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II.

24. Februar.

Ich bin wie betäubt – die Zukunft liegt völlig dunkel vor mir – nirgends sehe ich einen Ausweg. – – – – – –

*

Am Freitag kam ich zu spät in die Vorlesung – er sah mich ein paarmal an, während er sprach, was er sonst nie tut. Ich fand, er sah sehr gut aus.

Wir gingen zusammen fort – durch den Englischen Garten. – Es war ein dunkler, kalter, feuchter Abend – es wurde mir nach der inneren Unruhe der letzten Tage schwer, mich konventionell-ruhig mit ihm zu unterhalten. Er kam bald auf unser Thema über die Liebe als Kunst, als Fest, als Religion, als Verschmelzung des Seelischen und Sinnlichen zurück.

»Ich gebe Ihnen recht – aber ich sehe nur nicht, wie man das verallgemeinern kann«, meinte er.

»Aber wenn mich etwas glücklich macht, wünsche ich es doch auch anderen Menschen.«

»Masse bleibt Masse«, meinte er skeptisch. »Sie, Irene, sind das erste weibliche Wesen, das ich kenne, das das Recht hat zu einer solchen Auffassung. Meist verliert sich eine Frau in solchem Falle.«

Ich verstehe eine solche Auffassung überhaupt nicht; wie kann diese Auffassung von der Liebe als der höchsten Einheit von Seele und Sinnen »gefährlich« sein? Warum soll sie nur für mich berechtigt sein?!

»Ich denke es mir übrigens wunderschön, gemeinsam mit Ihnen zu arbeiten,« fuhr er fort, »wir würden das gewiß sehr gut können.«

»Ich habe bis jetzt nie einen Menschen gehabt,« sagte ich, »der mir hätte helfen können – ich habe mich ganz allein durchschlagen müssen. Am Entbehren jeder hilfreichen Sympathie bin ich sozusagen groß geworden – und vielleicht gerade dadurch in mir sicher und stark.«

Es müßte unausdenkbar schön sein, nun einen Menschen zu gewinnen, der mir helfen, mich innerlich fördern könnte! Das scheint mir immer noch zu schön, um daran zu glauben.

Es kam die Rede auf eine junge Künstlerin, eine Sängerin, die ich gelegentlich früher bei seiner Schwester getroffen habe – ein hübsches, etwas kokettes, mir nicht ganz echt erscheinendes Geschöpf. Er hat sich für sie interessiert, wie ich weiß.

Es schmerzte mich immer, daß er nicht mehr Menschenkenntnis zu haben schien. Ich fragte ihn, ob er Erna Riemann lange nicht gesehen habe. Er blieb stehen und sah mich prüfend an:

»Ach, sie enttäuscht sehr beim näheren Kennenlernen,« sagte er dann, »sie hat so gar keine Grazie des Geistes. Es ist nicht der Mühe wert. Sind Sie eifersüchtig?«

»Natürlich!«

»Sie dürfen, Sie brauchen auf sie so wenig eifersüchtig zu sein, wie auf Marga Paulus, die Schwester von Professor Lauber.

Sehen Sie, so bedeutend sie ist als Mensch wie als Schauspielerin – und ich schätze sie als eine der außerordentlichsten Frauen, die ich kenne – ihr fehlt ganz die Intuition, die Sie in so reichem Maße haben.«

Ich schwieg – dann sagte er rasch entschlossen:

»Überhaupt – ich habe Sie viel lieber als Sie mich. – Aus Ihnen ist nie etwas herauszubekommen. Sie wollen nichts zugestehen. Ich habe wohl nicht das richtige Instrument, um an Ihr Herz zu gelangen – vielleicht ist mir ein anderer zuvorgekommen. Aber ich muß heute noch Gewißheit haben.«

Es lag eine so leidenschaftliche Drohung in dem Klang seiner Stimme, daß ich erbebte. Eine Weile beredtes Schweigen zwischen uns, dann plötzlich, herrisch:

»Was ist aus meinen Veilchen geworden?«

»Sie stehen auf meinem Schreibtisch und duften sehr süß!«

»Wissen Sie nicht, daß sie ihren Duft viel besser bewahren, wenn man sie trocknet?«

Ich antwortete nicht mehr – ich fühlte nur dunkel aus seinen Bewegungen, dem Klang seiner Stimme, daß da ein Schicksal herannahte, über das ich keine Macht mehr hatte.

Nun klang seine Stimme in leidenschaftlichem Grollen: »Glauben Sie denn, weil ich mich eine idyllische Natur genannt habe, daß ich nicht auch vor Leidenschaft beben könnte?!«

»Aber Sie haben es doch immer bestritten?«

»Nein, so habe ich das nicht gemeint – ich würde es bei mir eher eine ›Freudenschaft‹ nennen.«

Wie es kam, ich erinnere mich nicht, – er ergriff plötzlich meine Hand, meinen Arm – umfaßte mich und hob mein Gesicht zu sich empor. Ich wehrte leise stammelnd ab: »Bitte nicht!« Aber da hatte er mich schon geküßt. – – – –

*

Es war kein Aufjauchzen in mir, kein seliger Triumph – nur ein leises Gefühl der Enttäuschung, daß er eine Frucht gepflückt, lange, ehe sie reif geworden. Daß so etwas einmal kommen könnte – in ferner Zeit, wo auch ich es begehren, ersehnen würde, – ja, das wußte ich, hatte es lange gewußt – aber noch nicht! noch nicht! Eine stille Traurigkeit ergriff mich; als sei das Schönste, die geheimnisvolle Erwartung, das Gefühl eines beseligenden Werdens nun vorbei! – –

*

Auf einer Bank nahm er mich in seine Arme und küßte mich sehr heiß, sehr lieb auf den Mund, auf Augen und Ohr – so – so – wie wenn man sich ganz und gar, ohne Rückhalt, ohne Zweifel gehören möchte. »Dahin sollten die Veilchen« – sagte er leise, inbrünstig – und küßte mich wieder auf den Mund.

»Willst du mein werden?« drängte er.

Ich schüttelte traurig, ein wenig bedrückt, den Kopf: »Aber du kennst mich ja noch gar nicht!«

»Ach, Kind, ich kenne dich vom ersten Tage an, wo wir uns bei meiner Schwester trafen! Und bist du denn nicht mein? Willst du wirklich nicht in meine Arme?« fragte er enttäuscht. Ich zitterte am ganzen Körper, in der Gewalt der Erregung dieser Stunde.

»Du darfst mir aber nicht krank werden! Versuche einmal, dein Zittern zu überwinden!?« bat er erschreckt.

Wir gingen mit verschlungenen Armen zusammen weiter – ich wie betäubt von der Plötzlichkeit des Geschehens –

»Willst du mein sein?« drängte er noch einmal.

Ich sagte traurig: »Ich habe dich wohl sehr lieb, aber so lieb, daß ich das für dich tun könnte, so lieb habe ich dich noch nicht!«

»Dann fallen ja alle deine Theorien ins Wasser!« sagte er ein wenig spöttisch, gekränkt.

»Aber so habe ich mir das auch nie gedacht.«

»Nur in bürgerlicher Form also?«

»Nein, aber wenn man sich so ganz einem Menschen gibt, dann soll er einem doch auch ganz gehören – und du – gehörst doch einer andern!«

»Dann hast du also nicht den Mut, eine Schuld auf dich zu nehmen in dem Bewußtsein, daß dir dadurch ein neuer Lebenswert erschlossen wird? Dann müssen wir uns trennen.«

Ich lehnte mich an ihn: »Ich möchte dich nicht ganz verlieren.«

»Nein,« sagte er, »es gibt nur zwei Wege: entweder Trennung ganz und gar – oder ein ganzes menschliches Verhältnis. Wir sind beide zu lebensfrohe Naturen, als daß es nicht schließlich immer wieder auf das letzte Ziel hinauslaufen sollte.«

»Aber wenn ich es doch so kann?«

»Nein, nein,« wehrte er ab, »du mußt nun entscheiden: entweder müssen wir uns ganz trennen – oder – – –. Wenn du wüßtest, wie ganz ich dein bin!« sagte er – »ich habe mich all die Nächte schlaflos gewälzt und gedacht: alle meine Gedanken gehen nach ihr – und sie weiß es vielleicht nicht einmal.«

»Aber ich bin ja auch nur so erregt, weil es mich so gequält hat all die Zeit.«

»Vielleicht ist es schwach von mir, daß ich dem elementaren Zug zu dir so nachgebe – denn eigentlich bin ich gar nicht der Mensch, den du suchst, der dir helfen kann«, meinte er nun. »Äußerlich betrachtet müssen wir ja auch mit unserer Liebe eine Schuld auf uns nehmen – aber ich kann die kranke Frau doch nicht verstoßen. Doch nie habe ich mit ihr eine solche Stunde erlebt, wie jetzt mit dir. Ihr sind alle erotischen Zärtlichkeiten vollkommen fremd und unangenehm. Vom Beginn unserer Ehe an hat sie mich tausendmal zurückgewiesen, wenn ich mit meiner jungen Sehnsucht zu ihr kam. Du nimmst ihr also nichts von dem, was sie besessen oder vielmehr nie hat haben wollen. Und nun – wo sie schwer erkrankt ist – ich fühle alle Verpflichtung, sie als Freund, als Bruder zu schützen, vor Sorge zu bewahren. Aber müssen wir deswegen auf ein Glück verzichten, wie nur wir beide es einander geben können? Könntest du denn wirklich diese Stunde aus deinem Leben streichen?! Sei doch mein!«

»Dazu müßte ich dich noch viel lieber haben«, sagte ich offen. »Jetzt kann ich noch nicht – aber später vielleicht!« setzte ich tröstend hinzu.

Er zog mich noch einmal in seine Arme und küßte mich: »Nein, nein, dann laß mich auch nicht mehr hoffen auf das liebe holde Geschöpf, nach dem ich mich so sehne.«

Er zog meine Hand an seine Lippen – ich streichelte seine Hand, und wir gingen Hand in Hand, wie zwei Kinder, eine Strecke weiter.

»Also heißt es wieder einmal verzichten!« sagte er schmerzlich, als wir uns mit schwerem Herzen voneinander lösten.

27. Februar.

Langsam ging ich spät am Vormittag, nach qualvoll sehnsüchtigen, schlaflos verbrachten Stunden, durch die milde, weiche Frühlingsluft zum Atelier. Ich wollte den Versuch machen, zu arbeiten. Aber es wurde nicht viel daraus. Am Abend – nach seiner Vorlesung – kam er hierher zu mir – zum erstenmal.

»Vor allen Dingen: Wie geht es dir?«

Ich lächelte schmerzlich: »Ich habe alle Stadien durchgemacht!«

»Aber wie soll es nun werden – wie hast du dich entschieden?«

Ich antwortete nicht – – er zog seinen Stuhl dichter zu mir heran – ich hatte mich auf das Sofa gesetzt – beugte sich zärtlich über mich und fragte sehr lieb und schmerzlich: »Irene, als ich dich Freitag nahm, warum hast du mich da nicht auch genommen? Warum legtest du nicht auch deine Arme um meinen Hals?«

Ich legte meinen Kopf in seine Hände, während ich sagte: »Kannst du dir nicht denken, warum ich das nicht getan habe?«

»Das hast du nicht aus Überlegung getan – das war dein Wesen. Du warst in dem Moment nur ganz Weib.«

»Was hätte ich denn sonst sein sollen?« fragte ich überrascht. »Sollte ich das nicht sein?«

»Du, Irene, ich werde immer konservativer – und zwar durch dich: das Weib gehört als Mutter in die Kinderstube.«

Das tat sehr weh und war süß zu gleicher Zeit.

