – ich wage es sogar schon manchmal, zu sagen, wie ich denke.

Es war wundervoller Herbstsonnenschein – und die Färbung der Bäume so herrlich bunt, die Augen genossen ein Fest – und die Brust weitete sich in Licht und Sonne. Wie wir da draußen behaglich wanderten und plauderten, bedauerte Robert wieder einmal, daß ich Goethe nicht ebenso liebe und sehe wie er, daß ich gar nicht verstehen wolle, wie er ihn auffasse.

»Ja, die Lyrik liebe ich sehr – die liebst du gerade vielleicht nicht genug. Aber wenn ich jetzt zum Beispiel wieder den Tasso las – natürlich ist vieles sehr schön und edel und groß – aber: es ist doch, verzeih mir, hundert Jahre alt. Dieses Sichbeugen vor Hofkreisen und äußeren Formen und Stellungen ist meiner Natur zu fremd. Denke, wie Beethoven in Karlsbad sich dagegen empört hat – so empfinde ich auch.

Und du wieder liest meinen Nietzsche nicht!«

»Aber ich kann jetzt nicht – ich bin nicht in der richtigen Stimmung dafür!«

»So,« sagte ich betrübt, »wenn ich deinen Goethe nicht verstehe und du meinen Nietzsche nicht – was haben wir dann gemeinsam?«

»Daß wir etwas Gemeinsames haben, das haben wir doch schon erlebt. Es ist auch viel anregender, mit einem Menschen so nahe zu stehen, der andere Anschauungen hat. Aber was dich betrifft – deinen Reichtum an künstlerischen Ideen – die Stärke deiner Empfindung erkenne ich an. Aber an Klarheit mußt du noch viel lernen.«

»Das will ich ja gerne«, sagte ich nachgiebig.

»Ja, und daß du gar nichts Rechtes gearbeitet, künstlerisch geschaffen in all der Zeit, seit wir uns kennen!«

»Aber wie hätte ich das gekonnt – wo mir die Seele wie eingekerkert war – all die Zeit!«

»Vielleicht haben dich auch deine jungen Freunde und Freundinnen verleitet, mehr von deinen Leistungen zu denken als du bis jetzt geleistet hast.«

»Nein,« meinte ich. »an denen liegt es nicht, daß ich so fest an das Leben, an mich selber glaube. Vielleicht, weil ich mein ganzes Leben, von der frühesten Kindheit an, auf mich selbst angewiesen war – nur mich und meinen sicheren Instinkt hatte. Ich habe meinen Weg – gegen die ganze Welt um mich her – erkämpfen müssen – nie, nie, einen Führer, einen Anreger gehabt – daher ist es vielleicht verzeihlich und begreiflich, daß ich Selbstvertrauen habe. Ohne diesen Glauben an mich wäre ich doch einfach zugrunde gegangen.

Aber in manchen Fragen der Kunst und der Weltanschauung werden wir uns vielleicht nie einigen – denn da liebst und schätzest du auch die nicht so, die mir am höchsten stehen. Deine Auffassung der Kunst ist eine so ganz andere – und dann auch deine gesellschaftlichen, sozialen Anschauungen. Daß du zum Beispiel über manchen gesellschaftlichen Verpflichtungen uns, mich vernachlässigen kannst. – das ist etwas, woran ich noch immer lerne. Entsinnst du dich eines Sonntags bei euch? Wie du dich so lange mit einer Professorsgattin und einem Studenten unterhieltest – und mich ganz darüber vergaßest – so daß ich schließlich still verschwand?«

»Aber nun bin ich ganz elend – jetzt wollen wir von etwas anderem reden«, bat er.

»Gewiß«, sagte ich eifrig, froh, daß ich endlich einmal angefangen hatte, auszusprechen, was mich drückte. »Was bei mir berechtigt ist, das mußt du doch auch anerkennen. Du lieber Gott – ich bin ja noch nicht am Ende meiner Entwicklung – ich bin 24 Jahre, und ich glaube, ich habe viel Anlage, jung zu bleiben.«

»Ja,« sagte er nun zwischen Ernst und Scherz, »und dann quält man Leute, die das nicht haben, halb zu Tode und verleidet ihnen ihr bißchen Lebensfreude!«

»Wer tut denn das?« fragte ich erstaunt.

»Nun du natürlich! Und so viel Not und Kummer machst du mir! Aber sieh mal,« lenkte er nun selbst ab, »die Sonne! Dich vergoldet sie jetzt ganz und gar!«

Ich merkte die Absicht und sah ihn lachend an.

Wir setzten uns auf eine Bank am Waldrand, um noch diese Strahlen ganz zu genießen.

»Ob das Leben wohl einen Wert hat über unser Leben hinaus?« fragte er nachdenklich.

»Sicher für die, die uns geliebt, auf die wir gewirkt haben«, meinte ich.

»Aber was ist dann das Persönlichkeitsgefühl?«

»Ich weiß es nicht, ich denke, es hört mit dem Tode auf. Du willst wohl wissen, ob es einen Gott gibt oder nicht? Nun, ich weiß nichts von ihm – da er unsere Erkenntnis übersteigt. Aber nichts ist mir unfaßlicher, als daß es Menschen gibt, die unbeirrt durch das Grauen des menschlichen Daseins an einen persönlichen Gott glauben, zu ihm beten.

Wie ein denkender Mensch sich mit diesem herzlosen Gotte trösten sollte – angesichts seiner jahrtausendelangen Zurückhaltung – so sehnsüchtig Millionen Menschenherzen in Qual und Not nach ihm verlangt haben – ist mir unbegreiflich.

Ich weiß es jedenfalls aus meiner Kindheit: wie mich dieser ewig rächende, strafende Gott gequält hat, – der überall aufpaßte, ob man nicht etwas Verbotenes beging – und das tat man immer – infolge der Erbsünde – wie man sich auch bemühen mochte. Wie ich gegen den revoltierte! Nein, das war nicht mein Ideal eines Gottes – aller Trotz sammelte sich in mir, bis ich ihn endlich abschaffte. Wie ich glücklich wurde von da an! Schon als Kind von dreizehn Jahren sagte ich einer Freundin, die infolge religiöser Zweifel an Schwermut litt: ›Mache es wie ich: erst seit ich diesen finsteren, düsteren Glauben nicht mehr habe, bin ich fromm, bin ich glücklich.‹

Christus dagegen ist mir von sehr früh auf das Symbol der höchsten menschlichen Güte und Vornehmheit gewesen – Trost und Halt in aller menschlichen Unzulänglichkeit – aber ganz losgelöst von der dogmatischen Vorstellung, die ihn zum Gott, das heißt zum Götzen macht.

Diese religiöse Revolution, diese seelische Emanzipation vollzog sich schon früh bei mir – fast ein Jahrzehnt, ehe ich von Nietzsche wußte. Er hat mir nur eine wundervolle Bestätigung und Ausdeutung alles dessen gegeben, was ich selbst geahnt und ersehnt; er gab mir Gott wieder in der einzig möglichen, beglückenden Gestalt: den großen, vornehmen Menschen.«

»Ja, darin empfinde ich ganz mit dir«, sagte Robert warm. »Es ist so wunderschön, daß dir die großen Persönlichkeiten auch so viel bedeuten. Bisher irrten meine religiösen Bedürfnisse umher wie flatternde Tauben – nun ich sie mit dir teile, haben sie so vielmehr innere Berechtigung, Schwergewicht für mich erhalten.«

»Nicht wahr: den Menschen zu dienen und aus sich selbst einen vornehmen Menschen zu machen, das ist die einzige Art von Religion, die Sinn hat«, fragte ich – sehr glücklich über seine Zustimmung. »Und je glücklicher man selbst ist, je reicher man sich fühlt, desto mehr hat man das Bedürfnis, abzugeben, die Welt glücklich zu machen. Findest du nicht auch? – – – – – – – – – – – – – – –

Wir hatten uns inzwischen erhoben und waren zum Bahnhof zurückgewandert.

»Siehst du,« sagte er froh, als wir im Zuge Platz genommen und er sich sorgsam um mich bemüht hatte, »nun können wir uns doch schon viel besser unterhalten. Auch du hast schon viel besser gelernt, zu sprechen.«

»Ja, es wird noch einmal sehr gut mit uns werden«, sagte ich heiter und hoffnungsvoll.

