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VII.

15. März.

Und nun sitze ich da, den Tod im Herzen – und fühle, wie ich nur noch der Spielball grausiger Leidenschaften bin. Liebe, Haß, Rache, Verachtung, die mich mit entsetzlicher Geschwindigkeit auf ein Ziel zudrängen: das allerletzte – und dazu der ästhetische Abscheu vor irgendeinem gewaltsamen Ende, und die Lebenskraft in mir, die sich gegen einen solchen Abschluß empört. Kein klarer Gedanke mehr, keine Hoffnung auf die Zukunft. Zuweilen ist noch ein Funke von Besinnen und Vernunft in mir – aber er vermag nichts mehr gegen das andere.

Es ist, als ob das Schicksal, ein hartes, grausames, unerbittliches Schicksal, mir nichts, gar nichts ersparen wollte.

So mußte ich ihm neulich in der Nähe des Marienplatzes mit Fräulein von Wendeborn begegnen – gerade, als er eben eine Weinstube mit ihr betrat.

Hedwig erzählte mir am andern Tag voll Sorge, er sei gestern mit »einigen seiner Studenten« in einer Weinstube gewesen – und das sei ihm gesundheitlich so schlecht bekommen. Das nächste Mal, ein paar Tage später – als ich bei Hedwig war, kam er sehr spät zum Abendbrot, erzählte dann selbst, er habe mit Fräulein von Wendeborn noch in einer Austernstube zusammengesessen – er weiß, daß ich an seine »Studenten« nicht glaube – und war übrigens sehr heftig und gereizt gegen Hedwig. Es war alles so trostlos und unerfreulich. Er begleitete mich noch ein Stückchen – ich versuchte Hedwig bei ihm zu verteidigen, die doch an all dem Unheil und der Verwirrung wirklich ganz ohne Schuld ist. Darauf wandte sich sein Zorn gegen mich – besonders als sich herausstellte, daß ich von ihr von der Weinsitzung mit »den Studenten« erfahren hatte, die er vor mir ja nicht aufrecht erhalten konnte. Fräulein von Wendeborn klammere sich so an ihn an – er wisse gar nicht, wie er sich ihrer erwehren solle.

Ich fragte, ob ihr denn ihr Beruf Zeit lasse zu so starker Inanspruchnahme?

Nun brach er ganz wild und drohend aus – nie habe ich ihn vorher so gesehen –, wir Frauen hätten erst Ruhe, wenn er völlig zugrunde gerichtet sei – und es ginge mich ja seine Freundschaft mit Fräulein von Wendeborn nichts an.

Meine Knie wankten – ich sah hilfesuchend zu ihm auf.

»Aber wir haben uns doch gelobt, immer wahr gegeneinander zu sein«, sagte ich mit zuckenden Lippen.

»Aber das kann doch jetzt nicht mehr gelten«, sagte er ungeduldig.

Es traf mich wie ein Schlag ins Gesicht:

»Das kann nicht mehr gelten!?«

Jenes heilige Versprechen, das mir allein Mut und Kraft gegeben hat, mit ihm zu gehen, soll auf einmal ein leeres Wort sein? Was auch fallen mochte – die geistige Zusammengehörigkeit sollte bleiben – darum hat er – er selbst – doch bis jetzt immer gebeten?! Noch vor zwei Monaten – im Januar – hat er ja gelobt, mir stets die Wahrheit zu sagen, selbst wenn sie mir wehe tue.

»Ich denke, wir wollten Freunde sein«, wagte ich deshalb zu erinnern.

»Aber ohne alle Ansprüche«, sagte er rauh.

»Wie zwischen wildfremden Menschen? Das kannst du doch nicht meinen. Laß mich wenigstens dein Kind sein –« flehte ich in gräßlichster Not und Verzweiflung.

»Nein!« sagte er brutal.

In diesem Augenblick empfand ich ihn als meinen Mörder. Ich wußte im Augenblick deutlich: wenn ich jetzt vor seinen Augen in den Tod ginge, er würde mich nicht retten, nicht retten können.

Ein ohnmächtiger Haß erhob sich in mir gegen den, der so zerstörend in mein Leben eingegriffen hat.

*

Tage voll namenlosen Grauens sind dieser grausamen Auseinandersetzung gefolgt. Tage, in denen ich die Liebe, die mich bis jetzt erfüllte, nur noch als etwas Wildes, Zerstörendes empfand, das nach Genugtuung lechzte und schrie.

Aber dann erkannte ich: aller Haß, alle Rache ist vollkommen sinnlos, läßt mich gänzlich ohnmächtig, außerstande, etwas zu ändern, zu bessern, mir zu helfen. Alle gewaltsamen Mittel würden nur mich selbst tödlich treffen – noch über seine Leiche würde ich mich werfen – und nur – mein eigenes Leben zerstört haben. Nein, nein, er muß leben bleiben. – Denn die einzige Erlösung aus all der Qual ist: daß er doch noch einmal irgendwann wieder der vornehme Mensch wird, den ich in ihm sehen muß, wenn ich leben will. Denn er – der Mann meiner ersten großen Liebe – ein Mensch ohne Herz, ein Mensch ohne Gewissen, ohne Verantwortung – in meinen Augen – in meinem Sinne – das ist das unaussprechlich Qualvolle, an dem ich zugrunde gehe.

