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I.

München, 2. Januar …

Seit gestern ist die Krankenschwester fort. Dr. Walker hat es gestattet – in der Erwartung, daß ich mich schon erholt genug erweise, mir selber wieder zu helfen. Er spürte, wie die teure Pflege mein bescheidenes Budget belastet. Freilich hat er noch einige Wochen des Ausruhens, der Rekonvaleszenz verlangt, ehe ich mich wieder mit voller Kraft in die Arbeit stürzen darf.

Jetzt aber etwa nach Hause zurückzukehren – krank, matt – sei es auch nur für einige Wochen – dazu kann ich mich auf keinen Fall entschließen. Lieber greife ich meine kleinen Ersparnisse an, die für einen besonderen Notfall dienen sollten. Meine Rückkehr würde einen ganz falschen Eindruck erwecken: als ob ich irgendwie gescheitert wäre, wo ich so kühn und wagemutig auszog – gegen alle guten Ratschläge, die mich halten wollten. Vom Scheitern meiner Pläne und Absichten kann glücklicherweise nicht die Rede sein, seit mein erstes Bild im Salon Dannenberg ausgestellt ist.

Nein, fort von hier möchte ich um keinen Preis, wo ich zum erstenmal meine eigentliche Heimat gefunden habe. Die Ursache meiner Krankheit war wohl nur die Überspannung meiner Kräfte durch die Fülle und Vielseitigkeit meiner Interessen für alle Kunst und Wissenschaft – der »etwas beängstigende Hunger nach einer allseitigen Entwicklung meines Wesens«, wie Professor Braunwald neulich mit leisem Tadel meinte – das ist es wohl auch, was mich vor ein paar Wochen mit einer Luftröhrenentzündung aufs Krankenlager geworfen hat.

Seltsam, so intensiv ich diese letzten Jahre gelebt, jede Minute auszufüllen versucht habe in meiner Lebenssehnsucht, als ob ich schon Unwiederbringliches versäumt hätte – im Augenblick scheint mir dieses Ausruhen, ungehindert meinen Gedanken und Phantasien nachgehen zu können, sehr reizvoll. Wie eine Etappe auf dem Weg zu meinem Ziel erscheint mir diese Krankheit, diese unfreiwillige Arbeitspause.

Als ob ich an einem Kreuzweg stände, unschlüssig, wohin es mich weiter führen soll. Es lockt wie Irrgärten im sommerlichen Park, in die ich mich als Kind in wonnigem Gruseln hineinwagte: ob man sich auch wirklich wieder herausfinden würde? – – – – – – – – – – – – – –

*

Während meiner Krankheit hat mich übrigens der feine, stille Dr. Walker, der täglich kam, ein wenig unruhig gemacht, irritiert. Lillis Freundschaft hat dafür gesorgt, daß der Assistent ihres berühmten Vaters noch zu mir geschickt wurde, als Professor Geyer selbst die Gefahr schon für ziemlich beseitigt hielt.

In den Wochen der Einsamkeit, der Abgeschnittenheit von der Welt, habe ich den jungen, angenehmen Arzt notgedrungen verklärt – ihn mit leiser, uneingestandener Wärme und Sympathie empfangen. Aber seit ich meine Kräfte wieder gewinne, ein Buch, einen Stift ergreifen darf, aus der Haft des Krankenzimmers entlassen bin, – am allgemeinen Leben draußen wieder teilzunehmen beginne, merke ich, wie das Interesse an dieser mir jenseits des Krankenzimmers geistig fernen Persönlichkeit abfällt. Vielleicht mußte ich ihn idealisieren, um meine Schwäche, meine Schutzbedürftigkeit ihm gegenüber zu ertragen?

Es ist so schmerzlich zu denken: seit meiner Kindheit habe ich mich aufgespart für die »große Liebe«, für den Einen, Herrlichen, Großen, dem ich einmal alle meine Liebe zu Füßen legen wollte – eifersüchtig habe ich für ihn alle Jugendglut und Schönheit gehütet – nie in Flirts, in halb scherzhaften Küssen oder Abenteuern mich zersplittert – immer das Ideal der großen Liebe im Herzen. Aber wer so in Scham und Sehnsucht dem großen Erlebnis der Liebe entgegenharrt – muß es auf den nicht wie eine bittere Ironie wirken, wenn die erste Männerhand, die seinen Körper berühren darf, die eines fremden, gleichgültigen Arztes ist?!

Aber das alles: diese leise halbe Verliebtheit aus Trotz und Enttäuschung beginne ich nun wieder abzuschütteln. Ich hoffe, daß Dr. Walker nichts davon gemerkt hat. In ein paar Wochen werde ich ohnehin meine Zelte hier abbrechen und in Paris mit neuer Kraft und Energie alles an Kunst und Kultur in mich aufzunehmen suchen, was München mir im Augenblick nicht mehr geben kann. Aber in diesen letzten Monaten möchte ich eins noch erleben: die Entwicklung meiner Freundschaft mit Professor Braunwald, einer echten, engen, geistigen Freundschaft – auf Grund gemeinsamer Anschauungen, verwandter Lebensstimmung – eine Seelenfreundschaft, wie sie mich auch mit Lilli zum Beispiel verbindet.

Gerade, daß er nicht mehr so jung ist wie wir, daß er nicht mehr mitten im Sturm und Drang der eigenen geistigen Entwicklung steht, daß er über so vieles schon hinaus ist, das uns noch drückt und quält – das lockt und reizt mich, da ich mich so unendlich nach einem Führer und Erzieher im Leben sehne. – Bisher habe ich das nur in den großen Menschen der Vergangenheit gefunden. Dem auch im Leben wirklich zu begegnen – welche unfaßbare Seligkeit müßte das sein!

6. Januar.

Gestern war Hermine Langheim hier, um nach mir zu sehen. Sie ist Lehrerin, nach Süddeutschland verschlagene Preußin, Sozialistin. Ein ganz eigener Typus. Sie fand übrigens, daß ich mich durch die Krankheit wundervoll erholt hätte. Der müde, abgespannte Zug, den ich durch die übertriebene angestrengte Arbeit des letzten Jahres bekommen hatte, sei ganz geschwunden – die Augen größer, heller, glänzender. Dazu läge eine Weichheit über mir – ich sähe aus wie eine glückliche junge Frau. Ob ich verliebt sei?

Merkwürdig, obwohl ich gar keine Ursache dazu habe, fühle ich mich ein wenig so – träumerisch, weich, hingegeben an den Augenblick. Aber mit jedem Tage, den ich an Kraft zunehme, wird ja das notgedrungen Passive der Rekonvaleszenz von mir abfallen, werde ich auch wieder selber etwas leisten und so »dem Leben halten können, was es versprochen«.

Hermine hat mich wieder examiniert übrigens, wie das so ihre Art ist: warum ich bei meinen »fortgeschrittenen Anschauungen« noch nicht Mitglied der sozialdemokratischen Partei geworden sei. Ich erzählte ihr, daß ich neulich bei einem Besuch in Berlin Bebel hörte – mit fast ebenso großer Begeisterung, wie ich sein Buch über die Frau las – daß ich viele ihrer Zukunftswünsche teile – daß ich aber das Problem des Sozialismus nicht genügend wissenschaftlich studiert hätte, um zu entscheiden, ob ich wirklich ganz und gar in eine bestimmte »Partei« passe. Es scheint mir wie ein Raub, eine Hemmung meiner freien Entwicklung, mich jetzt schon zu binden. Und dann außerdem: es ist etwas so Hartes, Unkünstlerisches, Exaktes um Hermine herum – sie meint alles mit Formeln und Zahlen »beweisen« zu können. Als ob nicht das Letzte, Tiefste für jeden Menschen unbeweisbar bliebe! Hermine fehlt ganz der Sinn für die Imponderabilien, die Nuancen, meine ich. Muß man so werden, wenn man einer Partei angehört? Auf sie schwört? Das schreckt mich ab.

Übrigens hat sie als Frau ein schweres Schicksal, eine große Liebe – und Enttäuschung – hinter sich. Ihr Gefühl galt einem stillen Gelehrten, einem entfernten Verwandten. Sie war lange mit ihm verlobt – da kam zuguterletzt eine angesehene reizvolle Schauspielerin und nahm ihr den Lebensunerfahrenen weg – hat ihn geheiratet. Hermine ist darauf in einen schweren Typhus verfallen, hat ihr schönes blondes Haar verloren – das sie jetzt noch kurz trägt. – Von jenem Erlebnis her schreibt sich wohl die fanatische Bitterkeit, mit der sie jetzt nur noch »die Sache«, den Sozialismus kennt. Außerdem befriedigt ihre Tätigkeit als Lehrerin sie durchaus nicht – sie will in die Schweiz, wo die Frauen schon studieren können. Sie fragt mich immer, ob ich nicht mitkommen will, ob bei meinem großen Interesse für allgemeine Fragen mich das nicht auch mehr befriedigen würde als die Kunst, die ihr nicht sonderlich imponiert, solange es so vielen Menschen noch so schlecht geht, was mich ja auch oft bedrückt. Ich habe ihr versprochen, sie zu besuchen, wenn ihre Pläne gelingen. Noch sind vielerlei wirtschaftliche und sonstige Schwierigkeiten zu überwinden.

9. Januar.

Da hat mir heute ein Dr. phil. Viktor Kantorowicz einen längeren Brief geschrieben. Er ist Österreicher – Nationalökonom – ich lernte ihn neulich kurz vor meiner Erkrankung bei den offenen Abenden von Reichmanns kennen. Er unterhielt sich sehr lebhaft mit mir über politische und soziale Fragen – und ich sprach mich so offen und rückhaltlos aus, wie mir das natürlich ist. Wer wie ich in einem so ganz unkonventionellen Milieu aufgewachsen ist, in dem es keinerlei Rücksichten auf Kollegen und Vorgesetzte gab, für den ist es seltsam beengend, hier häufig in der Gesellschaft bei so vielen Menschen diese ängstliche Zurückhaltung ihrer wahren eigenen Meinung zu finden – mir scheint das direkt schwächlich und verächtlich zu sein. Dr. Kantorowicz hat mich dann nachher nach Hause begleitet – und ich habe nicht weiter an ihn gedacht.

