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XII.

Es war ein unglücklicher Sommer gewesen. Monatelang hatte es fast ununterbrochen geregnet. Die Heu- und die Grummeternte waren verdorben, und Korn und Weizen am Halm verfault.

Die den Weststürmen ganz besonders ausgesetzte Gegend von Walportshausen war von den Unwettern am härtesten betroffen worden. Nun kam der Herbst, und mit erneuter Gewalt setzte der Regen ein. Unermüdlich Tag und Nacht schüttete der Himmel seine Wasser über das Städtchen und dessen Gefilde. Selbst die Bittprozessionen der katholischen Geistlichkeit hatten nichts genutzt. Das ganze Land glich einem See. Von allen Strömen wurde Hochwasser gemeldet, Überschwemmungen allüberall, Wasser, nichts als Wasser, das immer noch im Steigen begriffen war.

Seliger war der Verzweiflung nahe. Nur mit Mühe konnten die Wagen der Kleinbahn verkehren, an jedem Tage gab es neue Reparaturen an dem Bahndamme, den das Wasser zu unterwaschen drohte. Kein Mensch kam mehr aus der Stadt, höchstens hie und da einmal ein Neugieriger, der es riskierte, der sich den »See von Walportshausen« einmal ansehen wollte.

Die zu Hunderten einlaufenden Bestellungen auf das neue Dungmittel, das sich so glänzend eingeführt hatte, konnten kaum zur Hälfte ausgeführt werden. Es war zum Rasendwerden. Wenn es noch eine Weile so weiter ging, dann mußte man die Arbeit auf den Werken einstellen. Und es regnete weiter.

Die Ingenieure hegten ernste Befürchtungen. Unter Seligers Leitung hatte die Ausbeutung des Bodens unerhörte Dimensionen angenommen. Es war, als hätten Milliarden von Maulwürfen das ganze Erdreich unterminiert, und wenn es so weiter ging, wenn der Himmel kein Einsehen hatte, dann hielten die unterirdischen Bauten der Gewalt der Wasser nicht mehr stand.

An jedem neuen Morgen machten die technischen Leiter der Werke ihren Chef auf diese furchtbare und in nächster Zukunft drohende Gefahr aufmerksam. Er wollte von nichts hören, er verschloß sein Ohr. Die Bestellungen lagen vor, sie mußten unter allen Umständen effektuiert werden, das war sein einziger Bescheid, denn die Anteilscheine der Kaliwerke zeichneten jetzt an der Börse 716.

Aber schon ganz langsam trat die gefürchtete Reaktion ein. Die Gefahr, in der die Kaliwerke schwebten, konnte auf die Dauer der Öffentlichkeit nicht verborgen bleiben, mit welcher Anstrengung auch Seliger die Arbeiten über und unter der Erde aufrecht erhielt. Die Zeitungen berichteten von dem Hochwasser, von den Überschwemmungen in der Nähe von Walportshausen. Vierzehn Tage lang hielten die Scheine ihren Kurs. Dann begannen sie rascher und rascher zu fallen, in einer einzigen Woche um einhundertundsiebzehn Prozent.

Erneute, verzweifelte Anstrengungen. Der vorsichtigste unter den Ingenieuren wurde kurzerhand von Seliger entlassen, einen solchen Hasenfuß könne er in seinem großen Betriebe nicht brauchen, sagte er. An seine Stelle als Leiter des gesamten technischen Betriebes trat ein Amerikaner, der das Menschenunmögliche möglich zu machen versprach.

Tag und Nacht wurde gearbeitet. Die Schichten wurden verdoppelt. Neue Dampfpumpen wurden eingestellt. Wahre Ungetüme, die die Aufgabe hatten, das allem Vernichtung drohende Wasser an das Licht des Tages und aus den Stollen herauszubefördern.

Schon seit einer Woche zahlte Seliger doppelten Lohn. Es war kein Leben mehr, keine Arbeit, es war ein unausgesetztes Ringen mit dem Tode, eine Schinderei. Bis an die Hüften standen die Leute unter der Erde im Wasser und brachen die Salzkristalle aus den höher gelegenen Partien aus.

Wenn einer zwei Stunden in dem kaum fünf Grad warmen Wasser gearbeitet hatte, mußte er abgelöst werden.

Und immer neue Kräfte schaffte Seliger heran. Die Bestellungen mußten ausgeführt werden, die Anteilscheine durften nicht tiefer fallen. Manchmal kam es vor, daß die Leute sich nach zweistündiger Arbeit kaum mehr nach Hause schleppen konnten, ihre Beine waren erstarrt, und die Frauen bereiteten warme Tücher, um die erfrorenen Gliedmaßen ins Leben zurückzurufen. Aber die Familien mußten leben, und eine andere Arbeit gab es nicht.