Wir saßen nun schweigend – im frohen Gefühl der Zusammengehörigkeit – unter den zahlreichen Ausflüglern, die mit uns heimkehrten.

Zuletzt, ehe wir uns trennten, sagte er noch: »Und wie mir das geholfen hat, was du mir neulich gesagt hast – mit dem Verwöhnen! Und daß ich nicht mehr so kokettieren und nicht so frivole Flirts unternehmen soll.

Ich denke jetzt immer daran – und wenn ich mit anderen Frauen und Mädchen spreche, will ich nur helfen, zu ihrer geistigen Klärung beitragen.«

Ich ging so froh zurück: ihm menschlich so viel sein zu dürfen, ist sehr schön.

Aber – ich will nicht nur moralisch wirken – ich will auch geliebt werden!

14. September.

Es ist etwas ganz Merkwürdiges um die Liebe: man ist nie zufrieden. Wenn er sehr verliebt ist und nach mir verlangt – quäle ich mich, ob er wohl auch ebenso innig den Menschen in mir liebe – und sind wir menschlich-freundschaftlich gut, dann sorge ich mich, ob er mich wohl auch ebenso leidenschaftlich begehre.

Und nun gestern war er gewiß leidenschaftlich! Aber – ich blieb doch mit einem seltsamen Gefühl zurück: ich meine es doch anders. – – – – – – – – – – – –

Er kam gegen Abend – von einem Diner bei seinen Bankierfreunden in Tutzing – ein wenig angeregt vom Wein, vom Kaffee – und wollte mich gleich so stürmisch in seine Arme ziehen, daß ich mich lachend befreite und mich ganz entfernt von ihm niederließ.

»Was bedeutet das?« fragte er.

»Krieg«, sagte ich.

»Komm doch zu mir«, bat er.

»Nein, nein, die Ferne ist besser«, sagte ich.

»Quäle mich doch nicht«, sagte er.

»Ich will dich einmal quälen«, neckte ich.

Aber dann holte er mich doch in seine Arme – und wir versanken in einen Rausch von heißen, wilden Küssen – ich hätte seine Seele trinken und die meine hingeben mögen in dieser Süßigkeit wollüstigen Genießens. Für mich sollte es kein Ende geben dieser Lust; sie ist der Anfang, die Mitte und das Ende aller Freude. Das zarteste und berückendste Symbol der letzten Verschmelzung, das Tor, durch das auch der Geist mit einzieht in die brennende, glühende Sehnsucht der Körper nacheinander – das Mittel der Beseelung, ohne das auch die glühendste Vereinigung der Körper nur grobe Mechanik bleibt – der Weg, ohne den es keinen Zugang zum höchsten Entzücken gibt. Seine männliche Sehnsucht eilte der meinen voraus, konnte sich nicht genug tun, mich immer heißer, inniger, wilder, gewalttätiger zu besitzen. Keine Schranken, keine Hemmungen sollte es mehr geben zwischen uns – keine Besitzergreifung, nach der ihn nicht verlangte, die er nicht stürmisch forderte und nahm. Wie ich auch versuchte, seine Wildheit zu zügeln, seine Glut zu dämpfen – schon aus Sorge um seine Gesundheit, die, wie er selbst neulich einmal bitter konstatierte, »der Leidenschaft einer Leidenschaft nicht gewachsen sei« – er wollte von keinem Besinnen, keiner Schonung hören.

Ohne diese Sorge um ihn, ohne das Bewußtsein, die Furcht, daß auf einen solchen Aufschwung eine Depression folgen könnte – hätte ich seine stürmische Werbung viel tiefer genossen.

Und als wir uns endlich im letzten Höhepunkt und Taumel zusammenfanden, da waren wir beide so weit ab, entfernt der Wirklichkeit, daß wir alle Bedenken, alle Sorgen ruhigerer Stunden vergaßen.

»Du bist ja doch mein, ganz mein – mein Weib!« war das einzige, was er wußte.

Ganz entrückt versanken wir in selige Ermattung, hielten einander in jener Stimmung, von der ich nur weiß, daß es kein Ende, keine Trennung je geben dürfte.

Aber am Ende, o diese Qual aller Qualen für mich, mußte er doch gehen.

Daß es nach solcher Vereinigung eine Trennung geben kann – man nicht innig vereint entschlummert und froh gestärkt am Morgen zu neuer Arbeit aufwacht –, das wird wohl für mich der Schrecken des Schreckens bleiben. Etwas, das immer wieder wie ein Fluch in all mein Glücksempfinden einbricht, es ewig verhindern wird, daß unsere Glücksmöglichkeiten sich je vollenden und erschöpfen. Und wie oft er sich auch abschiednehmend über mich beugte, wie oft ich ihn auch zurückrief in meine Arme, um noch einen Kuß, noch einen zu empfangen – einmal mußte er dann doch wirklich gehen.

Ich blieb ganz heiß, von tausend glühenden Erinnerungen erfüllt, zurück. Ja, gewiß, das war Leidenschaft, Liebesraserei – aber, aber, die Palme, die Krone hat für mich dennoch jene eine heilige Nacht der Liebe.

21. September.

Acht qualvolle Tage liegen hinter mir – Tage des Grauens, des tiefsten Schmerzes, in denen mir schien, ich wisse nun zum erstenmal, was die Hölle sei.

Ich hatte das Gefühl, langsam lebendig verbrannt zu werden – fast acht Tage, acht Nächte lang.

Wir trafen uns zwei Tage nach unserem heißen Liebesrausch bei Reichmanns, die nach mehrmonatlicher Abwesenheit – sie haben eine Studienreise durch Großbritannien und die Niederlande unternommen – zum erstenmal wieder ein paar Freunde bei sich sahen.

Obwohl wir uns unter den anderen kaum allein sprachen, war ich doch tief erschrocken über seinen Anblick. Er sah so elend aus, war so deprimiert, daß ich bestürzt nach der Ursache fragte. Er bekannte, er habe am Abend vorher mit Professor Lauber und einigen anderen Kollegen und Studenten noch lange gesessen, getrunken, geraucht. Ich wurde traurig und böse zugleich: wo es jetzt so sehr darauf ankommt, solche Störungen zu vermeiden! Und wo er – nach unserer Liebesextase – doppelt Ursache gehabt hätte, sehr schonend mit sich umzugehen. Und da traf mich – wie ein Schlag ins Gesicht – beim Aufbruch, wo wir einen Moment uns allein sprachen, die halb verlegene, halb entschuldigende Bemerkung: »Ich hatte neulich auf dem Diner wohl zu viel Wein getrunken!« Also ein Weinrausch war seine Liebesglut gewesen? Ich wurde so traurig, daß ich kein Wort mehr sagen konnte; er bettelte noch um ein freundliches Wort, ehe uns die anderen trennten – ich wollte sprechen – aber kein Ton rang sich mir über die Lippen.

Und dann kamen die andern – der junge Wiener Dichter, der eine besondere Sympathie für mich hat, die männlich aussehende Lehrerin Frau Roeder, mit der unsympathischen Stimme, die beide den gleichen Weg mit mir zu haben behaupteten – ich wurde von ihm fortgerissen.

Ich konnte mich hiernach nicht entschließen, den Sonntag zu Tisch zu ihm zu gehen, wo er mich erwartete. Denn ich hatte Hedwig versprochen, wenigstens jeden Sonntag ihm an ihrer Stelle Gesellschaft leisten zu wollen.

Ich ging auch nicht zu seiner Vorlesung – ich ging überhaupt nicht aus. Ich fürchtete mich, ihm außerhalb des Hauses zu begegnen.