Nun schreibt er mir, daß er durch Frau Reichmann von meiner Erkrankung hörte, gratuliert mir zu meiner Genesung und fragt, ob er mich nicht einmal aufsuchen dürfe. Er habe noch nie einen so starken Eindruck von einer Frau empfangen – zum erstenmal sei ihm eine Frau entgegengetreten, die den Mut habe, das zu sein, was das Leben des Lebens wert mache: ein freier, denkender und doch lebensfroher Mensch – und dabei so ganz Frau und Persönlichkeit – frei von aller leeren Konvention.

Er setzt mich ein wenig in Verlegenheit: außer meinem Vetter, der hier Medizin studiert, und dessen Freund, einem jungen Schriftsteller, der eine Zeitschrift für Rassenbiologie herausgibt –, habe ich in meiner kleinen Atelierwohnung bisher keinen Herrenbesuch empfangen. Meine gute Wirtin, die etwas ängstliche, beschränkte, aber sonst wohlwollend mütterliche Frau Hauptmann Rudolf würde sich sicher ein wenig wundern. Glücklicherweise bin ich mündig – ich bin soeben vierundzwanzig geworden – an sich muß ich natürlich wissen, was ich tun darf oder nicht – ohne Rücksicht darauf, ob eine konventionelle Hauptmannsfrau das für »passend« hält oder nicht. – – – – – – – – – –

*

Kommen lassen werde ich ihn also wohl – aber ich fürchte, ich werde ihn sonst vielleicht enttäuschen. Ich könnte mit ihm gute Freundschaft halten; aber er hat – trotz einer gewissen Gleichheit unserer Ideen und Temperamente – für mich nichts von dem geheimnisvollen, faszinierenden Reiz, der mich bei Professor Braunwald nun schon zwei Jahre fast – so lange ich hier in München lebe – von ferne in Bann hält.

Denn das ist mir gerade durch die Krankheit, durch dies kleine Erlebnis mit Dr. Kantorowicz klar geworden: Professor Braunwald ist der erste, der einzige Mann bisher, der mich geistig und körperlich zugleich stärker anzieht: die außerordentlich verfeinerte Art seines Geistes, sein reiches Wissen, sein Kunstinteresse – seine ästhetischen Anschauungen – seine Lebenserfahrung – sein Feingefühl, seine seelische Differenziertheit, das alles zieht mich geistig zu ihm. Dazu sein Äußeres: die große, schlanke Gestalt, das feine blonde Gesicht mit dem schönen Profil, der stolzen Nase, die schlanken, aristokratischen Hände – die angenehme Stimme – ja – ich leugne es nicht – er ist auch körperlich sehr anziehend für mich. Wenn ich mich nur nicht ein wenig vor seiner vielleicht zu großen Erfahrung fürchtete! Aber die Tatsache, daß er verheiratet ist – seine Frau lebt eines ernsten Lungenleidens wegen diesen Winter im Süden – das wird mich ja allein schon davor bewahren, dieser Anziehung weiter nachzugeben, als für meine Seelenruhe, meine freie künstlerische Entwicklung gut sein würde.

Außerdem: ich will, ich muß ja weiter auf meinem Wege – nach Paris, darf mich nicht aufhalten lassen, mich innerlich nicht zu sehr verstricken. –

Dies Bewußtsein, wieviel Hemmungen zwischen uns stehen, gibt mir all seiner Anziehung gegenüber eine gewisse innere Sicherheit. Aber um so mehr wünsche ich mir eine recht liebe Freundschaft zwischen uns – ich meine, das müßte sich erfüllen!

13. Januar.

Es geht mir viel besser; ich spüre schon Kraft und Lust, mich wieder leidenschaftlich in eine Flut von Arbeiten und geistigen Genüssen zu stürzen, wie ich es so stark und ausschließlich stets seit meinem Hiersein getan habe. So ausgehungert nach geistigem Austausch, wie ich herkam!

Aber leider hat Dr. Walker noch ein stilles beschauliches Leben auf das strengste verordnet: langes Schlafen, Spaziergänge im Park, warm zugedeckt draußen auf der Loggia in der Sonne liegen – mit meinem starken Verlangen nach Luft und Sonne – das alles muß doch gesund machen. Auch darf ich vielleicht einen – nicht zu aufregenden – Besuch empfangen – auch wohl einen machen. – Aber abends soll ich nicht – wie früher fast täglich – aus sein: einem Konzert, einer Wagner-Aufführung, einer politischen Versammlung, einer literarischen Vorlesung beiwohnen – um wie ein Schwamm alles durstig in mich aufzusaugen, was es irgend an geistiger Nahrung in unserer Zeit gibt.

Schlimm, daß Hanna nicht mehr hier ist. Sie schreibt heute auch sehr betrübt, daß sie gerade diesen Winter nicht hier sein kann, sondern ihn bei ihrer Mutter in Berlin verbringen muß. Unser gemeinsames Arbeiten, Hoffen, Sichentwickeln war etwas so Tröstliches, Beruhigendes in all der inneren Unrast und Ungeduld der Lebenssehnsucht. Ihre Fähigkeit, sich meinem heftigeren, drängenderen Temperament anzupassen, war so wohltuend, ein solcher Ausgleich unserer Naturen: ich gab ihrer ruhigeren, verschlosseneren Art etwas von meiner größeren Weichheit und Fülle – wir ergänzten uns so wunderschön.

Während meiner Krankheit hat sie sich so unendlich gesorgt – sie ist sehr glücklich, daß ich nun über die Krisis hinüber bin. Die Frühjahrsferien soll ich bei ihr in Berlin verbringen, schreibt sie heute – auf jeden Fall müßte ich kommen, ehe ich nach Paris gehe. Sie fragt auch, wie es um meine Freundschaft mit Professor Braunwald steht. Sie weiß, wie sein Wesen mich anzieht und beunruhigt zugleich.

Diesen Winter hat Braunwald eine geistreiche Aufsatzreihe in der »Kunstschau« über » Goethe und sein Verhältnis zur bildenden Kunst« veröffentlicht, entstanden aus früheren Vorlesungen von ihm, die nun als Buch erscheinen sollen. Er gab sie mir beim letzten Mal. Es scheint mir alles sehr fein – eigen, neugesehen – wie es nur von einer sehr künstlerischen, sehr differenzierten, entwickelten Persönlichkeit im Grunde erfühlt und beobachtet sein kann. Und manches – am Ende – kommt ganz auf meine eigene Weltanschauung hinaus, daß die Schönheit, die Kunst, die Freude an ihr, die große Leiderlöserin ist, die mit aller Not des Daseins versöhnt. – Ich habe ihm einige Worte des Dankes geschrieben.

18. Januar.

Dr. Kantorowicz war hier. Ich war nicht ganz so unbefangen wie damals bei Reichmanns. – Er war vielleicht enttäuscht. Sein ehrliches Wesen, seine lebhafte Art, sein völliges Hingenommensein von der Idee, für die er lebt – er war verschiedene Male politisch-aufreizender Reden wegen im Gefängnis – ich achte und schätze dies alles – diesen Mut, diese Überzeugungstreue, diese Opferfähigkeit sehr. Aber ich spüre nun zu meiner eigenen Überraschung immer deutlicher: Gemeinschaft der Anschauungen und persönliche Anziehung zwischen Mann und Frau – das sind zwei ganz verschiedene Dinge. Nie könnte ich mich bei ihm danach sehnen, ihm körperlich nahe sein zu dürfen – mit ihm könnte ich sehr gut Freundschaft halten. Er blieb mehr als zwei Stunden – ich mußte ihn am Ende sanft mahnen, daß ich nach ärztlichem Befehl so lange Unterhaltungen mir noch nicht gestatten darf. Das Bewußtsein von Frau Hauptmann Rudolfs ängstlicher Spannung wegen meines langen Alleinseins mit einem jungen Manne störte mich übrigens auch. Gott, wenn ich ihr nur klar machen könnte, wie vollkommen ungefährlich das ist – so wild er auch aussieht – mit dem slawischen Feuer in den Augen, dem langen, schwarzen, ungepflegten Haar – der gedrungenen Gestalt – dem flatternden Mantel. Er erzählte unter anderem viel von Paris, von wo er kommt – und wohin ich Gott sei Dank in einigen Wochen gehe. Dies Bewußtsein, wie die weite Welt mit all ihrem Reichtum nun vor mir liegt, macht mich wohl auch so froh und voll Sehnsucht, hat mir wohl am meisten geholfen, die Krankheit zu überwinden. Wir unterhielten uns sehr gut, stellten in allen wesentlichen Punkten starke Gemeinsamkeiten fest und schieden als gute Kameraden. –

Als er fort war, mußte ich um so unruhiger an einen anderen denken: Groß, schlank, blond, ein wenig mehr gepflegt sogar, als ich es liebe – als es vielleicht der Notwendigkeit entspricht. Wenn ich mit ihm zwei Stunden hier allein sitzen und plaudern würde – ob ich da auch so heiterharmlos, kühl, sicher, neutral bliebe? – Ach! – Ob das je geschieht?!