In dieser entsetzlichen Zeit bin ich fast froh, daß ich die Malstunden übernommen habe, so verhaßt mir sonst jeder Zwang ist. Aber jetzt bin ich dafür dankbar: lenkt es mich doch täglich ein paar Stunden von meiner Qual ab.

Wenn nur die schauerlichen Nächte nicht wären! Ein niemals weichender Druck hat sich mir aufs Herz gelegt – so fest, so schmerzhaft, daß es mir fast den Atem nimmt und mich zwingt, aufrecht zu sitzen, Stunde um Stunde – schlaflos, namenlos gepeinigt, hilflos preisgegeben allen Nachtgespenstern – in verzweifeltem Ankämpfen gegen ein Grauen, dem ich zu unterliegen fürchte. Nacht um Nacht geht so hin – und jeden Morgen verlasse ich mein Lager, wie ich es aufgesucht habe – nur froh, für ein paar Tagesstunden wieder dieser Hölle entrissen zu sein.

24. März.

Seit der grausamen Szene neulich habe ich ihn nicht allein gesprochen – nur Hedwig suche ich noch auf, die das unschuldige Opfer dieser Verwirrung der Leidenschaften ist.

Aber als ich Sonntag ganz ruhig bei ihr saß, kam Fräulein von Wendeborn – und dann stieg jener alte schreckliche Argwohn wieder in mir auf, der nun wohl nie mehr weichen wird und der alle friedliche Entwicklung unmöglich macht.

Sie will mit Hedwig Frühjahrstoiletten kaufen. Und ich soll ihm die Rubensmappe wiederbringen – »für seine Arbeit«.

Aber er arbeitet ja gar nicht.

Er hat sie mir einmal mitgebracht – in der Zeit seiner zärtlichsten Liebe zu mir – damals nach unserem Pinakothekbesuch – er freute sich daran, mir diese starke Darstellung menschlicher Sinnenfreude zeigen zu können.

Die Universitätsferien haben begonnen – er wird demnächst verreisen, Agathe besuchen – Hedwig fährt zu ihrer verheirateten Freundin an den Rhein – alles wie zum vorigen Osterfest.

Ich ging nur noch hin, um Hedwig Lebewohl zu sagen – während Roberts Abwesenheit. Aber er kam auch noch. Es war erst ganz ruhig und friedlich – ich hoffte schon, mit diesem letzten erträglichen Eindruck vor seiner Abreise ein paar Wochen leben zu können.

Unglücklicherweise begleitete er mich, warf mir plötzlich vor, daß ich – ich – mir aus allen menschlichen Beziehungen nichts mache! Ein Vorwurf, der vollkommen sinnlos ist, wo ich selbst unter den jetzigen qualvollen Umständen – nach der Zerstörung unseres sinnlichen Glücks – noch mit heißester Mühe versuche, unsere menschliche Beziehung von dem Untergang in Groll und Haß zu retten!

Und dann zürnte er, daß ich die Rubensmappe nicht mitgebracht hatte!

Ich versuchte ihm zu sagen, wie ungerecht er im Augenblick urteile – für mich hing ja so unendlich viel davon ab, daß wir nicht im Bösen auseinandergehen mußten – die Qual oder die Erträglichkeit vieler Wochen hing daran.

Aber es war offenbar in seinem Sinn, in seinem Herzen gar keine weichere Stimmung im Augenblick – ich lauschte vergebens.

Er schalt, daß ich mich so fremd von ihm zurückgezogen habe.

Als ich ihm sagte, wenn ihm denn an der menschlichen Beziehung zwischen uns liege, dann dürfe er doch auch nicht alles Vertrauen, alle geistige Nähe zwischen uns aufheben, wurde er so böse und erregt, wie ich ihn noch nie gesehen habe, wie ich nie für möglich gehalten hätte, daß ich ihn je sehen könnte.

Ich starrte wie versteinert vor Grauen in die ganz entstellten, sonst so geliebten Züge.

Das also ist möglich auf der Welt! Das kann mir geschehen! Der Mann, den ich geliebt, der mich geliebt, kann so vor mir stehen?! Es ist, als ob ich ganz gefühllos würde. Was mag es nun noch geben?! – – –

2. Mai.

Nach dieser Unterredung habe ich ihm geschrieben, es sei das einzig richtige, wir sähen uns überhaupt nicht mehr.

Ich fühle immer, wie ich ruhiger, gefaßter werde, mich meiner künstlerischen Arbeit, neuen Zielen zuwenden kann, wenn nicht täglich die Wunden neu aufgerissen werden. Das bedeutet natürlich noch lange nicht, daß ich innerlich frei oder fertig bin.

Wenn es mir auch am Tage gelingt, meine Pflichten zu erfüllen – mich aufrecht zu halten – Nacht für Nacht liege ich da – »eine wehrlose Beute des wildesten Raubtiers: der markverzehrendsten Sehnsucht«.