Und von ihm kam kein Gruß, keine Nachricht. Dazu die Sorge um seine Gesundheit. –

Endlich schrieb ich ihm: »Wenn du nicht willst, daß wir uns zum letztenmal gesehen haben –.«

Ich weiß es nun schon längst: »es muß sich immer der am meisten demütigen, der am meisten liebt.«

Er kam sogleich – ich saß stumm da und wartete, daß er es mir erklären sollte:

»Ich war so böse, daß du mich am Sonntag allein ließest,« begann er, »du wußtest doch, daß ich krank war und Dienstag zur Vorlesung kamst du auch nicht! Ich fühle mich so elend, habe keine Nacht geschlafen. Mein Herz war so schlimm, daß ich dachte, es ginge zu Ende. Ich wußte wohl, daß du Unruhe hattest – aber –«

»Ja,« sagte ich bitter, »ich weiß es nun: zuweilen erwachendes sinnliches Verlangen und Liebe sind zwei verschiedene Dinge. Die Liebe ist eben immer da.«

»Aber da denkst du etwas ganz Falsches: Du weißt doch, daß ich dich liebe – ganz und gar – geistig und sinnlich!«

»Ja, aber weißt du denn gar nicht mehr, was du das letztemal bei Reichmanns gesagt hast?«

» Das war es?!« sagte er erschrocken, entsetzt, begreifend – »du Armes, Liebes! Nein, das habe ich nicht gewußt! Nicht wahr, das weißt du, daß ich es dann verstanden hätte und nicht so trotzig gewesen wäre!«

»Ja,« sagte ich, »du hättest doch aber wissen können, wissen müssen, daß ich dir keine Szene machen würde – ich war ja so froh, daß es dir überhaupt ein wenig besser ging bis dahin!«

Da kniete er plötzlich vor mir in leidenschaftlicher Reue und lehnte seinen Kopf an meine Brust: »Vergib mir! Vergib mir! Liebste! Gib die Hoffnung nicht auf – sonst ist alles verloren. Es ist wirklich manchmal, als ob das Böse Macht über mich hätte!«

Ich sah ihn an: er hatte Tränen in den Augen – ein unsäglich bitterer Zug hatte sich in sein Gesicht gegraben: »Liebe Irene! Liebe Irene! Du leidest an einem anderen Menschen – aber ich leide an mir selbst! Glaubst du, daß aus meinem Leben noch etwas Ordentliches wird?«

»Ach, Fernstehenden kannst du gewiß manches geben und sein, immer, wenn es sich um deine geistig-künstlerischen Qualitäten handelt – da bist du ja auch für mich ganz das, was ich meine! Ach, wenn ich nur ein wenig Hoffnung haben kann, will ich ja gern Geduld haben – mein Kreuz wieder ein wenig weiter schleppen.« –

Ich blieb gefaßter, ruhiger, wenn auch noch traurig durch dies aufwühlende Erlebnis zurück.

22. September.

Wie immer in solchen Fällen, wenn meinem Liebsten unsere Liebe ganz zum Bewußtsein gekommen ist, trotz unserer qualvollen Verschiedenheiten, erschien er nun sofort am anderen Vormittag wieder, als ich gerade – mit etwas befreiter Seele – bei der Arbeit saß und ihn gar nicht erwartete. Er schlang gleich den Arm um mich: »Ich wollte dir noch danken für den gestrigen Tag! – Armer Liebling, was habe ich dir wieder für Schmerzen gemacht! Verstehst du es, wie ich das habe tun können?! Weißt du, meine sinnliche Liebe für dich müßte zu etwas viel Lieberem für dich werden – die Wildheit steht mir nicht mehr.«

»Ja, das ist so schmerzlich für mich, daß bei dir immer solche Reaktion darauf folgt,« sagte ich, »ich habe das nie. In diesen Tagen habe ich verstanden, was das bedeutet: ›Die Liebe vergibt dem Geliebten alles – sogar die Begierde‹.« –

Er war sehr blaß und angegriffen – ich sah es und erschrak.

»Willst du dich nicht niederlegen?« bat ich, bis er nachgab und ich ihn auf den Diwan betten durfte.

»Nun wirst du noch barmherzige Schwester«, lächelte er, als ich ihm dann ein Glas Wein zur Stärkung reichte. »Soll ich dir ein Kreuz umhängen?«

»Ach nein,« sagte ich zwischen Ernst und Lächeln, »das ist nicht nötig – das habe ich schon. Das liegt hier vor mir.«

»Ja, wahrhaftig, das hast du!« gestand er zu. »Und daß ich damals in unbegreiflichem Egoismus nur an mich gedacht habe!«

»Ja, wenn ich dich gekannt hätte, wie ich dich jetzt kenne, hätte ich es wohl nicht gewagt!«

»Aber ich möchte es doch nie entbehren – dies Erlebnis mit dir – nie – nie!« wiederholte er heftig, inbrünstig.

»Nun, wenn du solche Stunden erlebt hättest wie ich neulich! Denke, wie furchtbar für mich, daß ich nun nicht mehr hier fort kann, durch die Wohnung, durch die Verpflichtung den Eltern gegenüber, durch die Übernahme der Malstunden zum kommenden Winter jetzt hier gebunden bin!«

»Du sollst doch auch gar nicht fortgehen!«

»Es wäre aber alles viel leichter für mich. Doch die Intensität meines jetzigen Leidens verbürgt mir auch eine gleiche Intensität des künftigen Glücks!«

Er lag mit stillem Lächeln da und zog mich nur manchmal sanft zu sich herunter, um mich zu küssen. »Hast du eigentlich eine Ahnung, was für Liebes ich jetzt genieße?« fragte er.

»Weißt du, du müßtest wohl einen reiferen Menschen haben, den das alles ruhiger ließe« – sagte ich, »der schon über dem allen stände – nicht einen jungen Menschen wie mich – der so darunter leidet –«

Da legte er meine Arme um seinen Hals – seinen Kopf an meine Schulter:

»Das gestern werde ich dir nie vergessen – und wenn ich hundert Jahre alt werde«, sagte er dankbar. »Du warst so unaussprechlich lieb und vornehm – ganz Gnade und Verzeihen.«

Und doch ist auch das nur Selbsterhaltung – wie könnte man sonst leben?!

Er küßte still meine Hand: »Komm doch wieder zu den Vorlesungen – wenn ich dort auch nicht viel von dir habe – wenn ich dich nur sehe und den Saum deines Gewandes.« –

24. September.

Seltsam, wie schnell meines Liebsten Gemütszustand aus tiefster Melancholie und Verzweiflung in Heiterkeit und Genußfähigkeit umschwingt: nun war er in diesen Tagen schon wieder sehr übermütig, der Anziehung seiner Persönlichkeit den Frauen gegenüber lebhaft bewußt, wie ich im Anschluß an seine Vorlesungen hatte beobachten müssen. Die Schwester eines seiner Studenten, die Tochter seiner Bankierfreunde Oppenheimer, war es, über deren Versuche, ihn zu gewinnen, er sich selbst oft ein wenig ironisch geäußert hat.

Als er kam, setzte ich mich ihm kampfbereit gegenüber: »Aber ich denke, du wolltest nicht mehr so mit anderen Frauen und Mädchen kokettieren?«

»Das wollte ich auch nicht«, sagte er lächelnd und holte mich an beiden Händen zu sich herüber.

»Aber diese Beziehungen waren vor dir angeknüpft – und jetzt sind sie damit abgebrochen, du liebes Frauengemüt, du!«

»Ja, siehst du,« sagte ich, von seinem Arm festgehalten: »für mich gibt es bei allem nur zwei Wege: entweder ein Ende – ganz und gar – oder – immer wieder Verzeihen. Aber solange ich dich sehe – hier bei mir sehe –«

Er zog mich liebevoll fester in seine Arme – neben sich nieder – »natürlich nicht« – und küßte mich so wild und verlangend, daß ich erschrak.

Ich hatte ganz allgemein gesprochen – ohne jeden Gedanken an die letzten Konsequenzen. Sein plötzliches Reagieren darauf empfand ich schmerzhaft peinlich als ein Mißverstehen.

»Laß mich, ich laufe dir fort«, sagte ich.

Er nahm wohl meine Weigerung nicht ernst und gab nicht nach – bis ich in meiner Hilflosigkeit in Tränen ausbrach.

»Aber man weiß doch auch nie, wie du es meinst«, klagte er verzweifelt, verwirrt.

Ich vermochte ihm den Grund dieser Weigerung nicht mit Worten zu erklären – aber ist es nicht begreiflich, daß ich gerade nach dem letzten Erlebnis so empfindlich bin?