21. Januar.

Bei Reichmanns war gestern wieder Jour. Er ist ein angesehener Nationalökonom, sie Schriftstellerin. Sie versuchen offenbar, bei ihren Jours alles um sich zu sammeln, was es an Anerkanntem oder Neuem in Kunst, Literatur, sozialen oder kulturellen Bewegungen gibt. Ich habe diesen Abenden viel Anregung zu danken. Manchmal wird zu Beginn von sachverständiger Seite ein kurzes Referat gehalten – es folgt eine lebhafte Diskussion, ehe man sich – in ziemlich vorgerückter Stunde – zu einer guten Mahlzeit an kleinen Tischen zusammensetzt. Gestern gab es eine besonders stürmische Debatte: ein früherer Offizier, ein Oberstleutnant von Kirchmann, eine energievolle, sympathische Persönlichkeit – rief zur Abschaffung des Krieges auf. Es war eine heiße Schlacht – Dr. Reichmann unterstützte ihn – die Frau des Hauses hielt ein solches Vorhaben für undenkbar, unausführbar – ein Rassenbiologe – viel düsterer, fanatischerer Art als der junge, lebensfrohe Freund meines Vetters – gab dunkle Reden von sich, die, soviel ich verstand, nicht ganz ja und nicht ganz nein bedeuteten. Eine unsympathische Lehrerin mit sehr scharfer Stimme schien zuzustimmen. (Ich mache mir übrigens oft im stillen Vorwürfe: ob es wohl unrecht ist, daß mir Menschen mit harten, schrillen Stimmen instinktiv mißfallen? Aber mir scheint, als ob der Ton, die Stimme eines Menschen mit seiner Seele ganz identisch – »von gleichem Wesen« – wäre.) Ein großer, breiter Junker aus dem Osten – Werner von Mahrenburg – zugleich der Verfasser einiger Bauernromane, aus denen ich mir aber wenig mache, flirtete sehr lebhaft mit der Tochter des Offiziers. Die Probleme des Abend schienen ihn nicht sonderlich zu kümmern.

Ich wurde sehr traurig über die im tiefsten Grunde gleichgültige Art, wie man diese erste und wesentlichste Forderung aller Kultur behandelte. Ich verstehe gar nicht, daß und wie man hier überhaupt schwanken, irgendwie im Zweifel sein kann: keine Vorteile irgendwelcher Art können doch den Verlust, die willkürliche Zerstörung von Menschen, von menschlichem Leben je aufwiegen! Wie kann man darüber überhaupt noch streiten?! Diese ungeheure Herzenskälte und Seelenroheit steht mit all dem Geist, der künstlerischen Empfindsamkeit, dem Sinn für »Kulturentwicklung« in seltsamem Gegensatz!

25. Januar.

Ein langgehegter Herzenswunsch wurde mir gestern abend erfüllt; seit meiner Krankheit war es das erstemal, daß ich einer Einladung von Frau Dr. Meißner – Braunwalds Schwester – und Professor Braunwald folgen konnte. Trotz einer gewissen Herbheit ihres Wesens fühle ich zu ihr, die während der Abwesenheit seiner Frau den Haushalt leitet, eine starke Anziehung. Bedeutend weniger sympathisch ist mir Professor Lauber, Historiker, ein Kollege von Braunwald: kalt, anmaßend, politisch reaktionär – übrigens scheint er Frau Dr. Meißner sehr den Hof zu machen. Von Braunwalds Frau sind keine guten Nachrichten da – das drückte ihn wohl. Ich hielt mich sehr zurück ihm gegenüber – er soll nicht merken, daß ich Interesse an ihm nehme, wenn er es nicht von sich aus auch an mir nimmt.

Es ist etwas sehr Schmerzliches um diese seine Existenz: die Schwester erzählte einmal, wie lange er verlobt war, sich auch von jeher Kinder wünschte, die nicht kamen. Nun scheint ihre schwere Erkrankung auf Jahre hinaus alle Hoffnungen auf Ehe und Kinder und eine behagliche Häuslichkeit zu zerstören. Dies alles erklärt wohl auch das Ruhelose, Unbefriedigte in seiner Natur, das mich manchmal quält. Es ist etwas in ihm, das ihn innerlich hin und her reißt.

Als ich fortging, begleitete er mich zur Bahn. Und nun brach ein wärmeres Interesse durch, als er mir noch einmal für meine Zeilen, für mein Verständnis dankte und fragte, ob ich nicht Zeit und Lust hätte, seine Vorlesungen über: »Goethe und sein Verhältnis zur bildenden Kunst« zu hören? Er hält sie an einer Volkshochschule, außerhalb der Universität, die auch Nichtstudierenden zugänglich ist. Der Gegenstand würde mich, meinte er, als Künstlerin, als Malerin gewiß interessieren. – Dann hätte er die Möglichkeit, machte er außerdem geltend, mich öfter zu sehen und hernach mit mir nach Hause zu gehen, mit mir zu plaudern – das habe er sich schon lange gewünscht. Vielleicht würde sich für uns beide daraus manche Anregung ergeben.

Ich hatte allerlei Bedenken, ob meine Malstudien mir Zeit lassen würden. – Aber ich zweifle nicht: der Versuchung, ihn öfter zu sehen, werde ich schwerlich widerstehen. Professor Braunwald ist jedenfalls der erste Mann, bei dem ich das Gefühl habe, daß ich ihm nicht nur geben, sondern auch von ihm nehmen könnte – nehmen möchte – und das als beglückend empfinde. Dies Bewußtsein: auch in der Wirklichkeit, in der Gegenwart endlich einen Menschen zu haben, der mir gibt – das ist das Gefühl, das ich notwendig im Leben einmal brauche. Was sind alle Werke, Bilder, Bücher, Darstellungen auf der Bühne gegenüber dem lebendigen Menschen! Dem verwandten Menschen gegenüber, von dem man empfangen kann! – »Man lernt nur von dem, der unserer Persönlichkeit gemäß ist.« – Ich bilde mir ein, von Braunwald allerlei Wesentliches für das Leben lernen zu können. Nicht immer nur junge, stürmische Menschen um mich zu haben, irrend und unerfahren wie ich, denen ich geben soll – sondern einen, der mir gibt – das ist es ja, wonach ich mich am meisten sehne.

26. Januar.

Heute habe ich Lilli besucht, die mir schon sehr auf der Seele lag. Das junge, schöne Geschöpf, meine alte Studiengenossin seit unserer Kindheit, liegt seit Wochen krank in nervöser Apathie – aus enttäuschter Liebe. – Ich mache mir ernste Sorge um sie. Ihre Empfindlichkeit ist jetzt so gesteigert, daß sie kaum das Tageslicht erträgt. Nur auf meinen besonderen Wunsch gestattete sie, die Fensterläden ein wenig zu öffnen. Alle meine Bitten, bald wieder gesund und arbeitsfähig zu werden, schienen wenig Eindruck auf sie zu machen. Die ungeheure Gefahr dieses vollständigen Sichhingebens an den Schmerz schien sie gar nicht zu erkennen.

»Noch fürchte ich mich vor der Rückkehr in die alten Verhältnisse, die alte Umgebung« – sagte sie immer wieder –, »ich darf es noch nicht wagen.« »Dann mußt du eben nach Berlin, oder noch besser: nach Paris mit mir gehen,« schlug ich vor. »Nur darfst du den Schmerz nicht so über dich herrschen lassen!«

»Aber was hat alle Arbeit, alles Streben für einen Zweck, wenn unsere Ideale vom Menschen sich nicht erfüllen!« meinte sie trübe.

»Gewiß,« bestätigte ich, »es gibt wenig Menschen in unserem Sinne, oder wir lernen sie selten kennen. Das ist auch meine große Enttäuschung bisher, seit wir ›ins Leben‹ hinausgetreten sind: so viel wir auch an Neuem in uns aufgenommen haben – die Werke der Kunst, die neuen Ideen der Wissenschaft, der sozialen Reformpläne – recht schön und interessant. Aber die Menschen, das innerste Herz des Menschen sahen wir nur ganz von fern. Und das ist doch gerade das Erste und Dringendste, wenn man als Künstler, als Mensch, etwas leisten will, das spüre ich mit unmittelbarer Gewißheit. Den großen adligen Menschen, den wir im Grunde genommen hinter allem als das Wertvollste, wahrhaft Notwendige, einzig Wesentliche auf der ganzen Welt suchen – den haben wir freilich, trotz unseres eifrigen Bemühens – bisher nicht gefunden.« – –

» Ich glaubte ihn gefunden zu haben«, sagte Lilli leise, träumerisch-verzückt, und ihre strahlenden blauen Augen leuchteten einen Augenblick in glücklicher Erinnerung hell auf.

»Du weißt ja, Irene, wie ich in scheuer Verehrung auf den Knien lag, in lauter Sonne und Licht atmete. Aber dann – stürzte ich in einen um so tieferen Abgrund: auch er, der Gott, ein Mensch, ein Mann wie alle anderen, allzu menschlich, nein – unmenschlich, wie es mir, wie es uns Frauen scheint. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis ich das überwunden habe.« –

Ich wurde über die traurigen Worte ganz still, streichelte nur leise ihre Hand.

»Aber nun sprich von dir, erzähle, Irene«, bat sie dann ruhiger, gefaßter. »Was treibst du jetzt? Ich habe mich so über deinen Erfolg gefreut, daß dein Bild ausgestellt wurde! Nun muß jeder spüren, daß doch etwas in dir steckt, – daß nicht nur Selbstüberhebung und leere Phantasien uns in die Welt, an die Arbeit trieben. Um so mehr habe ich mich gesorgt, als ich von deiner Erkrankung hörte; ich bin so froh, dich wieder so frisch zu finden!«

»Ein wenig ruhe ich noch auf meinen Lorbeeren«, erzählte ich. »Dr. Walker hat mir dringend noch Schonzeit verordnet. Ohnehin fühle ich mich so im Aufbruch hier – es lohnt nicht mehr recht, viel anzufangen, wo ich doch im Frühjahr nach Paris gehe.«

»Und was treibst du sonst? Was für Menschen siehst du, sprichst du?«

»Ach, ich sehe jetzt Professor Braunwald auch öfter«, erzählte ich so nebenbei und von den Aufsätzen über Goethe und die bildende Kunst, die er mir gab.

