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VII.

Der Termin für die Inangriffnahme des Bahnbaus Weilingen-Feldkirch-Walportshausen rückte näher und näher. Seliger befand sich in einer hochgradigen Erregung. Sein Versuch, die Konzession für die Führung der Trace durch den fürstlichen Wildpark mit Hilfe des Prinzen Trachenstein zu erlangen, hatte kläglich Schiffbruch gelitten, und die Konzession mußte erteilt werden, sonst traten die Geldgeber, die er nötig hatte, in der letzten Minute von der Finanzierung des großen Unternehmens zurück, und mit der Ausbeutung der bei Walportshausen entdeckten Kalilager war es für absehbare Zeit vorbei.

Der große Unternehmer, der sich in einem langen Leben des Erfolges daran gewöhnt hatte, jedes, auch das unübersteiglich erscheinende Hindernis mit einem verächtlichen Lächeln zur Seite zu schieben, er stand heute zum ersten Male vor einer faktischen Unmöglichkeit.

Zwingen konnte er den Fürsten nicht, die Erlaubnis zur Durchquerung seines Wildparkes durch die Bahn zu erteilen, die Geldleute zur Genehmigung der Mittel für den doppelten Tunnelbau zu gewinnen, war fast noch weniger möglich, nur ein Weg blieb offen. Durch irgendeine Vermittlung mußte die Konzession der fürstlichen Regierung auf geraden oder krummen Wegen erlangt werden.

Hierüber nachsinnend, saß er auch heute wieder auf seinem Bureau. Noch waren die Mitglieder des Aufsichtsrates der Kommerzbank der Meinung, daß es seinem festen Willen gelingen werde, die Konzession für die Bahn durchzusetzen. Und zwei Gestalten waren es, mit denen sich seine Phantasie, während er über die Mittel zur Erlangung dieser Konzession nachsann, fortdauernd beschäftigte: Dr. von Kutzleben und seine Tochter Etelka.

Er wußte genau, daß das Mädchen dem kalten und berechnenden Juristen, den nur die Protektion seines Vaters in die Verwaltung der Kommerzbank gebracht hatte, keinerlei Interesse entgegenbrachte, im Gegenteil, daß Etelka eine gewisse Antipathie gegen diesen zudringlichen Kutzleben empfand, das fühlte er. Und wenn er selber genau hinsah, dann konnte er das einem Mädchen wie Etelka nicht einmal übelnehmen.

Verwöhnt und im Luxus erzogen, hatte sie, seitdem sie denken konnte, noch jeden ihrer Wünsche erfüllt gesehen. Sie hätte schon sehr dumm sein müssen, wenn sie nicht ganz genau wußte, daß sie eine glänzende Partie war. Daß sie schön war, sagte ihr der Spiegel an jedem neuen Tage, und daß sie Eindruck auf die Männer machte, konnte sie ruhig aus dem Schwarm von Verehrern schließen, der sich an ihre Fersen heftete.

Und nun dieser Kutzleben! Er selber konnte ihn nicht leiden. Er, der sich für einen Selfmademan hielt, der das ihm allerdings durch einen glücklichen Zufall in die Hand gefallene Langsche Geschäft aus einer kleinen Privatbank zu einem Weltunternehmen emporgehoben hatte durch eigenen Fleiß und durch eigene Tatkraft, er selbst verachtete diesen Kutzleben, der sich an die Rockschöße seines Vaters, des in dem kleinen Fürstentume allmächtigen Ministerpräsidenten, gehängt hatte, und der nun durch eine reiche Partie vorankommen und ein maßgebender Faktor in der Leitung seiner Kommerzbank werden wollte.

Aber, aber! Allmächtig war der Vater dieses Mannes in der Verwaltung des kleinen Staates, um die sich der fast das ganze Jahr auf Reisen weilende Fürst so gut wie gar nicht kümmerte. Ein Federzug von dem alten Kutzleben, und die ganze Frage nach der Konzession war mit einem Schlage aus der Welt geschafft. Sie wurde einfach auf die Verantwortung des alten Kutzleben hin erteilt, und der Fürst setzte nachträglich bei einem gelegentlichen Aufenthalte in der Heimat seine Unterschrift darunter.

Schon mehrfach in den letzten Wochen, seitdem der Versuch mit dem Prinzen Trachenstein fehlgeschlagen, hatte Seliger bei Kutzleben auf diese Konzession angespielt. Er war so weit gegangen, ihm einen einflußreichen Posten in der Verwaltung der Kommerzbank und eine glänzende Gewinnbeteiligung in Aussicht zu stellen. Aber Kutzleben hatte die harten blauen Augen durchbohrend auf ihn gerichtet und mit einem verächtlichen Lächeln um die schmalen Lippen gesagt:

»Aber, Herr Seliger, solche Bemühungen sind doch von vornherein erfolglos. Seitdem ich weiß, wie sich Ihre Familie der unseren gegenüberstellt, ist es doch besser, wir gehen getrennte Wege und regen uns nicht über Dinge auf, deren Verwirklichung eben zu den Unmöglichkeiten gehört.«

Seliger hätte rasend werden können. Und von Tag zu Tag wurde die Sache dringlicher.

Manchmal war er drauf und dran, selber nach Walportshausen zu fahren und dem alten Kutzleben seine Bitte zu unterbreiten. Der Ministerpräsident lebte nicht schlecht und brauchte viel Geld. Am Ende war die Konzession für ein paar lumpige Hunderttausend zu haben. Aber wenn nicht? Wenn der Alte von dem Sohne wußte, daß es hier alles zu gewinnen und nichts zu verlieren galt? Dann hätte er sich durch eine offene Aussprache mit dem Minister erst recht die Wege verbaut, dann wäre am Ende die Erteilung der Konzession auch um den letzten Preis, auch um Etelkas Hand, unmöglich geworden.

Also galt es zu handeln, ohne Zaudern und ohne Rücksichtnahme. In Seligers Innerem reifte ein verzweifelter Entschluß. Der Bahnbau mußte begonnen werden. Die Konzession würde erteilt, hatte er damals in jener ersten Sitzung wider sein Wissen und seine Überzeugung ausgerufen. Die Konzession ist erteilt, hieß es nun mit einem Male in den Briefen, die er an die Interessenten versandte und die gestern aus den Räumen der Kommerzbank in alle Welt hinausgeflogen waren.

Mochte man mit ihm anfangen, was man wollte, das Unternehmen mußte in Fluß kommen, die ersten Spatenstiche zwischen der Stadt und Walportshausen mußten gemacht sein, dann war an der Tatsache der ins Leben getretenen Aktiengesellschaft nicht mehr zu zweifeln und – dann konnte das letzte Mittel zur Erlangung der Konzession immer noch versucht, dann konnte der doppelte Tunnelbau immer noch als allerletzter Ausweg gewählt werden.