Monate dauert nun schon diese Seelenqual! – Ich habe nie geglaubt, daß ein Mensch so dauernd, so intensiv leiden könnte. Und in all der Not kommt mir als unsägliche Demütigung die Erkenntnis, daß es am Ende gar nichts Besonderes ist, was ich da erlebe: eine hohe, seltene Liebe, wie ich im Glück des ersten Vertrauens gemeint habe, sondern daß tausend junge, stolze, leidenschaftliche Seelen so leiden müssen, die geglaubt haben, die Welt aus den Angeln heben zu können – daß dies einfach der Durchgang aus den Hoffnungen und Phantasien der Jugend zum wirklichen Leben ist, und daß vielleicht die meisten aus diesem höllischen Kampf müde, alt und gebrochen hervorgehen.

Aber ich will nicht alt, müde und resigniert werden. Lohnt es dann noch zu leben – mit halbem Mut, mit gebrochener Kraft – ein müder, enttäuschter Mensch mehr unter den vielen?

Aber freilich, diese letzte Phase seiner Wandlung, daß das Wort, was wir uns gegeben, keine Kraft, keine Geltung mehr haben solle, ist für mich etwas völlig Unfaßbares, Unertragbares. Er hätte ebensogut verlangen können, ich sollte eine jener ärmsten Frauen werden, die ihre Liebe auf der Straße verkaufen, als jemals ohne diese innere Gewißheit, daß nichts uns trennen könne, sein werden. Nie hätte ich das je vermocht.

Ich brauche, um leben zu können, die Gewißheit, daß es etwas gibt, was allen Wandel und Wechsel der Zeiten überdauert, daß ein Wort von uns wie heute so auch morgen gilt. Das entspricht meinem tiefsten Wesen und Erleben: »Nicht die Stärke, sondern die Dauer der hohen Empfindung macht die hohen Menschen.«

Alle Marter, die Heilige um ihres Glaubens willen litten, leide ich um meine Liebe, die mein Glaube, meine Religion ist.

Ich weiß nur das eine: das habe ich von Kind auf instinktiv begriffen, in jedem Augenblicke: »Das ist die wahre Liebe, die immer und immer sich gleich bleibt – ob man ihr alles gewährt, ob man ihr alles versagt.«

Nach dieser Liebe strebe ich immer, immer – ich meine manchmal, ich hätte ein wenig – leider ein wenig erst – davon in mir.

9. Mai.

Ein paar Wochen der Entfernung haben mir sehr wohl getan – mir ein wenig Beruhigung, ein gewisses Zu-mir-selbst-Kommen gegeben. Und nun ist wieder alles aufgewühlt, alles in Frage gestellt durch diese neue Begegnung.

Ich wußte wohl, daß Robert zurück war – aber ich ging nicht zu den Vorlesungen, war auch nicht bei Hedwig. Ich fühle: nur in der vollständigen Entfernung kann ich langsam genesen, mein eigenes Leben wieder neu aufbauen.

Nun mußte ich ihm unseligerweise begegnen auf der Leopoldstraße. Ich fühlte meine mühsam gesammelte Kraft weichen bei dem Anblick des Menschen, der mir bis an mein Lebensende nie ein fremder, gleichgültiger, befreundeter Herr werden kann, der für mich immer mein Mann – der Mann meiner ersten großen Liebe bleibt.

Ich bog in eine Nebenstraße ein, um ein Zusammentreffen zu vermeiden.

Aber er hatte mich auch gesehen und kam mir nun eilend nach. »Irene, was soll das heißen? Warum gehst du mir aus dem Wege?«

»Ich schrieb es dir doch – es ist besser so – und seit ich weiß, daß wir uns innerlich nicht mehr wirklich nahe stehen, daß du mir nicht mehr die Wahrheit sagst!«

»Ja, das kann man im Leben manchmal nicht vermeiden« – sagte er philosophisch. »Aber das ist doch kein Grund auseinanderzugehen. Jetzt handelt es sich im Gegenteil darum, zu zeigen, ob wir vornehme Menschen sind. Wenn du dir nicht zutraust, etwas aus unserem Verhältnis zu machen – ich traue es mir zu. Wir müssen nur ganz von vorne anfangen.«

Ich habe nur eins gehört, von all dem, womit er mich noch zu überreden bemüht war: wir sollen zeigen, daß wir Menschen, vornehme Menschen sind.

Er traut es sich also zu? Er will es erweisen? Es ist das einzige, was ich zum Leben brauche, unbedingt brauche – diesen Glauben an ihn.

Es soll an mir jedenfalls nicht liegen, wenn auch dieser Versuch scheitert. Er soll nicht wieder sagen können, ich hätte ihn durch meine Heftigkeit von mir getrieben. Ich weiß, daß man siebenmal siebzigmal verzeihen soll. Dann kann ja auch ich es noch einmal versuchen – noch einmal!

3. Juni.

Gestern hat Robert mich besucht. Es war ein sehr heißer Tag – ein Sonntag – ich freute mich, still bei mir zu sein und mich an meinem geliebten Nietzsche erbauen zu können.