Ich lag still weinend neben ihm, ohne mich rechtfertigen zu können, als er mich unverständig und widerspruchsvoll schalt –

»Und Freitag warst du doch so unendlich liebevoll und vornehm. Du mußt doch fühlen, daß ich uns helfen will, klar zu werden. Wir sind nicht wie zwei Sympathievögel – die in ewigem Jubel leben können; wir sind sehr verschieden – aber ich möchte doch auch das Schicksal nicht entbehren, das darin liegt. Und ich habe doch am meisten gelitten – dadurch!«

»Aber ich will nicht so werden, wie du! Gräßlich!« entfuhr es mir heftig, impulsiv, schonungslos. Ich erschrak selbst sogleich vor dieser offenen Lieblosigkeit und hätte alles darum gegeben, das Wort zurücknehmen zu können. Es schmerzte ihn wohl sehr – aber nun war er der Überlegene, Gütige. Er sagte nur ruhig:

»Wenn ich das zu dir gesagt hätte, liefst du jetzt weinend fort!«

Ich fühlte, daß er gut war – aber ich blieb doch wie aus tausend Wunden blutend zurück. Wie kann es nur so schwer sein, sich zu verstehen?! Und es gibt doch Dinge, die man nicht sagen kann, die der andere mit uns fühlen – von selbst fühlen muß, meine ich.

Freitag, 28. September.

Ich hatte mich nach diesem Zusammenstoß sehr nach ihm gesehnt – das gutmachen zu können. Denn jeder Tag, jede Stunde scheint mir verloren, die wir nicht zusammen glücklich sind. Gestern nun, als er kam, – etwas fröstelnd bei der kühlen Herbsttemperatur draußen und drinnen – behielt er seinen Mantel zunächst an; das gab der Situation etwas so Kühles, Fremdes, wie er sich zu mir setzte, daß es mich gleich ganz melancholisch machte.

Als er nun gar berichten mußte, daß er Mittwoch, wo ich mich so unsäglich nach ihm gesehnt hatte, mit ein paar Kollegen in den »Räubern« war – sagte ich traurig: »Ich dachte, du hättest soviel zu arbeiten?«

»Ja, du willst, ich soll nur für dich da sein – aber verstehst du nicht, daß ich auch manchmal mit Männern über alles sprechen möchte? – Du hast mich eigentlich viel konservativer gemacht in der Beziehung.«

»Wenn das allgemein so wäre, dann möchte ich nicht als Weib auf der Welt leben,« sagte ich ernst, »ich kann es ertragen, daß wir beide uns geirrt haben sollen – aber daß es allen Menschen so gehen soll – der Gedanke würde mich wahnsinnig machen. Wenn du mir jetzt von Menschen erzähltest, die sehr glücklich wären, das würde mich trösten, mich froh machen. Wenn nur irgendwo auf Erden das Glück ist!«

»Gestern hatte ich Besuch von alten Freunden – Geheimrat Meßmers – sehr liebe, feine Menschen – die paßten viel besser zu dir als ich –« sagte er bedrückt.

»Ich werde dich zu meinem Verlobten avancieren lassen müssen«, sagte ich gequält, in bitterem Scherz.

»Ach nein, das steht mir erst recht nicht mehr«, wehrte er ab.

»Nun, wenn das nichts nützt, dann müssen wir die Hoffnung eben aufgeben«, sagte ich aus meinem zerrissenen Zustand heraus resigniert.

Es schmerzte ihn sehr: »Kann ich dir denn so wenig sein? Du mußt doch die körperlichen Zustände bedenken, in denen ich war.«

»Ja, ich fühle wohl, daß du gut bist – aber es ist seltsam: es dringt nicht ganz bis zu mir.«

Jetzt ergriff ihn die Melancholie: »Du bist wirklich wie die Heldin des Dramas, das mich vor deiner Reise so gequält hat. Ich werde dir also wohl deinen Vernier suchen müssen – ich werde dein alter Freund und darf nur noch dein Kritiker sein.«

Nun zog ich ihn zu mir herüber:

»Ach, Torheit, wie denkst du dir das! Du kommst hierher – und dann bist du in schrecklich lieber Stimmung – und ich weiß schon, wie es dann kommt.«

»Ja, das schadet ja auch nichts!«

»Nun, dann brauchst du doch auch nicht so melancholisch zu sein. Weißt du« – ich zog ihn fester in meine Arme – »du sollst von mir liebhaben lernen –«

»Aber erst muß ich gesund werden« –

»Ja, aber du läßt mich doch nicht allein?«

»Nein, nein, ich lasse mein Herzblatt nicht allein – es ist ja nur für dich, um deinetwillen – all diese Qual.

Ich bin ja befriedigt bei dir – nur daß du es nicht bist – das ist so schrecklich!«

»Ja, aber das Unbefriedigende liegt doch fast ganz in der Situation, nicht in dir«, sagte ich. »Ich habe dich doch so über alles lieb!« – und meine Hände umschlossen zärtlich sein geliebtes Gesicht.

»Hast du?« zweifelte er.

»Ich glaube – du liebst,« erkannte er an, »aber nicht eigentlich mich. Wenn du mir ein Rezept geben könntest, wie ich ein Mensch mit voller, ungebrochener Willenskraft und Lebensfreude werde! Jede Klage von dir mahnt mich so bitter an das, was mir fehlt.

Und wenn du nur nicht gleich immer so leidenschaftlich und ungestüm wärst! – Du hast überhaupt alle Fehler und Vorzüge einer künstlerischen weiblichen Natur: ein künstlerisch angeregter Geist – aber auch voller Widersprüche darin – wie Lauber immer so deutlich beweist.«

»So – auf den mußt du gerade hören! Diese kalte enge Streberseele! Wie dein böser Geist erscheint er mir – wie so ganz anders werten wir die Dinge!« zürnte ich. »Was schadet es denn, ein Mensch mit seinem Widerspruch zu sein? ›Man ist nur fruchtbar um den Preis, an Widersprüchen reich zu sein‹ – glaubst du das nicht auch?«

»Aber zur Klärung all deines feurigen Überschwanges könntest du mich so gut gebrauchen«, sagte er. »Dein Empfinden ist wie ein prächtiger Marmorblock – aber ein noch unbehauener. Aus dieser allgemeinen Gebärstimmung mußt du herauswachsen zu produktivem Schaffen. Über mich wirst du dann auch hinausgehen; ich darf höchstens dein alter Freund sein, der dir mit seiner Kritik, seinem Rate beisteht. – Und daß du so gar nichts Rechtes gearbeitet hast in diesen Monaten«, tadelte er.

»Aber wie hätte ich in dieser mich innerlich so umwälzenden, erschütternden Zeit ruhig arbeiten können?« verteidigte ich mich. »Und du, was tust du denn so Großes? Du versäumst soviel von deiner kostbaren Zeit mit ganz unwesentlichen Menschen – anstatt deine große Rembrandtarbeit zu vollenden – und spielst mit Katzen. Und hier – hast du doch eine Katze, mit der du spielen kannst!«

»Ja, auf den Vorschlag gehe ich gerne ein, Herzblatt!« sagte er heiter.

»Was hast du für große, leidenschaftliche Stahlaugen! Nun siehst du wirklich wieder aus wie das leibhaftige Glück!«

»Aber du hast mich eigentlich noch nie ordentlich in die Arme genommen!« neckte ich und schmiegte mich enger an ihn.

Er lächelte: »Du bist ein Wildfang, du weißt gar nicht, wie wild du bist!«

»Ach, ich wollte, ich wäre an deiner Stelle – ich wüßte schon, wie ich's machte.«

»Such dir doch einen von den modernen erotischen Künstlern oder Dichtern aus!«

»Nein, nein,« ich umschlang ihn fest – »ich will keinen andern – ich will dich

»Ja, aber ich liebe dich auch als Mensch – und ich soll nur dein Mann sein – als Menschen magst du mich eigentlich gar nicht.

Sieh, für mich sind diese Schmerzen und Kämpfe mit dir die feinen Schnitte, die mir den letzten Saft herauspressen – und dir tut es jetzt viel weher – aber nachher blühst du um so lustiger fort – du strotzest ja förmlich vor Saft, vor Lebenskraft.«

Lassen wollen wir uns nicht – trotz aller Schmerzen, die wir uns bereiten – das war das Resultat unserer Weisheit, als wir auseinandergingen.