Da war es wieder der vorsichtige Robert Müller gewesen, der ihm einen Strich durch diese Rechnung gemacht hatte. Heute morgen hatte er ihn besucht und nach den Einzelheiten der Konzessionserteilung gefragt. Das Schriftstück liege noch in dem Kabinett des Ministers in Walportshausen, hatte Seliger erwidert, und müsse zur persönlichen Unterschrift dem gerade in Paris weilenden Fürsten übermittelt werden.

Bei dieser Auskunft hatte sich der lästige Frager beruhigt. Aber nun brannte ihm die Sache auf die Nägel. Und wenn Robert Müller – und das war sein gutes Recht – die Vorlegung der Konzessionsurkunde vor einer definitiven Beschlußfassung verlangte, und er sie in drei, in vier Wochen noch immer nicht präsentieren konnte, dann würde die erste große Unvorsichtigkeit die furchtbarsten Folgen nach sich ziehen.

Er, Harry Seliger, der allmächtige Leiter der Kommerzbank, würde als Lügner entlarvt sein, man würde seinen Worten und Versicherungen keinen Glauben mehr schenken; und mit Recht, denn die Konzession, von der er in seinen Briefen gesprochen hatte, war in der Tat nicht erteilt.

Wie Verzweiflung packte es ihn, wilde, rasende Wut gegen sich selber tobte in seinem Innern. So weit war es mit ihm gekommen, daß er bereits da stand an dem Punkte, wo sich deutlich Recht von Unrecht, Verbrechen von einwandsfreier Führung der Geschäfte schieden. Die Konzession mußte erteilt werden, einerlei um welchen Preis, denn Robert Müller hatte ihm an diesem Morgen die Pistole auf die Brust gesetzt.

So mochte denn der Sohn des allmächtigen Mannes kommen, den er in dieser stillen Nachmittagsstunde allein in seinem Privatkontor erwartete, der Mensch, den er selbst haßte und verachtete, der – das wußte er – die Hand seiner ältesten Tochter und das Erbe seiner Millionen als Kaufpreis für die Unterschrift verlangen würde, die heute mehr als die Lebensmöglichkeit seines großen Unternehmens, die heute die Rettung seiner Ehre und seines Wertes im Kreise seiner Geschäftsfreunde, die mithin seine Existenz bedeutete.

Er war nervös geworden in den letzten Wochen und Tagen.

Schon viermal hatte er dem Diener geschellt und diesen gefragt, ob der Portier nicht die Ankunft des Herrn Doktor von Kutzleben gemeldet habe. Endlich trat der so oft Zitierte mit der Karte des sehnlich Erwarteten ein.

Ein eisiger Schauer überlief Seliger, als er nach wenigen Minuten in das kalte, herzlose Gesicht des gewissenlosen Strebers blickte, der ihm nun, tadellos wie immer, gegenüberstand, ein liebenswürdiges und nichtssagendes Lächeln um die Lippen, die Augen, als wisse er gar nicht, um was es sich handeln könne, fragend auf das Gesicht seines Gegenüber gerichtet.

»Setzen wir uns, Herr Doktor,« begann Seliger mühsam das Gespräch. »Sie rauchen vielleicht eine Zigarre?«

Prüfend wog Kutzleben die ihm dargereichte dicke Bock in seiner eleganten, mit einem Siegelring geschmückten Hand. Nachdem er sie gemächlich angezündet hatte, sagte er in gedehntem Tone:

»Es ist eine geschäftliche Angelegenheit, in der Sie mich kommen ließen, Herr Seliger?«

Eine Minute herrschte tiefes Schweigen. Die Blicke der beiden Männer trafen sich wie die zweier Gegner, die sich im Kampfe messen wollen.

»Es handelt sich um die Erteilung der Konzession für die Trace der Kleinbahn,« stieß Seliger hervor.

»Um die Erteilung der Konzession?!« Erstaunt, befremdet hatte Kutzleben diese Frage an Seliger gerichtet. »Die Konzession ist erteilt, denke ich. So steht in dem Rundschreiben, das Sie in diesen Tagen an die Mitglieder des Aufsichtsrats und an sonstige Interessenten erlassen haben, Herr Seliger.«

Seliger erblaßte. Nach wenigen Augenblicken faßte er sich. Und dennoch. In einem an ihm bislang unbekannten, fast zaghaften Tone kam es von seinen Lippen:

»Es war eine Voreiligkeit, ein Irrtum, daß dieser Passus in den Briefen stehen geblieben ist, Herr Doktor, die Konzession ist in Wirklichkeit noch nicht erteilt.«

Das schadenfrohe Lächeln, das bei diesen Worten um Kutzlebens Mundwinkel zuckte, war Seliger nicht entgangen. War er der Fuchs, der nun in der Schlinge saß? Als ob er etwas von sich abschütteln müsse, beschlich ihn in diesem Moment ein widerwärtiges Gefühl.

Kutzleben schwieg. In langen Zügen schmauchte er die kostbare Zigarre.

Dann stand er auf, ging langsamen Schrittes durch das Zimmer, blieb an dem Fenster stehen und trommelte wider die Scheiben. Endlich sagte er:

»Da Sie mir Ihr Vertrauen schenken, Herr Seliger, Ihr Vertrauen in einer so heiklen Angelegenheit, so darf ich wohl annehmen, daß Ihre Fräulein Tochter ihre Gesinnung mir gegenüber geändert hat?«

Seliger stieg das Blut zu Kopfe. Am liebsten hätte er diesem da die Tür gewiesen. Oder aber! Sollte er ihn fragen, ob es nicht doch einen andern Kaufpreis gäbe, irgendeinen andern, als die Hand Etelkas? Er hob den niedergesunkenen Kopf in die Höhe und sah Kutzleben scharf in die Augen. Der Mann da ließ nicht mit sich feilschen, der nannte seinen Preis, der schacherte und handelte nicht, wie er sein Lebtag geschachert und gehandelt hatte. Und in dieser Überzeugung kam es von seinen Lippen:

»Bis wann kann ich die Konzession mit der provisorischen Unterschrift Ihres Herrn Vaters haben, Herr Doktor?«

»An dem Tage, an dem meine Verlobung mit Fräulein Etelka Seliger offiziell geworden ist,« lautete Kutzlebens prompte Antwort.

Kutzleben ging nach der Tür. Ohne sich umzuwenden, keinen Blick mehr auf den gebrochenen Vater werfend, verließ er das Zimmer.