Lilli wurde sehr ernst: »Weißt du, Irene,« – sie richtete sich auf und sah mich durchdringend an: »Nun kommst du an die Reihe!«

Ich lächelte ein wenig gezwungen: »Wie kommst du darauf?«

»Ich kenne doch die magnetische Anziehung, die er auf dich von jeher ausgeübt hat.«

»Nun ja, das hat er«, gab ich zu. »Ich möchte wissen, was für ein Mensch er in Wirklichkeit, bei näherem Kennenlernen ist.«

»Ich glaube wohl,« sagte Lilli, »er hat das Bedürfnis, das Verständnis für eine Freundschaft, wie ihr sie haben könntet. Eine sehr seltene geistige Freundschaft zwischen einem Mann und einer Frau könnte es zwischen euch werden.«

»Nicht wahr?« fuhr ich beruhigt fort, »was für eine Gefahr sollte da sein, wo ich bald fort muß? Er ist gebunden, und ich möchte meiner eigenen künstlerischen und menschlichen Entwicklung wegen mich noch nicht an ein anderes Leben fesseln. Das alles gibt eine selten günstige Aussicht – nicht für eine Liebe, die kann ich noch gar nicht gebrauchen – aber für eine außerordentliche Freundschaft. Nein, nein, ›gefährlich‹ wie du meinst, wird es sicher nicht werden –«

»Hoffentlich«, sagte Lilli; »denn ihr seid am Ende sehr verschieden: du bist ein ganz moderner Mensch, eine revolutionäre Natur im Grunde, und er – – er ist es wohl keine Spur.«

»Also siehst du – das wird uns wohl schützen«, triumphierte ich.

Lilli hatte voll Wärme gesprochen und zugehört; wie ich mich verabschieden wollte, sah sie mich in wieder erwachter Angst und Sorge an und nahm meine Hände. »Nicht wahr, Irene,« bat sie dann, »was auch kommen mag, das versprichst du mir: du wirst gesund und stark bleiben – an dir wollen wir alle uns doch wieder aufrichten – an deiner unzerstörbaren Lebensfreude!«

Ich lachte: »Sei ohne Sorge, Liebste, du weißt ja: ›Ein rechtes Herz ist gar nicht umzubringen‹ – ich glaube, auch das meine nicht!« – – – – – – – – – – – –

Auf was für Gedanken Lilli jetzt aber auch manchmal kommt! Es wird Zeit, daß sie wieder gesund wird. –

2. Februar.

Ich höre jetzt die Vorlesungen von Braunwald.

Lillis Befürchtungen haben mich ein wenig vorsichtig, vielleicht sogar zu sehr – und auch innerlich zurückhaltend gemacht – äußerlich war dies ja immer der Fall. Eine Tragödie wie Lilli – in der man am Ende erliegt? Nein, nein, auf keinen Fall! Dafür werde ich schon sorgen!

Letzten Freitag gingen wir nach Schluß der Vorlesung vor einem interessierten, intelligenten Publikum zusammen nach Hause. Wir kamen in ein eifriges Gespräch über die Verschiedenheiten zwischen Mann und Frau – wie zwischen ihm und mir. Er sei viel naiver als ich, meinte er, weil er sich in erster Linie an Goethe gebildet habe.

»Naiver?« Das scheint mir kaum die zutreffende Charakterisierung für ihn zu sein.

»Nun ja,« erläuterte er: »eine Frau nimmt doch immer die Welt, wie sie sein sollte – ich nehme sie mit Goethe wie sie ist.«

Nein, mit der Welt, wie sie ist, kann ich mich gewiß nicht einverstanden erklären. Im Gegenteil: mir scheint das Leben erst dadurch lebenswert zu werden, daß man die Welt allmählich zu dem macht, was sie sein sollte. Den jungen Goethe verstehe und genieße ich natürlich sehr – aber vieles, was der ältere, der Weimar-Goethe geschrieben hat, ganz und gar nicht. Dazu bin ich wohl noch nicht alt, nicht reif genug.

Goethes »Faust« war meine Bibel von meinem 14. Jahr an, wo ich mir heimlich ein Handexemplar – in Blau mit Goldschnitt – von meinem Taschengeld beschaffte, das ich noch heute bei mir führe. Aber die Gretchentragödie, die ich so früh – vielleicht zu früh – zu lesen bekam, hat mich mit so unheimlicher Gewalt ergriffen, daß ich seitdem eigentlich nie wieder habe ganz ruhig darüber werden können. »Der Menschheit ganzer Jammer« packte mich mit ihr durchbohrend an, noch ehe ich die Voraussetzung zu all dem hatte. Das ungeheure Leid, die Qual des Weibes durch die Liebe gab mir ein unauslöschliches, erschreckendes Vorgefühl von dem, was der Liebe des Weibes an Tragik, an Verzweiflung droht. Nein, dieser ungeheure Abstand zwischen Mann und Weib in der Liebe – das entsetzliche Los, das die Frau für ihr Vertrauen, ihre Hingebung trifft! Wie kühl und leicht der Mann dann an diesem zerstörten Leben vorübergeht – und kaum ein paar Tage zu leiden braucht! Während sie als Mörderin, im Wahnsinn, hingerichtet wird!

Diese Ungeheuerlichkeit ist für mich unerträglich. Ich verstehe nicht, daß Goethe diese krassen Tatsachen einfach darstellt, wie sie vielleicht noch sind; ich spüre aber gar nicht, daß er sie mißbilligt, bekämpft und ändern will.

Ich weiß seitdem nur: etwas so schauerlich Ungerechtes darf auf der Welt nicht weiter bestehen, – man muß alle Kräfte einsetzen, es zu ändern.

Das alles versuchte ich Professor Braunwald, so gut ich es vermochte, klar zu machen – aber mir scheint nicht, daß er diesen Willen zur Umänderung teilt und versteht. Das empfinde ich immer wieder als den größten, tiefsten Unterschied zwischen uns: Ich will, mit allem, was ich bin, die Welt so umgestalten helfen, wie es mir – zur Freude aller Menschen – notwendig scheint; ihm genügt es, in vornehmer Resignation, ein paar große Menschen zu verstehen und zu genießen. Das ist viel, ich weiß es – aber es ist doch nicht genug, scheint mir.

Als ich die tiefe Kluft ein wenig schmerzlich zwischen uns spürte, lenkte ich vom Goethe-Faust-Thema ab und fragte nach seiner Frau. Er sagte traurig, es sei nun schon seit Monaten immer dasselbe: sie müsse vorläufig im Süden bleiben, wenn sie sich dem Leben erhalten wolle. Für ihn wiederum sei es – seines Berufes wegen – ausgeschlossen, sich dort niederzulassen. So müßten sie getrennt leben. Er habe ihr übrigens neulich von mir, von meinem Verständnis für seine Ideen geschrieben, sie nehme warmes Interesse an mir.

*

Wir gingen gerade am Wasser, an der schäumenden, rauschenden Isar vorbei. Ich erzählte von Lilli, ihrer Enttäuschung an dem Mann, den sie hochgestellt hat, einem angesehenen, wertvollen Künstler, unser beider Lehrer in den ersten Jahren unserer Münchener Studien. Seine vornehme, künstlerische Art hat sie dazu verführt, zu glauben, daß er auch als Mensch dieselbe Höhe sittlichen Adels erreicht habe. Und dann kam durch einen Zufall die zerschmetternde Entdeckung, daß er in seinem Leben als Mann wahllos, verantwortungslos, wie irgendein roher plumper Philister gehandelt hat. Darüber kommt Lilli nicht hinweg.

»Meinen Sie nicht auch.« fragte ich, »daß an dieser ungeheuren Enttäuschung, die Ihnen vielleicht kindisch oder lächerlich erscheint, die Unwissenheit schuld ist, in der man die Kinder, insbesondere aber junge Mädchen aus guter Familie erzieht? Auch wenn sie schon längst erwachsene Menschen sind, sollen sie nichts vom Leben wissen. Muß das nicht zu diesem klaffenden Gegensatz zwischen der Wirklichkeit und unseren hohen Ansprüchen führen? Könnte eine andere Erziehung bei Mann und Frau nicht viel bessern? Wer einmal gelernt hat, von Kind auf alles rein und natürlich zu nehmen, dem wird später manches, was heute geschieht, einfach unmöglich sein.«

Ich sah ihn freundlich erwartungsvoll an. Seine Gegenwart, sein Wesen verwirrt mich oft; aber wie ich nun versuchte, meine Überzeugung offen auszusprechen, war ich wieder unbefangen, ich selbst geworden – ein Gefühl von Kraft durchströmte mich. Er schien sich aber für diese doch wirklich bescheidene Forderung wenig zu begeistern.

»Das sind so jugendliche Schwärmereien,« sagte er ein wenig herablassend, »eine Belehrung ist doch sehr schwierig.«

Sehr schwierig? Gewiß, ohne Zweifel. Ist das ein Gegenargument? Ein Grund, es nicht zu versuchen? Alles Neue, aller Kampf für den Fortschritt ist »schwierig«!

4. Februar.

Als ich gestern meinen regelmäßigen, ärztlich befohlenen Mittagsspaziergang im Englischen Garten machte – bei wundervollem Sonnenschein – traf ich Professor Braunwald ganz plötzlich, unerwartet in der Nähe des Kleinhesseloher Sees. Er behauptete, gerade an mich gedacht zu haben, – unser Begegnen wäre wirklich ein sehr hübscher Zufall. Mich machte es befangen, da ich nicht ganz sicher war, daß es sich wirklich um einen »Zufall« handelte.

Er erzählte mir von Wagners »Walküre«, die ihn in diesen Tagen beim Anhören sehr ergriffen habe.

»Ob überhaupt ein Mann das Schicksal Brunhildes im Leben, in der Wirklichkeit – nicht nur in der Kunst, wie bei Wagner oder anderen – in seiner ganzen Tragik verstehen kann?« zweifelte ich.

»Wieso?« fragte er überrascht.

»Es ist für mich beinahe das tragische Schicksal des Weibes an sich.«

»Ist das nicht eher Gretchen, von deren Los Sie neulich so ergriffen waren?« warf er dazwischen.