»Haben denn wirklich die recht, die behaupten, Frauen müßten ohne Mann, ohne Liebe und Kinder sein, wenn sie etwas leisten wollten im Leben?« fragte ich.

»Man kann gut merken, daß der liebe Gott ein Mann ist: wir Frauen haben es so schwer, glücklich zu werden!«

Er schüttelte den Kopf: »Das habt ihr nicht. Aber ich hatte neulich deinen Willen ganz in der Gewalt, den ich leiten konnte. Und doch bist du ganz so, wie ich dich haben will.«

Wir hatten uns die Hände gegeben, die sehnsüchtig miteinander spielten.

»Freilich – wenn nun Agathe uns hier beieinander sähe,« sagte er, »all unser Gerechtigkeitsgefühl würde uns nichts helfen: so schonend auch alles gerade für sie gedacht ist. Aber wenn wir verzichteten: würde das nicht die Bitterkeit gegen sie, die mir so viel versagt hat, nur vermehren?«

Er stand verzweifelt auf und ging im Zimmer umher.

»Was soll ich tun? Gefesselt an ein Krankenbett, wie ich es bin? Und ist das nun wirklich Unrecht, daß ich hier bei dir bin? Es ist doch alles ganz von selbst gekommen – einfach durch die Verwandtschaft unserer Naturen.« –

Ich hatte ein wenig Tee und Brot für uns bereitgestellt – aber wir hatten beide kaum die Möglichkeit, etwas zu genießen. – Wir versuchten einander von dem Wachsen und Werden unserer Liebe zueinander zu erzählen: wie er immer gedacht, wir könnten uns geistig, persönlich sehr viel sein, wie er sich gefreut, sich mit mir unterhalten zu können. Das Zusammentreffen im Englischen Garten sei vielleicht verhängnisvoll gewesen; von da an schien es wie eine Bestimmung. Aber er habe sich immer noch die Illusion einer sehr innigen Freundschaft erhalten wollen. Auf dem Wege zu Hedwig habe er es sich gewiß nicht vorgenommen, mich so zu überfallen – aber dann habe es ihn eben überwältigt. –

»Ich habe dich viel besser gekannt, glaube ich, als du mich. Ich habe dich schon sehr lange lieb gehabt,« sagte ich, »natürlich nicht so, wie jetzt.

Aber ich wollte, du solltest immer das sein, was du sein kannst: etwas sehr Vornehmes und Schönes. Etwas, das ich mir stets ersehnt habe. Aber ich war oft schrecklich traurig oder böse auf dich, daß du so wenig Menschenkenntnis hattest, dich mit allerhand minderwertigen Menschen befaßtest – und all die dummen Geschichten von deinen Flirts, die man sich erzählte!«

»Hast du denn das alles geglaubt?« fragte er.

»Ich?!«

»Aber nun mußt du auch nicht zu gut von mir denken – das ist mir unangenehm.«

»Das tue ich auch nicht.«

Auch aus seinem früheren Leben erzählte er mir. Ganz vorsichtig versuchte er mir ein Jugenderlebnis zu erzählen – seine erste »Liebes«-Erfahrung. – Ob er es dürfe, ob es mich nicht verletze? Aber ich solle verstehen lernen, wie ihm das Leben bisher in dieser Beziehung begegnet, darum solle ich verzeihen, wenn er davon spreche. Er sei 23 Jahre alt gewesen, Student in Heidelberg und durch einen Freund in eine Gesellschaft von Mädchen – in ein Haus gekommen, wo man »Liebesgenuß« verkauft. Er habe ein sehr schönes Mädchen, eine Psyche an Gestalt, gefunden – ihm seien die Tränen aus den Augen gestürzt und ihr auch. Er habe ihr Geld gegeben und sei so fortgegangen. Sie habe ihn ausgelacht, sich über den dummen Jungen lustig gemacht. – Da sei der Zorn in ihm aufgestiegen – er habe es noch an demselben Abend wieder gut – nein, böse gemacht – und zwar an derselben. – – – – – – – – – – – – –

Ich konnte ihm nichts erwidern, ich konnte ihn nur ansehen. Wie das schmerzt, wenn man sich das von dem Manne sagen lassen muß, den man liebt! Er zog meine Hände an seine Lippen und küßte sie – so süß, so sehnsüchtig und sehnsuchterweckend –

»Du hast so liebe, weiche Hände« – sagte er, »alles, was ich von dir kenne, ist so weich – und ich gebe etwas auf Hände.«

Wir neigten uns zueinander – er küßte mich auf den Hals, auf den Mund und legte sein Gesicht an das meine: »Sag, bist du mein?«

Ich lehnte mich schweigend an ihn.

»Soll es wirklich gelten?« fragte er.

Ich sah ihn nur an – das Herz war mir zerrissen von Sehnsucht und der Qual, kalt bleiben zu müssen.

»Ich war hierher gekommen und wollte es dir so leicht machen – und nun sehe ich doch, wohin es uns treibt. Weißt du, für mich ist ja das Liebeserlebnis an sich nichts Neues – aber was wollen die Erfahrungen, die ich gemacht habe, sagen – ich will auch einmal kennen lernen, wie das ist: ›Jauchzend schlug die Nachtigall!‹

Und wenn wir verzichteten – und meine Mutter und mein verstorbener Freund würden mir sicher so raten – dann könnte ich gewiß einen um so stärkeren Einfluß auf meine Studenten gewinnen. Aber andererseits: wird die Sünde, die wir nicht begehen, uns nicht ewig gereuen?!«

Er sprang auf und ging im Zimmer umher. Ich bat: »Komm doch, setz dich zu mir!«

»Du machst es mir so schwer, du böses Menschenkind! Was sollen wir tun? Oder willst du, daß ich Agathe verlasse?«

»Nein, das will ich nicht«, sagte ich sehr ernst.

»Und wenn sie wüßte, wie es um uns stände, würde sie mich sofort verlassen. Aber dich kann ich mir nun doch nicht mehr denken – übermütig – unersättlich – hast du überhaupt Begehrlichkeit?«

»Begehrlichkeit? Ich weiß nicht« – sagte ich ein wenig befangen – »woher soll ich das wissen? – vielleicht hat sich alles in meine Sehnsucht nach künstlerischer Lebensgestaltung aufgelöst!«

»Aber eine elementare Passivität hast du!« sagte er heiß.

Seine Lippen küßten inbrünstig meine Hände und meinen Mund.

Meine in den Tagen der Einsamkeit mühsam gesammelte Klarheit fing an. in eine süße Willenlosigkeit überzugehen. »Aber wenn ich dir nun gehöre – was dann?«

»Dann??« fragte er.

Dies überraschte »Dann« traf mich wie ein Schlag aufs Herz. Es klang so, als habe er in seinem heißen Verlangen noch gar nicht an ein Nachher gedacht. Aber er faßte sich schnell. »Dann sind wir durch ein unlösbares Band gebunden – wie andere durch Ring und Altar – wir sind getrennt. doch nicht geschieden!«

Da wurde ich wach: »Aber doch – getrennt! Und wenn es mir jetzt schon so namenlos schwer ist, von dir zu gehen – wie müßte es dann sein, wenn wir zusammen selig gewesen sind! Nein, nein, an der qualvollen Sehnsucht würde ich zugrunde gehen!«

»Also soll es so bleiben? Könntest du verzichten?« fragte er schmerzlich ungläubig. »Aber dann werden wir kein Wort mehr miteinander reden können; denn jeder Gedanke würde sofort darauf hinlaufen. Und wir sind in steter Gefahr, daß es uns doch eines Tages packt!«

»Dann ist es also am besten, ich packe morgen meine Koffer und fahre nach Berlin zu Hanna – und dann nach Paris. Noch besser wäre es gewesen, nach der Krankheit gleich nach Paris zu gehen.«

»Dann wären wir freilich um ein anständiges Erlebnis ärmer gewesen«, sagte er. »Aber es kann auch nicht so weiter gehen – heute morgen habe ich in der Vorlesung vollständig den Faden verloren – meine Studenten sahen mich ganz erstaunt an.«

Ich erschrak sehr: »Es ist mir ein schrecklicher Gedanke, daß ich schuld daran bin.«

»Ach, du wirst mich auf jeden Fall ›stören‹: entweder als ›Schuld‹, die wir mit unserer Liebe auf uns nehmen oder als – Bitterkeit, wenn wir verzichten. Aber ideell, nicht wahr, bist du ganz mein!?«

Ich lag in die Sofaecke zurückgelehnt, während er gequält durchs Zimmer wanderte, sah ihn sehnsüchtig an und sagte: »Ja.«

Er trat hinter einen Stuhl – wie zum Schutz zwischen uns – gegen unsere Sehnsucht – und sah mich schmerzlich an: »Warum darf ich dich süßes Herz nun nicht in den Arm nehmen? Aber wenn sich unser Verhältnis wieder in ein freundschaftliches zurückverwandeln ließe, dann wären wir doch nicht die verwandten Menschen, die wir sind.«

»Die verwandten Menschen?« sagte ich zweifelnd, »wir denken doch jedenfalls in manchen Punkten sehr verschieden.«

»So?« fragte er erstaunt und neigte sich zu mir.

»Ja, zum Beispiel in politischen und sozialen Fragen – da bin ich für energische Reformen, meinetwegen ›anarchistisch‹, wie du sagst, und du bist ganz konservativ.«

Er lächelte glücklich überlegen: »Da ich doch sozusagen dein Lehrer gewesen bin in meinen Vorlesungen, erlaube mir, dir zu sagen, daß dir dafür die geschichtlichen Voraussetzungen fehlen.«

»Ach, deine alten geschichtlichen Voraussetzungen! Was sollen mir die nützen?! Neulich hast du doch selbst einmal in deiner Vorlesung gesagt, die Geschichte sei noch viel zu kurz, als daß man schon endgültige Schlüsse aus ihr ziehen könnte!«

»Gewiß – das sagte ich für dich – die Geschichte ist noch sehr kurz, aber solchen Verlauf wird sie doch nicht nehmen, wie du denkst und willst. Es wäre gerade so, als wenn in der Naturentwicklung eine Menge Glieder übersprungen werden sollten!« –

»Aber wenn es sich doch darum handelt, die Menschen glücklicher zu machen! Und dann die Kriege! Die darf es doch eben nicht mehr geben – das ist doch Barbarei!«

»Die werden immer sein,« meinte er, »die Menschen werden sich immer streiten. Ich könnte jetzt zum Beispiel jedem den Kopf blutig schlagen, der es wagen wollte, dich anzusehen.«

Ich zog meine Hand ganz erschrocken aus der seinen. »Das tätest du doch nicht! Nein, nein, so darfst du nicht denken – dann kommt man vor lauter Geschichte nicht zur Gegenwart und Zukunft.«

Durch diesen kleinen Disput war ich wieder ganz erfrischt und befreit; ich hatte mich selber wieder.