»Noch hab' ich Zeit, ein paar Wochen Zeit,« sprach Seliger laut vor sich hin, nachdem ihn der Unerbittliche verlassen hatte. Er kramte den Kalender aus seinen Papieren, und den Kopf in beide Hände stützend, stierte er auf diesen und redete leise mit sich selber: »Wir haben heute den 20. Februar. Am 1. April muß alles in Fluß sein. Also noch über einen Monat, fünf, sechs Wochen, so lange kann sich die Konzession vor den Leuten auf der Reise nach Paris befinden – dann wird sie erteilt werden! Ich werde Zeit haben, mit Etelka zu sprechen, sie vorzubereiten, sie umzustimmen, sie zu zwingen, wenn es nicht anders sein kann.«

Gequält seufzte er auf. Und mit beiden Händen sein Gesicht bedeckend, schluchzte er auf einmal vor sich hin:

»So weit, so weit, deine Etelka, dein eigenes Kind, deine älteste Tochter, so weit, so weit.«

Draußen auf dem Korridor vernahm er Schritte. Da faßte er sich. Wenn der Diener ihm ein Telegramm oder sonst eine Mitteilung zu überbringen hatte! Aber die Schritte verhallten, und langsam legte sich Seliger in seinem Inneren seinen Plan zurecht. Etelka liebte ihn, sie war sein Ebenbild, dessen hatte er sich oft gerühmt. Sie war eigentlich sein Lieblingskind, mehr als der nichtsnutzige Leo und die sanftmütige Edith, die beide eher nach der Mutter geschlagen waren. Sie war noch jung, kaum einundzwanzig. Junge Mädchen ließen sich ja leicht zu einer Heirat bereden. Freilich, eine gewisse Antipathie hatte sie ja gegen Kutzleben, aber das würde sich schon überwinden lassen – wenn – – wenn ihr Herz nicht schon für einen anderen gesprochen hatte. Und das war, soviel er wußte, noch nicht der Fall.

Aber sie war nicht umsonst sein Ebenbild, sie hatte seinen harten Kopf und seinen festen Willen, seinen Eigensinn, mit dem er an dem einmal Begonnenen hielt, dem er alle seine großen Erfolge zu verdanken hatte, der aber auch schuld an der Lage war, in die er sich nun gebracht sah.

Nun, er, ihr Vater, den sie aufrichtig liebte, er würde Mittel und Wege finden, sie in der langen Zeit von fünf bis sechs Wochen zu gewinnen und zu überreden. Was stand ihm nicht alles zu Gebote, um ein ehrgeiziges und stolzes junges Mädchen wie sie gefügig zu machen!

Mit Perlen und Diamanten konnte er sie überdecken, in die köstlichste Seide konnte er ihren jungen Leib kleiden. Pferde und Diener konnte er dem jungen Paare zur Verfügung stellen und ein Landhaus, ein Schloß, wenn sie das wollte, um das Opfer, das sie ihm bringen mußte, mit tausend Annehmlichkeiten zu umkleiden.

Und dann! War Kutzleben denn wirklich so schlimm? Er war kein häßlicher Mensch, ein stattlicher und gebildeter Mann von kaum dreißig Jahren. Ihm war er ja nicht sehr sympathisch. Aber war das ein Grund, daß er kein liebender und rücksichtsvoller Gatte, kein sorgender und treuer Vater werden konnte?

Wie viele Ehen waren schon aus Gründen der Vernunft geschlossen worden und waren sehr glücklich ausgefallen, viel glücklicher als solche, die dem Frühlingssturm einer elementaren Leidenschaft ihre Entstehung verdankten!

Mit solchen Sophismen und Gemeinplätzen tröstete sich Seliger.

Fast heiter und ganz zuversichtlich trat er gegen sechs Uhr den Heimweg in die Villa an, fest entschlossen, noch heute abend vorsichtig bei Etelka anzufragen, wie sie einer Werbung von seiten Kutzlebens gegenüberstand.

Nach dem Abendessen fand er Gelegenheit, mit Etelka zu sprechen. Frau Hilde war wieder einmal wegen ihrer Migräne um 7 Uhr zu Bett gegangen. Leo hatte draußen »in Geschäften« zu tun, der neue literarische Verein »Die Kultur«, dessen Präsidentschaft er übernommen hatte, hielt heute seine Monatsversammlung ab, und Edith war pflichtgemäß in die Oper gefahren, um das Wochenabonnement nicht ganz verschimmeln zu lassen.

Nachdem abgeräumt war, und nachdem der große Börsenmann, wie allabendlich, wenn er zu Hause war, den Handelsteil der Zeitung durchstudiert hatte, wandte er sich an seine ihm gegenübersitzende Tochter, die gelangweilt in einem neuen französischen Roman blätterte, und sagte in einem an ihm ganz ungewohnten sanften, ja weichen Tone:

»Du könntest mir mal noch eine Kuba herüberreichen, Kindchen, sie stehen drinnen im Rauchzimmer im linken Eckschränkchen. Ich fühle mich heute abend so behaglich zu Hause, und bei einer guten Zigarre läßt es sich besser plaudern.«

Erstaunt erfüllte Etelka die Bitte des Vaters. Das war sonst nicht seine Art, die Kinder zu persönlichen Dienstleistungen heranzuziehen. Er pflegte dem Diener zu klingeln und seine Befehle zu erteilen.

Als sich Etelka wieder gesetzt hatte und die gewünschte Kuba brannte, lehnte sich Seliger behaglich in seinen Stuhl zurück und fragte: »Hast du schon von der neuesten Verlobung in unserer Gesellschaft gehört, Etelka?«

»Man hört jeden Tag von einer anderen, Papa. Welche meinst du denn?«

»Na, heute gegen Mittag wurde es brühwarm an der Börse erzählt. Die kleine Hanauer hat sich doch mit dem Freiherrn von Fichten, dem Leutnant bei den Husaren, versprochen.«

»Hanauer, Molly Hanauer?«

»Ja. Soviel ich weiß, hat der alte Hanauer nur eine Tochter. Ich für mein Teil verstehe das nicht, wie er sein einziges Kind dem Leutnant von Fichten geben kann. Er soll ja ein netter Mensch sein, aber arm wie eine Kirchenmaus. Im allgemeinen macht man doch die Erfahrung, daß solche Ehen mit hochgeborenen Herren, die sich an das dolce far niente gewöhnt haben und von dem Gelde ihrer Frau zu leben beabsichtigen, nach zwei, drei Jahren kläglich in die Brüche gehen. Der, Herr Gemahl pflegt seine feudalen Lebensgewohnheiten nicht aufzugeben, die gnädige Frau fühlt sich infolgedessen vernachlässigt hält ihm seinen Wandel vor und die Quelle, aus der er die Mittel zu seinem luxuriösen Leben nimmt, und der Skandal ist fertig.«

Auf diese Ansichten des Vaters ging Etelka zunächst gar nicht ein.