Und in Walportshausen und den umliegenden Dörfern, die alle ihre kräftige Jugend in die Kaliwerke sandten, begann sich leise der Aufruhr gegen Seliger und sein Ausbeutesystem zu regen. Leute aus der Stadt waren gekommen. Sie hatten des Abends in den Wirtschaften Brandreden gegen diesen jüdischen Unternehmer gehalten, der in wenigen Jahren die ganze Bevölkerung zu seinen Sklaven gemacht habe. Harte Worte wurden gegen ihn laut. Den man einst den Vater des Vaterlandes genannt hatte, schimpfte man jetzt einen Halsabschneider und Mörder, der ganze Familien an das Messer liefern würde.

Die Empörung wuchs, als in der Tat zwei mit Familie reich gesegnete Arbeiter einer Erkältung erlagen, die sie sich in dem Wasser unter der Erde zugezogen hatten.

Aber Seliger war klug. Er bewilligte den Witwen eine lebenslängliche kleine Rente und man pries ihn wieder als einen edlen Mann.

Und unweit der Villa Berg, an der Lehne, der sogenannten Magdalenenhöhe, grub man einen neuen Schacht. Auf Seligers Drängen hatte der leichtsinnige Amerikaner das waghalsige Werk trotz aller Warnungen unternommen. Denn Millionen von Kubikmetern Kali mußten unter der Erdrinde der Magdalenenhöhe lagern, und diese Schätze sollten nach Seligers festem Willen erschlossen werden.

Der Vorgänger des Amerikaners hatte sich immer geweigert, auch nur mit einem Spatenstiche an die Magdalenenhöhe zu rühren. Sie sei ein natürliches Bollwerk und halte das ganze Gelände zusammen, hatte er behauptet.

Nun wühlten seit Wochen Hunderte von Italienern in dem Leib des Berges, der wie ein schützender Wachtposten Walportshausen und die Kaliwerke nach Westen abschloß. Schon viele tausend Jahre hatte er den Wettern stand gehalten, die, von Westen kommend, über seinen tannenbedeckten Scheitel einhergezogen waren.

Und in dem Schoße des Alten arbeiteten die Menschen. Der neue Schacht, den man jetzt grub, führte viele Meter tief unter die Erde in das Innere des Berges. Er sollte in einen neuen kilometerlangen Stollen münden, dessen Wände nach den Aussagen des Ingenieurs von porösem und kalihaltigem Gesteine gebildet werden mußten. Entsprang doch in einer Entfernung von nur wenigen Kilometern eine gewaltige Sole, deren chemische Untersuchung einen Salzgehalt von vierundzwanzig Prozent ergeben hatte.

Den Edithstollen wollte Seliger diese neue Anzapfung des Schätze bergenden Gebirges nennen, zum Andenken an seine früh vollendete Tochter, wie er sich ausdrückte.

Es war ein Freitagmorgen gegen acht Uhr, und es regnete wieder in Strömen. Um sechs Uhr hatte die erste Frühschicht in den Stollen begonnen, die in dem Wasser arbeitenden Mannschaften sollten gerade abgelöst werden. Seit einigen Tagen schon hatte der Amerikaner voll Entsetzen bemerkt, daß die große Sole an der Magdalenenhöhe von Stunde zu Stunde spärlicher floß. Gestern abend war sie plötzlich ganz ausgeblieben. Die gewaltige Quelle, die stündlich Tausende von Kubikmetern salzigen Wassers zutage förderte, mußte sich einen anderen Weg gebahnt haben, sie war abgelenkt worden, sie war verschwunden im Inneren des Berges, wie der Ingenieur in Gedanken voll Furcht und Schrecken feststellte.

Noch am Abend erstattete er Seliger Bericht. »Es wird weiter gearbeitet,« entschied der Gewaltige. Und mit einem »Goddam« wandte sich der verantwortliche technische Leiter von seinem Brotherrn und ließ die Italiener weiter wühlen. Zwei Stunden hatte man am Freitag morgen noch gegraben. Da trat die Katastrophe ein; Sekunden dauernd, den Bruchteil einer Minute, und dennoch furchtbar.