29. September.

»Du warst gestern so lieb, Herzblatt«, begrüßte er mich.

»Du ja ausnahmsweise auch!« gab ich heiter zurück.

In seiner jetzigen ein wenig melancholischen Zärtlichkeit spüre ich mehr von Liebe als in der oft so jäh und gedankenlos zugreifenden Leidenschaft früherer Zeiten.

»Was würdest du denn sagen, wenn ich so wäre wie du?« fragte ich.

»Das würde doch gar nicht zu deinem Wesen passen«, wich er sehr geschickt aus. »Und ich habe dich in einigen Situationen gesehen – so unsagbar lieb und vornehm – das Bild von dir trage ich nun fest in mir, und das wirkt immer in mir. Aber du kannst dich gar nicht so wie ich über die menschliche Erfahrung freuen – du willst immer mehr zukünftige und gegenwärtige Freuden genießen!«

Ich hatte mir einen niedrigen Sessel neben seinen Platz gerückt – und sah glücklich zu ihm auf.

»Weißt du wohl, wie reizend du jetzt bist?« fragte er. »Weißt du das?«

Ich lachte nur – ich weiß: er weiß ja noch lange nicht, wie reich, wie unsagbar glücklich wir sein könnten.

Ich erzählte ihm von Lassalle, dessen Liebeserlebnis mit Helene von Racowitza, um derentwillen er starb, ich gerade gelesen habe. »Siehst du,« sagte ich, »das war doch ein Mann – und starke geistige Interessen hatte er doch gewiß auch – und es scheint mir, als ob er doch in diesem Falle so konzentriert geliebt hätte, wie ich es meine. Du zersplitterst dich an zu viele Menschen!«

»Ja, du mußt noch einmal einen Mann wie Lassalle heiraten«, schlug er ein wenig eifersüchtig vor.

»Aber ich will doch keinen anderen als dich. Es ist mir doch alles so lieb, wie du bist – wenn du nur nicht so willkürlich wärest. Siehst du, die Hanna, die dich so erschreckt hat in dem Drama, die liebt doch ihren Alexander nicht mehr. Ich habe dich aber doch so lieb – und dann sprichst du törichterweise manchmal von Zurückweisen – als ob ich deine Liebe zurückwiese. Wenn einem aber die Liebe eines Menschen so lieb ist, daß man gar nicht genug von ihr haben kann – ist das denn Zurückweisung?«

»Ja, Liebling, du magst recht haben,« sagte er ein wenig getröstet – »eine Menge von Konflikten zwischen uns sind gewiß nur Mißverständnisse gewesen, weil du gleich so heftig bist. Wie anders würde es auch um unser Liebesglück stehen, wenn es nicht fast immer in so eiliger Stunde gegeben und genommen werden müßte – wo man nicht danach zusammen ruhen und schlafen kann!«

Er saß jetzt auf dem Diwan – und ich hatte meinen Lieblingsplatz vor ihm eingenommen – ich kniete vor ihm und ließ mich fest in seine Arme schließen.

»Weißt du, du hast manchmal etwas von einem Käthchen an dir!«

Ich lachte in glücklichem Übermut.

»Das ist sehr hübsch,« behauptete ich, »wenn man geliebt wird, ist es überhaupt viel schöner, Frau zu sein als Mann. Es ist ein viel größeres Glück, zu geben als zu nehmen. Und was Käthchen betrifft – weißt du wohl auch, daß Käthchens Dichter ausdrücklich einmal gesagt hat – was ich selbst vorher schon gefühlt und öfter mit meinen Freunden besprochen habe: › Käthchen und Penthesilea seien derselbe Mensch – nur in verschiedenen Ausstrahlungen ihres Wesens?‹ Ich bin sehr stolz darauf – seit ich das neulich entdeckte –, daß ich also Kleist und auch Käthchen und Penthesilea so gut verstanden habe!«

Er stand vor mir – und seine Hände schmeichelten in zarten Liebkosungen meinen Körper, während ich ihn glücklich ansah: »Du machst es mir ja so schwer heute, zu gehen,« sagte er und verwandte keinen Blick von mir, »du bist ja so lieblich heute – lieblicher als je!«

Ich schlang die Arme um ihn: »Und wann seh ich dich wieder?«

»Ich wollte dich gerade fragen.«

»Also Montag?«

Ich drängte mich inniger an ihn: »Das ist ja so schrecklich lange!«

Er stand glücklich lächelnd da – sah mich in warmer Zärtlichkeit an und wiederholte leise: »Lieblicher als je!«

1. Oktober.

Wenn es in dieser Zeit einmal vorkommt, daß ich durch irgend etwas gequält oder betrübt bin, ist sicher das Resultat unserer Unterredung immer: daß ich unverständig und ungezogen und er verständig und gut ist.

»Du hättest Rechtsanwalt werden sollen,« lachte ich neulich, »so ausgezeichnet verstehst du es, mich von meiner Schuld zu überzeugen.« –

Ein paarmal ist es ihm jetzt auch passiert, daß er kam und mich nicht traf – das ist ihm immer sehr ärgerlich.

Ich habe mich endlich von dem ewigen Warten auf ihn emanzipiert, das mich so tiefsinnig machte. Nun merkt er selbst, wie schauderhaft es ist, auf einen geliebten Menschen – und gar vergeblich – zu warten.

»Ja, siehst du nun, wie das ist?« fragte ich mit unverhohlener Genugtuung – »das habe ich ein ganzes halbes Jahr aushalten müssen. Wirst du nun daraus lernen?«

»Ich fürchte, nein«, sagte er kühn.

»Dann wird es dir schlecht gehen«, drohte ich.

»Ach, du bist meine liebe, prächtige Irene« – er sah mich wohlgefällig an und schien sich gar nicht vor meinem Zorn und meiner Rache zu fürchten. – – – – – – – – –

*

15. Oktober.

Die Tage von Roberts Abwesenheit – da es ihm jetzt besser geht, ist er noch auf ein paar Tage zu Agathe gefahren – habe ich benutzt, um recht fleißig zu sein, einen Winter fruchtbarer Arbeit einzuleiten.

Neben den Stunden, die ich nun geben muß – und in denen ich mich noch recht unsicher und unbehaglich fühle, habe ich einen Kursus für Aktmalen für mich belegt. Ich muß unbedingt das Bewußtsein haben, trotz der Umwege, zu denen mich das Schicksal verführt hat, meinem Ziel näher zu kommen.

Diese Stunden, wo ich spüre, daß ich wachse – an technischem oder rein künstlerischem Vermögen – sind meine besten. Aber die Menschen, mit denen ich zu tun habe, sind mir freilich noch herzlich fremd und gleichgültig. Wie durch einen Nebelschleier, so von ferne, sehe ich diese andere Welt jetzt nur.

*

Seit zwei Tagen ist mein Liebster zurück – recht blaß und angegriffen ist er zurückgekommen. Unglücklicherweise sahen wir uns zuerst unter anderen Menschen: Hedwig hatte zum Sonntag nachmittag verschiedene Freunde des Hauses eingeladen – auch Oppenheimers –, zu denen ich nun einmal kein Verhältnis gewinnen kann. Der Sohn – Siegfried – ist ein schlanker, hübscher, intelligenter Mensch mit all dem Selbstbewußtsein des frühreifen, vermögenden, jungen Mannes, dem die ganze Welt offen steht – er kann es sich leisten, die »Universitätskarriere« einzuschlagen. – Erna Oppenheimer, mit mir in gleichem Alter, ist von so aufdringlich-kokettem Wesen, daß ich mich davor unwillkürlich wie eine Schnecke in mich zurückziehe und ganz fremd – auch Robert gegenüber – werde. So verletzt es meinen Stolz: damit kann ich unmöglich konkurrieren wollen!

Am anderen Nachmittag kam Robert – schon an der Tür beide Arme nach mir ausstreckend: »Dumme, liebe Irene!«

Und als ich nur seine Stimme hörte und sein liebes Gesicht sah, waren alle meine Sorgen wie Gespenster der Nacht vor dem anbrechenden Morgen verscheucht, schien es mir selbst sinnlos, wie ich mich so hatte quälen können.