»Molly Hanauer?« wiederholte sie noch einmal, »ist es denn möglich? Sie war doch die häßlichste in unserer Klasse und hat einen schiefen Arm; und die nimmt der Freiherr von Fichten?«

»Ja, siehst du, mein Kind,« lachte Seliger, »wenn man über die nötigen Mittel zur Instandhaltung eines freiherrlichen Haushaltes verfügt, dann ist es heutzutage auch mit einem schiefen Arm und dem Namen Hanauer nicht unmöglich, einen Husarenoffizier mit einem altadeligen Namen zu fesseln. Freilich, die Mittel gehören dazu. Aber, wie gesagt, mein Geschmack ist das nicht. Es gibt noch Leute, die ebenfalls arbeiten, die im Geschäftsleben drin stehen, die nicht nur zerstreuen, sondern auch erwerben können, und ich muß gestehen, daß mir ein solcher Mann, sei es ein Jurist oder Kaufmann, lieber ist, als ein Offizier, der im besten Falle an der Majorsecke scheitert und sich dann zur Verzehrung der Zinsen seiner Frau Gemahlin auf sein Rittergut zurückzieht. Ich zum Beispiel möchte mir nicht wünschen, daß eine meiner Töchter eine solche Partie machte, die für beide Teile nur Ärger, Kummer und Verdruß nach sich ziehen kann. Überhaupt, wenn ich so meine Lage und Leos literarische Schrullen bedenke, dann tröste ich mich immer mit dem Gedanken, daß ein tüchtiger Geschäftsmann als Schwiegersohn mir so viel wie ein leiblicher Sohn sein kann.«

Etelka war nachdenklich geworden. Wo wollte der Vater hinaus? Umsonst hatte er dieses Thema, worüber er noch niemals in ihrer Gegenwart gesprochen, nicht angeschlagen. Eine Absicht führte er im Schilde. Sollte er durch einen Zufall vorzeitig von ihren Beziehungen zu dem Grafen Waldburg erfahren haben, und führte er das Beispiel der kleinen Hanauer an, um den Offizier von einer zwecklosen Werbung abzuhalten?

Alles Blut schoß ihr nach dem Herzen, es kochte in ihren Adern.

O, er sollte sie kennen lernen, er sollte sehen, daß Waldburgs Werbung keine zwecklose war. Oder aber! Hatte der Vater eine andere, eine bestimmte Absicht? Dachte er an einen Geschäftsmann, den er für seine Bank nötig hatte, und versuchte er leise bei ihr anzuklopfen, wie sie seinen Plänen gegenüberstand? Sie gab sich alle Mühe, so gleichgültig wie möglich zu erscheinen, und meinte:

»Ich denke, Papa, wir können es ruhig dem alten Hanauer überlassen, ob er aus seiner Molly eine Freifrau machen will oder nicht. Übrigens daß Molly mir keine Anzeige geschickt hat!«

»O, so weit ist es noch nicht. Man spricht nur in unseren Kreisen von dieser Verlobung, die noch nicht offiziell geworden ist. Es interessiert doch die Finanzwelt, daß wieder ein altes Geschäft wie das Hanauersche aus Mangel an dem richtigen Erben eingehen wird. Denn ich glaube nicht, daß der Freiherr von Fichten die Hanauersche Lederhandlung weiter führen will.«

»Das glaube ich auch nicht,« sagte Etelka etwas gereizt. »Das wirst du von einem Herrn, der bei den Husaren steht, auch im Ernste nicht verlangen wollen, Papa!«

»Wenn er sich nicht für zu gut hält, von dem Gelde, das mit dem Leder verdient worden ist, zu leben, dann allerdings ja,« beharrte Seliger. »Das neue Geschlecht hat eben seltsame Ansichten über Anstand. Es pflegt demjenigen, aus dessen Hand es die Moneten entgegennimmt, in manchen Fällen einen Fußtritt zu erteilen. Und schon aus diesem Grunde bin ich ein Gegner einer feudalen Heirat, Etelka, denn ich für mein Teil könnte es nicht ertragen, von einem Schwiegersohn, den doch schließlich ich bezahle, über die Achsel angesehen zu werden.«

»Das würde –« beinahe hätte sie sich verraten. Sie schwieg.

Etwas mußte der Vater doch gehört haben. Warum sprach er von solchen Dingen und immer wieder von seiner Auffassung einer Heirat zwischen der reichen Molly Hanauer und dem armen Freiherrn von Fichten?

Etwas Lauerndes lag in dem Blick Etelkas, mit dem sie den Vater jetzt von der Seite musterte, etwas, das auch Seliger selbst in seinen Augen schlecht verbergen konnte, wenn er die Meinung eines geschäftlichen Partners von dessen Mienen abzulesen sich Mühe gab.

Das Gespräch zwischen Vater und Tochter verstummte. Einen Moment nahm Seliger die Zeitung wieder auf, indessen Etelka, als sei nichts vorgefallen, in ihrem Buche blätterte. Da traf plötzlich und ganz unvermutet die Frage ihres Vaters an ihre Ohren:

»Hast du denn schon einmal über deine eigene Zukunft nachgedacht, mein Kind?« Erstaunt hob Etelka die großen Augen von dem Buche und sah ihren Vater einen Augenblick erschrocken an. Dann faßte sie sich rasch und sagte in gleichgültigem Tone:

»Über meine Zukunft, Papa? Ich denke, die Zukunft deiner Kinder, insonderheit die deiner Töchter, ist doch sichergestellt.«

Seliger war wütend, daß dieses Mädchen ihm immer auswich.

»So meint' ich es nicht,« erwiderte er nun in barschem Tone.

Jeder Widerspruch reizte ihn. Widerspruch hatte er in seinem Leben nicht ertragen können.

»Pekuniär ist eure Zukunft natürlich sichergestellt, he, he, mehr als sicher. Ich denke, ein junges Mädchen in deinem Alter denkt auch einmal ans Heiraten.«

Nun war es doch heraus, das Wort, das er an diesem Abend so sorgfältig hatte vermeiden wollen. Nun war es trotz allem heraus. Sie hatte ihn gereizt. Und wenn er gereizt wurde, dann konnte er sich nicht mehr beherrschen. dann warf er aller Klugheit zum Trotze den Menschen gleich alles, was er auf dem Herzen hatte und sorgsam hüten wollte, in das Gesicht.

Erschrocken fuhr Etelka empor. Sie war von ihrem Stuhle aufgesprungen und stand nun dem Vater gegenüber, den wohlbeleibten und untersetzten Fünfziger fast um Haupteslänge überragend.

»Deine Fragen machen mir Angst, Papa,« stammelte sie in großer Erregung. »Heraus mit der Sprache! Was hast du vor? Was willst du von mir? Die Erzählung von Molly Hanauer ist nur die Einleitung deiner eigenen Wünsche gewesen. Was soll ich? Was sollen deine Reden?«

Seliger hatte sich wieder gefaßt. Seine Erregung war momentan verflogen.