Ich konnte im Augenblick nicht darauf eingehen und fuhr fort: »Ein frevelhafterer Betrug ist vielleicht nie an einem Menschen, an einer Frau begangen worden: sie, die sich für den Größeren aufgespart hat und nun erleben muß, daß ihr Mann nicht ihr ›Herr‹ ist. Denn selbst Siegfried: wie klein, wie erbärmlich steht er vor ihr! Sie ist auch ihm zu groß.

Ist wirklich die dornenvollste Krone, die ein Weib tragen kann, eine große Seele?«

Ich war warm und lebhaft geworden; die Befangenheit, die mich so leicht in seiner Gegenwart ergreift, hatte ich vergessen. Aber auf das Brunhilde-Thema ging er gar nicht ein. Ich habe bei unseren Unterredungen oft das Gefühl, als ob wir aneinander vorbeireden, – wenn wir uns vielleicht gerade entgegenkommen wollen!

Statt dessen meinte er nun: »Ich habe sehr viel nachgedacht über das, was Sie neulich über die Erziehung von Mann und Frau sagten. Sie urteilen sehr streng.«

»Streng?« fragte ich erstaunt, als ich begriff, worauf er plötzlich zurückkam, »im Gegenteil, die Menschen würden doch viel glücklicher und froher sein, wenn sie alle so dächten, alle danach handeln würden.«

»Könnten Sie sich denn nicht denken, daß einem Mann manches möglich gewesen ist an Liebeserlebnissen, daß er gelebt hat. wie die Mehrzahl der Männer zu leben pflegt –, ohne daß es ihm geschadet hat?«

»Nein.« sagte ich bestimmt, überzeugt, »das glaube ich nicht; das Beste: die Frische und Unmittelbarkeit, die Einheit und Harmonie der Empfindung ist vernichtet.«

»So? Aber darum ist doch gerade die Liebe einer reinen Frau etwas so Köstliches für den Mann.«

Ich lächelte etwas spöttisch – es klang mir wie eine schöne Phrase: »Wissen Sie. wie Björnson das im ›Handschuh‹ nennt? Wir sind die Seife.«

»Nein, nein,« widersprach er, »das ist ein häßliches Wort – ›Entsühnung‹ würde ich es nennen, wie Iphigenie den Orest entsühnt: ›Alle menschlichen Gebrechen entsühnet reine Menschlichkeit‹.«

Ich schwieg; es war einen Augenblick ganz still zwischen uns.

»Wissen Sie übrigens,« nahm er dann das Gespräch wieder auf, »daß ich mir schon lange gewünscht habe, mit Ihnen zu reden, Ihnen Geständnisse zu machen?«

Ich sah ihn überrascht, zweifelnd an: »Schon lange?«

»Ja, es freut mich so, daß Sie Vertrauen zu mir haben: wie Sie das neulich so ruhig sagten – in der Glyptothek – von der göttlichen Nacktheit der Venus von Milo –, da wußte ich, daß ich rückhaltlos zu Ihnen sprechen könnte. Aber was Ihre anarchistischen Befreiungsideen für die Frau anbetrifft: die Frau wird immer in der Gewalt des Mannes bleiben – durch ihr größeres Liebesbedürfnis.«

»Nun ja,« sagte ich, »vielleicht ist es unabänderlich, in der Gewalt des einen Mannes zu sein, den man liebt; – aber warum sollen wir uns die Herrschaft auch all der Männer gefallen lassen, die wir nicht lieben? Darum handelt es sich doch!«

»Aber eine Frau wird nie die Logik des Mannes haben – ein Mann kann sich viel mehr beherrschen; eine Frau, wenn sie bewegt ist, ist ganz unfähig zu mechanischer Arbeit«, entgegnete er.

Ich empfand mit einem Male ein schweres dumpfes Schmerzgefühl: war es, daß ich auch aus diesem Munde die alten banalen Redensarten von der Inferiorität der Frau hörte oder – weil ich mich in bezug auf das Letztere ein wenig schuldig fühle?

Ich bin in diesen Wochen gar nicht aufgelegt zu strenger Arbeit – muß mich förmlich dazu zwingen. Seine Bemerkung hat etwas wie Scham geweckt: also er arbeitet ruhig und verständig wie immer – und denkt an mich nur, wenn wir gerade zusammen sind. Und ich gehe jetzt so oft träumend umher – mit allerhand Phantasien, was werden könnte! Eine heiße Blutwelle stieg mir ins Gesicht bei dem Gedanken: durchschaut er mich? Weiß er das? Ich kam mir im Moment gar nicht überlegen vor – der Schmerz unterwarf mich.

12. Februar.

Acht Tage sind vergangen. Ich habe den schmerzhaften Druck, den unser Zusammensein neben allem Reiz auf mich übt, mit aller Kraft abgeschüttelt und meine Malerei wieder ausgenommen.

Ich erzählte Professor Braunwald, wie es mich beglückt, befreit, endlich wieder arbeiten zu können, als wir uns gestern abend nach der Vorlesung trafen, der ich mit großem Genuß folgte.

»Ich möchte so gern heute ein wenig länger mit Ihnen zusammen sein«, bat er dann – »ich weiß ein kleines stilles Café hier in der Nähe des Englischen Gartens – würden Sie Zeit und Lust haben, mit mir dorthin zu gehen?«

Ich sah ihn ein wenig unsicher, prüfend an: ob er mein Einverständnis auch nicht mißdeuten würde?

»Ja, das können wir vielleicht tun«, sagte ich dann. Ihm gegenüber komme ich mir lächerlich jung und dumm, ahnungslos, unerfahren vor. Es ist eine ständige stumme Frage in mir: »Wer ist der, der dich so fesselt, dem du so vertraust?«

»Es ist der ewige Fehler der Frau, daß sie sich ein zu hohes Ideal vom Manne macht, – darum wird sie immer enttäuscht sein«, behauptete er plötzlich.

Ich erschrak: errät er immer meine geheimsten Gedanken?!

Laut aber sagte ich: »Sollte es nicht eine Schwäche des Mannes sein, wenn er diesem Ideal so selten entspricht?«

Er schien wenig geneigt, das zu untersuchen; er fragte statt dessen: »Haben Sie schon einmal Freundschaft mit einem Manne gehabt?«

»Nein,« gestand ich, »nur als Fünfzehnjährige eine romantische Schwärmerei für einen jungen Dichter.«

»Ich möchte, daß es sehr kameradschaftlich zwischen uns beiden würde,« bat er, »ich möchte Ihnen alles sagen. Ich sehe zum Beispiel jedes hübsche Mädchen an.«

»Das glaube ich!« sagte ich überzeugt.

»Bitte, bitte, sagen Sie das nicht so häßlich. Ich möchte Ihnen nach und nach alles bekennen, was ich sonst keinem Menschen sagen könnte.«

»Aber es wird mir schwer, das zu verstehen«, verteidigte ich mich. »Ich bin in so gesunden Verhältnissen, in einer harmonischen Liebesehe meiner Eltern aufgewachsen. Von Kind auf habe ich mir gewünscht, es einmal später so gut zu haben wie meine Mutter mit dem von mir vergötterten Vater.

Sehen Sie, das Traurigste an solchen ewigen Flirts und halben, eitlen Beziehungen ist doch, daß die Menschen dann ein ganzes, echtes, starkes Gefühl überhaupt nicht mehr fassen, es nicht mehr wollen können.«

In dem Café angelangt, nahm er mir gegenüber Platz; mit ästhetischem Wohlgefallen sah ich sein Gesicht an: vornehme, etwas müde Züge – jetzt glücklich belebt durch einen innigen, weichen Ausdruck. Mein Blick blieb haften.

»Schon als Knabe habe ich das Schöne und die Frauen geliebt,« erzählte er – »ich machte dann eine Erfahrung, ähnlich wie Gottfried Keller sie im ›Grünen Heinrich‹ schildert.«

»Ach, Keller,« unterbrach ich ihn impulsiv, entzückt, »dem verdanke ich unendlich viel zum Verständnis der Schönheit und Reinheit der Liebe – sein ›Romeo und Julia auf dem Dorfe‹ war mir geradezu eine Erleuchtung: es hat mich von aller Qual und Unsicherheit befreit, in der uns die alte Erziehung der Liebe gegenüber läßt.«

Er hatte sich wohl nicht über Keller unterhalten wollen, sondern das Bedürfnis gefühlt, sich auszusprechen, von sich mitzuteilen. Erst später kam mir seine leise Verstimmung zum Bewußtsein, daß ich ihn unterbrochen hatte. Eine mir unerwartete Konsequenz zog er nun übrigens aus meinen Worten:

»Dann werden Sie auch Goethes ›Römische Elegien‹ lieben«, meinte er.

»Ja,« sagte ich, »sie sind schön, die Verse – aber ich kann sie dennoch nicht ohne Trauer lesen. Es ist die künstlerisch vollendete Schilderung des ästhetischen Genusses, den ein schöner Frauenkörper gewährt; aber es bleibt immer die Hetäre, von der die Rede ist, ein Genußobjekt. Da steht das ›Hohe Lied der Liebe‹ der Bibel – nach meinem Gefühl – unendlich höher. Da ist die Liebe gefeiert zwischen freien, ebenbürtigen Menschen, als Naturmacht, groß und gewaltig, stark wie der Tod; da ist – bei aller glühenden Sinnlichkeit – Reinheit und Unschuld.«

Er hatte mich erst erstaunt, beinahe verständnislos angesehen – dann wurde er sehr ernst. »Sie haben recht, ja; aber Sie sprechen damit ein hartes Urteil über mich. Tun Sie es noch nicht – ich verliere sonst allen Mut, zu Ihnen zu reden.«

Diese trüben Andeutungen quälen und bedrücken mich. Warum läßt er nicht die Vergangenheit und wendet sich ganz der Gegenwart zu, die vielleicht schön und erfreulich werden könnte?!