Da klingelte es. Ich ging hinaus. Robert war es. Er stand da in seinem eleganten modefarbenen Sommeranzug, einen großen Strauß Flieder in der Hand. Wir gingen hinein – er gab mir den Strauß – und ich setzte ihn in eine Vase, ohne zunächst ein Wort finden zu können. Der Nietzsche-Band »Die Morgenröte« lag noch aufgeschlagen da. »Ich habe gelesen,« sagte ich, »ich bin noch ganz heiß davon – so erfüllt es mich.«

»Warum liest du denn aber auch so viel?« sagte er ein wenig schulmeisterlich. »Ich könnte nicht so viel bewältigen.«

»Ach, laß mir nur die Freude – für mich ist es immer eine solche Rechtfertigung und Bestätigung meiner Natur, daß es für mich nichts Stärkenderes geben kann.«

»Und ich komme immer mehr von ihm zurück – und das Weib ist für ihn doch nur ein Spielzeug.«

Ich lächelte: »Aber gerade Nietzsche darf man doch nicht so wörtlich nehmen, buchstabenmäßig interpretieren. Dann kommt etwas ganz Schiefes, Falsches heraus. Er drückt sich ja mit Absicht so aus, daß die, die nur flüchtig in ihm blättern zu dürfen glauben, ihn mißverstehen müssen.

Sieh, wenn er zum Beispiel sagt: ›Ein Weib liebt immer nur einen Kriegsmann‹, so meint er doch natürlich nicht einen Leutnant oder Landsknecht, sondern einen Menschen voll Kraft, dessen Stärke und Überlegenheit sie spürt, in dessen Schutz sie sich stellen kann. – Und so ist es mit allem.

Aber nun sag' doch, wie es Hedwig geht.«

»Sie läßt dich grüßen – wenn sie sich wohler gefühlt hätte, wäre sie mitgekommen. Sie bittet dich sehr, bald zu kommen. Du solltest es schon ihretwegen tun.«

»Ja, ja, gewiß, das werde ich auch. – Ich habe nur jetzt so viel zu tun, weil ich doch in ein paar Wochen in die Schweiz will – Hermine Langheim hat mich nach Zürich eingeladen, dann gehe ich weiter in die Genfer Alpen.«

»So, also in die Schweiz willst du?«

»Ja, ich muß etwas haben, worauf ich mich freuen kann.«

»So – ja –.«

Ein rechtes, erfreuliches Gespräch kam nicht in Gang. Als er gegangen war – nachdem er mir das feierliche Versprechen abgenommen hatte, bald zu kommen – fragte ich mich, ob denn diese Art des Verkehrs wirklich einen Sinn hat.

Alles in mir bäumt sich dagegen auf: mein Leben will ich wieder leben – mein hartes, einsames Leben, wenn es nicht anders sein kann – dazu fühle ich mich stark genug. Aber nicht dies stete Aufreißen der Wunden! Wie soll man dabei wieder genesen können?! –

Zürich, 15. Juli.

Seit ein paar Tagen bin ich hier bei Hermine.

Es ist seltsam, zu denken, wie sich mein Schicksal gestaltet hätte, wenn ich Zürich gekannt, mit Hermine hierher gegangen wäre, ehe ich mein Herz an ihn band! Der herrliche See – die Berge – der freiheitliche, internationale Zug – das scheint mir die rechte Lebenslust für mich. Hermine hat mich mit zur Universität genommen.

Auf der Universität hörte ich unter anderem eine Vorlesung über Chateaubriand – ein berühmter, auch von Hermine vergötterter Professor sprach. Eine gescheite, freiheitlich-demokratische Art, wie sie für eine gewisse Art von Schweizertum typisch ist – gewiß – aber eine so subtile, psychologisch-vertiefte, verständnisvolle Interpretation – wie Robert sie geben würde, schien es mir nicht zu sein.

Hermine, in deren Pension ich wohne, ist zweifellos eine tüchtige Arbeitskraft, voll Fleiß und Ehrgeiz, die es mit ihren männlichen Kameraden sicher aufnimmt, mit einem unausrottbar »preußischen« Zug, der mir als einem mehr westlich-individualistisch gestimmten Menschen fremd ist.

Gestern unternahmen wir eine wundervolle Fahrt über den Züricher See in der Gesellschaft eines jungen russischen Arztes und einer liebenswürdigen Polin. Der Arzt erinnerte mich in seiner ästhetischen träumerischen Weichheit an eine Gestalt aus Turgenjews »Neuland«, aber fester, charaktervoller erschien er mir. Auch die Polin, die mit Hermine studiert, scheint ein tüchtiger, selbständiger Mensch zu sein. Außerdem war eine heißblütige Ungarin mit uns – eine junge Witwe, die durch das Studium wohl den Kummer um ihren Mann bekämpfen will.

Mit Hermine habe ich am Abend, als die anderen sich zurückgezogen hatten, noch über das Leben der Frau in dieser seltsamen Übergangszeit gesprochen. Hermine verzichtet auf alles »Weibliche« – sie würde auch im Fall einer Ehe keine Kinder wollen. (Als ob das eine ganze Ehe wäre!) Ich weiß doch, was es für unser Glück und Unglück bedeutet hat, daß wir keine Kinder haben konnten! Hermine will als intellektueller Mensch höchstens der Freundschaft leben. Kunst existiert nicht für sie – nur »Wissenschaft« – das heißt in ihrem Sinne nur Mathematik.