Seliger saß gerade in dem Direktionsbureau der Werke und ordnete die neuen Bestellungen, die an diesem Morgen besonders zahlreich eingelaufen waren. Es war wie ein Erdbeben. Die Fenster klirrten, das Haus wankte drei, vier Sekunden lang. Seliger sprang auf, an das Fenster, von dem aus er einen Überblick über die ganze Gegend hatte. Kein Zweifel, der Berg war in Bewegung, die Magdalenenhöhe war eingestürzt. Eine gewaltige Wolke von Schmutz und Staub benahm ihm jede Aussicht. Es dauerte Minuten, bis sich diese verzogen hatte, dann sah er einen mächtigen, über armdicken Sprudel, der viele Meter hoch wie ein Springbrunnen hinauf in den wolkigen Himmel drang, und drunten am Fuße des Berges einen wüsten Erdhügel von Schutt und Geröll, der Teil des Berges, den die ausbrechenden Wasser mit sich gerissen hatten.

Keines klaren Gedankens mehr mächtig, stürzte er hinaus. Wohin er sah, bleiche, fassungslose Gesichter, Menschen, die den Kopf verloren hatten, die nicht wußten, wo sie eingreifen, was sie anfangen sollten! Das gab ihm momentan die Besinnung wieder. Wenn alle so durcheinanderrannten, wenn nicht er wenigstens, er allein, seine Geistesgegenwart bewahrte, dann konnte das Furchtbare von Minute zu Minute größere Dimensionen annehmen.

Er faßte sich den ersten, dessen er habhaft werden konnte.

»Ein Unglück,« stammelte er, »ein Bergsturz an der Magdalenenhöhe im Edithstollen. Melden Sie das nach Walportshausen, telegraphieren Sie in die Stadt, um die Feuerwehren, um Rettungsmannschaften, um eine Kompagnie Militär!«

Der Unglückliche, der nicht wußte, welchen Auftrages er sich zuerst entledigen sollte, brauchte nichts zu melden. Das donnernde Getöse des Bergsturzes hatte man viele Kilometer weit gehört. Schon kündeten die Glocken von Walportshausen, daß etwas Furchtbares passiert sein mußte. Ihr klagender Ton mischte sich in das helle Klingen der Alarmglocke, die drunten am ersten Sudhause zum Zusammenrufen der Arbeiter geläutet wurde. Die sonore Stimme der großen Glocke von der Walportshausener Katharinenkathedrale machte den Anfang, dazwischen klang das helle Gebimmel des kleinen Glöckleins von dem Turme des fürstlichen Schlosses, Und endlich mischte sich der verstimmte Ton von der katholischen Stadtkirche Sankt Lorenz, die schon lange eine zersprungene Glocke hatte, drein. Und über die Felder, durch die weiche Regenluft trug der Wind die Stimmen der Glocken von Feldkirch und Weilingen, von Oberndorf und Niederthalheim, deren Wehren und Bürger zur Hilfe herbeigerufen werden sollten.

Im Verlaufe von einer knappen Viertelstunde hatte sich ganz Walportshausen auf dem Gelände der Kaliwerke versammelt. Es war unmöglich, Ordnung zu halten, bevor die Polizei und das Militär aus der Stadt eingetroffen waren. Alles schrie durcheinander, einer lief dem andern in den Weg. Heulende Weiber, die nach ihren Männern fragten, weinende Mütter, die ihre Söhne suchten, wimmernde Mädchen und schreiende Kinder, die dem Rettungswerke, das doch endlich beginnen sollte, nur im Wege standen!

»Nach dem Heribertstollen!« schrien die einen, »nach dem Isabellaschacht!« die andern.

Gruppen lösten sich aus der Masse, sie drängten den Rufern, die die Richtung nach den genannten Stellen einschlugen, nach.

Um halb neun Uhr fuhr die erste Schicht der um sechs Uhr in den Stollen hinabgelassenen Mannschaften unversehrt ans Tageslicht, von einem Triumphgeheul begrüßt. Die Vorarbeiter und Aufseher schafften endlich Ordnung. Rettungskolonnen wurden zusammengestellt, die sofort zur Hilfeleistung hinabgelassen werden sollten.

Die aus den Stollen Zurückgekehrten erzählten, daß man bei ihnen unter der Erde nur ein dumpfes Rollen gehört habe, daß aber ein weiteres Einfahren in die Schächte äußerst gefahrdrohend sei. Das Wasser sei ihnen heute bis über den Leib gestiegen, bis an die Brustwarzen, behauptete ein besonders vorlauter Bursche.

»Marsch nach dem Edithstollen!« kommandierte der Oberaufseher.

Ein Zittern durchlief die Reihen der Rettungskolonnen. Nach dem Edithstollen, das bedeutete den Tod. Wer konnte wissen, was der Berg, der sich einmal bewegt hatte, noch alles im Schilde führte; wer hatte eine Ahnung, wie hoch das Wasser in dem unglücklichen Loche, das an diesem Morgen zweihundertundvierzig Italiener in seinen Schoß aufgenommen, gestiegen sei?