»Mein dummes Mädel begreift gar nicht, daß solche kleinen gesellschaftlichen Höflichkeiten und Flirts manchmal recht gut und nützlich sind,« schalt er, »schon um deinetwillen, um dich zu schützen. Du weißt doch, daß du keine Ursache hast, eifersüchtig zu sein. Nein, du warst gestern abend gar nicht gut zu mir. Dabei geht es mir gesundheitlich nicht gut.

Er hatte mich zu sich auf den Diwan geholt und küßte mich.

»Soll ich nun mal recht gut zu dir sein?« fragte ich.

»Ach, nun ist es zu spät«, sagte er trübe. »Ich kann dir doch jetzt kein feuriger Liebhaber sein, wo ich so krank und elend bin – höchstens ein zärtlicher väterlicher Freund.«

»Aber das brauchst du doch auch nicht, wenn ich nur weiß, daß du mich lieb hast. Sieh doch, mein ganzes Leben habe ich deinetwegen, unserer Liebe wegen umgeworfen – und wenn ich dann denken muß –.«

»Ja, du hättest es wahrscheinlich nie getan, wenn du mich ganz gekannt hättest,« gestand er zu, »während ich alle Tage Neues an dir entdecke, das ich lieb habe. Ich habe viel mehr gefunden, als ich gesucht habe.«

»Aber ich habe dich doch auch viel lieber als früher.«

»Ja, aber du könntest mit einem anderen Manne viel glücklicher sein. Es ist doch nicht leicht, das zu sagen. Damit gestehe ich doch zu, daß mir manches fehlt. Und dann das Studentenleben! Da heißt es immer, es schade nichts, wie ein Mann in geschlechtlicher Beziehung gelebt habe – und es wird doch so viel zerstört, was nie mehr gut zu machen ist. Außerdem: ein Mann muß doch Energie und Konsequenz haben: wo soll ich die hernehmen?«

»Aber du bist doch auch oft so, daß ich sehr glücklich bin.«

»So?« er richtete sich lebhaft aus meinem Arm auf, als klänge es ihm wie ein Märchen.

»Mein Lebensglück hängt doch vielmehr davon ab«, meinte er. »Ich gehe doch an dieser Leidenschaft zugrunde.

Überhaupt, ich habe dich schon lieb: deine vornehme Seele, deinen lieben Leib – und für einen jungen Menschen –« er beugte sich über mich, mich zart und innig zu küssen. – –

19. Oktober.

Mein Liebster und ich sahen uns acht Tage lang nicht – eine schauderhaft lange Zeit für mich. Ich hatte Logierbesuch von Hanna, die sehen wollte, ob eine Übersiedlung für sie in Betracht käme – ganz wird sie sich erst im Frühjahr freimachen können. Die neuen doppelten Pflichten des Lernens und Lehrens nehmen mich außerdem sehr in Anspruch. Mit Hanna machte ich einen Besuch bei Hedwig, die erzählte, daß Robert jetzt zweimal wöchentlich zum Arzt gehe, um Hals und Herz behandeln zu lassen.

Heute ist Hanna wieder abgereist; als ich vom Bahnhof kam, sah ich Robert in der Kaufingerstraße mir entgegenkommen.

»Ich habe soeben etwas so Liebes für dich gekauft – und dann dachte ich immer, ob du mir wohl begegnen würdest – und nun bist du da! Heute nachmittag komme ich zu dir, wenn dir's recht ist!«

Er sah noch recht angegriffen aus, – ich sah es mit Kummer.

»Es ist dein Geburtstagsgeschenk – ich möchte es so bald als möglich an deiner Hand wissen.«

*

Am Abend kam Robert und brachte mir den Ring, mit einer weißen Perle – die Tränen bedeutet. Tränen haben wir ja schon kennengelernt.

»Weißt du,« sagte ich, wie er ihn mir ansteckte, »ich fürchte mich.«

»Du brauchst dich nicht zu fürchten – ich werde schon gut zu dir sein – dir keinen Kummer machen. Aber du siehst ja heute wieder so lieb und reizend aus – das ist gar nicht gut für meine Seelenruhe – du müßtest abscheulich häßlich sein!«

Er streichelte mein Gesicht und sah mich zärtlich an: »Liebe, liebe Irene! Aber warum bist du so blaß?«

»Das macht die Fülle der Arbeit jetzt und – daß ich dich so lange nicht hatte«, sagte ich sehnsüchtig.

Er fuhr mir leise über das Haar: »Mein liebes, liebes Kind! Unter deiner Führung werde ich sicher noch ein sehr guter Mensch!«

»Das bist du ja jetzt manchmal schon!« neckte ich.

»Das war lieb von dir, Irene!«

Er bewunderte das neue »schicke Kleid« – das ist ein hohes Lob –, denn er versteht von solchen Dingen etwas, für die ich mich erst ihm zuliebe zu interessieren bemüht bin. Ich bin froh, daß er zufrieden ist.

»Weißt du auch,« sagte er, als wir beim Abendbrot saßen, »daß du der einzige Mensch bist, der Einfluß auf mich gehabt hat?«

»Ich hatte mir aber den Einfluß noch größer gedacht«, gestand ich.

Es gab einen sehr lieben Abend – wenn nicht die Sorge um seine Gesundheit gewesen wäre, wäre ich sehr glücklich gewesen: so deutlich fühlte ich die Innigkeit seiner Liebe zu mir.

So schwer wurde es ihm diesmal, sich zu trennen. Er nahm mich unter die Flügel seines Mantels, als er sich zum Fortgehen fertig machte und ich ihm half, seinen Mantel mit den weiten Flügeln zu schließen.

»Das hat Agathe nie getan«, sagte er schmerzlich.

»Ich möchte dich ganz umschließen wie ein Mantel«, sagte er warm. Er sah immer wieder zurück, mich immer wieder an, als müsse er mein Bild sich für lange einprägen.

21. Oktober.

Es ist sonderbar: in diesen Blättern kann ich nur wenig von dem sagen, was meine Arbeit, meine Ziele betrifft. Vor meiner Seele steht nur, was ich mit ihm erlebe, durch ihn erleide. Zu dem Genuß unseres Zusammenseins komme ich oft erst, wenn er fort ist – ich mir vergegenwärtige, was er gesagt hat. Dann gewinnen seine Worte Wärme und Leben – dann setze ich mich erst in ihren völligen Besitz. In seiner Gegenwart wirkt viel zu stark sein äußerer Reiz, die Anziehung seiner Persönlichkeit auf mich als Weib – wird fast immer das Schmerzgefühl stärker, daß ich mich ihm nicht ganz rückhaltlos erschließen und geben kann. Wenn er fort ist, denke ich mir immer aus, wie gut ich das nächste Mal gegen ihn sein, ihm – ein einziges Mal – ganz rückhaltlos inbrünstig zeigen will, wie unaussprechlich ich ihn liebe. Aber wenn er dann wirklich da ist, sitze ich ihm scheu und befangen gegenüber – und warte auf ihn. Seiner Art gegenüber wage ich nicht, mich ganz zu geben – versteckt sich all das heiße, ungestüme Empfinden scheu im tiefsten Winkel des Herzens. Diese Qual, sein Bestes, Tiefstes gewaltsam vor dem geliebten Menschen zurückhalten zu müssen, muß man erlebt haben. Darum brauche ich es doppelt, hier zur Selbstbesinnung zu kommen, mir klar zu werden über die Verwirrung der Gefühle.

Nur so werde ich wieder ganz ich selber – kann ich mich aus dem unnatürlich gedrückten zerrissenen Zustand, in den mich so oft seine Gegenwart versetzt – wieder erheben – ausstrecken, tief aufatmen, zum vollen Bewußtsein meiner selbst kommen.