»Ich lese jetzt gerade Goethes Briefe an Frau von Stein«, berichtete ich.

»Sind sie nicht herrlich?«

»Ja, aber das ist so qualvoll daran, daß zwei Menschen, die sich so geliebt haben, sich hernach so fremd gegenüberstehen können; das werde ich nie begreifen, wie das möglich ist

Er sah mich lieb und ernst an, seine Lippen sprachen das unwillkürlich nach, was schon einmal der Ausdruck innigster Seelenliebe gewesen:

»Ach, du warst in abgelebten Zeiten
meine Schwester oder meine Frau!« –

Noch lange, nachdem er gegangen, glaubte ich den welchen Klang dieser Worte, seiner Stimme zu hören. – – – –

*

1. März.

Mein Liebster hat mich gebeten, daß ich am nächsten Tag zur Vorlesung kommen möchte – damit er mich wenigstens sehen könne. Es ging während der Vorlesung immer wie eine Blutwelle über sein Gesicht – und ich verstand immer nur halb, was er sagte. Wir gingen durch den regnerischen Abend zurück. Ich hatte einen Brief von Henriette Langheim bekommen, den ich für sie aus bestimmten Gründen in einem Vorort aufgeben sollte. Sie war verreist, und es lag ihr sehr daran, daß ich ihr diesen Wunsch erfüllte. Er fragte, ob er mich begleiten dürfe, und ob wir nicht in der unbehaglichen Nässe des Februarabends eine Droschke nehmen wollten. Ich willigte ein. –

»Was denkst du?« hatte er gleich gefragt.

»Daß wir vernünftig sein werden.«

»Wirklich? Glaubst du das?« fragte er enttäuscht.

»Ja – denn wenn ich erst mit dir gelebt habe, will ich nicht mehr ohne dich leben!«

Statt aller Antwort nahm er mich in seine Arme und küßte mich so wild, so heiß, daß alles um uns her versank.

»Ich will dich!« stammelte er – sein ganzes Wesen war ein einziges flammendes Begehren.

Und unter seinen Küssen gestand er seine Sehnsucht nach einem Kinde von mir – er wisse fast nicht, was ihm die größere Sehnsucht erwecke: der nach meinem Besitz oder nach einem Kinde von mir, mit mir.

»Weißt du, manchmal habe ich den wahnsinnigen Gedanken, wir könnten es möglich machen, müßten es möglich machen. Sehnst du dich auch so danach? Jetzt gleich möchte ich dich mit mir nehmen – – – Und du kannst eine so unbeschreibliche geistig-sinnliche Anmut auf dem Gesicht haben – und was hast du für eine liebe Brust! Und wenn du so erglühst!«

»Nein, nein!« Ich machte mich frei und brachte mein Haar in Ordnung. »Ach, kann es denn nicht wieder ins Geistige zurückverwandelt werden?« bat ich. »Ich möchte wohl in deine Arme, ich sehne mich auch nach deinen Küssen – aber das Letzte habe ich mir noch nie wünschen können – weil so viel Qual daraus folgen muß.«

»Und wenn ich nur deine Hand habe oder dein Knie fühle – –!«

Ich zog verzweifelt meine Hand aus der seinen. – –

*

– Als es uns gelungen war, uns voneinander loszureißen, wußte ich nur eines klar: wir dürfen uns nicht mehr wiedersehen – sonst ist alles verloren – wir sinken uns rettungslos in die Arme.

Ich kenne mich, meine eingeborene Vorstellung von Liebe, wie sie sich von Kind auf in mir gebildet hat, nur zu genau: seit ich selbst, aus eigenem Jugenddrang wie der Gewalt großer Dichtung zu begreifen begann, was Liebe ist, haben bürgerliche, konventionelle Vorstellungen mich nicht gehemmt. Aber solange unser Begriff von Liebe nicht der gleiche ist. dürfen wir einander auch nicht angehören. Eine Trennung danach – wenn wir uns ganz angehört hätten – würde ich nicht überleben. Solange er noch daran denken, das überhaupt für möglich halten kann, liebt er mich auch nicht wirklich, scheint mir.

Liebe will kein Ende, kein Ende –: »Das Ende würde Verzweiflung sein!«

Beim Morgengrauen rang ich mir den Entschluß ab: ich muß fort, ohne Zögern – ehe es zu spät ist.

Ich ging früh aus, um an Hanna zu depeschieren: ich wolle in den nächsten Tagen ihrer Einladung nach Berlin auf dem Wege nach Paris folgen.

Unter heißen Tränen schrieb ich dann mein Lebewohl an ihn:

»Ich gehe fort – nach Paris – von Dir fort – für immer! Was das heißt – ich weiß es jetzt noch nicht – Sterben scheint mir augenblicklich leichter als Weiterleben. Ich raffe mühsam mein bißchen Vernunft zusammen, um Dir wenigstens schreiben zu können.

Wie ich es verschuldet, – womit – wodurch, daß aus der innigen Wesensübereinstimmung, die mich so beglückte, plötzlich die Flamme wurde, die uns zu verzehren droht, – ich weiß es nicht.

Noch gestern morgen lag selbst in dem Verzichten für mich ein Glück: das Bewußtsein, den wesensverwandten Menschen wenigstens gefunden zu haben.

Und nun gehen wir auseinander, und ich habe das wahnsinnig bittere Bewußtsein: das Beste, Tiefste in mir habe ich Dir noch gar nicht geben können – und Du nimmst nun dieses halbe und damit fast entstellte Bild von mir mit ins Leben. Denke sehr lieb an mich – fast habe ich Dir ja alles zuliebe getan.

Ich habe Dich sehr, sehr lieb gehabt: ich habe mir immer gewünscht, Dir etwas zu sein, Dich glücklich zu machen.

Noch weiß ich nicht, wie ich weiter leben soll – aber ich weiß, daß ich muß – da werde ich es auch wohl wieder lernen, ein ganzer Mensch zu werden – mich selber wiederzufinden. Ich hatte mich ganz an Dich verloren. Vergib mir, wenn ich Dir Not gemacht habe.« – – – – – – –

Als der Brief fort war, saß ich wie geistesabwesend da: nun ist es also vorbei für immer! – – Dann litt es mich nicht mehr im Zimmer – ich ging hinaus in den Englischen Garten – aber es war nicht zu ertragen: auf Schritt und Tritt eine Erinnerung an ihn! Nun kann ich nirgends mehr hingehen, weil ich überall mit ihm gewesen bin! Wenn ich sterben könnte! Welche Seligkeit! Ich komme mir vor wie ein angeschossenes Wild – nur daß sie gegen einen Menschen nicht so barmherzig sind wie gegen Tiere, denen sie dann den Gnadenstoß geben. Ich hätte die Qual wenigstens ausschreien mögen, lag in meinem Zimmer am Boden und glaubte zu ersticken in gräßlicher Not. Und immer wieder kam der verlockende Gedanke, mit einem kurzen Stoß der Qual ein Ende zu machen. – – – – – – – – – – – – –

*

Jetzt ist es Abend – der wilde Schmerz hat sich ein wenig ausgetobt: ich bin gefaßter, ruhiger und beginne die Gedanken auf die nächste Zukunft zu richten. Ich muß die Abreise nach Berlin und Paris beschleunigen, ohne die Eltern durch diese Flucht zu beunruhigen – ohne allzuviel äußere Verwirrung zu stiften. Ich will, ich muß mich retten. Es soll ein neues Leben beginnen. Es muß doch möglich sein, sich aus dieser Passion zu befreien, die mich zu zerstören droht. Meine Bücher, meine Malutensilien habe ich zu packen, zu ordnen begonnen: diese planmäßige Arbeit, das Bewußtsein, daß das Schlimmste: der Entschluß zur Trennung, nun hinter mir liegt, gibt mir ein wenig Ruhe und Fassung zurück.

2. März früh.

Nun ist es doch anders gekommen, als ich noch gestern abend dachte.

Es war fast zehn Uhr – ich wollte mich eben, zu Tode erschöpft von all dem Erlebten, auskleiden.

Da klingelte es: der Geliebte stand vor mir mit blassem, verstörtem, um Verzeihung flehendem Gesicht. Ich starrte ihn zu Tode erschrocken an: noch einmal all die Trennungsqual – das überstand ich nicht.

»Ich komme, um dich um Verzeihung zu bitten!« sagte er ernst, tief bewegt, »nicht du mich!«

Ich sank in meine Sofaecke zurück – ich hatte noch kein Wort finden können.

»Geh nicht fort,« flehte er, »geh nicht fort von mir, wir können uns ja wieder auf das Geistige beschränken.«

Ich nickte nur – schweigend – der Wechsel war noch zu unbegreiflich groß.

Er gab mir einen Brief von Agathe, den er erhalten: »es sei vielleicht besser gewesen,« meinte sie darin, »wenn kein Priester sie zu dauerndem Bündnis zusammengegeben hätte«.

»Es ist so verwirrt wie möglich –, und doch darf ich sie nicht verlassen.«

*

Dann reichte er mir die Hand – wir hielten uns fest, schmerzlich ruhig und still – während er mich liebevoll ansah.

»Sei mir gut, vergib mir!« bat er noch einmal.

»Glaubst du, daß ich frivol oder brutal über die Liebe denke?«

»Nein, das glaube ich nicht«, sagte ich überzeugt.

»Es ist so tröstlich, du hast so die volle Gnade«, sagte er dankbar. »Frau von Stein hatte nur den klaren, kühlen Verstand. Kannst du dir denken, daß sich Goethe und Frau von Stein alles gewährt haben?«

»Ich kann mir ihre Freundschaft auch ohne die sinnliche Gemeinschaft denken.«

»Und ich denke – gerade durch meine Liebe zu dir –, sie haben sich alles gegeben!«

Er nahm mein Haar, das ich schon zur Nacht aufgelöst hatte, das lang herunterhing, und zog es an seine Lippen, sehr heiß, sehr liebevoll.

»Ach, ich werde auch schrecklich konservativ durch dich«, sagte ich in bitterer Selbstverspottung.

»Habe ich nun nicht recht: der liebe Gott muß uns Frauen doch gar nicht leiden können; wir haben es doch wirklich schwer, glücklich zu sein. Nur der Gedanke an Christus hat mich in der entsetzlichen Verwirrung dieser Tage getröstet. Ich dachte, er wäre der einzige, der uns nicht verdammen, der diesen Konflikt der Liebe verstehen würde.«

Dann standen wir auf – er stand vor mir: »Gib mir einen Kuß! Nur einen!« flehte er.

Ich schüttelte den Kopf: »Ich darf nicht mehr! Übrigens wollte ich gerade zu Bett gehen, als du kamst!«

»Ich wäre aber doch gekommen!« –

Wir sahen uns innig an: »Ich möchte die letzten Tage doch nicht aus meinem Gedächtnis streichen«, sagte er bedeutungsvoll, ehe er ging. –

3. März.

Die Nacht war leidlich. – Herzweh hatte ich auch so noch. Aber es ist doch nun ein Trost, daß wir uns nicht zu trennen brauchen, daß wir uns wieder auf das Geistige beschränken wollen.