Aber an Disziplin gewöhnt, folgten sie dem Führer. Seliger selber schloß sich dem Zuge an.

Wie durch ein Wunder war die Einfahrt in den Edithstollen unversehrt geblieben. Seliger atmete auf. Noch war nicht alles verloren, noch war daran zu denken, daß man die dritthalbhundert Menschen, die hier eingefahren waren, retten konnte.

Der Heribertstollen war leer, der Isabellaschacht war geräumt, Menschen standen genug zur Verfügung.

Alles drängte nun nach der Magdalenenhöhe. Auch die Einwohner der Villa Berg, Klotilde an der Spitze, waren eingetroffen, an Seligers Seite stand Heribert XXIII., der soeben mit seinem Wagen von der Residenz gekommen war. Zweihundertundvierzig Italiener steckten unter der Erde.

Man rief, man schrie in den Schacht, keine Antwort. Die Beherztesten umstanden den Korb, der nun hinabgelassen werden sollte. Heribert selber sprach jedem einzelnen Manne Mut zu, Seliger klopfte seine Leute auf die Schulter: »Voran, Kinder, in Gottes Namen voran!«

Der Korb fuhr in die Tiefe.

Fünf, zehn, fünfzehn Minuten langes, banges Warten. Kein Glockenzeichen, nichts, keine Antwort von den mutigen Männern, die die schwarze Erde verschlungen.

Atemlos verharrte die Menge. Kein Wort wurde gewechselt. Tausende von Augen starrten auf das schwarze Loch, das in die Tiefe des Berges führte.

Nun waren es zwanzig Minuten, nun eine halbe Stunde, daß die Rettungsmannschaften verschwunden waren, und immer noch kein Lebenszeichen. Da endlich ertönte die Glocke. In Fieberhast rissen die Männer den Förderkorb in die Höhe.

»Das Wasser reicht bis in den Schacht, wir konnten nicht bis in den Stollen vordringen,« lautete der trostlose Bescheid.

Wenn sich die Italiener nicht auf hoher gelegene Teile des Berginnern gerettet hatten, dann mußten sie alle ertrunken sein, ersoffen, wie diese Leute sagten, wie die jungen Katzen im Mühlbach.

Da rasselten die Feuerwehren von Walportshausen und Feldkirch heran. Eine Viertelstunde später kamen die von Weilingen und Oberndorf, endlich die von Niederthalheim. Auch sie konnten nicht helfen.

Ein zweiter, ein dritter Korb mit Rettungsmannschaften kehrte mit demselben Bescheide zurück. »Das Wasser reicht bis in den Schacht, wir können nicht in den Stollen vordringen!«

Da blitzten Helme auf. Die Soldaten aus der Stadt, dann die Tiefbauarbeiter, die man entsandt hatte, und endlich auch die Polizei.

Der Edithstollen wurde abgesperrt, Weiber und Kinder, Neugierige, alles, was man nicht nötig hatte, zurückgetrieben. Der die Kompagnie führende Hauptmann traf seine Anordnungen. Heldenmütig fuhren die ersten zwanzig Mann unter der persönlichen Führung des Offiziers in den Schacht!

Vergeblich! »Das Wasser steht einen Meter hoch im Schacht. Wir können nicht vordringen,« meldeten die Zeichen an dem Stollenmundloch. Vergeblich!

Da hielt es Seliger nicht länger.

»Die Italiener können nicht alle ertrunken sein. Die Leute müssen gerettet werden,« schrie er. »Dreihundert Mark für einen jeden, den man mir lebend aus der Erde zieht!«

Das half. Freiwillige meldeten sich. Mit einem lauten »Glück auf!« fuhren sie hinab.

Nach einer Viertelstunde kamen sie zurück, totenblaß, schlotternd, wankend, daß es einen Stein erbarmen konnte. Die Wasser in dem Schachte hatten sich wie durch ein Wunder plötzlich in das Innere der Erde zurückgezogen. Am Eingang des Stollens waren sie auf die ersten Leichen gestoßen. Einen hatten sie aufgefischt, einen dicken, lustigen Piemonteser, den alle Leute kannten, er war aufgeschwemmt wie ein toter Frosch, und die Zunge hing ihm aus dem Halse.

Ein Beben lief durch die Menge. Wie der aussah, scheußlich, und über zweihundert waren noch unter der Erde!