Sie hat Sympathie für mich, hält mich auch für künstlerisch begabt und irgendwie etwas versprechend, ohne wohl eigentlich zu wissen, warum. Denn mein tiefstes Wesen ist ihr doch im Grunde fremd.

Sie stellte ein charakteristisches Examen mit mir an: »Sie sind doch Atheistin?« So wie man fragt: »Sie sind doch bei Verstand?« Natürlich glaube ich nicht an den Herren mit dem Pferdefuß und ähnliche bildhafte Spukgestalten früherer Stufen menschlichen Erkennens – aber Fausts Antwort auf Gretchens Frage: »Glaubst du an Gott?« schien mir bei dieser umgekehrten Gretchenfrage fast ebenso angebracht.

»Natürlich ja«, sagte sie ungeduldig. »Hoffentlich nicht nur so aus allgemeinem Gefühl – sondern aus Wissenschaft!! Nun, dann müssen Sie auch Sozialistin werden! Sehen Sie, gegen die mathematischen Beweise von Karl Marx kann kein Mensch etwas sagen.« –

Aber ein bißchen asketisch fällt ihr sozialistisches Lebensideal noch aus.

»Gerade als Sozialistin muß ich mich sehr in acht nehmen, mich hüten, zuviel mit Männern zu verkehren – sonst heißt es gleich: Aha, die Sozialistin mit ihrer freien Liebe!«

»Ja, aber wenn Sie nun den Mann fänden?«

»Aber Kinder würde ich doch nicht wollen«, wiederholte sie hartnäckig.

»Und Sie glauben, daß das eine ganz vollkommene Liebe wäre? Wenn Sie lieben, wollen Sie auch Kinder von dem Mann, den Sie lieben«, meinte ich.

Sie lachte: »Eine sehr kindliche Anschauung.«

»Nun ja,« entschuldigte ich mich, »es mag in meinen vierundzwanzig Jahren liegen, daß man sich so sehr Kinder wünscht. Vielleicht wird es später anders – ›besser‹.«

»Ach nein«, schlug sie dann plötzlich meine Hoffnung nieder. »Das bleibt – bis man fünfzig Jahre und älter ist.«

»Eine tröstliche Aussicht! Und was macht man, wenn solche Gedanken und Wünsche über einen kommen?«

»Es ist schon am besten, man nimmt ein Buch – und wenn es eine Kinderfibel ist – und vergräbt sich hinein bis zur Besinnungslosigkeit.«

»Ist das Ihr ganzer Trost?« fragte ich entsetzt.

Ich ging sehr nachdenklich zur Ruhe und lag noch lange wach: also auch diese arbeitsame, mathematische Seele – auch für sie gibt es Stellen im Wege, über die sie nicht hinweg kann, die sie gewaltsam ignorieren muß, um existieren zu können! –

Aber so – mit dem Ignorieren lösen wir doch das wesentliche Problem unseres neuen Frauenlebens nicht – Persönlichkeit und Weib zugleich zu sein.

Mir fiel dabei das Gespräch ein, das ich kurz vor meiner Abreise aus München mit einer Schriftstellerin hatte, die etwa in Hermines Alter – also Anfang der Dreißiger – ist. Sie erklärte sich für »freie Liebe«.

Ich wage daraus zu schließen, daß sie sie nicht erlebte. Sonst würde sie wissen, daß das auch keine Lösung ist – die überhaupt nicht in der Form steckt – weder in der legitimen noch in der sogenannten »freien«. Liebe ist ja die stärkste Gebundenheit, die es gibt – die tiefste seelische Abhängigkeit, die erlebt werden kann – das gerade Gegenteil von »Freiheit«.

Wer da von »Freiheit« redet, weiß nichts von Liebe.

Dora Baumgarten ist eine schlanke, hübsche Person mit dunklem Haar und dunklen Augen – geschickt, unterrichtet, gewandt. Sie hat etwas von einer Pariserin im Wesen, kleidet sich gut und geschmackvoll – warum sollte sie nicht ebenso anziehend sein für einen Mann wie irgendeine leere, törichte, geistig unbedeutende Frau? Aber ich vermag auch nach unserem letzten Gespräch – das übrigens nicht das erste war – nicht klar zu sehen, wie sie das Liebesproblem löst.

Wir sprachen über Goethe.

»Ist Ihnen nicht auch sein schnelles Vergessen, seine wechselnde Neigung, wie er so leicht von einem zum andern geht – quälend? Haben Sie noch nie darunter gelitten?«

»Ach nein,« sagte sie, »ich würde es auch so machen – wenn ich sähe, daß ich bei einem Menschen zugrunde ginge, würde ich sofort eine Hand ergreifen, die sich mir entgegenstreckte – aus Selbsterhaltungstrieb!«

»Aber finden Sie nicht, daß es schwer ist, Weib sein und Persönlichkeit sein? Daß durch jahrhundertealte, vielleicht jahrtausendealte Tradition die Bereinigung dieser beiden Seinsarten: sich hingeben und sich behaupten wollen – noch fast unmöglich ist? Was für ein unnatürlicher, qualvoller Zustand ist das, wenn wir jede Seligkeit, die wir als Weib genießen, die uns als Frau beglückt, – mit der schmerzhaftesten Zurückdrängung unseres Wesens, mit der Einengung und Verleugnung alles dessen bezahlen müssen, was man als Mensch, als eigenes schaffendes Individuum ist und leisten will?!«

Sie nickte ja – aber mir schien mehr so im allgemeinen – aus der Theorie heraus.