»Diplomatisch – diplomatisch,« raunte ihm die innere Stimme ein über das andere Mal zu. »Diplomatisch, Seliger, sonst verdirbst du dir alles!«

Es dauerte eine geraume Weile, bis er sich in seinen Gedanken die richtige Form, in der er ihr nun auf den Zahn fühlen wollte, zurechtgelegt hatte. Endlich sagte er:

»Mein Kind, es hat mich etwas erregt, daß du vorhin so entschieden für die Heirat des Freiherrn von Fichten mit Molly Hanauer eingetreten bist. Es war mir gerade so, als ob –«

»Als ob?« wiederholte Etelka, die Augen forschend auf ihn gerichtet.

»Als ob du selbst am Ende solche Pläne im Schilde führtest,« vollendete Seliger.

Etelka lachte gezwungen.

»Ich und Pläne! Nein, Papa, du hast dich so entschieden gegen diese Heirat ausgesprochen, daß ich meine Schlüsse daraus ziehen konnte. Im übrigen, was gehen mich Herr von Fichten und Fräulein Hanauer an?« Sie zuckte geringschätzig mit den Schultern. »Die können machen, was sie wollen.«

Sie war fest entschlossen, in dieser Stunde dem Vater ihr Geheimnis unter keinen Umständen preiszugeben. Erst mußte sie wissen, wo dieser mit seinen Fragen hinauswollte.

Waldburg war heute nachmittag von der Besichtigung seiner Güter zurückgekehrt. Ein Rosenbukett in ihrem Zimmer, das der Bursche vor wenigen Stunden in der Villa abgegeben hatte, bezeugte seine Anwesenheit. Morgen oder übermorgen konnte er vorsprechen und bei dem Vater um ihre Hand anhalten. Heute mußte sie wissen, welche Pläne der Vater in seinem Inneren hin und her erwog. Und fest entschlossen, die Wahrheit unter allen Umständen zu erfahren, wandte sie sich nun an den Vater mit den Worten:

»Es klingt ja beinahe, Papa, als ob du ganz bestimmte Pläne in deinem Innersten verborgen hieltest, und herausbringen wolltest, wie ich mich solchen Plänen gegenüber stelle. Merke dir das eine: Verkuppeln lasse ich mich nicht!«

Einen Moment schwankte Seliger. Er mußte sich auf die Lehne seines Stuhles stützen, und es dauerte lange, bis er das geeignete Wort fand.

»Habe ich denn davon etwas gesagt, mein Kind?« stammelte er endlich. »Nennt man es denn gleich verkuppeln, wenn ein Vater nach der Zukunft seines Kindes fragt?« »Es hörte sich beinahe so an, Papa, als du vorhin so unerwartet vom Heiraten gesprochen hast. Hat jemand, irgend jemand bei dir um meine Hand angehalten?«

Diese knapp und gerade auf das Ziel lossteuernde Frage verwirrte ihn völlig.

»Um deine Hand?« wiederholte er langsam, »ob jemand bei mir um deine Hand angehalten hat?«

»Ja, Papa, heraus mit der Sprache! Der Jemand – das kann ich dir sagen – ist von vornherein abgewiesen, und wenn er ein Rothschild in Sachen der Bank sein sollte, denn ich, ich hab' zu heiraten und nicht die Bank!«

Da trat die Blässe der Wut in Seligers Gesicht. Seiner selbst nicht mehr mächtig, rasend gemacht über diesen vom Zaune heruntergebrochenen Widerspruch, über die Kälte, mit der ihm diese Tochter den Fehdehandschuh hinwarf, schrie er:

»Das werden wir sehen, mein Kind, wer hier Herr im Hause und Herr über die Millionen ist, von denen du träumst. Ja, Kutzleben hat um deine Hand angehalten, und ich, ich habe Kutzleben mein Jawort gegeben.«

Ein schrilles Lachen von seiten Etelkas war die einzige Antwort. Hochaufgerichtet stand sie da. Ihre Nasenflügel bebten, und jeder Tropfen Blut war aus ihrem Gesicht gewichen, als sie nun die kleine Faust wider den Vater ballte: »Kutzleben? Kutzleben?« wiederholte sie in schneidendem Hohne. »Eher den Gassenkehrer draußen auf der Straße, eher werde ich deinen und meinen Namen durch alle Gossen der Welt zerren, als daß ich Kutzleben heirate, den Streber, den Lumpen, den Wüstling, als daß ich mich von dir an Kutzleben verkuppeln lasse. Dies ist mein letztes Wort, Vater!!«

Schon stand sie an der Tür. Seliger hielt sie zurück. Ein Ringen, ein physischer Kampf entwickelte sich zwischen diesen beiden Kraftnaturen, die einander so ähnlich geraten waren, als ob Stahl und Eisen sich miteinander an Härte messen sollten.

»Au, au,« schrie Etelka, deren Handgelenk Seliger mit seinen Fingern umkrallt hatte.

Sie sollte, sie durfte ihm nicht entwischen, ehe er ihr nun alles gesagt hatte. Denn er hielt sie zu allem fähig.

»Höre, höre, Etelka,« begann er nun in sanfterem Tone. »Ich habe Kutzleben mein Jawort gegeben, ich habe mein Wort, ich habe meine Ehre verpfändet. Ich bin verloren, wenn du mich im Stiche läßt, Etelka. Jeden Wunsch, höre, jeden Wunsch will ich dir erfüllen. Aber willige in die Heirat mit Kutzleben, in dessen Hände ich rettungslos gegeben bin.«

»Laß mich los, so laß mich doch los,« wimmerte nun Etelka, »ich beiße, wenn du mich nicht los läßt, ich kratze, ich beiße! Niemals, sage ich dir noch einmal, niemals im Leben, und wenn du und wir alle verloren wären. Ich will nicht wissen, ich will nicht hören, was du mit ihm vereinbart hast, was für dich von diesem Kuppelgeschäft abhängt. Pfui, pfui Teufel, Vater, laß, laß mich los!«

Die Wut und die Verzweiflung verdoppelten ihre Kraft. Sie hatte sich losgerungen aus Seligers eiserner Umklammerung, sie gewann die Tür und stürzte nach ihrem Zimmer die Treppe hinauf.

Er wollte ihr nach. Aber das ging doch nicht. Die Dienerschaft, das ganze Haus wäre zusammengelaufen. Hilde konnte erwachen. Edith mußte jeden Augenblick aus der Oper zurück sein.

So ließ er sie gewähren. Sie würde ja nicht gleich Hand an sich legen, sich zum Fenster hinausstürzen.

Eine namenlose Angst packte ihn. Er lauschte nach oben. Nichts hörte er, nichts. Kein Fenster öffnete sich, kein Schritt wurde vernehmbar.