Hingebend zärtlich zu sein – ist mir Bedürfnis. Aber ich habe so oft den deprimierenden Eindruck, als sähe er dann nur ein kleines zärtliches Mädchen in mir – vergäße, daß das ja nur ein Teil meines Wesens ist. Und ganz, ganz schrankenlos – in dem Gesamtumfang meines Seins möchte ich mich doch geben und von ihm aufgenommen fühlen. Aber wir haben ja immer so wenig Zeit! Immer, wenn wir einmal länger in Ruhe beieinander bleiben können, fühle ich mich ihm gleich näher, sicherer, beruhigter – dies Flüchtige, Kurze, Zerstückte unseres Zusammenseins ist es wohl, das mich am tiefsten aufwühlt und verletzt. – – – – – – – – –

Das gesellige Leben des Winters nimmt uns beide nun wieder sehr in Anspruch; die Möglichkeiten für eine genußreiche Zweisamkeit sind dadurch noch beschränkter als sonst. Ein Glück nur, daß wir wenigstens Freunde haben, wo wir uns noch sehen, unterhalten, wenn ja auch freilich nicht allein sprechen können.

Gestern war ein sehr lebhafter Abend bei Reichmanns: einige mir recht interessante Persönlichkeiten lernte ich kennen: einen Privatdozenten der Philosophie, Dr. Waßmann – den Sohn eines berühmten Theologen –, der ganz in Nietzsche aufgeht, jene jung verheiratete bekannte Schriftstellerin, deren Bücher über die Frau und die Liebe bei den Philistern mancherlei Anstoß erregen – während ich sie, ohne ganz ihren Geschmack zu teilen, jedenfalls für eine sehr notwendige Reaktion gegen die Einseitigkeit derer halte, die zwar die Frau intellektuell und wirtschaftlich emanzipieren, sie aber gewissermaßen zu einem Neutrum machen wollen.

Außerdem gab es ein paar Dichter – einen modernen Verleger – einen geistreichen Kunstkritiker, der auch lebhafte politische Interessen hat; ich verstehe mich ausgezeichnet mit ihm. Robert wirkt hier ein wenig akademisch; die Feinfühligkeit seines Wesens erkennt man an – die Grundlagen seiner Anschauungen freilich sind sehr konservativ.

Das heiß umstrittene Thema der Diskussion war: Nietzsche und der Sozialismus. Für Robert sind das völlig unvereinbare Gegensätze – im Grunde ihm beide fremd und unsympathisch –, während ich heftig dafür kämpfte, daß man Nietzsche, den Dichter, den Verkünder der Lebensfreude, der Höherentwicklung der Gattung lieben – und ebenso klar und entschieden umfassende wirtschaftliche Reformen in unserer heutigen Gesellschaft fordern könne. So kam es, daß wir ausgerechnet beide dort gegeneinander kämpften – der Kunstkritiker war auf meiner Seite, auch der junge Privatdozent, während Reichmann, als Nationalökonom vor allem für wirtschaftliche Probleme interessiert, von Nietzsche nichts wissen will.

»Aber das eine: der Sozialismus befriedigt unser Gerechtigkeits-, unser Menschlichkeitsgefühl,« sagte ich – »wir dürfen doch nicht ruhen, solange es Millionen unmöglich ist, sich eine menschliche Kultur zu erwerben. Das andere Ideal dagegen: die Sehnsucht nach großen Persönlichkeiten, nach Adel des Wesens – unser ästhetisch-religiöses Bedürfnis –, das ergänzt, bedingt sich doch gegenseitig.«

Robert wollte nichts davon wissen – es gäbe nur das eine oder das andere: ich wäre ja die reine »Petroleuse«. Sonderbar: weil ich allen die Möglichkeit zu höchster Entwicklung schaffen will?!

Eine ganze Weile standen wir beide so im Mittelpunkt der Diskussion.

Robert wundert sich immer über meine Unbefangenheit, in größerer Gesellschaft zu reden. Es ist seltsam: dort kann ich meine Überzeugung rückhaltlos aussprechen – unter uns allein bringe ich es sehr selten fertig – so stark wirkt dann sein Wesen – meine Gefühlsabhängigkeit von ihm auf mich ein. Es ist schrecklich, durch die Liebe so stark beeinflußt zu werden! Wie schwer ist es, ein ganzer Mensch und eine liebende Frau zugleich zu sein!

Er begleitete mich nach Hause.

»Du mußt mich nicht immer so angreifen«, klagte er.

»Ich greife dich doch gar nicht an«, verteidigte ich mich; »aber wenn du doch etwas behauptest, was ich ganz und gar nicht für richtig halte, muß ich doch sagen dürfen, was ich denke.«

»Du sahst jedenfalls sehr lieb und reizend aus, das tröstete mich«, beruhigte er sich dann selbst.

»So,« sagte ich etwas kühl abwehrend, »das passiert mir selten.«

Er nahm liebevoll meinen Arm – und ging so mit mir weiter.

»Passiert dir das selten?« fragte er lächelnd. »Ich freue mich so über unsere Nietzsche-Leseabende. Ich spüre es jetzt auch: er ist doch sicher einer der feinsten Köpfe, die es nach Goethe gibt. Und mit Bismarck hast du auch recht in bezug auf die Vornehmheit.«

Ich freute mich sehr darüber.

»Wir haben doch gar nicht viel darüber gesprochen – aber nun habe ich es auch gesehen«, fuhr er fort, »überhaupt, ich habe dich schon lieb. Wenn du nur ein wenig mehr Wirklichkeitssinn und Diplomatie und etwas weniger Heftigkeit und Eigensinn hättest – so würden wir sicher nie einen Konflikt haben.«

»Ich bin gar nicht eigensinnig – dann verstehst du es nur nicht, mich zu behandeln. Aber warum kamst du denn gestern nicht?«

Es stellte sich heraus, daß er bei seiner Generalswitwe zu Tisch war – ohne Hedwig, was mich für sie kränkt. Ich war böse darüber und sagte ihm das auch. Es verstimmte ihn – aber er blieb ungewöhnlich sanft und geduldig.

»Warum bist du so liebenswürdig? Macht das dein Schuldbewußtsein?« fragte ich mißtrauisch.

»Ich begreife dich nicht – das könntest du doch ruhig mir überlassen.«

»Verzeih, ich dachte, es ginge mich alles an, was dich beträfe.«

»Ja, das tut es auch – und mich geht alles an, was dich betrifft.

Aber nun war es so schön, und nun mußt du es wieder verderben zum Schluß – wie ein Kind, das seiner schönen Puppe einen Schnurrbart malt. Nun sag' mir schnell noch ein liebes Wort, ehe ich gehe.«

»Ich habe dich schrecklich lieb – viel lieber als du es verdienst.«

»Ja, wahrhaftig, das hast du auch.«

Dann ging ich ins Haus.

25. Oktober.

Gestern erwartete Hedwig mich vor Tisch, der ich beim Einmachen von Kürbissen zu helfen versprochen.

Robert war sehr übermütig, wie immer, wenn er mich in häuslicher Beschäftigung sieht. Er scheint diese freiwillige Dienstbarkeit als einen besonderen Beweis meiner Liebe zu empfinden – und mir macht es Freude, auf diese Weise die Illusion zu gewinnen, als dürfte ich ein wenig für ihn sorgen.

»Du sahst so schrecklich lieb und hausmütterlich aus, wie du da in der Küche standest und halfest«, sagte er hernach ganz beglückt.

Hedwig zog sich nach Tisch eine Stunde in ihr Zimmer zurück. Wir beide gingen in sein Arbeitszimmer, wo er mir ein apartes, kleines, in Leder gebundenes Buch mit Beschlägen schenkte: so eine geschmackvolle Zierlichkeit für den Schreibtisch, wie er sie liebt. Ich sagte ein wenig trocken: »Danke!« Ich mache mir im Grunde aus solchen Dingen nicht viel – ein einziges liebes Wort macht mich tausendmal glücklicher.

Dann mußte ich mich auf seinen Diwan legen – er legte mir ein Kissen unter den Kopf und deckte mich sorglich zu.

Ich war schrecklich sehnsüchtig: ich hätte gerne nur einmal seine Hand gehabt, wollte es ihm aber doch nicht sagen und zeigen. Was soll ich nur mit diesem Überschuß von Gefühl anfangen?

Hedwig ging gleich nach vier Uhr fort, um einen Besuch zu machen. Ich blieb noch, da Robert und ich am Abend zusammen zu seiner Vorlesung wollten, für die er sich inzwischen noch vorbereiten mußte. Dann machten wir uns auf den Weg. Er hatte wohl gemerkt, daß ich traurig war, und immer sehr lieb gefragt: »Kleinchen, Liebling, was fehlt dir?!«

Und dann bitter: »Du überschätzest mich wahrhaftig nicht, du unterschätzest mich, was Gefühl und Leidenschaft bei mir angeht! Über meine Lieblosigkeit bist du traurig? Aber ich habe so lieb an dich gedacht, als ich das kleine Buch für dich kaufte und als ich es dir gab!