»Ich glaube wohl.«

»Ja – aber dann sind ja die geistig produktiven Frauen zum Zölibat verurteilt«, sagte ich bedrückt.

»Ja, solange es noch keine Männer gibt«, sagte sie gleichmütig. »Denn die ästhetischen Naturen sind uns nicht männlich genug – und die ›starken‹ müssen wir sehr jung bekommen, um sie noch für uns erziehen zu können.« –

Also sie will ihren Mann erziehen! Ich danke bestens. Meine Kinder will ich vielleicht einmal erziehen – meinen Mann nicht!

Ich sprach mit ihr über einen Roman, den sie geschrieben hat: »Sie sind zu hart gegen ihre Heldin – sie kämpft doch, bis sie physisch zusammenbricht. Glauben Sie wirklich, daß sie sich dem ungeliebten Mann gegeben hätte?! Das ist doch keine wirkliche Befriedigung für eine Frau.«

»Aber es gibt eine Grenze des physischen Leidens, wo man nur an momentane Befriedigung denkt.« –

Ich verstehe das nicht – sie muß nie geliebt haben, sonst würde sie wissen, daß es für die Frau keine momentane Befriedigung gibt. Einem Weibe graut doch vor der leisesten Berührung eines gleichgültigen oder gar unsympathischen Mannes, um die ganze Wonne der Hingebung für den Geliebten haben zu können.

Ich hoffe, es gibt auch in der Welt schon ein paar Männer, für die es keine momentane Befriedigung, sondern schon – die. Liebe gibt.

Finhauts, 25. Juli.

Vor mir auf dem Tisch stehen Alpenrosen, Enzian und Orchis – selbstgepflückte – bei meiner ersten größeren Bergbesteigung neulich, die nicht ohne Gefahr war, wie unser Führer selbst später zugab. Wir sind hier im Mittelpunkt der Rhonealpen – sehen einen Teil der Montblanc-Kette, und jeder spricht davon, nach Chamouny zu gehen. Schweren Herzens habe ich mich von Zürich getrennt – dessen natürliche und geistige Atmosphäre mir wie Lebenslust einging.

29. Juli.

Heute haben wir den ersten gründlichen Regentag: die Berge sehe ich nur durch einen dichten Wolkenschleier. Gestern abend wurde in unserer Pension getanzt – die Gesellschaft war international genug: zwei junge Polinnen, deren Mutter über uns alle sehr liebenswürdig Ballmutter spielte, zwei deutsche Studenten, die in Lausanne studieren – ein junger deutscher Offizier – der Neffe einer mir bekannten Familie in München – ein junger Arzt aus Paris – ein Russe, der uns den Nationaltanz vorführte, eine Dänin, zwei Engländerinnen und außer mir zwei junge Kolleginnen aus München, liebenswürdig, sympathisch, tüchtig – aber seelisch – ganz naiv, primitiv: »Kinder«, scheint mir.

Lisa und Ella sind ein, zwei Jahre jünger als ich – aber es ist, als ob Jahrzehnte zwischen uns lägen. Ihre völlig reflexionslose Harmlosigkeit tut mir andererseits direkt wohl – in meinem jetzigen Zustand. Ich habe mich mit Eifer daran begeben, Lisa zu malen – wir finden alle, daß es zu gelingen scheint: dies frische, große, stattliche Geschöpf mit dem reichen blonden Haar – am Waldrand auf der Wiese sich dehnend – ein Stück schlichter, gesunder Natur.

Von Büchern, von Musik, von Problemen wissen sie nichts. Einstweilen interessiert sie nur ihre Arbeit. Aber auch für sie wird das Leben kommen, wird sie in Beziehungen zu Menschen setzen – Konflikte werden sich ergeben – was machen sie dann? Wie sehr auch die Arbeit nicht Sache ihres ganzen Wesens, sondern im Grunde nur eine Technik für sie ist, das erlebte ich neulich.

Es gibt hier wundervolle Beleuchtungen – in der Abendstimmung besonders –, die zartesten, stimmungsvollsten Töne, die ich bisher überhaupt hier sah, hatten wir vor einigen Tagen. Die ganze Bergkette der Walliser Alpen, die Dent du Midi hob sich scharf von dem blaßblauen Abendhimmel ab – die Berge hatten einen Schleier von wundervollem, tiefem, kaltem Blau – darüber erschien, plastisch sich abhebend, die zarte, goldene Mondsichel.

»Entzückt das nicht Ihr Künstlerauge?« fragte der junge Offizier, der Lisa ein wenig den Hof macht. Sie nimmt es gerne, aber gelassen auf – der Abschied wird ihr kein Herzweh bereiten.