»Ich verstehe wohl,« sagte er nun, »daß Ihnen die Vereinigung der Geschlechter etwas Heiliges, fern von jeder Lüsternheit bedeutet. Aber Sie sehen als Frau das Leben doch vielleicht zu sehr auf seine Genießbarkeit an – bei einem Manne mit gesunder Kraft ist das einfach ein starkes Willensstreben. Wie denken Sie sich denn eine Verallgemeinerung dieser Anschauungen?«

»Freilich ist die seelisch-sinnliche Liebe ein aristokratisches Ideal«, sagte ich; »aber das sind, in diesem seelischen Sinne, alle hohen Ideale.«

»Ein Mann, der eine Frau heiratet, will einfach ein Kind von ihr haben«, behauptete er.

»Aber das steht doch gar nicht im Widerspruch,« meinte ich, »die Sehnsucht nach großer Liebe und die Sehnsucht nach dem Kinde sind doch keine Gegensätze – im Gegenteil. Für die Frau jedenfalls ist ihre Einheit das Selbstverständliche.«

»Warum muß mir das jetzt erst eine Frau sagen?« fragte er sehr ernst und schmerzlich. »Ich habe noch nie solchen Einfluß von einem Menschen erfahren. Übrigens: das Schöne, das ich liebe, ist nicht das, was konventionell ›hübsch‹ ist; für mich ist es immer der Ausdruck einer geistigen Persönlichkeit.«

Er sah mich sehr warm an bei diesen Worten, und ich fühlte ein wohliges Gefühl in mir aufsteigen unter diesem bewundernden Blick.

Ich drängte jetzt zum Fortgehen.

Als wir draußen waren, bat er ganz plötzlich, unvermittelt: »Und nun sagen Sie mir einmal Ihr Urteil über mich.«

Ich hätte am liebsten geantwortet: »Ich habe ja noch gar keins.« Aber ich wollte ihn nicht verletzen, ich antwortete halb ausweichend: »Ich verurteile ein Leben der bloßen Sinnenliebe nicht; aber ich bedaure es. Ich verurteile auch diese unglückseligen Frauen, Opfer der Gesellschaft, nicht; aber ich habe ein physisches Grauen vor ihnen und verstehe nicht, wie man sie anrühren mag. Deshalb möchte ich mithelfen, Zustände in der Welt herbeizuführen, in denen solche Verzerrungen der Liebe nicht mehr möglich sind. Jeder rechte Mensch müßte sich dagegen erheben, meine ich. Sie sind so passiv in der Beziehung; es liegt in Ihrer Natur, ich weiß es – aber es ist schade.«

Ich fürchtete, ihn mit dieser Offenheit verletzt zu haben.

»Sie haben recht,« gestand er zu, »und es ist so viel Häßliches in meinem Leben, daß ich gar kein Recht habe, es Ihnen mitzuteilen.« –

Wir gingen eine Weile schweigend nebeneinander durch die stillen Straßen; dann fragte ich: »Möchten Sie Frau sein?«

Er schüttelte sich vor Entsetzen.

»Sie wissen wohl gar nicht, wie verletzend das ist«, sagte ich nun ernst; »wenn also unser Los als Frau so trostlos ist, dann sollen wir zu allem auch noch die sozialen Ungerechtigkeiten ertragen?! Der Mann muß doch helfen, unser Leben so zu gestalten, daß er den ›Fluch‹ Weib zu sein ( ich betrachte es zwar nicht so!) ohne allzu großes Entsetzen auch über sich selbst verhängt sehen könnte!«

»Sie sind von einer grandiosen Ehrlichkeit und Natürlichkeit,« sagte er warm – »aber wenn Sie mich nach dem allen, was Sie gesagt haben, auch mit dem Verstande ablehnen müssen, haben Sie nicht doch das Gefühl, es wäre irgend etwas Gutes an mir?«

»Gewiß«, sagte ich nun kühler, ganz sachlich, aufrichtig: »in Ihren ästhetischen Anschauungen. – Aber da bin ich zu Hause.«

»Auf baldiges Wiedersehen hoffentlich«, sagte er mit Betonung und ging langsam zurück.

In meinem stillen Zimmer wurde ich nachdenklich und traurig: ob ich ihn wohl sehr damit betrübt habe, daß ich ihm so rückhaltlos offen alles gesagt, was ich denke, wie ich fühle? Die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen vor innerer Unruhe – erst beim Morgengrauen fiel ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf. – – – – – – – – – – –

15. Februar.

»Wenn es schönes Wetter ist, gehen Sie dann wieder im Englischen Garten spazieren?« hatte er zum Schluß neulich gefragt. Ich wurde wohl ein wenig rot: »Vielleicht!« Als ich in der Nähe der Königinstraße war, kam er mir in der Tat entgegen. Er grüßte erfreut schon von weitem: »Wehe, wenn Sie nicht gekommen wären!«

Ich wunderte mich ein wenig über den heiteren, übermütigen Ton – ich hatte ihn noch ganz in der Erinnerung in der ernsten, traurigen Stimmung bei unserem Auseinandergehen neulich und konnte mich nur langsam hineinfinden.

»Ich habe gestern endlich Ihr Bild gesehen, das im Salon Dannenberg ausgestellt ist,« erzählte er frohgestimmt, als wir nun zusammen weiterwanderten – »es ist ein kleines Kunstwerk und hat mich sehr erfreut. Aber so bedeutend es sein mag, was die Frau als Künstlerin oder auf geistigem Gebiet leistet, verachten Sie nicht das, was sie als Mutter tut – das ist doch das Begehrenswerteste für sie!«

»Das verachte ich gewiß nicht«, sagte ich; »aber muß man nicht erst selbst etwas sein, ehe man anderen etwas werden kann? Gerade um der Mütter, um der Erziehung des kommenden Geschlechts willen, meine ich, müßte die Frau sich erst zu sich selbst entwickeln dürfen.«

Es war ein so warmer Vorfrühlingstag, der allerhand Träume und süße Vorstellungen weckte. In dieser linden Luft möchte ich mich viel lieber einfach schweigend mit ihm an Sonne und Luft und Wiesen freuen. Aber diesen Wunsch scheint er nicht zu teilen; unsere verschiedenen Auffassungen scheinen ihn zu sehr zu beschäftigen. »Aber das Böse wird doch«, fuhr er fort, »trotz allem immer bleiben – und das wird das Geschlechtliche sein. Der Wert einer köstlichen, reinen Frauengestalt liegt doch gerade darin, daß sie sich so aus ihrer Umgebung abhebt.«

Ich fühlte sogleich wieder den schmerzenden Druck: es ist und bleibt dasselbe, mag er es noch so zart und schmeichelhaft ausdrücken: der Mann kann tun, was er will; so häßlich es sein mag, es erniedrigt ihn nicht. Das beste und reinste Weib muß sich selig preisen, wenn sie die hohe Aufgabe erhält, ihn »hinanzuziehen«.

»Aber wo bleibt denn da die heiß verteidigte Überlegenheit des Mannes?« fragte ich erschrocken. »Was ist alle Fülle des Wissens, die nicht zugleich eine ethische Überlegenheit, eine Überlegenheit des Charakters, der ganzen Persönlichkeit ist?« Er antwortete nicht.

Nein, nein, nicht das »Ewig-Weibliche« – das ist etwas, wogegen ich von ganzer Seele protestiere – das Ewig- Menschliche soll »hinanziehen«: ich will Weib sein nur dem – Größeren. Aber das sprach ich nicht mehr ihm gegenüber aus.

Am Wege stand ein Knabe, der einen Korb mit Veilchen trug. »Ich wollte Ihnen so gerne Blumen mitbringen«, erzählte er; »aber ich fürchtete, Sie zu erzürnen.«

»Es ist gut, daß Sie es nicht getan haben«, sagte ich schnell.

»Aber Sie hätten sich am Ende doch darüber gefreut«, meinte er ein wenig übermütig. »Ich habe mich gestern so über Ihr Bild gefreut, überhaupt, Ihr Wesen tut mir so wohl – Sie wissen gar nicht, was das für mich ist, das Zusammensein mit Ihnen – kann ich nicht auch manchmal gegen Abend zu Ihnen kommen – nach der Arbeit?«

»Gewiß, wenn Sie es mich vorher wissen lassen.«

»Aber das kann ich doch nicht – das kommt doch ganz auf die Stimmung an.«

Ich empfand den naiven Egoismus dieser Forderung sehr deutlich, sehr verletzend: ich soll also immer in der Stimmung sein, ihn zu empfangen, ihn wohl gar erwarten – und er ist nur zuweilen in der Stimmung, zu kommen!

*

Das war eine merkliche schmerzliche Abkühlung auf meine wärmer werdenden Gefühle. – – – – – – – – – –

16. Februar.

Die Arbeit, die ich begonnen – ein Interieur –, nimmt keinen ungehemmten Fortgang. Es ist wie ein Fieber in mir: das Glücksgefühl des »Einsseins mit mir selbst«, wie ich es bisher so beseligend kannte, ist zerstört. Sein Interesse scheint mir oft so einseitig, egoistisch: er will von sich reden, beichten können – ich soll ein Gefäß, ein Instrument sein, das ihn aufnimmt. Müßte er als der Ältere, Reifere nicht ebenso stark verlangen, von mir und meiner Entwicklung zu hören?

In seiner Gegenwart bin ich gar nicht mehr ich selber – sondern ein verschüchtertes Vögelchen, – eine Rolle, in der ich mir sonderbar und lächerlich genug vorkomme.