Und du weißt doch, in welchem Zwiespalt ich immer bin, wenn wir nicht allein zusammen sein können.

Und dann mußte ich mich doch vorbereiten!« –

»Das weiß ich wohl,« sagte ich, schon wieder getröstet, weil ich seine Liebe spürte, »ich war nur heute körperlich nicht so frisch – da konnte ich mich gegen die Sehnsucht und Traurigkeit nicht so wehren.«

Es war etwas später geworden – wir nahmen einen Wagen, um noch rechtzeitig zu kommen. Er hielt meine Hand – ich gab sie bald wieder frei.

»Du wirkst so gut auf mich – ich bin viel hilfreicher geworden. Das kommt alles von dir!« meinte er.

In der Vorlesung hörte ich sehr aufmerksam zu – ich habe sein schönes, vornehmes Gesicht so gern, wenn es nun noch von geistiger Bewegung so belebt ist.

Und wir verabschiedeten uns sehr lieb, als er hernach ging, um Hedwig abzuholen.

7. November.

Gestern saß er schon wartend bei mir – er besitzt einen Schlüssel zu meiner Wohnung – als ich aus meinen Malstunden angerannt kam.

»Ich muß bald wieder fort – Hedwig hat eine Halsentzündung – der Arzt soll kommen.«

Wir sprachen sehr lieb miteinander.

Von einem neuen Drama, das ich ihm neulich gegeben, war er zu meiner Überraschung sehr begeistert – mehr als ich es selbst gewesen. Ich lauschte voll Interesse auf seine Interpretation – ja, das gehört zu seinen positivsten Leistungen – diese Fähigkeit des Sicheinfühlens und Wiederdarstellens – das versteht er ausgezeichnet.

»Aber es muß doch nicht angenehm sein, der Mann einer Schauspielerin zu sein, die so vielen Männern nahekommen muß durch ihren Beruf«, zweifelte ich.

»O, warum nicht, wenn du es wärst, Herzblatt!«

Er streichelte mein heißes Gesicht und küßte mich auf den Mund, während ich mich fest in seine Arme drängle.

»Wie soll ich nur ruhig und vernünftig bleiben, wenn du deine großen Augen so voll Liebe und Zärtlichkeit auf mich richtest! Weißt du, eigentlich liebst du mich nicht – vielleicht als Mann – aber nicht als Menschen.«

Ich löste mich schmerzlich aus den lieben Armen.

»Nun machst du dich los – und ich habe es doch nur lieb gemeint. Du hast nur nicht genug Willen.«

Ich sah ihn an: »Als Weib will man gar nicht ›wollen‹, da will man gewollt sein«, meinte ich.

Nun nahm er mich wieder in seine Arme und küßte mich: »weil ich so weise gesprochen«. »Ich dürfte dich übrigens gar nicht küssen! Wenn ich dich nun anstecke mit meinem Husten?«

»Ach, das macht nichts, ich will dich lieber küssen!«

»So, du Leichtsinn, was wolltest du dann anfangen? Aber ein richtiges unvernünftiges Weib bist du! Es tut mir so leid, daß du an mich geraten bist.«

»Du müßtest dich doch freuen, daß ich dich gefunden habe.«

»Aber ich meine es doch gerade lieb: du hättest eine viel vornehmere Seele finden müssen: einen Menschen, an dem das Leben noch nicht so viel verdorben hat. Ich muß mich doch darauf einrichten, daß du einen anderen Mann heiratest. Der wird es dann einmal sehr gut bei dir haben – dein zweiter Mann.

Mein Wesen wirkt doch immer so verstimmend auf dich – und ich meine es doch gar nicht so. Früher habe ich immer nur an mich gedacht – jetzt denke ich viel mehr an dich.

Wenn ich dich nicht selbst so lieb hätte, Liebling, müßte ich dir sagen, du solltest einen anderen heiraten. Alles, was ich an sinnlicher Leidenschaft habe, gehört dir, ohne Frage.

Ja, daß es mein höchstes Lebensglück war, das mit dir erlebt zu haben – das ist sicher. Aber es ist unrecht von mir, dich noch länger zu quälen. Ich kann dir doch nie genügen – auch wenn ich frei wäre. Und wenn du wüßtest, wie mein Leben war, wie ich es vergeudet habe – früher – du würdest schaudern!« – – – – – – – – – – – – – –

*

Schon vor Tagen weckte mich der Schmerz: wie weiter leben? – Alles versperrt – um ihn – für ihn – durch ihn – nun muß ich sehen, wie ich in dieser Hölle weiter lebe! Und weggehen von ihm? – Was soll ich dann noch auf der Welt?!

Aber so kann ich nicht weiterleben! – Das ging mir auf in diesen Tagen. Dann müssen wir mit der Liebe ein Ende machen. –

Es schien mir wie eine Erlösung.

Ich sah in diesen Tagen Hauptmanns »Einsame Menschen«: »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker«, sagt Anna Mahr mit Nietzsche.

Sollte ich nicht dasselbe erreichen können? Ich muß es, ich will es versuchen!

15. November.

Vorgestern wollte er um fünf Uhr kommen – es wurde aber halb acht Uhr. – Dies unselige Warten hatte wieder meine Nervenkraft fast völlig aufgebraucht. Als ich dann versuchte, ihm zu sagen, was ich mir in diesen Tagen innerlich zurechtgelegt hatte – daß wir auf die Liebe verzichten wollten – holte er mich zu sich und nahm mich in seine Arme wie ein Kind. Unter seinen lieben, tröstenden Worten löste sich wenigstens die Verzweiflung: »Du weißt doch, wie es gekommen ist: welch ein Glück es für mich war. Wie ich jubelte, wenn ich dich gehabt hatte, wie ich mich sehnte, dich wieder zu haben. Aber dann, von der Stunde an – wo ich wußte, daß ich dir nicht genügte, da ging es nicht mehr. Ich könnte auch jetzt noch meinem Verlangen nachgeben – aber ich tue es nicht – deinetwillen. Und alles andere wird doch bleiben? – Oder willst du mich ganz fortwerfen, weil ich dir als Mann nicht genüge? Es sitzt doch etwas ganz Respektables neben dir!«

Ich fühlte so deutlich, wie er mir helfen wollte. Nun hob er mein heißes Gesicht zu sich empor und küßte mich auf den Mund.

»Weißt du,« sagte er, »kompliziert war ja unser Verhältnis immer schon – aber nun!«

Ich sah durch meine Tränen zu ihm auf: »Ich danke dir!«

Er war so gut gewesen.

Ich habe es längst aufgeben müssen, gegen diese furchtbare fixe Idee zu Kämpfen, daß er mir sinnlich nicht genüge. Daß er es überhaupt nur eine einzige Stunde hat glauben können – damals – von jener unglückseligen Juninacht an, wo ich traurig war, daß er sich nicht um mich als Menschen bekümmerte – das zeigt ja schon, wie wir Leben und Lieben verschieden auffassen. Aber das weiß ich für mich ganz genau, mit elementarer Sicherheit: außer ihm habe ich nie einen anderen Mann ansehen können, seiner zu begehren. – Mir erscheint nicht ein Mangel seiner sinnlichen Liebe – die mir ja oft viel zu stürmisch war –, sondern seiner seelischen, erotisch-altruistischen Hingabe als die Ursache unserer Differenzen. Aber es ist, als wenn er Wachs in den Ohren hätte, wenn ich das zu erklären versuche. Aber vielleicht kann es jetzt gerade gut werden: wenn für ihn das falsche Gefühl, als fordere ich mehr, als er geben könne, fortfällt – dann kann sich vielleicht, auf diesem Untergrund, etwas Neues, Zartes, Seltenes entwickeln, das uns beiden Sicherheit, Freude aneinander gibt.

Mit dieser leisen Hoffnung, mit dieser neuen Aufgabe kann man doch weiterleben! Wenn alles andere bleibt!


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