»Voran,« schrie Seliger wie im Wahnsinn, »voran, fünfhundert Mark für jeden, den man mir lebend ans Licht zieht!«

Wieder schnarrte das Seil, und hinab fuhr der Korb. Nach zehn Minuten ertönte das Klingelzeichen: »Auffahren!«

Der Korb war schwer. Ein Grausen erfaßte die Menge, als sich sein Inhalt dem Tageslichte zeigte.

Drei, vier, fünf, sechs, zwölf, einundzwanzig Leichen betteten die Soldaten in das nasse Gras.

»Voran, voran, in das Innere des Stollens, dort müssen die Leute noch am Leben sein!« schrie Seliger.

Entsetzen hatte ihn gepackt. Er dachte an das Goddam des Amerikaners, der ebenfalls drunten im Stollen war, und daran, daß sein wahnsinniger Befehl, die Arbeiten trotz der rechtzeitig warnenden Quelle fortzusetzen, dritthalbhundert Menschen das Leben gekostet haben könnte.

Er war außer sich. Leichen und nichts als Leichen, was diese Menschen da an das Tageslicht beförderten. Schon wieder ein ganzer Korb voll, dreizehn, siebzehn, und doch mußten noch Lebende in dem Innern der Magdalenenhöhe sein. Es mußten noch Lebende dort sein, es war ja nicht auszudenken, zweihundertundvierzig Menschen, mit ihren Familien ein ganzes Dorf voll, die er mit einem Worte seines Mundes in den Tod getrieben haben sollte. Das konnte, das durfte nicht sein!

»Dringt in das Innere des Stollens vor,« schrie er, »voran, weiter, weiter in das Innere, wohin sich die Lebenden geflüchtet haben! Weiter, weiter! Und wenn es ein Vermögen kosten sollte! Ich zahle tausend Mark für jeden, den ihr noch lebend bringt!«

Aber die Rettungsmannschaften und die Soldaten verharrten in teilnahmslosem Schweigen. Sie hatten zu viel schon des Grausigen gesehen, mit ihren Händen zu viel Leichen gepackt, an zu viel Tote mit den Füßen und den Beinen gestoßen, als daß sie noch Sinn für Geld und Geldeswert gehabt hätten.

»Und wenn ihr sie schwimmend erreichen, müßt,« beharrte Seliger. »Es sind noch Lebende in dem Berg, es müssen noch Lebende in dem Berge sein!«

Und niemand regte sich.

Da griff er in seiner Todesangst, gemartert von fürchterlichen Gewissensbissen, zu einem letzten, verzweifelten Mittel.

»Gebt mir ein Licht, ich fahre selbst mit hinab, wir müssen sie retten, wer folgt mir?«

Vor allen Leuten warf sich ihm Klotilde an den Hals.

»Bleib,« jammerte sie, »bleib, du kannst ihnen nicht helfen.«

Aber er schüttelte sie von sich ab und sprang in den Korb. »Voran,« befahl er, »in das Innere des Stollens, wohin sich die Lebenden geflüchtet haben, voran!«

Vier todesmutige Männer folgten ihm, durch die Wasser, das Grubenlicht am Gurte, die furchtbare Wanderung in das Innere des Berges anzutreten.

Das Seil schnarrte, der Korb fuhr hinab.

Eisige Kälte, Moderluft, Dünste der salzigen Wasser umgaben ihn. In wenigen Sekunden war man viele Meter tief unter der Erde. Man stand bis an die Hüften im Wasser. Und »voran,« rief Seliger, »voran,« die Führung übernehmend.

»Weeling, Weeling,« schrie er mit lauter Stimme, »Weeling I«

Das war der Name des Amerikaners, der heute morgen mit den Italienern in das Berginnere vorgedrungen sein mußte. Auf dem glitschigen Grunde ging es vorsichtig bergeinwärts. Leichen schwammen auf dem Wasser, er achtete ihrer nicht. Die Lebenden, die Lebenden wollte er finden. Und in dem unsteten Lichte der in dem Gurt der Männer befestigten Lampen gewahrte er an den Wänden, die die Hacken der Italiener geschlagen, die glitzernden Salzkristalle. Weeling hatte recht. Eine Million Kubikmeter Kalisalze mußten noch unter der Magdalenenhöhe lagern.

»Weeling, Weeling!« schrie er wieder. Keine Antwort. Nur das an den Wänden rollende Echo gab seine eigene Stimme hohl und grausig zurück.

Sie waren an einer Biegung des Stollens angelangt, dessen Sohle sich mit einem Male beträchtlich hob.