Nach seiner Vorlesung kam er gestern abend noch für einige Stunden zu mir herauf. – Es wurde ein schmerzvoll lieber Abend, der wohl die Sehnsucht nach einer häuslichen Gemeinschaft wecken, für eine kurze Weile die Illusion gemeinsamen Lebens geben konnte.

Aber der ferne, dritte Mensch im Bunde, den wir beide schätzen, den wir beide schonen und nicht schädigen wollen, steht doch immer wie ein dunkler Schatten neben uns, dämpft jede helle Freude, läßt in jede Minute des Glückes einen bitteren Tropfen rinnen.

*

Ich lag in meiner Ecke, das Herz zerrissen in qualvoller Sehnsucht; er lehnte seinen Kopf an meine Brust, und ich legte die Arme um seinen Hals und küßte ihn leise, scheu auf die Stirn.

Er erzählte von sich, – wie er bis jetzt immer gesagt, es habe kein Mensch ein Interesse daran, daß er ganz das werde – nicht nur als Gelehrter, als Forscher, sondern auch als Mensch, als Charakter – was er werden könne und müsse.

»Ich habe bisher gar nicht so den Mut der Persönlichkeit wie du – ich passe mich viel mehr an – ich bin beim Geheimrat geheimrätlich, beim Juden jüdisch – beim Akademiker akademisch, beim Volk volkstümlich – –.« Diese harte Selbstkritik quält mich sehr.

»Und vielleicht sage ich manchmal etwas, was nicht statistisch genau so ist –«

»Aber bei mir,« fragte ich angstvoll, »bei mir bist du doch ganz wahr?«

»Hast du mich nach all dem noch lieb?« fragte er bang.

»Wie kannst du zweifeln – aber ich habe solches Herzweh.«

Es macht mich immer unsäglich traurig, wenn er so gering von sich selbst spricht. Er liebt sich selbst nicht genug – hat nicht Ehrfurcht genug vor sich selbst – empfinde ich.

»Das schätze ich so hoch an dir,« meinte er, »daß du mein Verhältnis zu Agathe so richtig verstehst. Du bist nicht auf sie eifersüchtig, braucht es auch nicht zu sein.«

»Nein,« sagte ich, auf sie – noch nie – höchstens für sie. Denn wir dürfen uns doch nur dann lieb haben, wenn sie auch dadurch gewinnt, nicht verliert. Ihr Leben muß reicher werden durch uns.« – –

»Ja, das ist auch mein Wille, – die einzige Klarheit, die ich aus dieser Verwirrung gerettet habe. Mag unser Verhältnis für die Beurteilung der Welt ein Unrecht sein – es ist doch neben der Leidenschaft auch eine sittliche Macht, die uns zusammenhält, das weiß ich gewiß.« – – – – –

Er stand auf, beugte sich über mich und zog mich an beiden Händen in die Höhe.

Wir standen voreinander. Dann zog er mich in seine Arme: »Du, wie schwer bist du liebstes Mädel denn eigentlich?«

Er nahm mich auf – ich hatte die Hände um seinen Hals gelegt – er hob mich in die Höhe – drückte mich fest an sich und küßte mich.

Ich zuckte schmerzlich zusammen.

»Es soll der letzte Kuß sein«, beruhigte er mich.

Vor dem Abschied bat er noch: »Du, sieh mich in der Vorlesung nicht an, – dann komme ich ganz aus der Fassung.«

»Aber ich habe dich doch gar nicht angesehen.«

»Doch, einmal – dann muß ich mich wiederholen – ach, in diesen Tagen war mir die ganze Kunstgeschichte so gräßlich gleichgültig.« –

Also auch einem Mann kann es geschehen, daß er durch seine Gefühle von seiner Arbeit abgelenkt wird?! Das hat er im Anfang doch nur bei der Frau für möglich gehalten. Aber ich habe großmütig darauf verzichtet, ihn daran zu erinnern.

Ich blieb sehr unruhig und erregt zurück: nein, so geht es nicht – so werden wir nie dazu kommen, uns auf das Geistige zu beschränken.

Immer noch rinnen heiße Ströme der Erregung durch meine Nerven – in Erinnerung an seine letzte Umarmung.

Ich werde ihn mir doch ganz abgewöhnen müssen – dachte ich bitter – wie soll es sonst werden?!

Denn nur dann könnte es ein Glück – oder wenigstens erträglich für mich sein – ich kenne meine Sehnsucht nach innigster, dauernder Gemeinschaft zu genau – wenn auch er es wie ich – trotz aller äußeren Hemmnisse – innerlich als einen Bund fürs Leben ansieht –. Nur dann!

Es wäre gut, wenn er ein paar Tage nicht käme: wir müssen uns eben langsam wieder ein wenig voneinander entwöhnen, wenn es bei der Freundschaft, bei dem geistigen Nahesein bleiben soll.

Übrigens las ich in diesen Tagen in der Zeitung, daß mein slawischer Freund Dr. Kantorowicz in Prag nach einer stürmischen Protestversammlung von Arbeitslosen, in der er eine leidenschaftliche Rede für die Freiheit, für eine neue bessere Gesellschaftsordnung hielt, wegen »Widerstandes gegen die Staatsgewalt« verhaftet worden ist. Man macht sich auf eine längere Freiheitsstrafe für ihn gefaßt. Armer Freund! Aber seinen glühenden Willen zur Weltverbesserung wird, wie ich ihn kenne, auch diese Prüfung nicht zu brechen vermögen.

Montag, 5. März.

Ich war gestern – Sonntagmittag – zu Tisch bei Lillis Eltern – Professor Geyers. Es sind feine, liebe Menschen – im Grunde ganz altmodisch in ihren Anschauungen. –

Auch mein ärztlicher Freund aus den Krankheitstagen war zu Tisch da, Dr. Walker – er sah mich ein paarmal sehr ernst und schmerzlich beobachtend an: als fühle er, daß mit mir innerlich etwas vorgeht, das seiner stillen Neigung keine Hoffnung gibt.

Als Dr. Walker mich noch als Arzt besuchte, haben wir zuweilen darüber gesprochen, wie schwierig für Frauen, die zugleich ein Werk, eine Kunst, eine Wissenschaft, einen Herzensberuf – nicht nur einen Broterwerb – im Leben haben, die Lösung des Liebes- und Eheproblems sei. Er wollte das nie so recht gelten lassen: er stellte sich einfach vor, daß man als Frau, wenn man liebt, eben alles andere preisgibt. Was ja gewiß für viele – für die meisten vielleicht – gilt. Aber doch nicht für die, die eine innere Berufung fühlen. Schließlich meinte er dann einmal, daß ein Mann, wenn er seine Frau liebe, ihr auch wohl die Freiheit zur Entwicklung, zum Schaffen lassen müsse, die sie brauche. Also auch das würde ich haben können! Ja, aber das alles hilft mir nicht: ich achte, ich schätze ihn sehr – nur geht leider für mich nicht jener undefinierbare Reiz von ihm aus, der gegen alle Vernunft, gegen alle äußeren Interessen, ja selbst gegen die eigene Glücksmöglichkeit unlösbar verstrickt und bindet. –

*

Nun war ich soeben von Geyers zurückgekehrt und hatte mich ganz erschöpft auf den Diwan gelegt – die vielen schlaflosen Nächte haben meine Nerven doch fühlbar mitgenommen. In der Wohnung herrschte größte Stille: Frau Hauptmann Rudolph ist wegen der schweren Erkrankung einer verheirateten Tochter für einige Wochen zu ihr nach Danzig gereist. Ich genieße diese Einsamkeit aus tiefster Seele; denn ein grenzenloses Bedürfnis nach Ruhe, nach Zu-mir-selbst-Kommen hat mich überfallen.

Da klingelte es, ich öffnete: der Freund stand vor mir.

»Ich habe dich heute gar nicht sehen wollen«, sagte ich erschrocken.

Aber wie ich ihn ansah und seine Stimme hörte, da merkte ich: nun war das Wunder geschehen – was jetzt aus seinem ganzen Wesen sprach, war Liebe, tiefe, echte Liebe, wie ich sie meine, so daß ich selig bangte – ich fühlte, wie meine Kraft davor schmolz.

»Hast du in diesen Tagen an mich gedacht?« fragte er und beugte sich über mich.

»Wenn es dir recht ist, bleibe ich den heutigen Abend bei dir – –

Die Schuld liegt hinter mir – ich habe jetzt den Willen, dein zu sein und die Verantwortung dafür zu tragen.«

»Und wenn ich noch nicht bereit bin?« fragte ich, »dann dürfen wir wohl gar nicht zusammenbleiben?«

»Es soll ganz so sein, wie du es willst. Du wirst mich in jedem Augenblick bereit finden. –

Weißt du, wie du mir neulich gesagt hast: Du hast ja noch gar nicht gelebt! Ich habe auch noch gar nicht gelebt – ich will es jetzt – mit dir – durch dich!«

Er hatte mich mit sanfter, zwingender Bitte zum Diwan geführt, – dann kniete er davor nieder und beugte sich in einem langen, alles vergessen-machenden Kuß über mich.

»Willst du mein sein?« fragte er.

Ich wachte noch einmal aus dem süßen Traum auf zur harten Wirklichkeit: wie soll ich je von ihm mich innerlich oder auch nur äußerlich lösen, wie es das Schicksal doch von uns fordert, wenn ich noch inniger, noch schrankenloser mich mit ihm verbunden habe?!

»Liebster – nein –« sagte ich traurig.

– – Er hatte mir das Bild seiner Mutter und seines liebsten verstorbenen Freundes gebracht: »Siehst du, außer meiner Mutter und diesem Freunde ist mir nie wieder ein Mensch etwas gewesen – erst durch dich habe ich zum erstenmal wieder etwas von einem Menschen empfangen.«

»Wirst du mich auch nicht vergessen?« fragte ich.

»Irene, hab' ich den Freund vergessen, – ist nicht alles, was er war, noch in meinem Herzen?!«

Er nahm zwei mattgrüne Kelche, füllte sie mit goldenem Wein, reichte mir den einen und legte unsere Hände ineinander. Ich wurde blaß vor innerer Bewegung, als ich seinen Ernst erkannte.

»Wollen wir uns geloben, von nun an zueinander zu gehören in guten und bösen Tagen – immer ganz wahr gegeneinander zu sein, in keiner Not und Gefahr voneinander zu lassen – fürs ganze Leben – bis der Tod uns scheidet?«

Wir sahen uns lange in schweigendem Einverständnis in die Augen, küßten uns und tranken zur Besiegelung den goldenen Wein.

»Auch wenn – ich dir nicht alles gebe?« –

»Das ist doch kein Trennungsgrund mehr zwischen uns«, sagte er. – – – – – – – – – – – – –

*

»Nicht wahr, du hast dich gefürchtet, du hast gedacht, ich würde gleich wild werden!«

»Ja!«

»Du hast mich schon so lange lieb, und du kennst mich doch so wenig, daß du nicht weißt: ich tue nie etwas, was du nicht selber willst«, sagte er schmerzlich.

Er hatte Tränen in den Augen – ich küßte sie fort.