Daß sie ihn auch förmlich gezwungen hatte, ihr die ganze brutale Wahrheit gleich in der ersten Stunde ins Gesicht zu sagen! Daß zwei so harte Köpfe so aneinandergeraten mußten! Und doch, am Ende war es ja gut, daß sie sich mit dem Gedanken vertraut machte. Morgen würde sie sich schon beruhigt haben und seinem Vorschlag kühler, objektiver, überlegender gegenüberstehen.

Aber hinauf wollte er doch.

Leise, von niemandem gesehen, schlich er sich die Treppen hinan.

»Etelka,« bettelte er, an die Türe ihres Zimmers klopfend. Keine Antwort. Hatte sie am Ende doch – sich die Adern geöffnet, sich am Bettpfosten erhängt?

Die schrecklichsten Bilder stiegen empor vor seiner aufgeregten Phantasie und führten einen tollen Reigen auf vor seinen Augen. Er, der Mörder seines Kindes!

»Etelka,« wimmerte er wieder. Keine Antwort.

Da stieg er wankend die Treppen hinunter, nahm Hut und Mantel und durchstreifte den Park, ob er Licht an ihrem Fenster bemerken würde. Und als er dieses sah, ging er auf die Straße, ein wenig beruhigt, seinen brennenden Kopf zu kühlen, denn im Hause, der heimkehrenden Edith gegenüber, hätte er es nicht aushalten können.

Während er in höchster Erregung durch die von einem heftigen Regengusse gepeitschten Gassen und Straßen der Stadt eilte, um endlich in einem wenig besuchten Café einigermaßen zu Ruhe und Überlegung zu kommen, schmiedete Etelka droben in ihrem Zimmer ihren Plan.

Die momentane und tatsächliche Aufwallung der Leidenschaft, in der sie sich bei den Enthüllungen der Absichten ihres Vaters befunden, hatte der kühlen Berechnung des ihr in reichstem Maße zur Verfügung stehenden Verstandes, dem klugen Abwägen der ihrer semitischen Rasse in hohem Grade eigentümlichen Vernunft Platz gemacht.

In der Fensternische ihres Zimmers kauernd, schloß sie die Augen und ließ das ganze Erlebnis mit dem Vater noch einmal an ihrem geistigen Auge vorüberziehen.

Wie spontan, wie jede andere Rücksicht in den Hintergrund drängend, war der Wunsch, nein der Befehl, der feste Entschluß, daß sie Kutzlebens Frau werden sollte, aus dem Innersten des Vaters hervorgesprudelt! Das war mehr als eine Laune, mehr als ein Lieblingswunsch, den sie als Tochter ihm erfüllen sollte. Das war eine Notwendigkeit, ein Entschluß, ein sorgfältig zurechtgelegter Plan, von dessen Durchführung für den Vater Dinge abhängen mußten, die seine Existenz als Geschäftsmann und als Leiter der Kommerzbank angingen.

In welche Aufregung war der sonst so kühle und im Kreise seiner Familie gewöhnlich bedächtige Mann bei ihrer rückhaltlosen Absage geraten! Wie weit hatte er sich hinreißen lassen, wie viel hatte er sich vergeben! »Du rettest meine Ehre und meine Existenz, Etelka,« hatte er gesagt!

Etwas Wahres mußte daran sein, er war nicht der Mann, mit solchen Dingen zu spielen. Dam kannte sie ihn zu gut. Also, er würde alles daran setzen, um seinen Willen zur Geltung zu bringen, um sie zu zwingen mit jedem ihm zu Gebote stehenden Mittel, Kutzleben und dessen Wünschen zu Willen zu sein

Und er hatte die Mittel an der Hand. Zwar war sie volljährig, vor wenigen Wochen war sie einundzwanzig geworden, seine väterliche Einwilligung zum Eingehen einer Ehe hatte sie also nicht mehr nötig. Aber, er hatte andere Mittel an der Hand, wenn sie nicht ein rascher, ein womöglich noch heute zu fassender Entschluß von seinem Einfluß befreite!

Sie war an den Luxus, an das Wohlleben ihrer bevorzugten Kreise gewöhnt, sie hatte nichts gelernt, was sie zur Erhaltung ihrer selbständigen Existenz hätte verwerten können. Mit einem Worte, sie war abhängig von ihm. Wenn er sich auf den Standpunkt stellte, daß er bei seinen Lebzeiten mit dem von ihm erworbenen Vermögen machen konnte, was er wollte, wenn er einer ungehorsamen Tochter seine väterliche Unterstützung entzog, dann hatte er sie in der Hand. In Wochen und Monaten des Entbehrens und der Demütigungen hätte er sie schon nachgiebig und mürbe machen können, denn einem Kampfe mit der Not war sie nicht gewachsen.

Und Waldburg? Er liebte sie, daran zweifelte sie nicht, er war Kavalier durch und durch, er hatte ihr sein Wort gegeben, er würde sie nicht im Stiche lassen. Aber so töricht war sie doch nicht, daß sie nicht einsah, daß auch Waldburg die Millionen ihres Vaters nicht gleichgültig sein konnten, daß auch Waldburg, von dem das Gerücht ging, daß er mit der Bewirtschaftung seiner Güter Schwierigkeiten hatte, das Geld einmal benötigen würde, das für Seligers älteste Tochter und für deren zukünftigen Gatten bereit lag!

Wie klug war es doch von ihr gewesen, daß sie trotz des leidenschaftlichen Aufeinanderprallens dem Vater mit keiner Silbe etwas von ihren Beziehungen zu Waldburg verraten hatte. Ein unvorsichtiges Wort hätte alles vernichten können. Denn Graf Eberhard von Waldburg-Immenhausen war nicht der Mann, sich bei einem Harry Seliger einen Korb zu holen, und ihr Vater hätte sich nicht geniert, dem Grafen die Tür zu weisen, ja ihn noch heute, wenn er gewußt hätte, daß hier das Hindernis für die Verwirklichung seiner Pläne mit Kutzleben lag, zu benachrichtigen, daß jede Bemühung um Etelkas Hand vergeblich sein werde.

Wie gut, daß der Vater heute von alledem keine Ahnung hatte. Er wäre am Ende noch in dieser Stunde hingestürmt zu Waldburg und hätte ihn beleidigt, er hätte ihm vielleicht einen Brief gesandt, der den Grafen für immer von einer Werbung um ihre Hand abgehalten hätte. Denn der Stolz dieses Mannes war unberechenbar, ebenso wie seine Zuverlässigkeit und die Ehrlichkeit seiner Gesinnung für sie über jeden Zweifel erhaben dastanden.

Was also war zu tun? Sie überlegte und überlegte. Abwarten, bis sich die Wogen des Grolles bei ihrem Vater beruhigt hätten, abwarten, bis Waldburg mit seiner Werbung hervortrat?