»Voran,« rief er wieder, »hinauf, nach oben können die Wasser nicht gedrungen sein!«

Seine Leute waren ihm dicht auf den Fersen, er fühlte es. Aber plötzlich war es ihm, als versänke der Boden unter seinen Füßen. Mit beiden Händen tastete er in den Lüften und ergriff, als sei ein Wunder des Himmels geschehen, eine eiserne Stange, die die Italiener gerade an dieser Stelle in dem Gestein des Berges befestigt hatten.

Eine gewaltige Sturzwelle brach in diesem Momente aus dem Innern des Stollens hervor, als sei es der Sprudel, der sich hier im Berginnern einen neuen Weg geschaffen haben mochte.

Er hing mit den Händen an der Eisenstange, wie an einem Reck, und er sah, wie sich die Wasser einem Falle gleich aus dem Innern des Stollens ergossen. Wie das ungeheure Rohr einer Leitung, das geplatzt war, sah es in dem matten Scheine der Grubenlampe aus, wie eine am Leibe eines Menschen gerissene Arterie, aus der sich das Blut ergießt. Es war das Lebensblut des Berges, das er diesem hatte entreißen wollen.

Noch immer hing er an der Stange. Mit aller Anstrengung arbeitete er sich empor, und endlich fanden seine Füße einen kleinen, kaum einen Viertelmeter hervorspringenden Rand an dem Felsen, wo er festen Stand zu fassen vermochte.

Nun schwebte er über den Wassern, deren Gischt jetzt zu seinen Füßen rauschte und brauste, wie weiße Milch, und donnernd, furchtbar widerhallend in den Tiefen der Erde verschwand.

Und erst jetzt dachte er seiner Begleiter. Sie waren nicht mehr zu sehen. Er schrie, er heulte, er rief. Er nannte ihre Namen mit lauter Stimme, einen nach dem anderen, deutlich, vernehmbar selbst über den gurgelnden Wassern der Tiefe, zehnmal, vierzigmal, hundertmal, bis sich seine Stimme erschöpft hatte. Keine Antwort, keine Regung, als das furchtbare Brausen und Kochen des Strudels da drunten, der sich durch den Edithstollen den Weg in die Tiefe gebahnt hatte.

Der mußte sie mit sich fortgerissen, der mußte sie alle vier verschlungen haben.

Entsetzen packte ihn. Er wurde sich seiner Lage bewußt. Wenn die Kraft seiner Arme versagte, wenn man nicht bald kam, ihn zu befreien, wenn ihn ein Schwindel packte, dann stürzte auch er hinab in den tosenden Strudel, der die anderen tief in das Herz des beleidigten Berges hinabgerissen hatte.

»Der Berg ist heilig,« hatte der von ihm entlassene Ingenieur gesagt, »den berühre ich nicht, er ist der Wächter der Gegend!«

Fieberschauer schüttelten seinen Körper. Wenn man nicht bald kam, dann war er verloren.

Und wie sollte man kommen, auf welchem Wege, da die rasenden Wasser über die Sohle des Stollens rauschten?

Seine Hände begannen zu schmerzen. Wenn er die Stange fahren ließ, dann war es vorbei. Trotz der eisigen Kälte, die das tosende Salzwasser um ihn verbreitete, trat ihm der Schweiß auf die Stirn. Er schob den Arm in die Stange, gottlob der Raum reichte gerade, vorsichtig einmal den linken und einmal den rechten und hielt sich so im Ellenbogengelenk.

Dann rieb er seine Hände. Sie waren am Erstarren gewesen. Wie lange war er hier, wie lange sollte es dauern?

Seine Taschenuhr konnte er erreichen. Wann war er eingefahren, genau wußte er es nicht. Aber so gegen Mittag mochte es gewesen sein. Die Uhr zeigte halb vier. War er denn schon so lange in dem furchtbaren Berg? War denn das möglich, hatte seine Todesangst der schleichenden Zeit Flügel verliehen, sie, die sonst Minuten in Stunden auseinander zerrt?

Da faßte ihn eine neue Angst. Es war Herbst. In zwei Stunden würde die Nacht hereinbrechen und man würde das Rettungswerk am Ende abbrechen müssen.

Freilich man wußte ja, daß er hier unten war, man würde das Menschenmögliche leisten, tröstete er sich.

Die Zeit verrann. Seine Hände drohten alle Kraft zu verlieren, seine Füße vermochten kaum mehr auf dem schmalen Felsvorsprunge auszuhalten, der doch seine einzige Rettung war.

Wenn ihn seine Kräfte verließen, wenn ihn der Schlaf oder eine Ohnmacht übermannten, dann, dann!!

Er verschloß sich vor dem grausigen Schlüsse seiner Gedankenreihe. Er hatte die Lebenden im Inneren des Berges vergessen, er dachte nur noch an sich selbst.