»Glaubst du nicht, daß es schwer ist, immer ›Nein‹ zu sagen, wo man ›Ja‹ sagen möchte?«

»Soll ich denn die Verantwortung auf mich nehmen?«

»Nein, nein!«

*

»Weißt du auch, daß, wenn ich dir gehöre, ich dann nie mehr einem anderen gehören kann?«

»Ja, meinst du, das wollte ich?«

»Aber soll ich mein ganzes Leben allein bleiben?!«

»Dies schwere Schicksal habe ich nicht so gefügt – du auch nicht –, aber du wirst gewiß nie wieder jemanden finden, der dich so liebt und versteht. Und wir brauchen doch auch gar nicht dauernd getrennt zu sein, selbst wenn du deiner Studien wegen fortgingst. In den Ferien könnte ich dich in Paris besuchen – oder du kämst nach München. Und ein halbes Jahr ernster Arbeit dazwischen mit dem Bewußtsein unserer inneren Zusammengehörigkeit ist doch kein unerträgliches Los!«

*

Diese Zukunftsperspektive – ewiges Trennen und Besuchen – vermag mich aber nicht sehr zu locken: wie soll ich ein halbes Jahr Trennung ertragen bei meinem leidenschaftlichen Verlangen nach restlosem, nie endendem Besitz!

Er hatte mir ein Kissen in den Rücken geschoben und sich auf dem Sofa in meine Arme gebettet, während meine Gedanken verzweifelt, rastlos zwischen der schmerzlichen Alternative: Gehen oder Bleiben – hin und her irrten.

»Erzählte ich dir schon, daß der Kunsthändler Dannenberg mir einen neuen Auftrag: das Porträt eines kleinen Mädchens – vermittelt hat?« fragte ich, gerne nach einem Mittel greifend, das mir das Bleiben ermöglichen hilft.

»Ach, jetzt mußt du erst einmal leben!« – wehrt er ein wenig ungebärdig die Erinnerung an meine künstlerische Arbeit und die ihr eigenen Notwendigkeiten ab, während er meine Hände inbrünstig an seine Lippen zieht.

»Laß doch die Stunden nicht so verrinnen,« bittet er dann wieder, »laß sie ein ganzer Segen für uns werden. Das Glück kann ja gar nicht dauern – das Weib hat den schönen Traum, erst als Braut und kinderlose Frau dem Manne und später als Mutter den Kindern alles Glück zu geben – aber der Mann muß doch wieder dem Leben, dem Vaterlande, seiner Wissenschaft gehören!«

Eine flammende Röte stieg in mein Gesicht: ich löste mich in heißem Schmerz aus seinen Armen.

»Was soll denn eine Stunde nützen! Ich habe immer an ein Glück fürs Leben geglaubt! Mit sich selbst eins zu sein, das ist doch Glück, wie ich es meine – und das kann man doch immer haben oder muß es immer wieder erkämpfen. Und das ist es doch, was ich vor den meisten Frauen voraus habe: daß ich selbst ein Mensch bin für mich, daß ich eigene Lebensziele habe wie du, und daß ich mir deshalb auch die Fähigkeit zutraue, dauernd zu beglücken. O, ich wollte es dich schon lehren, glücklich zu sein – und wenn kein Mensch auf der Welt das Glück hätte – so wollte ich, so wollten wir es doch haben!«

Er hatte ganz erschrocken diesem leidenschaftlichen Ausbruch zugehört und holte mich nun wieder in seine Arme.

»Ich lasse mich ja so gern von dir überzeugen,« sagte er sanft, »so manches Wort von dir hat ja schon in mir gewirkt. Nun habe ich unsere glückliche Stimmung zerstört! Und ich wollte es dir nur erleichtern – wenn du einmal traurig wirst, weil wir nicht immer zusammen sein können, wie es unter normalen Verhältnissen der Fall wäre.

Siehst du, ich bin so ganz von dir erfüllt – von deinem ganzen lieben Wesen – was du als Weib bist. – Und wenn ich in diesen Tagen so viel an Christus gedacht habe, das warst du doch – mit deiner warmen Menschlichkeit!

Meine Liebesfähigkeit ist durch dich so gestiegen! Ich kann jetzt auch anderen Menschen geben, barmherzig, großmütig sein – auch gegen Agathe. Mit jeder Glücksstunde, die wir uns schenken, müssen wir wuchern und die anderen glücklich machen.«

Aber alle seine lieben Worte vermochten die traumhafte Glücksstimmung von vorher nicht wieder herzustellen. – Als er immer wieder bat: »Sei mein!«, neigte ich endlich, ermattet von seinem Drängen, den Kopf.

»Nein, nein, so nicht,« wehrte er – »nicht, wenn du morgen wieder auf und davon gehen willst.«

»Für dich ist es doch auch leichter!« sagte ich gequält.

»Glaubst du wirklich?« fragte er. »Würde es dir denn in der Tat leichter sein, wenn du mich fändest und du gehörtest schon einem anderen Menschen, wie es bei mir leider der Fall ist? Aber was sollen wir dann tun?« fragte er verzweifelt, »könntest du denn wünschen, daß wir zusammen sterben sollten?«

Nun mußte ich fast lächeln über diese Vorstellung: sterben – weil und solange wir uns lieben?! »Nein, nein, wir wollen leben!« – –

Die Abwehr dieses Gedankens – sterben zu sollen –, der so ganz gegen alle meine starken Lebensinstinkte geht, hat mich wieder froh und mutig gemacht.

Als er noch einmal bat: »Sei mein! Komm nur einmal ganz in meine Arme, ich tue nichts, was du nicht selbst willst« – da war meine schmerzliche Resignation, mein Zweifel überwunden. Ich überschritt die Schwelle des Schlafzimmers nebenan – und er folgte mir einige Minuten später. – –

*

Nun war eine andere, neue, frohe Sicherheit in mir. Während er mich umschloß unter tausend zärtlichen, dankbaren Worten für diese Gabe der Liebe, sagte ich selig: »Siehst du, das ist doch nicht ›Sünde‹! Wenn das ›Sünde‹ ist, dann ist alles Gute und Große Sünde.«

»Ich habe gar nicht gewußt,« gestand er dankbar, »daß das alles so süß und rein, so keusch zugleich sein kann. Daß du mich das gelehrt hast – ist das nicht Christentum? Ich könnte auch wild werden – aber du sollst wissen, daß ich nicht nur deinen lieben Leib, deinen jungen, schönen Körper, sondern deine Seele will, daß du meine Psyche bist! Aber nun bist du morgen nicht wieder traurig und ringst die Hände?«

Ich lachte glückselig: »Aber wie kannst du das denken! Ich komme mir vor wie ein Kind, das in den Armen seiner Mutter liegt!«

»Ich habe bei dir zum erstenmal Frieden und Ruhe gefunden,« bekannte er dankbar, inbrünstig, »und das tut man doch nicht, wenn man sündigt. Jetzt werde ich auch gesund und stark werden – all das Halbe, Kranke in mir wird vergehen. Ich werde wieder schwach sein – aber der Segen dieser Stunde wird bleiben. Ich bin dein armer Heinrich, den du mit deiner jungen Liebe heilst.

Siehst du, das ist doch ›Entsühnung‹ – nicht das häßliche Wort ›Seife‹, das du damals so spöttisch sagtest. Das bedeutet es:

›Alle menschlichen Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit!‹« – –

Ich umschlang ihn fest mit meinen Armen: »Ich bin so glücklich bei dir!«

»Hast du mich denn nun lieb?«

»Schrecklich!«

»Aber auch Vertrauen?«

»Sicher, Liebster – ich habe doch immer an das Gute in dir geglaubt.« –

Wir umschlangen uns fest und unauflösbar.

»Siehst du, man sagt, man kann nicht zween Herren dienen – aber wenn ich nun beides liebe: deinen Leib und deine Seele?!« fragte er einmal in dem Rausch unseres Versinkens.

Nun kam keine Störung mehr in die süße Heiligkeit dieses ersten Zusammenseins; nun sind wir uns nahe gewesen – vertrauter geworden – nur noch die allerletzte Vereinigung uns versagend.

All die lieben zärtlichen Worte und Blicke und Umarmungen kann ich hier nicht festhalten – ich würde gar nicht fertig werden. –

Aber ist nicht Vergessen ein Verschwenden, eine Undankbarkeit gegen das Glück, das uns das Leben schenkt? Ist nicht jedes Liebeswort ein Reichtum, den wir in unserem Herzen anhäufen müssen, damit wir nicht arm und leer sind, wenn einmal die Sonne nicht so hell scheint? Damit uns die Wärme der Liebe noch durchglüht, wenn einsame Tage kommen, in denen uns sonst frösteln würde?

Jetzt scheint die Sonne; ich lasse sie tief in mein Herz scheinen, mich ganz von ihr durchdringen, – unverlierbar – unzerstörbar.

Ich weiß jetzt, seit heute, seit gestern, daß ich alles für ihn bin, was ein Weib und ein Mensch einem anderen sein kann – ich sehe nur dies, fühle nur dies – bin ganz bis ins Tiefste erfüllt und glücklich davon.

Mittwoch, den 7. März.

Ein seltsames Gefühl, als ich gestern in seiner Vorlesung saß: ich fürchte, ich habe nicht viel von dem in mich ausgenommen, was er über Goethe und die Notwendigkeit der italienischen Reise sagte. Und so reizvoll es ist, zu wissen, daß der Mann dort auf dem Katheder mir in seinem Herzen mit Leib und Seele gehört – so schmerzlich ist es doch, dies immer vor den Leuten verstecken zu müssen. Einmal während der Rede streifte mich sein Blick – er wurde ganz rot dabei. Draußen vor dem Fenster sang sehr süß eine Amsel – es tat fast weh, so süß war ihr lockender Gesang. Nach der Vorlesung kam Magda Paulus zu ihm heran – sie behauptet, für ihre Kunst aus seinen Vorlesungen zu lernen. Aber ich glaube, daß sie auch als Frau Interesse an ihm nimmt. Ich ging schnell fort, ohne ihn zu begrüßen, nach Hause und zog mich um: ich wollte zu dem Jour bei Reichmanns, der jetzt Dienstag abends ist. Ich war eben fertig und im Begriff zu gehen – als er kam. Er saß auf dem Sofa – ich legte meine Arme um seinen Hals und drückte seinen Kopf an mich.

»Wie geht es dir?«

»Ich war sehr glücklich Sonntag.«

»Wirklich?!« fragte er glücklich-zweifelnd, dankbar.

»Aber ich muß nun fort zu Reichmanns – ich versprach ihr, heute zu kommen. Es ist nicht gut, wenn ich mich so zurückziehe.«

Er gab mir recht und begleitete mich, ganz erfüllt von der Sehnsucht, wenn wir uns nun wieder, nun endlich ganz haben könnten.

»Aber wir wollen ja nächstens unsere Hochzeitsreise machen!« tröstete ich.

»Ja – Ostern – aber bis dahin – das dauert noch ein paar Wochen – und ich möchte am liebsten hier, jetzt gleich, auf der Stelle zu dir kommen.

Und nun habe ich auch das Hohe Lied verstehen gelernt,« meinte er – »besonders ein paar Strophen – von dem Zwillingspaar – das unter Rosen weidet!«

Wir gingen am Englischen Garten entlang – »ein Stückchen könnten wir doch hindurchgehen,« bat er, »so viel Zeit hast du wohl.« Ich erzählte, daß ich Goethes Briefe an Frau von Stein weiter lese und herrlich finde.