Das wäre die Vernichtung ihrer ganzen Zukunft gewesen. Denn bei dem Vater handelte es sich nicht um eine Aufwallung des Grolles, nicht um den Wunsch seiner Leidenschaft, sondern um einen reiflich erwogenen und sorgfältig in allen seinen Einzelheiten zurechtgelegten Plan.

Und Waldburgs von Seliger einmal zurückgewiesene Werbung würde nie im Leben wiederholt werden, dazu kannte sie den Grafen und dessen Auffassung, von dem, was er sich selber schuldig zu sein glaubte, viel zu gut.

»Also handeln, selber handeln,« sagte sie nun halblaut vor sich hin. Quod habeo teneo: festhalten, was man einmal für sich in Anspruch genommen hat. Nur ein rascher, nur ein wie aus der Verzweiflung des Augenblickes heraus geborener Schritt konnte hier Rettung bringen.

Aber welcher Schritt? Welches Mittel hatte sie in der Hand, den Vater zu zwingen? Wann war es für ihn eine Unmöglichkeit geworden, ihr Waldburgs Hand zu weigern? Wann mußte er einwilligen, ob er wollte oder nicht, einerlei, wenn auch alle seine andern Pläne darüber zunichte würden? Wenn, wenn – –

Die Röte der Scham stieg ihr in das Gesicht bei dem Gedanken, den sie jetzt schaudernd faßte, und der ihr dennoch auf den letzten rettenden Ausweg hinzuweisen schien. Wann hatten Väter und Mütter allen Hindernissen zum Trotz schon in die Heirat ihrer Töchter gewilligt, selbst in verzweifelten Fällen, wenn es sich um eine Liebschaft mit dem Kutscher oder dem Diener gehandelt hatte? Wenn, ja wenn ...

Aus ihrem nächsten Bekanntenkreise waren ihr zwei solcher Fälle zu Ohren gekommen. Karl Hartner, der Mitinhaber des Bankgeschäfts von Merzbach & Co., der Mann der eingebildeten Cilly Merzbach, war Servierdiener im Merzbachschen Hause gewesen, und Tilly Schirokaner hatte ihre Heirat mit dem Hauslehrer ihres Bruders durchgesetzt, als der älteste Enkel des Hauses Schirokaner schon auf dem Wege in diese schlechteste aller Welten gewesen war, wie Leo in pessimistischer Anwandlung, das große Narrenhaus unseres Herrgotts, diese schöne Erde, nannte.

Wenn sie, wie diese es wagte, wenn sie es heute noch, in dieser Stunde noch wagte, wenn sie va banque spielte, wenn sie alles auf eine Karte setzte und sich dem Grafen an den Hals warf!? Ein leiser Schauer, ein angenehmes Prickeln überlief, bei diesem Gedanken ihren Körper. Sie in den Armen des Grafen, nach dessen Umfassung sie sich in mancher schlaflosen Nacht schon gesehnt! Sie heute noch in seinen Armen!

In ihrem Elternhause war in geschlechtlichen Dingen wahrhaftig kein Blatt vor den Mund genommen worden, Leo und die Mutter und der komische Prinz Trachenstein, die hatten vor den Ohren der jungen Mädchen Dinge erzählt, die der keuschen Edith das Blut in die Wangen getrieben, und über die sie selber sich in ihrem Innersten weidlich erregt hatte. Leos Verhältnis zu der Feretti kannte sie ganz genau.

Und dann! Was hatte sie nicht alles gelesen, von jener Nana des Zola an, die eines ihrer Lieblingsbücher geworden war, bis zu den Demivierges des Prévost und dem Journal d'une femme de chambre ...

O, sie kannte sich aus! Nicht als unerfahrenes junges Mädchen, nur noch körperlich eine Jungfrau, würde sie mit voller Überlegung dessen, was sie erreichen wollte, zu dem Grafen kommen, und, einmal die Seine geworden, würde sie ihn an sein gegebenes Wort erinnern und ihn zwingen!!

Und wenn nicht, wenn ihr das nicht gelang? Ein Zittern lief über ihren Körper. Dann lächelte sie wieder siegesgewiß. Einer Sache zum mindesten war sie dann sicher: Kutzleben, den sie haßte, und den Antrag des Vaters, die war sie dann los!! Der korrekte Streber, der alles an seine Karriere setzte, für den auch sie nur eine Etappe in dieser Karriere sein sollte, würde niemals nach einer Blüte greifen, die ein anderer vor ihm gebrochen hatte!!

Es war abenteuerlich, es war romantisch, es war verrückt, tollkühn, wahnsinnig, was sie jetzt tat.

Aber einerlei! Ihr prüfender Verstand hatte ihr gesagt, daß dieser einzige Weg am Ende zum Ziele führen würde. Und dann??

Ein wahrer Liebestaumel hatte sie mit einem Male gepackt in dem wie zu einer fixen Idee gewordenen Gedanken, daß sie sich dem Grafen noch an diesem Abend in die Arme werfen, daß sie sich ihm anbieten wollte.

Man hatte den Versuch angestellt, ihr das gute Recht auf das Leben zu verweigern, man wollte sie zwingen, sich dem ungeliebten Manne hinzugeben. Sie nahm sich das Recht, das ihr gehörte, sie warf sich dem an den Hals, der sie, den sie lieb hatte, was war dabei?

Was hatte sie nicht alles in diesem Hause, in dem sie groß geworden, mitangesehen und miterlebt! Trotz ihrer einundzwanzig Jahre eine nette Sammlung von Ereignissen, die auch die Moral einer Lukretia ins Wanken hätte bringen können, und im Grunde ihres Wesens pfiff sie auf die sogenannte Moral. Was führte Leo für ein Leben offen vor aller Welt, er, der die Feretti in die Salons der Mutter mitbrachte und der sie den Intimen seines Hauses, wenn er bei guter Laune war, offen als seine Maitresse vorstellte.

Und die Mutter selber! Auch heute noch trotz der Brüskierung von seiten des Vaters, der nichts sehen wollte, war Seine Hoheit der Prinz Egon von Trachenstein in dem Schlafzimmer der Herrin des Hauses ein täglicher Gast.

Und der Vater! Die Villa Seliger hätte erzählen können aus früheren Jahren, da sie und Edith noch Kinder gewesen, wenn die Ballerinen der Oper und die Stars der Tingeltangels, die der Vater ausgehalten, hier alltägliche Gäste gewesen waren, Gäste, denen Frau Hilde, die einstige Tänzerin am Hoftheater, in liebenswürdigster Weise die Honneurs gemacht hatte.