17. Februar.

Gestern traf ich Professor Braunwald bei dem Maler Lenze und seiner Frau, einem jungen Ehepaar, mit dem ich befreundet bin! Sie protegieren mich in liebenswürdiger Weise und haben ein freundliches Verständnis für meine Art. Während wir da saßen und redeten – Lenze denkt wie ich über moderne Malerei und kam in einen lebhaften Disput mit Professor Braunwald –, ließ ich den Reiz seiner Persönlichkeit auf mich wirken: die hohe, elegante Erscheinung, das edle Profil, das blonde Haar, die wohlgepflegten Hände, die weiche Stimme – es durchrieselte mich wie ein feuriger Strom, als sich beim Herüberreichen bei Tisch einmal unsere Hände berührten. Ja – darüber brauche ich mich nicht zu täuschen – sein Äußeres ist von großer Anziehung für mich; wenn ich nur mit der Art und dem Umfang seines geistigen Wesens auch so einverstanden und im Reinen wäre!

Die Rede kam im Laufe des Abends auf eine moderne Schriftstellerin, die den mir selbstverständlichen Gedanken verficht, daß auch die geistige, nach persönlicher Entwicklung strebende Frau nicht ohne die Liebe auskommen kann. Aber in der törichten Verlogenheit unserer gesellschaftlichen Zustände findet man unerhört, daß eine Frau dies – in diesem Falle manchmal vielleicht sehr deutlich – ausspricht.

Ein junger Lyriker meinte: »Marga Holmgren solle ja unerhörte Dinge sagen, wenn sie subtil würde.«

Ich wurde dunkelrot vor Empörung über diese Engherzigkeit des Geistes wie des Herzens. Frau Lenze sah es und sagte lächelnd: »Es gibt Leute, die das nicht finden, nicht wahr, Fräulein Irene?«

Es entstand einen Augenblick eine verlegene Pause. Wie können alle diese sogenannten gebildeten Leute in solchen Lebensfragen so beschränkt, so unehrlich sein! – – – – –

*

Als wir uns von Lenzes verabschiedeten, sagte Professor Braunwald, der sich an der Debatte über Marga Holmgren gar nicht beteiligt hatte: »Ist es Ihnen recht, wenn wir zu Fuß gehen?«

Wir wußten beide, es war ziemlich weit – wohl eine Stunde. Aber ich nickte: es ist nun schon wie ein Gewohnheitsrecht, daß er mich nach Hause begleitet. Nur wenige Menschen begegneten uns auf dem einsamen Wege.

»Darf ich Ihnen ein wenig von mir erzählen?« fragte er sogleich.

Er begann dann von seiner Kindheit zu erzählen: in einer kleinen thüringischen Residenz – wie der frühe Tod eines jüngeren Bruders, der beim gemeinsamen Spiel am Flusse ins Wasser fiel und vor seinen Augen ertrank, ohne daß er ihn zu retten vermochte, von Kind auf einen tiefen Schatten auf sein Leben geworfen, wie unablässig ihn dies traurige Bild verfolgt habe. Wie der angesehene, künstlerisch bedeutende Vater sich den Kindern durch Jähzorn und Unverständnis von früh auf entfremdete, während die Mutter durch um so verständnisvollere Liebe zu ersetzen versuchte, was dort fehlte. Wie er auf der Universität ganz in den Bann der herrschenden »akademischen Sitten« geraten – so daß es für eine Weile auch sein höchster Ehrgeiz war, ein guter Schläger zu sein –, viele Duelle zu haben, trinken und Frauen verführen zu können.

Bis dann doch der geistige Mensch in ihm gegen diese Auffassung revoltierte – und er mit Mühen versucht habe, sich von ihrem Einfluß zu befreien. Wie ihm das zum Teil gelungen, vor allem durch die frühe Verlobung mit Agathe, seiner jetzigen Frau, deren ungeheure Pflichttreue und Wahrhaftigkeit – überhaupt ihre sittliche Natur – ihn, der vielmehr eine ästhetische Natur sei – mit dem Reiz des Gegensatzes angezogen habe. Er fühlte stets die Verpflichtung, für sie zu sorgen. Aber wie er immer noch den schädigenden Einfluß jener Studentenzeit spüre – daß er manchmal an sich verzweifle: als sei er aus eigener Kraft nichts, alles durch Anlage und Verhältnisse. Ein Konglomerat von allem möglichen.

Mich quält diese grausame Selbstzerreißung sehr: wie kann man so hart, so gering, so skeptisch über sich selbst urteilen?

»Aber ich will immer genau das sein, was ich bin«, sagte ich.

»Ich bin grausam und unzuverlässig«, fuhr er in scharfer Selbstkritik fort.

»Wie ist das möglich?«

»Ich bin gutmütig, aber ich habe keine Güte« – analysierte er sich schonungslos weiter. »Denken Sie sich das Eingehen zweier einander widersprechender Verpflichtungen: dann haben Sie die Unzuverlässigkeit. Wenn man mit Menschen in Beziehung tritt, erwachsen daraus Ansprüche, die man hernach nicht erfüllen kann.«

»Aber das darf doch nicht sein«, sagte ich erschrocken.

»Mir bleibt nur der Weg der einseitigen Konzentration – und den kann ich nicht gehen. Sehen Sie, die Sinnlichkeit; das bleibt doch die Sünde.«

»Ich würde es nicht ›Sünde‹ nennen«, sagte ich voll Eifer, in der Hoffnung, ihn überzeugen zu können. »Es kann häßlich und krankhaft sein – ja – aber es braucht nicht so zu sein. Alles, was groß und stark und tief ist, was den Mut zu sich selber, zur Verantwortlichkeit hat, ist gut und rein – nur das Halbe, Schwache, Tändelnde – das ist häßlich – das ist ›Sünde‹, wenn Sie dieses alte Wort durchaus wollen.«

Ob solche grausame Selbstzerfleischung ihm eine Erleichterung ist? Auf mich hat sie sich jedenfalls wie Bergeslast gewälzt. Es quält mich unsäglich: daß ihm das beste vom Leben, die Freude an sich selbst – versagt ist.

Aber wer sich nicht selbst liebt – wie kann der andere lieben – » wie sich selbst«?

Eine schlaflose Nacht folgte. Zum ersten Male ist etwas in mein Leben getreten, das sich nicht wie sonst einfach durch fröhlichen Willen lösen oder überwinden läßt – ich stehe ratlos und hilflos davor.

19. Februar.

Gestern grüßte er schon von weitem – er richtet es jetzt fast immer so ein, daß er mich nach seiner Vormittagsvorlesung trifft, wenn ich gerade aus dem Atelier komme, wo ich meinen Kursus in Aktmalen belegt habe.

»Können Sie sich denken, daß ich Ihnen etwas werden, daß ich Einfluß auf Sie gewinnen könnte?« fragte er bald, ziemlich unvermittelt nach unserer Begrüßung.

»Nein,« erwiderte ich ohne Besinnen auf den zweiten Teil seiner Frage, »nicht in den Punkten, in denen wir verschieden denken. Ich habe immer mehr daran gedacht, Ihnen etwas zu sein, als umgekehrt!«

»Das habe ich auch sehr empfunden«, bestätigte er.

»Ich brauche einen Menschen,« sagte er nun, »der Menschenkenntnis hat und mich lieb haben kann.«

»Ich habe immer gedacht,« begann ich, »daß –«

»Sie Menschenkenntnis hätten?« fällt er mir ins Wort.

»Nein,« lächle ich, »das habe ich mir nicht eingebildet. Aber ich glaubte, daß Sie eigentlich dieselbe Lebensauffassung hätten wie ich: nicht Schopenhauers Verneinung des Willens zum Leben, sondern wie Ibsen in ›Kaiser und Galiläer‹ die Entwicklung sieht: Griechenland – das Reich des Fleisches, das Reich Christi: das Reich des Geistes – und nun das kommende dritte Reich – für dessen Kommen zu arbeiten sich allein lohnt – das eine Verschmelzung beider sein soll.

Aus Ihren Vorlesungen, Ihren Schriften hatte ich den Eindruck gewonnen, daß auch Ihre Anschauungen in dieser Richtung gingen. Aber neulich bin ich daran irre geworden: Sie schienen den Unterschied zwischen einer echten Liebesleidenschaft, die Leib und Seele, Geist und Körper vereint, und bloßer Sinnenfreude nicht recht gelten zu lassen.«

Er bleibt eine Weile schweigsam. Dann bittet er plötzlich: »Gehen Sie nicht fort von München – Briefschreiben ist gräßlich.«

»Aber ich kann doch nicht bleiben! – Mein Lehrer selbst ist der Meinung, daß ich bei ihm nicht mehr recht weiterkomme, daß ich jetzt Paris unbedingt brauche. Aber Sie brauchen mir ja nicht zu schreiben, wenn Briefeschreiben ›gräßlich‹ ist.«

»Bleiben Sie hier, Irene,« bittet er noch einmal wärmer, dringender – es ist das erstemal, daß er meinen Vornamen nennt –, »ich bin treu in meinen Freundschaften.«

Er ist treu in seinen Freundschaften?

Es prägt sich mir tief ein. Wer so viel Kritisches, Tadelndes von sich selbst sagt, darf man dem nicht auch das Gute, was er sich zuschreibt, glauben?

Er erzählt mir von seinem liebsten verstorbenen Freund, einem Historiker – dem ich in manchen Zügen gliche; es tut so wohl, das zu hören: eine innige Freundschaft mit einem Manne von ernster, vornehmer Gesinnung.

Wie ein Blitz fällt dann aber plötzlich eine gefährliche Frage: »Können Sie sich eine Freundschaft zwischen Mann und Weib denken, in der die anderen Gefühle ruhig bleiben?«

Ich erschrak. »Ja«, behauptete ich kühn –.

»Wirklich, denken Sie das?« fragte er ungläubig, enttäuscht.