»Nun kannst du dir wohl auch denken, daß sie sich ganz gehört haben. Aber sie war sieben Jahre älter und Mutter von sieben Kindern – das erklärt es, warum er später Christiane liebt. Ich fühle es doch so an mir, wie mich deine Jugend zu dir hinzieht –«

Er schloß mich stürmisch in seine Arme und küßte mich. Dann nahm er meinen Kopf in seine Hände: »Gib mir ein bißchen von deinem Jugendmut mit! Wenn ich bisher etwas erlebte, war es immer mit Trauer im Herzen. Ich hätte ebensogut weinen können. Wir wollen zusammen glücklich sein! O, ich kann bei dir alles empfinden – einmal ganz in das Geistige verloren und dann solch tolle Begehrlichkeit nach deinem Leibe – wie mich alles zu der knospenden Gestalt hindrängt – ich möchte dich jetzt gleich aus der Stelle umarmen!«

Er hielt mich umschlungen und küßte mich wild, immer wieder, immer wieder, bis uns beiden die Besinnung zu schwinden drohte. Ich nahm mich mit letzter Kraft zusammen.

»Aber Liebster, wir müssen vernünftig sein: deine Schwester und dein Kollege Lauber erwarten dich, und ich will zu Reichmanns.« – – – – – – – – – – – – – –

Ich hatte nun seinen Arm genommen und versuchte mit ihm Schritt zu halten. Er war sehr glücklich darüber: »Das ist das erstemal, daß du das tust – mein Arm paßt so gerade für dich. Was hast du für eine süße, zärtliche Gestalt! So zierlich und doch diese Fülle! Gott, wenn ich dich der Welt doch einmal so zeigen könnte – so strahlend und so voll Lust!«

Ich lachte: »Kennst du das Märchen vom häßlichen grauen Entlein, das hernach ein schöner weißer Schwan ist?«

»Und du verstehst alles so köstlich! Dich hat der liebe Gott doch sicher für mich geschaffen. Aber ich wollte, er hätte dich eher zu mir geführt – ich könnte das auch so in erster Jugend genießen wie du –, dann wäre überhaupt manches anders geworden.«

Er küßte mich wieder wild: »Du weißt gar nicht, wie süß und reizend du bist! Ich bin ganz dumm-glücklich bei dir geworden!«

*

»Bist du nicht auch der Meinung, daß das Geistige das Sinnliche absorbiert?« fragte er.

»Ach, das kann ich nicht finden.«

»Du arbeitest auch nicht so viel geistig wie ich.«

»So – nun – ich habe in diesen zwei Jahren hier in München doch sehr intensiv gearbeitet. – Die Malstudien – und dann all die Vorträge und Versammlungen und was mich sonst interessiert. – Du hast doch selbst schon über meinen leidenschaftlichen geistigen Hunger oft den Kopf geschüttelt.«

»Und da hat dich deine Arbeit, deine Kunst nicht ganz absorbiert?«

»Ach nein, das nie – so nie, in aller Arbeit nicht – diese natürliche menschliche Sehnsucht kann doch nicht erstickt werden. Wie kannst du das denken! Ich habe mir doch immer die Liebe, ich habe mir auch immer ein Kind gewünscht!« –

Er küßte mich heiß auf den Mund: »Wie süß ist das, daß du mir das alles sagen kannst! Nun ist es doch gut, daß du vor dem Schicksal, ohne Liebe zu leben, bewahrt geblieben bist!

»Dazu habe ich auch wohl wenig Talent in mir! Aber – ich hätte es mir doch anders gewünscht als so – ich möchte keiner anderen Frau diese Situation wünschen.«

»Ja, nur weil du so Persönlichkeit bist!«

Er drückte mich wieder fest an sich: »Und dies süße Mädel ist mein!«

Wir standen still: über uns sahen wir die dunklen Bäume zum Himmel ragen und die Sterne darüber: »Wie das schön ist! Und was ist nun eigentlich das Leben? Daß wir glücklich sein wollen? Und in einem anderen Leben, da werden wir uns sicher noch viel lieber haben, – meinst du nicht auch?«

Wir gingen wie zwei tolle, unvernünftige Kinder in seligem Übermut daher – aber unten im Herzen regte sich zugleich der Schmerz.

»Warum kann ich es nun Agathe nicht offen bekennen und sie bitten, mich freizugeben?!« fragte er traurig.

»Ja warum?! Darin liegt eben unser Schicksal.« –

Ich drängte zum Fortgehen. Er bat immer: »Ach, bleib doch noch!

Aber ich hatte doch so viel Kraft und Vernunft, daß ich, trotz unseres zärtlichen Aufenthaltes, wenn auch sehr verspätet, noch zu Reichmanns kam, wo man erzählte, daß unserem Freund Kantorowicz eine mehrjährige Gefängnisstrafe mindestens droht.

Sonnabend, 10. März.

Nach langer Zeit kam ich in diesen Tagen endlich einmal wieder zum Malen – es tat mir unsäglich wohl – gab mir neue Kraft. Dieses Untertauchen in eine linde Vergessenheit durch Arbeit empfinde ich jetzt direkt als Lebenselixir, als Rettung. Ich brauche diese Kraft jetzt doppelt; für mich selbst und für den Geliebten. Spät am Abend vorgestern – gegen neun Uhr klingelte es. Er kam noch.

In recht gedrückter Stimmung: Agathe hat sehr unglücklich geschrieben; mit ihren Eltern hat sie sich ganz entzweit und nun ihre Krankenexistenz dort im fremden Land, in der er für sie der einzige Halt ist. Dadurch wird es immer unmöglicher, ihr diesen Halt zu entziehen, sich von ihr freizumachen.

»Ach, daß du es ihr nicht sagen kannst! Aber wenn du es ihr sagen könntest, dann brauchtest du mich nicht!«

Er wollte sich bei mir Befreiung holen von dem Druck, den diese letzten Nachrichten erneut auf ihn gelegt hatten.

»Ich glaube, es ist am besten, ich gehe nach Paris – dann wird es doch am Ende leichter für dich werden, wenn du nicht immer wieder an mich erinnert wirst«, sagte ich nachdenklich.

»Aber du kannst mich doch jetzt nicht verlassen!« sagte er entsetzt. – »Wie kannst du nur daran denken! Du kannst doch auch hier noch manches lernen – du nimmst eine eigene kleine Wohnung – und darin richten wir ein Arbeitszimmer für uns beide ein!«

»Ein Arbeitszimmer für uns beide« – ein Schimmer einer gemeinsamen Häuslichkeit für uns?

Wie ein leiser, sanfter Strahl, der in tiefes Dunkel hineinfällt, leuchtet dieser Ausweg vor mir auf. – – – – –

*

Er hatte mich neben sich auf den Diwan gezogen und fing an, mein Haar zu lösen. Ich nahm es ihm fort – aber er holte es sich wieder mit einem so bestimmten, herrischen: »Aber erlaube mal!«, daß ich ihn nicht zu verletzen, sein Spiel nicht zu hindern wagte. Er drückte seinen Mund sehnsüchtig auf die freigewordene Fülle.

»Ich muß dich fortschicken – du sollst dich gleich schlafen legen – es wäre deinen Nerven gut!« –

»Ja, weißt du, wenn es danach ginge! Dann wüßten wir beide, was wir täten!«

Er zog mich fester an sich heran.

»Vielleicht, daß Agathe allmählich spürt, daß ich dich lieb habe, daß du mir mehr bedeutest, als sonst irgendein Mensch – aber ihr jetzt die volle Wahrheit zu sagen, wäre ihr Tod.«

Ich verstehe es – er hat recht – aber wie schmerzlich ist es, daß zwei Menschen wie wir nicht eine vollkommene Lebensgemeinschaft haben können!

»Mir ist nur eins klar,« sagte ich, »wir wollen sehen, mit hocherhobenem Haupt, als ganze Menschen daraus hervorzugehen – ohne Schmerz für die andern – und ein wenig Glück für uns zu gewinnen. Ich habe ein zu lebhaftes Glücksverlangen, als daß ich ohne weiteres resignieren könnte!«

*

Es wurde ein sehr lieber Abend – ein entzückender weicher Frühlingsduft draußen, der das Herz schwer machte voll Hunger nach Glück. –

»Wenn du nur nicht eines Tages denkst, ich wäre ein Schwächling« – sagte er, als er still neben mir saß, »das ertrüge ich nicht. Ich bin ein ganz anderer Mensch durch dich geworden. Nie habe ich so zart und innig an ein Weib gedacht – wie an dich. Bei Agathe sah ich jedem Mädchen nach – das ist nun ganz weg.

Dann sprachen wir von der Zukunft: ihm ist es selbstverständlich, daß ich den Gedanken an Paris ganz aufgeben, daß ich hier bleiben muß. Ich soll hier eine Wohnung mieten, wo ich unabhängig bin, wo wir uns sehen und haben können.

»Also du findest es wirklich besser?« zweifelte ich noch einmal. Ich sehe doch alle die Schwierigkeiten für unsere Gemeinschaft und dann – der Verzicht auf meine künstlerischen Pläne ist doch ein ungeheures Opfer, das meine Liebe zu ihm fordert.

»Ja – sicher!« sagte er zuversichtlich, »wir beide wollen es schon so gestalten, daß es schön wird trotz alledem! Und wenn Konflikte kommen – die sollen uns nicht trennen, sondern verbinden, nicht wahr?«

Ich weiß nur eins sicher, es ist beides unendlich schwer: jetzt fortzugehen, fern von ihm – allein in Paris zu leben – und schwer auch, sehr schwer und hart, alle Hoffnungen auf die künstlerische Weiterentwicklung vorläufig aufzugeben – und hier für ihn – unter so schwierigen Verhältnissen – zu leben!

»Du bist wie ein Diamant, der ganz still und unscheinbar daliegt – und der plötzlich in den wunderbarsten Farben glitzert, wenn die Sonne darauf scheint«, verglich er liebevoll.

Dann kommt über unseren Plänen und Versuchen, aus dem unlösbaren Konflikt doch ein wenig Glück zu gewinnen, die sinnliche Sehnsucht über ihn, mich ganz zu besitzen, zu haben.

*

»Ich möchte so zart mit dir sein,« sagte er, wie er mich in seinen Armen hält – »ich habe alles vergessen – ein Gefühl des Unendlichen ist in mir – ich dachte eben – ich wäre du – das alles wäre an mir. Nicht wahr, du fühlst dich jetzt viel mehr noch als dich selber?«

»Ja!«

»Und ich möchte etwas Geistiges haben, mit dem ich dich umfassen könnte – ich erröte für dich, ich werde wie ein junges Mädchen – ich mache eine ganz neue Erfahrung – ich wußte gar nicht, daß das alles so rein sein kann. Hattest du denn gedacht, daß es so sein könnte?«

»Aber natürlich!«

»Jetzt verstehe ich auch, warum man die Nacht als ein Weib darstellt –.«

»Ach, daß unsere höchste Sehnsucht, ein Kind zu haben, jetzt die höchste Gefahr für uns bedeutet!«

Aber er schließt mich heiß, innig dankbar an sich, wie ich impulsiv frage: »Aber wenn ich dich nun nicht lasse?!« – –

»Was für eine Blutmischung mag in dir sein?« fragte er einmal. »So voller Daseinsfreude – so gar nicht sentimental bei aller starken Empfindung.«

Er erinnerte sich, wie beim letzten Künstlerfest, wo ein bekannter Maler, der längere Zeit mein Partner war und lebhaftes Interesse an mir nahm, hernach gemeint hatte, in mir müsse wohl französisches Blut sein. Ob das zuträfe?