Wenn man nicht kam, wenn man zu spät kommen würde!

Und plötzlich verlöschte das Licht, das er wie ein Bergmann in einem Gurt um seine Hüften trug. Schwarzes Dunkel, schaurige Kälte, nur das Brausen und Zischen des Strudels zu seinen Füßen, der jetzt in dem Dünkel der Nacht zu einem Katarakte anzuschwellen schien.

Er wollte schreien, aber ein furchtbares Etwas schnürte ihm mit einem Male die Kehle zusammen, er konnte keinen anderen Gedanken fassen als den einen: »halte dich an der Stange, laß mit den Händen und Armen nicht locker, sonst bist du verloren!!«

Sechzehn Stunden sollte die Lampe eines Bergmanns brennen. Und die seinige war verlöscht. War sie frisch gefüllt gewesen oder nicht? War es wirklich schon so lang?

Vielleicht deshalb diese Schwäche. Er erinnerte sich plötzlich, in den Zeitungen von Bergleuten gelesen zu haben, die vier, fünf Tage in der Grube verschüttet gewesen und die der Meinung waren, daß es ebensoviel Stunden seien.

Hier hörte eben alles Maß auf, das Maß der Zeit und des Raumes, das der Qual und das der menschlichen Kraft.

Und plötzlich fiel ihm ein, daß er ja das Testament zugunsten Klotildes noch immer nicht unterzeichnet hatte. Er mußte heraus, er mußte gerettet werden, schon um Klotildes willen. Er rüttelte an der Eisenstange, die saß fest, Gott sei Dank!

»Nur nicht schlafen, hur nicht schlafen, nur nicht hinabstürzen,« klang es jetzt wieder in seinem Innern, denn wieder kamen die Schwäche, der Schlaf, die vernichtende Ohnmacht, die ihn packen wollten.

Und zuerst in dem Willen sich wach zu erhalten, wach und kräftig unter allen Umständen, begann er zu rechnen. Wieviel Kubikmeter Kali mochten wohl in diesem Edithstollen im Innern des Berges lagern? Waren es hunderttausend, waren es eine Million, waren es mehr? Es mußten; weit über eine Million sein, denn der Salzgehalt des Sprudels, der seit Jahren aus dem Innern des Berges kam, war unerschöpflich. Millionen lagerten in dem Berge, hundert, hundertundfünfzig Millionen, wenn man nicht nachgab, wenn man ihn auszubeuten verstand. Er rechnete, rechnete und rechnete.

Schon um die Gedanken zu verscheuchen, die fürchterlichen Gedanken an seine Lage, die ihm in jeder Minute den Tod bringen konnte, die quälenden Gewissensbisse, wenn hier über den Wassern, viele Meter unter der Erde, die Vergangenheit an ihm vorüberzog, all die Sünden seines Lebens, durch die er die Strafe des Himmels fast heraufbeschworen hatte. Hilde und Leo, Etelka und Edith, die Seinen, deren ganzes Dasein ein einziges Gewebe aus seiner Schuld und aus seinen Sünden war!

Und dann Klotilde, deren Jugend er gestohlen und an sich gerissen hatte!

Wieder rechnete er, wenn es nur hunderttausend Kubikmeter Kalisalze waren, nur an all das andere nicht denken, jetzt nicht denken, fuhr es durch seinen Kopf.

Und auf einmal faßte ihn ein tödlicher Schrecken. Was war das? Fühlte er nicht das spülende Wasser an seinen Sohlen, auf dem Felsen, der die Zeit über ganz trocken gewesen, war? Kein Zweifel, das Wasser stieg. War der Sprudel mit einem Male in der Tiefe auf ein Hindernis gestoßen? Fand er keinen Abfluß mehr? Das Wasser stieg! Er würde ertrinken wie ein Hund, wie die jungen Katzen im Mühlbach, wie die Leute gesagt hatten! Minuten, Stunden, Tage konnte es dauern, bis das steigende Wasser seinen Mund erreicht hatte, bis es ihm die rettende Eisenstange aus den Händen zwang!

Er lauschte dem Gurgeln drunten in der Tiefe, er hörte, wie es matter und matter wurde, wie das Rauschen und Brausen sich in ein Murren und Raunen verwandelt hatte. Das Wasser stieg. Es überspülte das Leder seiner Stiefel, es drang eiskalt und feuchtend in seine Strümpfe ein. Wie lange konnte es noch dauern, dann würde er bald bis an die Hüften, bis unter die Brust, bis an den Hals im Wasser stehen und dann!