»Ach nein,« antwortete sie ganz kühl – »ich bin ja nur Zeichnerin – mich interessieren ja nur Linien – nicht Farben.«

Wer da so trennen kann! Auf mich wirken alle Künste: Malerei, Dichtung, Musik – Musik – welche Zauberin – welche gefährliche Macht! Ehe ich mich freigekämpft hatte für das Malstudium, habe ich eifrig Musik getrieben – Gesangstunden genommen – mein Lehrer rühmte den weichen Ton meiner Stimme – und in ihnen etwas von meiner starken Lebenssehnsucht auszuleben gesucht. Neben meiner Kunst, der Malerei, interessieren mich alle Probleme, die es in der Welt überhaupt gibt. Ich möchte drei Leben haben, um den glühenden Lebensdrang in mir ganz ausleben zu können: in einem einzigen armen Leben allein ist es, scheint mir, gar nicht möglich, ganz Mensch zu sein – alles Menschliche zutiefst erfassen, erleben, darstellen, in der Welt allmählich verwirklichen zu können.

30. Juli.

»Nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt gerechtfertigt«, sagt Nietzsche in der Geburt der Tragödie. Gott sei Dank, daß es also wenigstens doch eine Betrachtungsweise gibt, bei der man leben kann. Ich brauche diese Gewißheit irgendeiner Rechtfertigung: denn als ethisches Phänomen – daß Gott erbarm! – ist das Dasein und die Welt so unberechtigt und ungerechtfertigt wie möglich.

Heute morgen bekam ich einen Brief von Robert. Es geht ihm noch nicht besser – er ist im Begriff, sich irgendwo mit Agathe zu treffen in der nächsten Zeit – er wünscht mir alles Gute.

Immer, wenn ich anfangen könnte, eine gewisse Entfernung zu unserem schmerzlichen Erlebnis zu gewinnen, dann kommt so irgendein Ungefähr, irgendeine unvorsichtige Berührung und reißt alles auf. Ich spüre, wie ich dann aus tausend Wunden blute.

Ach nein, geheilt bin ich noch nicht – wie weit entfernt davon, das spüre ich dann mit lähmendem Entsetzen. Ich muß den Brief schon eine ganze Weile liegen lassen, ehe ich ihn beantworten kann.

31. Juli.

Heute morgen sind die »Kinder« abgereist – sie wollen noch eine Tour durch das Berner Oberland machen.

Nach meinem Frühspaziergang, den ich heute nun allein machen mußte, habe ich mich auf dem Balkon vor meinem Zimmer im Liegestuhl ausgestreckt – ich war zu müde zum Arbeiten – und die harmlose Heiterkeit meiner jungen Kolleginnen recht vermißt.

Während ich so dalag, ein wenig matt, aufgewühlt durch Roberts Zeilen, entwarf ich in Gedanken allerhand bittere Antworten an ihn – Briefe, die er Gott sei Dank nie bekommen wird.

Überhaupt – seit ich den Brief erhielt – wozu, warum überhaupt? – leide ich wieder, wie ich lange nicht mehr litt. – Sobald ich mit meinem Maß messe, könnte ich daran sterben.

Ob denn auch andere das kennen? Diese wahnsinnig schmerzende Einsamkeit – diese grenzenlos marternde Verlassenheit – dieses Grauen vor dem Leben – o, wenn das über einen kommt – das ist schlimmer als Sterben. Ich brauche Menschen – einen Menschen wenigstens – was können mir die Berge helfen?!

Allen Menschen gefallen zu wollen – daran liegt mir nichts.

»Seligkeit gibt es nur inter pares« – o, wie ich das verstehe, »nur inter pares vollkommene Freundschaft.«

Robert nennt das »Mangel an Wirklichkeitssinn«. Ich suche – von Kind auf – nur einen Menschen, den ich als mir vollständig ebenbürtig, gleichwertig betrachte, der dieselbe Wertung des Lebens und der Menschen hat wie ich – »wo der Krampf des Verschweigens und Verstellens aufhört« – der mich bis in die letzten Tiefen der Seele hinein versteht und liebt!

Weiter nichts!! – – – – – – – – – – – –

Denn seit jener grauenvollen Stunde im März – wo er alle Herzensgemeinschaft, alle Seelenfreundschaft aufhob zwischen uns, ohne daß ich begriff, warum, wieso auf einmal (denn die sinnliche Beziehung war ja längst gelöst – und »alles andere« sollte doch bleiben, hatte er immer gesagt), wo ich auch nicht mehr sein Kind sein durfte – wo er mich unbarmherzig am Wege liegen ließ wie ein angeschossenes Wild – habe ich wie ein Verdurstender in der Wüste gelebt, wie ein Verdammter in der Hölle geschmachtet.

Warum hält er mich also? Was hat diese unbeschreibliche Qual für einen Sinn?

Wie kann ich mich vor diesen Erinnerungen sichern, daß mich nicht länger der Gedanke foltern kann an jedes liebe, zärtliche Wort, an jede ernste, heilige Stunde, die wir miteinander verlebt – und – das Ende!

Ein rasender körperlicher Schmerz durchdringt mich: ich habe mich ihm gegeben – ich liebe ihn – und – er?! Wieviel tausendmal bin ich schon gestorben, wieviel tausendmal habe ich ihn schon als meinen Mörder empfunden! –

Die Sonne liegt über den Bergen – es ist schön hier oben – es wäre gut, wenn ich hier endlich fertig würde mit dieser Qual.

Aber was kümmern sich die Alpen darum, ob ich eine Torheit begangen habe, ob ich nun fertig werde mit dem Leben oder nicht?