»Ich bin durchaus ›deutsch‹; aber ich stamme eben aus der Verbindung germanisch-fränkischen Wesens, wie es für den Westen Deutschlands natürlich ist – nicht aus dem Osten, der die starke slawisch-wendische Mischung hat. Und dann bin ich das Kind einer Liebesehe. Ist das nicht Erklärung genug für meine lebensfrohe Natur?«

»Ach, weißt du,« sagte er, eifersüchtig in der Erinnerung an das Künstlerfest, »du mußt nicht so viel unter andere Menschen gehen – du mußt jetzt ein bißchen mir gehören!«

Ich lachte: »Du sperrst mich am liebsten wohl ganz ein.«

»Nein, nein, wir gehören beide auch der Welt und wollen in ihr wirken, – jetzt erst recht, wo wir uns haben!«

Sonntag, 11. März.

Ich habe gestern vormittag Besorgungen gemacht – Farben zum Malen und eine neue Frühjahrsjacke für mich gekauft –. Dann hatte ich bei mir im Atelier eine Stunde geruht und mich an die Arbeit gesetzt, die mir jetzt die beste Besänftigerin all meiner Unruhe ist und mich über die Zeit seiner Abwesenheit am besten hinwegbringt. Da kam kurz nach neun Uhr noch ein Eilbrief, daß er mich unbedingt noch einmal sehen müßte. – – –

»Aber ich bin so müde, Liebster, ich kann heute nicht mehr viel unternehmen – ich könnte nur noch in deinem Arm einschlafen«, sagte ich, als wir uns trafen.

»Vergib mir, aber ich hatte so tolle Sehnsucht nach dir – und da du nicht wolltest, daß ich so spät noch zu dir hinauf komme, – ach, daß wir kein Obdach für unsere Liebe haben!« – – – – – – – – – – – – – – –

Es war so weiche Frühlingsluft, und die Sterne leuchteten über uns. So gingen wir in »unseren« Alleen auf und nieder.

Er küßte mich: »Ich bin noch nie so begehrlich gewesen; durch deinen Körper ist ein Rhythmus in mich gekommen – Ach, wenn ich dich doch mitnehmen könnte – und wir schliefen zusammen ein – und wachten morgen früh zusammen auf!«

Er nahm meine Hand: »Nicht wahr, du hilfst mir, daß ich ein anderer Mensch werde? Ich renommiere, verbummele die Zeit – ich will ein Mann werden! Du kannst mich mit einem Wink leiten. Ich habe oft so schreckliche Angst, du wärest enttäuscht von mir; die ersten Tage hast du mich lieber gehabt!«

»Du schließt wohl von dir, du Böser!«

»Ach, wie darfst du das sagen: wenn man nach zertrümmerten Hoffnungen das findet. Du bist ja der Hafen! Aber ich möchte dich mitnehmen, du kannst ja morgen früh wiederkommen.«

»Nein, nein, hier geht es nicht mehr –« mußte ich abwehren. »Ich kann mich nicht um den letzten Rest von Vertrauen bei Frau Hauptmann Rudolph bringen.«

Er sah mich grenzenlos sehnsüchtig an: »Ich hatte heute morgen heroisch auf alles verzichtet – und nun!«

»Was denkst du?«

»Wenn du mich doch fragtest, was ich wollte. Das ist mit drei Buchstaben gesagt.«

»Mich? Das hast du ja.«

»Aber ob du mir nicht eines Tages ausreißt? Ich habe so schreckliche Angst davor!«

»Das wird nur von dir abhängen! Du hättest nur den Mittwoch bei mir sein müssen, wo ich mich von dir trennen wollte, – dann würdest du dich nicht mehr ängstigen. Ich wollte dir eigentlich schreiben, ich sei schon fort – damit du mich gar nicht mehr finden könntest.«

»Das hättest du mir tun können?«

»Nein, ich hätte es wohl nicht fertig gebracht«, gestand ich.

»Ich verbrenne hier!« sagte er leidenschaftlich. »Ich trinke jedes Wort von deinen Lippen. Ich habe oft so tolle Furcht, dir wäre nicht alles so lieb wie mir!«

»Wie töricht von dir! Meinst du, ich hätte Sonntag, unser Gelöbnis vergessen? Nun weiß ich es doch für immer.«

»Weißt du, ich habe dich so lieb, – daß ich manchmal mit dir sterben möchte!«

»Nein, nein,« sagte ich, »ich will leben – leben möchte ich – mit dir leben!«

»Ich darf dir keinen Kuß geben,« sagte er beim Abschied, »sonst wird es mir zu schwer.«

»Nun ist es doch schon ein Glück geworden«, meinte er noch zuletzt.

Ich zog seine Hand an mein Herz. »Ich verdiene es gar nicht, daß er mich so wahnsinnig lieb hat«, dachte ich fast beschämt. So ist sicher noch nie ein Weib von einem Manne geliebt worden.«

Dienstag, den 13. März.

Gestern bekam ich einen Brief von ihm. Nur wenige Zeilen: daß er die Stunden zähle, bis er mich wieder habe. Ich wußte, was zwischen den Zeilen stand, was sie bedeuten sollten. Ich war vollständig unfähig, irgend etwas zu unternehmen, lag still mit geschlossenen Augen da und fragte mich nur, ob ich nicht doch vielleicht ein Unrecht an mir selbst begehe. Unsere ganze Lage ist so, daß naturnotwendig Glück und Schmerz unauflöslich miteinander verbunden sind. Selbst bei dem Liebsten, was er mir sagt, schmerzt mich immer noch etwas, tut mir das Herz unsäglich weh.

»Wenn es nur nicht unpraktischer Idealismus von dir ist?!« befürchtete er neulich einmal.

Aber: wir gehören ja nun zusammen in guten und bösen Tagen – er hat mich nötig zu seinem Leben, – ich soll ihm helfen, daß er ganz der Mensch wird, den ich in ihm ahne und liebe, der er sein kann. – Jenes heilige Versprechen zwischen uns ist doch mehr als Altar und Standesamt – wäre es nicht Feigheit und kleinliches Mißtrauen, wenn ich zögern, mich behalten würde??

Aber es war unter Tränen, daß ich mich für ihn schmückte, ihn erwartete. – Mir waren immer, wie zum Trost und Halt in diesen Stunden, die seinem Kommen vorausgingen, Storms heiße keusche Strophen gegenwärtig – ich begann ihren vollen Sinn zu verstehen:

»In Sehnen halb – und halb in Bangen,
am Ende rinnt die Schale voll.
Die holde Scham ist nur empfangen,
daß sie in Liebe sterben soll.«

14. März.

Nun ist auch die letzte Schranke gefallen, die es zwischen uns noch gab: ich bin nun ganz sein – sein Weib, seine Frau, seine Liebste, sein Eigentum, seine Eva, seine Nixe – und wie all die zärtlichen Namen heißen mögen, die er fand.

Aber so viel Schönes, Süßes dieses Zusammensein brachte – ein wenig Bitternis und Enttäuschung brachte es auch. Ich habe mir immer gedacht, daß die völlige körperliche Verschmelzung eine ungeheure Umwandlung bewirken müsse, daß die beiden so verbundenen Menschen sich in all ihrem Denken und Empfinden wie ein Wesen fühlen müßten.

Aber gerade unsere Verschiedenheit im Denken und Empfinden ist mir auch wieder schmerzhaft bewußt geworden – oder ist das am Ende immer so zwischen Mann und Weib?

*

Als er kam, flüchtete ich in seine Arme, barg meinen Kopf an seiner Brust und hielt die Augen fest geschlossen unter seinen heißen Blicken.

»Komm doch«, sagte er verlangend, ungeduldig. Seine Eile verletzte mich ein wenig. Ich regte mich nicht – dann half er mir und besiegte so – mit zärtlichen Küssen und Liebkosungen auf Nacken, Hals und Gesicht allmählich meinen passiven Widerstand. Dann zog er mich entzückt an sich: »Du herrliches Weib!«

Wir versanken ineinander mit heißen, einander vermählenden Küssen, bei denen es für mich kein Ende geben sollte.

»Du küßt recht nach der Kunst!« sagte er dankbar.

»Küßt dich denn Agathe nicht so?« fragte ich überrascht.

Wenn man einen Menschen liebt, scheint es mir selbstverständlich, ihn so zu küssen, sich so inbrünstig in ihn zu versenken.

»Ach nein, die macht nur so«, – und er gab mir einen schwesterlich-kühlen Kuß. »Du hast mich viel lieber als sie.«

»Weißt du, daß ich heute geweint habe?«

»Daß ich zu dir kommen wollte?«

»Kannst du nicht verstehen, was es für mich bedeutet?«

»Ja, das verstehe ich wohl, Liebste – aber –« und seine Arme umschlossen mich fester, und seine Lippen suchten verlangend die meinen.

»Nun bist du mein – ganz mein, meine Frau! Und was bist du für ein köstliches Weib!

Der liebe Gott hat es doch gut gemeint, daß er mir das noch gegeben hat! Daß er dich mir gegeben hat!« sagte er glücklich.

»Ja, aber findest du nicht auch – uns Frauen muß er doch nicht leiden können, weil er so häßlich rachsüchtig sagt: ›Ich will dir viele Schmerzen schaffen‹. Das scheint ihm direkt Freude zu machen.« – – – – – – – – – – – –

Der selige Übermut, das Glücksgefühl – so geliebt und liebend im Arm des Mannes zu liegen, den ich liebe – Mann und Weib – ganz eins – ineinander verschlungen – ohne Hemmungen – ohne Schranken – begann mich mehr und mehr zu durchdringen.

»Siehst du,« sagte ich selig – als seine Hand zärtlich über die Linien meines Körpers glitt und ich zum erstenmal die Augen ganz zu ihm aufzuschlagen – ihn anzusehen wagte – (daß ich ihn schön finde, wage ich ihm nicht zu sagen –) »nun ist es wie im ›Hohen Liede‹: ›Seine Linke liegt unter meinem Haupt und seine Rechte herzet mich‹ – so, wie ich es mir immer gewünscht habe!«

Ein Sturz aus diesen Höhen seligsten Hochgefühls war es mir – als im Laufe der Stunden, die wir einander halten und herzen durften, ihm einmal die Lust kam, mir ein paar törichte Geschichten zu erzählen: wie glühende Tropfen fiel mir das aufs Herz. Ich sah ihn traurig an: »Weißt du, wie man das nennt, was du mir da erzählst?«

Er bereute sofort: »Verzeih mir – ich habe es nur getan, weil ich denke, du kannst alles hören – das ist ja gerade so schön bei dir: das Bewußtsein – seine Würde wegwerfen zu können, weil man sie jeden Augenblick wieder nehmen kann.«

»Aber wir brauchen sie doch gar nicht wegzuwerfen« – sagte ich, ein wenig ängstlich, daß er zu diesem ›Wegwerfen‹ diese Geschichten rechnen könnte, die mir verhaßt, verächtlich, ein Sakrileg an der Liebe sind.