Von der Dauer der Zeit hatte er jetzt keine Vorstellung mehr. Es konnten Stunden, es konnten auch Tage sein, daß er sich hier an die Eisenstange klammerte. Er hielt sich krampfhaft mit der Rechten und ließ die Linke los, um nach dem Wasser zu greifen, sich zu überzeugen. Seine Hand erreichte den Spiegel des Wassers. Es war ihm bis hoch über die Knie gestiegen und – – es stieg weiter.

Seine Gedanken gerieten in Verwirrung. Er wußte nicht mehr, wo er war. Aushalten, aushalten, die Stange nicht fahren lassen, das war das letzte, was ihm zum Bewußtsein kam. Das Wasser, das Wasser!

Und das Wasser stieg.

Er fühlte an der Brust und im Nacken die eisige Nässe. Wie über seinen Leib kriechende Schlangen, die ihn umwinden und vernichten wollten, leckte das Wasser an seinen Knien empor. Und er rührte sich nicht. Aushalten, die Stange nicht fahren lassen!

Da packte es ihn. Was es war, wußte er nicht. Das Wasser? Oder vielleicht die Rettungsmannschaften, die durch einen höhergelegenen, von der Überschwemmung freigebliebenen Seitenstollen glücklich den Weg zu ihm gefunden hatten?? Er empfand davon nichts mehr. Für Augenblicke entfloh ihm das Bewußtsein. Am Ende war das doch das Wasser, das ihn trotz allem mit sich in die Tiefe riß!

Er schloß die Augen, und seine Hand ließ die rettende Stange los.

Er konnte nicht mehr, mochte er fallen.

Eine Viertelstunde später lag er im hellen Sonnenlichte an dem Ausgang des Stollenmundloches. Den übermenschlichen Anstrengungen der Rettungsmannschaften war es geglückt, ihn nach achtundvierzigstündiger Arbeit zu finden und zu bergen. Zwei Tage hatte er, ohne daß er es wußte, auf dem Felsvorsprung über den Wassern gestanden und ausgehalten.

Halbtot hatte er stundenlang auf seinem Bette gelegen. Klotilde saß an seiner Seite. Nun öffnete er den Mund und in seligem Tone, der dem Mädchen das Blut in den Adern erschauern machte, kam es von seinen Lippen:

»Im Edithstollen lagern eine Million Kubikmeter Kalisalze, das sind siebzig Millionen Mark.«

*

In der jüdischen Irrenanstalt Ebenezer sitzt ein Mann, ein Unheilbarer, ein gebrochener Greis von noch nicht sechzig Jahren in schlohweißem Haar, und zählt Knöpfe, hunderte von glitzernden Knöpfen, die er für Goldstücke hält. Denn nur so ist er zu beruhigen.

Er addiert sie, multipliziert sie, erhebt sie ins Quadrat und ins Kubik.

Von Zeit zu Zeit fährt er auf. »Im Edithstollen lagern noch eine Million Kubikmeter Kalisalze,« schreit er dann mit jauchzender Stimme, »das sind siebzig Millionen Mark.«

Monate, Jahre kann es mit ihm noch so dauern, sagt der behandelnde Arzt, bis der erlösende Tod seinem Schauder erregenden Dasein ein Ende macht.

*

Und wieder feierte man das große Versöhnungsfest. Der »große Rabbi« in dem kleinen Marktflecken am Spessart ist ein alter Mann geworden. Er sitzt jetzt ganz allein in dem »Jiddehof«, aber noch immer predigt er mit unverminderter Kraft.

Es sind Klagelieder über sein Volk, die er anstimmt wie ein Prophet des Alten Bundes, und sie sind von erschütternder Gewalt:

»Stolz und schön war mein Bruder Juda, wie ein junger Löwe in den Wäldern des Gebirges, wie ein Füllen auf der Weide in seiner jungen Kraft.

Stärke gürtete seine Lenden, und Kraft wohnte in seinen Pranken.

Die Milde des Herrn leuchtete auf seinem Angesichte, und die Weisheit des Höchsten thronte auf seiner Stirn.

Da stieg er herab von den Höhen des Gebirges in die Niederungen des Tales und mischte sich mit den Töchtern eines fremden Volkes.

Wo bist du, mein Bruder Juda, ich kenne dich nicht mehr?

Es wich die Stärke aus deinen Lenden und die Kraft aus deinen Pranken, und du bist nicht mehr der junge Löwe, der in den Wäldern des Gebirges wohnt.«

So sprach der »große Rabbi«. Aber seine Stimme war schwach wie die Stimme eines Kindes. Sie verhallte auf dem weiten Wege in die große Stadt, und die Söhne und Töchter seines Volkes vernahmen sie nicht.

 

Ende.


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