Wenn ich nur nicht diese zornige Verachtung hätte und im besten Falle dies Mitleid mit der Schwäche seiner Natur!

Wie kann ich das überwinden?

Ich blicke hilfesuchend umher: die hohen Berge – das Tal vor mir – der Blick frei zum Dent du Midi – rauschende Tannen und Sonnenschein, summende Käfer und flatternde Schmetterlinge – und aus der Tiefe herauf rauscht der Waldbach.

Wie kann man in dieser herrlichen, starken Natur so bis zum Zerstörtwerden leiden? –

Ich habe in Gedanken versucht, es anders zu nehmen, um mir das Leben zu erhalten: »frivol« – aber das kann ich nicht – ich gehe an dieser inneren Lüge zugrunde. Für mich ist Liebe, die Bindung an einen anderen Menschen, die Mitverantwortlichkeit für ihn keine scherzhafte Angelegenheit, sondern das Ernsteste, Tiefste des Lebens überhaupt.

Ich weiß freilich, was die Menschen alles zuweilen schon als »Liebe« ansehen. Weiß Gott, nicht ihre Sünde, sondern ihre Genügsamkeit schreit zum Himmel. Aber ein Geschlechtsrausch ist noch nicht Liebe.

Ich weiß, daß es einsam macht, die »hohen Ansprüche zu stellen«, wie die Leute das nennen, daß es viel Schmerzen bereitet.

Aber ich weiß auch: »Es bestimmt beinahe die Rangordnung, wie tief Menschen leiden können.« Und ich möchte daher noch eher an der Erfahrung mit ihm zugrunde gehen, wenn es sein muß – als durch innere Erniedrigung meine Freiheit vom Schmerz erkaufen.

Das ist der tiefste Grund, warum ich die Qual dieser Beziehung zwischen Robert und mir weiter auf mich nehme; ich muß den Mann, dem ich mich so unbedingt gegeben habe, so sehen können, daß ich seine Handlungsweise verstehen, sein Wesen überhaupt hochachten, unsere Liebe heilig halten kann.

Bis ich diese Gewißheit wieder errungen habe – solange ich noch unter ihm leide – so absurd, so paradox das klingt – solange darf ich mich noch nicht befreien – solange ist er mir noch nötig zu meinem Leben! – – – – – – – – – – – – – – –

*

1. August.

Wie bin ich glücklich! Ich habe lange, lange nicht mehr so gewußt, was Glück, was Freuen, was Beschenktwerden bedeutet.

Ich hatte am Vormittag gestern auf der Wiese zu arbeiten versucht – um die quälenden Gedanken zu überwinden.

Die feine sympathische Dänin hatte sich schließlich voll Interesse zu mir gesellt, mir ein paar anerkennende, verständnisvolle Worte über meine Arbeit gesagt. Wir kamen in ein sehr angeregtes Gespräch über Kunst – und wanderten schließlich zusammen zurück zur Pension.

Und hier fand ich meinen Brief.

Da schreibt mir eine Frau, eine angesehene, bedeutende Frau, die ich schon lange aus der Ferne verehre und die Nietzsche liebt wie ich, daß meine Zeilen, in denen ich ihr das sagte, sie innig wünschen lassen, mich näher kennenzulernen, und daß sie mich für den Herbst zu sich einlüde.

Ich saß noch unter den anderen bei Tisch, lächelte, redete – aber mein Herz war ferne von ihnen.

Dann gingen die anderen schlafen; aber mich litt es nicht in den engen Wänden – ich mußte mein übervolles Herz hinaustragen in die wunderbare Sommermondnacht. Ich ging den Weg zu der Höhe, von der man den weiten, freien Blick ins Rhonetal hat. Die scharf sich abzeichnende Bergkette – der Mond darüber – unten tief im Tal der weißblinkende Lauf des Flusses – der Ort nur hier und da durch Lichter erhellt – der Tannenduft, der weiße Schleier über allem. –

Ich ging und ging – und sagte nur immer wieder: »Wie ist das schön!«

Zu Menschen kommen, deren Weltanschauung die meine ist, die auch den verehrtesten Lehrer und Erzieher, den ich habe, – die Nietzsche lieben und verehren, wie ich ihn liebe und verehre – das heißt ja nach langem einsamem Umherirren in der Fremde nach Hause kommen. Endlich eine Heimat haben!

Das ist so über alles Hoffen hinaus – ist wie ein Märchen, an dessen Verwirklichung man als erwachsener Mensch doch nicht mehr glaubt.

Auf dieses Zusammensein mit gleichgesinnten Menschen – diese »Seligkeit inter pares« schon hoffen dürfen, ist ja Glück, ist Seligkeit!

Aber einmal – endlich mußte ich mich entschließen, zurückzukehren – mit meinem jauchzenden, übervollen, dankbaren Herzen. Ich stand dann in meiner offenen Balkontür noch lange und sah hinaus in die Sommernacht: das war Gnade!

Ich weiß es lange, immer – das war meine Religion, seit ich die alte enge, die mich als Kind so bedrückte – abgeschafft hatte:

»Nur wer sein Herz an einen großen Menschen gehängt hat, empfängt damit die erste Weihe der Kultur!«


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