»Ist nun unsere freie Liebe nicht wunderschön?« fragte er einmal.

»Gewiß, unsere Liebe ist schön,« sagte ich, »aber alle verbotene Befriedigung ist demütigend – warum kann eine Liebe, so heiß und stark wie unsere, sich nicht frei zeigen, wir uns nicht offen zu ihr bekennen? – das tut sehr weh!«

»Das hast du lieb gesagt«, sagte er und küßte mich.

Aber endlich mußte er doch gehen –.

Er stand vor mir, ich legte meine Arme um seinen Hals – meinen Kopf an seine Brust. Er hielt mich lange so zärtlich an sich gepreßt:

»Du bist gerade so groß, wie mein Mütterchen! Nach ihr habe ich noch nie einen Menschen so geliebt wie dich!«

Und dann kam ein letztes, allerletztes Mal, daß er mich zärtlich in seine Arme schloß:

»Wie soll ich dir all die Liebe danken? Daß ich ein guter Mensch werde!« – – – – – – – – – – – – –

15. März, abends.

Ich hatte ihn heute gar nicht erwartet. Robert hatte mich gebeten, nicht zur Vorlesung zu kommen, da das seine Unbefangenheit stören würde. Dann wollte er einige wichtige Arbeiten, die im Sturm der letzten Wochen liegen geblieben waren, erledigen.

Ich hatte meinen Tag ganz still verbracht – nach Tisch an Hanna geschrieben und ihr klar zu machen gesucht, daß ich Paris und damit auch unser Wiedersehen einstweilen aufgeben müsse. Noch schwieriger wird der Brief an die Eltern sein: wie soll ich das nur motivieren?

Um das Studium in Paris kämpfte ich von je – und nun – wo der Weg für mich frei liegt – dieser seltsame freiwillige Verzicht, der geeignet ist, meine ganze künstlerische Zukunft zu gefährden? Dies Bewußtsein, was ich als Mensch, als Künstlerin aufgebe, ist es wohl auch, was meiner Liebe diesen schmerzhaften Unterton gibt.

Am Abend klingelte es – Robert kam nun doch – entgegen unserer Verabredung – um zu sehen, wie es mir ging.

»Ich bin so müde – so lieb müde. – Du willst wohl mein Herzblut trinken?« meinte er. »Ich gehöre am Ende zu jenen, welche sterben, wenn sie lieben. Wie geht es dir?«

»Danke, es geht mir ganz gut.«

Meine Stimme hatte wohl einen etwas kühlen Klang, vielleicht unter den Gedanken an all die äußeren Schwierigkeiten, die sich für die nächste Zukunft auftürmen.

»Warum empfängst du mich so kühl?« fragte er besorgt. »Habe ich dich sonst noch mit einem Wort verletzt, ohne daß ich es weiß? Ich habe dir die dummen Geschichten nur erzählt, weil ich denke, du kannst ruhig alles wissen – aber wir haben uns selbst das Glück der Stunde dadurch gestört. Verzeih mir –«

»Nein, nein, ich mache dir keinen Vorwurf; ich hätte dich ja zurückhalten können.«

Ich streichelte seine Hände: »Ich muß viel pädagogischer werden, wenn ich erst alles weiß, was dir schädlich ist! Ich weiß ja jetzt erst, daß ich eine Aufgabe bekommen habe!

Aber warum bist du überhaupt heute gekommen? Du solltest doch am Rembrandt arbeiten?«

»Ach, so – aus Langeweile! Ich mache mir Sorgen um deine Zukunft, – wie es auch für dich ein Glück wird! Ich habe alles an dir – das sinnliche Erlebnis mit dir gibt mir so alles – es ist für mich eine ganz neue Erfahrung. Und dann ist es wieder das Geistige, deine Persönlichkeit, die mich zu dir hinzieht. Aber ich sehe noch gar nicht, wie ich dir helfen kann!«

»Wir helfen einander!« tröstete ich und erzählte ihm von meiner Sorge, wie die Eltern meinen Gesinnungswechsel aufnehmen würden.

»Gib mir Nachricht, sobald du von deinem Vater hörst«, bat er, als er ging und mich zärtlich müde auf den Mund küßte: »Lebwohl, Jungchen!«

Übrigens gab es eine kleine Differenz dadurch, daß ich darauf bestand, ihm das Geld zurückzugeben, das er neulich bei einer gemeinsamen Mahlzeit in der Weinstube ausgelegt hat.

»Ich achte deine Selbständigkeit,« sagte er ein wenig verletzt, »aber du mußt sie mich nicht so bitter empfinden lassen. Weißt du nicht, daß das wie Mangel an Vertrauen wirkt? Als könnte ich dich einmal verlassen, und dann willst du nichts von mir genommen haben.«

»Sei mir nicht böse deswegen,« bat ich, »aber ich könnte es nicht anders ertragen. Ich brauche in unserer schweren Situation das absolute Bewußtsein der Unabhängigkeit und Freiheit, gerade auch dir gegenüber!«

16. März.

Es geht wunderlich mit uns: wenn ich einmal bedrückt bin. ist er mutiger. Und wenn er gerade einmal sehr leidet, bin ich voll Hoffnung.

Ich habe die Tage mit Wohnungsuchen zugebracht; die Wohnung soll nicht zu weit von der Universität liegen, damit er schnell auf eine Stunde zu mir heraufkommen kann. Ich habe eine gefunden, die freien Ausblick auf den Englischen Garten hat. Den Eltern schrieb ich, ich hätte jetzt gerade einen mich sehr lockenden Porträtauftrag, und Lilli könnte mich auch noch nicht entbehren. Ich wolle daneben Mal- und Zeichenstunden an einer Schule geben – um mich zu erhalten. Etwas, wovor mir mein ganzes Leben gegraut hat. Alles um seinetwillen – um dieser selig-unseligen Liebe willen!

Robert und ich haben uns vorgestern ein Stündchen gesehen – es war gut, daß ich ihn trösten konnte. Er hatte Nachricht von Agathe, die ihn in diesen Wochen zu sehen hofft – er ist ganz verzweifelt bei diesem Gedanken: »Ein Zusammentreffen mit ihr in dieser Zeit!« Ich wurde sehr traurig: »Ich habe immer gedacht, du würdest weicher gegen sie sein können, wenn du mich hättest! Ich darf dich doch ihr nicht ganz nehmen!« –

»Ja, wenn ich's leichter nehmen könnte! Ich kann ihr weniger geben, als ich für sie fühle, weil ich ihr das nicht geben kann, was ich für sie fühle! War schon je ein Mensch in einer so verzweifelten Lage? Ich habe solche Herzschmerzen, daß ich kaum atmen kann! Und dabei kommt der Frühling!«

»Und ich habe soviel Mut, ich lache die ganze Welt aus.«

»Hast du wirklich Mut? Zwei Verzweifelte – das wäre auch zuviel! Aber wenn ich nun erst mit dir zusammen die Hochzeitsreise gemacht habe, dann mag ich hernach gar nicht mehr ohne dich sein. Ich bin ganz alt geworden in diesen Tagen.«

»Soll ich nicht doch lieber nach Paris gehen?« fragte ich wieder. » Noch ist es ja möglich – und wenn unsere Liebe dich so unglücklich macht?« –

»Nicht unsere Liebe – aber daß sie sich nicht voll und rein durchsetzen läßt. – Hast du überhaupt eine Ahnung, wie lieb ich dich habe? Es ist nur gut, wenn du es nicht weißt – dann bist du vor Enttäuschungen sicher! Nein, nein, fortgehen sollst du nicht – dann kann ich gar nicht mehr, wenn ich auf alles Glück habe verzichten müssen.«

»Aber du redest wie ein Siebziger – und das Leben liegt doch noch vor dir! – Schreibe Agathe sehr liebevoll – und versprich, daß du nach Ostern auf zehn Tage kommen wirst«, bat ich.

Er lachte bitter: »Du weißt nicht, was das heißt. Seit ich deinen lieben Leib gehabt habe, ist von sinnlicher Liebe für sie gar nichts mehr übrig. Es ist vielleicht grausam, daß man für eine so hagere Gestalt nicht so empfinden kann. Aber wann werden wir uns nun sehen und haben?«

»Auf der Osterreise!«

»Aber das ist ja noch so schrecklich lang!« –

»Ja – es ist lang –, aber wenn wir erst eine Wohnung haben, dann kommst du zu mir.« –

Karfreitag, den 23. März.

Es war so schwer, diese letzten acht Tage seine leidenschaftliche Ungeduld zu meistern – ich lebte viel mehr als er in der Vorfreude auf unsere Reise. Hedwig sei ganz entzückt von mir, behauptete er – sie habe mich sehr lieb gewonnen. Ich mußte den Sonntag gleich wieder da sein. – Es war ein milder Frühlingsabend; ich ging träumerisch zu Fuß und kam mit einer Verspätung. Er empfing mich im Korridor. »Ich komme etwas später«, entschuldigte ich mich.

»Und das wagst du mir so zu sagen!« sagte er mit heißem Vorwurf. »Wie habe ich gewartet!«

Ich zürnte fast, daß er es nicht unterlassen konnte, mich heftig an sich zu ziehen. – Wenn jetzt Hedwig, wo sie eben beginnt, mich kennen und verstehen zu lernen, von unserer Liebe erführe, würde die Lage nur noch verworrener werden.

Wir hatten verabredet, daß er nach Tisch in seinem Studierzimmer bei seiner Arbeit bleiben sollte – Hedwig und ich wollten uns unterhalten. Aber Sehnsucht und Unruhe trieben ihn doch immer wieder zu uns hinein.

Das schmerzhafte Geheimnis vor ihr drückt mich. – Aber ich muß ja schon froh sein, daß wir Vertrauen zueinander gewinnen. –

Und dann der Heimweg, der quälend süße Heimweg in der Nacht, auf dem er mich begleitet und mich nicht lassen will, wo seine sehnsüchtigen Zärtlichkeiten auch in mir alles aufwühlen – wo ich ihn von der Unmöglichkeit, seine Sehnsucht zu stillen, nur so schwer überzeugen kann – und selbst mit brennendem Herzen an seiner Seite wandere, während wieder alle Verzweiflung der Liebe und Sehnsucht aus ihm hervorbricht: er will mit mir leben, Kinder mit mir haben – mich ganz, mich schrankenlos besitzen. Und ich muß nun fest geloben, daß ich mit ihm reisen will.

Robert begleitete mich zu Fuß nach Hause, duldete nicht, daß ich fuhr – keine Minute wollte er sich von mir trennen. In einer der dunklen Alleen verließ ihn die Beherrschung: seine Arme ergriffen mich und hoben mich hoch in die Luft – ich hatte nie so seine elementare Kraft gefühlt wie in diesem Augenblick. Es rann wie flüssiges Feuer durch meinen ganzen Körper. »Auf morgen, acht Uhr!«


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