»Möchten Sie mein Freund sein? Was empfinden Sie eigentlich für mich?«

Ich versuche auszuweichen. »Ich – ich möchte Ihnen sehr gern helfen mit meiner Natur.«

»Was für Willensbestrebungen Sie haben, will ich gar nicht wissen,« sagte er ein wenig ärgerlich, »sagen Sie nur, was Sie empfinden – das andere will ich mir schon selber denken. Sie wollen ein freier Mensch sein und wagen nicht, das zu sagen? Ich freue mich, mir ist Ihre leibliche Nähe schon lieb – aus Ihnen ist nie etwas herauszubringen – nur Ihre Stimme, die so weich ist, verrät Sie. Es ist so hübsch, wenn sie so vibriert. Ihre Stimme verrät, was Sie nicht sagen wollen.«

»Sind Sie neulich noch ausgegangen?« fragte ich, um ihn von dem kritischen Thema abzulenken.

»Nein,« sagt er, »aber wenn man die Einsamkeit vergessen möchte, ist es ganz gut, in Gesellschaft zu gehen.«

»Übrigens steht die Gesellschaft der Männer untereinander doch durchaus nicht höher als die der Frauen«, sage ich, froh, wieder ein wenig entschlüpfen zu können.

»Aber der Mann ist mit allen seinen Gedanken bei der Frau«, verallgemeinert er kühn – vielleicht die persönliche Erfahrung der letzten Tage?

Ich lache: »Ja, in der Art von ›Wein, Weib, Gesang‹ – als eines von drei Dingen. Sind wir wirklich eine Sache?« –

Ich bleibe stehen, um mich zu verabschieden.

»Geben Sie mir doch nicht so kalt die Hand, Sie böses Menschenkind«, sagt er mit zärtlichem Vorwurf.

»Das tue ich ja gar nicht.«

Dann liegt sie ein paar Augenblicke in der seinen. Es durchrieselt mich, wie er so warm meine Hand in der seinen hält.

Wir sehen uns noch einmal an – dann steige ich in meine Bahn.

20. Februar.

Hermine Langheim war gestern zum Tee da. Bis auf unseren alten Streitpunkt, daß ich mich ihrer »Partei« nicht feierlich anschließe, vertrugen wir uns ausgezeichnet. Wir haben wieder ein paar Stunden angeregt politische Arbeiterfragen, Gesellschaftsreformen, Probleme erörtert – dann fragte ich – so nebenbei wie im Zusammenhang mit der sozialen Frage: »Wie denken Sie übrigens über Liebesbeziehungen außerhalb der Ehe – ohne Standesamt – über eine Gewissensehe?«

Wir erhoben uns gerade vom Teetisch und gingen zu dem kleinen Ecksofa, wo sich so behaglich plaudern läßt. Hermine machte ein durchaus ablehnendes, erschrockenes Gesicht: »Daß es eine Dummheit von einer Frau ist, wenn sie sich heutzutage auf solche Beziehungen einläßt«, sagte sie dann scharf, mit Nachdruck. »Später, wenn wir Sozialisten erst alles so eingerichtet haben in einer neuen Gesellschaftsordnung – dann mag es ja gehen – aber jetzt! Dummheit. Selbstmord! Sie werden doch nicht? Sie bei Ihrer idealistischen Art – Sie wären wahrhaftig imstande dazu!« Sie sah mich prüfend an. »Um Gotteswillen, Kind – wollen Sie auch erst durch Erfahrung klug werden? Der Mann, der das heute von einer Frau verlangt, ist kein Ehrenmann, glauben Sie mir das!«

Sie ist zehn Jahre älter als ich und glaubt wohl, durch diese Warnung mir nützen zu können.

»Aber wie soll man klug und reif werden, wenn man das Leben nicht kennt, nicht kennen lernt?« erwiderte ich und sprach von anderen Dingen.

Hermine ist, Gott sei Dank, keine allzu scharfe Beobachterin, sonst hätte sie gesehen, daß mich ihre harte, kategorische unverklausulierte Ablehnung tief getroffen hat. Ein Frösteln ging durch meinen Körper. Aber schließlich – was weiß Herminens gerade, bei allem Parteifanatismus nüchterne eckige Natur von den Komplikationen, in die das Leben uns führen kann?

21. Februar.

Heute grüßte er schon von weitem – und ich lächelte ihm auch entgegen. Er hatte wundervolle Veilchen mitgebracht.

Ich wehrte halb beglückt, halb erschrocken ab: »Das darf ich doch nicht!« Er lachte über mein Erschrecken. Er habe sich so oft im Leben die besten Freuden durch kalte Reflexionen verdorben, sagte er neulich, daß er es diesmal ganz gewiß nicht tun wolle. Ich spürte deutlich: das ist nun keine objektive Freundschaft mehr, wie er mir entgegenstrahlte; aber ich brachte es nicht über mich, seiner Freude ein finsteres Gesicht entgegenzusetzen. So ging ich lächelnd neben ihm an diesem wundervollen Wintermorgen, wo die Sonne glühend rot durch den blauen Nebel brach, hörte ihm ein wenig zerstreut zu und sah auf die Veilchen nieder, deren köstlicher Duft mich umschmeichelte.

»Eine Freundschaft zwischen Mann und Weib bleibt nie so abstrakt«, dekretierte er jetzt. Ich versuchte zu widersprechen.

»Warum wollen Sie das bestreiten? Sie verteidigen verlorene Positionen; es ist wohl nur eine ars politica. Was heißt denn ›liebhaben‹? Nicht alles richtig finden, was der andere tut, sondern in den Empfindungen übereinstimmen. Es ist Sinnlichkeit darin, natürlich nicht in dem gewöhnlichen Sinne. Ich freue mich Ihrer Nähe, ich möchte immer bei Ihnen sein – und Sie geben mir so kalt die Hand, als scheuten Sie jede Berührung.«

»Aber wie ist es möglich, daß wir in den Empfindungen übereinstimmen,« fragte ich, »wenn Sie eine idyllische Natur sind, wie Sie neulich von sich sagten, und ich doch wohl eine leidenschaftliche?«

Er stutzte einen Moment: »Durch den Sinn für Schönheit, für Kunst, für Lebensfreude«, meinte er dann.

»Aber in bezug auf das Verhältnis zu den Menschen sind und denken wir doch sehr verschieden«, meinte ich. »Sie wollen mit Menschen aller Art gesellschaftlich verkehren, während ich mehr geneigt bin, mich abzuschließen. Es war geradezu mein Stolz, meine Gefühle zu verbergen, für kalt gehalten zu werden – meine eigene Mutter glaubt das noch heute von mir.«

»Aber es ist doch nicht nötig, sich vor den Menschen zu verbergen,« meinte er, »wenn man, wie Sie, den Menschen etwas zu sagen und zu geben hat. Frau Reichmann, die kürzlich Ihr Bild sah, bekannte mir noch in den letzten Tagen, welch große, reine Daseinsfreude sie aus Ihrem Schaffen spüre – sie habe Sie ordentlich darum beneidet. Das spricht ja auch aus Ihrem ganzen Wesen, das können Sie doch auch ruhig der Welt zeigen.«

»Aber wie kommt es, daß Ihre Frau, die nach allem, was Sie mir erzählen, eine pathetische Natur ist, nicht ebenso zu Ihnen stimmen sollte, wie ich?« fragte ich.

»Ihre Art von Leidenschaft ist eine ganz andere, ohne Ästhetik, ohne Sinn fürs Poetische und Natürliche. Ihr ist alles, was mit der sinnlichen Seite der Liebe zusammenhängt, fremd und peinlich. Sie wünscht sich Kinder, aber nur, wenn sie ihr in den Schoß fielen. Jeder gesunde, natürliche Mensch wünscht sich das doch anders.«

»Aber Sie rebellieren vielleicht nur manchmal, weil Sie gefesselt sind – wenn Sie frei wären, würden Sie sie sicher nicht verlassen«, meinte ich.

»Dann würden wir beide das Verhältnis in ein freundschaftliches verwandeln. Aber so – ihre Erkrankung macht es ja zu einer Unmöglichkeit, sie zu verlassen.«

»Selbstverständlich,« pflichte ich bei – »aber wenn sie Ihre Tyrannei als Härte empfindet, wie Sie neulich einmal sagten, dann ist das doch ein Beweis, daß Sie manchmal nicht liebevoll gegen sie sind«, sagte ich. »Ein bißchen Tyrannei der Liebe läßt man sich doch gern gefallen.«

»Nein, hart bin ich nicht – aber vielleicht manchmal jähzornig gewesen. Wenn sie unsere gesellschaftlichen Verpflichtungen nicht immer so ernst nehmen wollte, hat es auch wohl Konflikte gegeben.«

Ich lachte übermütig: »Das würde ich auch nicht tun!«

»Dann würde es Ihnen schlecht gehen, wenn Sie meine Frau wären!«

Ich sagte noch übermütiger – im Gefühl meiner Freiheit: »Es ist nur gut, daß ich es nicht bin!«

Es entstand eine Weile tiefes Schweigen zwischen uns – ich bereute schon, ihn verletzt zu haben – so ernst war er geworden. Da sagte er: »Vielleicht hat Sie ein gütiges Schicksal davor bewahrt – aber ich weiß doch nicht, ob Sie so unglücklich mit mir geworden wären!«

Ich schloß einen Moment die Augen und atmete tief auf.

»Ich habe es so gerne, wenn Ihre Wimpern so auf- und niedergehen«, sagte er nun, während ich seine heißen Blicke auf meinem Gesicht fühlte.

»Ach bleiben Sie hier, Irene, gehen Sie nicht fort von München!« – kam es wieder, heißer, dringender als vorher.

Statt aller Antwort fragte ich: »Wieviel Uhr ist es jetzt? Ich glaube, ich muß gehen!«

Er lachte über diesen Versuch einer Ablenkung.

»Sie sind sonderbar,« sagte er, »erst waren Sie so heroisch – und nun, wo alles klar ist zwischen uns, wo nichts mehr zwischen uns steht, weichen Sie aus.« –

Seine Augen hingen mit verzehrenden Blicken an mir – ich mußte die Augen schließen davor. Eine fast verzehrende Unruhe brannte den Tag und die Nacht in mir, während die Veilchen vor mir im Glase dufteten.


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