Also hier warf man sich nichts vor, hier hatte die landläufige Moral schon längst ein tiefes Loch bekommen, und das schöne Wort, »wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen,« würde ihr im schlimmsten Falle eine letzte Waffe im Kampfe mit dem Vater sein!

Sie war entschlossen! Sie wollte sich den Grafen erobern, heute noch erobern, und einerlei, um welchen Preis!

Ihr Plan gewann eine festere Gestalt. Schlau mußte sie sein, schlau und klug, wie es der Tochter ihres Volkes, dem Kinde ihres Vaters zukam. Wie war der Graf am leichtesten zu haben? Was wollte sie? Seine Geliebte werden, seine Maitresse, am Ende nur sein Bettschatz für diese eine Nacht? Nein, nein! Sie wollte ihn zwingen, ihn an sich fesseln, ihn womöglich – Da lag der Weg. Hilfeflehend, zerknirscht, eine Verfolgte, die sich in seinen ritterlichen Schutz begab, so mußte sie kommen. Wenn sie so kam, und wenn er das glaubte, dann hatte sie gewonnenes Spiel.

Er hatte sich heimlich mit ihr verlobt, klipp und klar hatte er neulich am Abend des Krippenvereinsfestes hinter den Kulissen der kleinen Bühne, auf der sie zusammen vor den Blicken aller Welt gestanden, um ihre Hand angehalten. Sie war seine Braut. Nur der Umstand, daß ihn wichtige Angelegenheiten zu der Besichtigung seiner Güter gerufen, hatte ihn – zum Glück, wie sie sich heute sagte – davon abgehalten, gleich bei ihrem Vater vorzusprechen und um dessen offizielle Zustimmung zu dieser Verlobung zu bitten.

Der Vater hatte ihr heute abend durch seinen Vorschlag, durch seinen Befehl, durch die rückhaltlose Offenbarung seines Willens einen Strich durch die Rechnung gemacht. Was war natürlicher als dies? Sie flüchtete sich in die Arme des Verlobten, sie rief seinen Schutz an.

Sie waren zwei erwachsene Menschen, denen niemand auf der Welt Vorschriften zu machen hatte. Sie konnten heiraten, wann und wo sie wollten.

Wenn sie ihn dazu brachte! Wenn sie seine Liebe zu ihr und sein ihr verpfändetes Wort in die Wagschale warf, wenn sie ihn dazu überredete, mit ihr irgendwohin zu fahren und dort die bürgerliche Trauung nach Recht und Gesetz vornehmen zu lassen! Was konnte dann Kutzleben noch wollen, was konnte der Vater machen, wenn er vor der Tatsache stand, daß Waldburg und sie Mann und Frau waren?

Sie berauschte sich an diesem Gedanken. Ja, ja, so mußte sie Waldburg gegenübertreten, in dieser Nacht noch, mit dieser Forderung!

Freilich, ein leises Angstgefühl beschlich sie wieder. So einfach, so ohne alle Formalitäten ging eine solche Heirat doch nicht ab. Er war Offizier, er bedurfte des Ehekonsenses von seiten seines Regimentskommandeurs, das wußte sie. Auf einem deutschen Standesamte mußten bestimmte Papiere vorgelegt werden, das Aufgebot hatte eine vorgeschriebene Zeit zu dauern.

Aber, es gab doch auch Ausnahmen. Er mußte einen Ausweg finden.

Sie kramte in der obersten Schublade ihrer Kommode, wo sie in einem besonderen Kasten wichtige Dinge, Dinge, die wenigstens ihr wichtig zu sein schienen, aufzubewahren pflegte. Briefe, die einst eine Rolle in ihrem Mädchenleben gespielt hatten, und da ein Pack von Papieren, den sie vor einigen Jahren, da man sie nach Vevey in die Pension geschickt, mit in die Schweiz genommen hatte. Die steckte sie zu sich, vielleicht konnte das eine oder andere ihr von Nutzen sein.

Und dann, da lag ja das Einlagebuch, das der Vater für ein jedes seiner Kinder am ersten Geburtstage angelegt, und das er einem jeden, sobald es dazu imstande gewesen, in dem Prinzipe einer selbständigen Erziehung zur eigenen Verwaltung übergeben hatte.

An jedem Geburtstage und bei sonstigen festlichen Gelegenheiten hatte er jedes seiner Kinder mit einem größeren Geldgeschenk erfreut. Ihre Einlagen bei der Deutschen Bank beliefen sich jetzt auf Grund dieses Buches auf neuntausenddreihundertundsechzig Mark. Sie hatte dieses Geld niemals nötig gehabt, seit ihrem ersten Lebensjahre waren neue Geschenke, waren Zinsen zu Zinsen gekommen.

Auch dieses steckte sie zu sich. Wie auch alles ausfallen würde, ohne Geld durfte sie nicht sein.

Dann packte sie das Notwendigste aus ihrem Schranke und aus der Waschkommode in eine elegante Ledertasche zusammen und verließ schleichenden Schrittes kurz vor halb zehn Uhr das Haus.

In nächster Nähe der Anlagen, durch die einstmals Davidchen Mandelbaum an Ediths Seite in klarer Winternacht geschritten war, befand sich ein Droschkenhalteplatz. Hier rief sie einen der schlaftrunkenen Kutscher an.

»Moltkestraße 52.«

Kaum merklich zitterte ihre Stimme, als sie ihm wie selbstverständlich die Adresse des Grafen Waldburg-Immenhausen angab.

Es war doch ein seltsam beklemmendes Gefühl, das sie erfaßte, als sie nun nach Einbruch der Nacht zu der im ersten Stockwerk des Hauses gelegenen Junggesellenwohnung des Geliebten emporstieg. So hatte sie sich das erste Alleinsein mit Waldburg denn doch nicht gedacht!

Denn trotz all der freien Moral oder Unmoral, die in ihrem Elternhause herrschte, mit deren Zuhilfenahme sie sich vorhin zu Hause Mut zugesprochen hatte, sie war doch nun einmal in den Vorurteilen ihrer Gesellschaftsklasse aufgewachsen und fühlte, daß sie heute zum ersten Male das Haus verließ, um sich allein hinaus auf das uferlose und klippenreiche Meer der Abenteuer und des blinden Zufallsspieles zu begeben.

Wie würde Waldburg ihren nächtlichen Besuch, auffassen, wie würde er sie empfangen, was würde er ihr erwidern? Er, der korrekte Offizier, dessen Leben bislang sicher in den starr konventionellen Formen seines Standes und seiner Kaste verlaufen war?

Einen Moment hielt sie im Emporsteigen inne. Sie war tief verschleiert, damit sie niemand erkennen sollte, und niemand hatte sie erkannt.

Wie, wenn sie jetzt noch umkehrte, wenn sie wieder nach Hause fuhr und ihm in einem Briefe die ihm und ihr drohende Gefahr auseinandersetzte?

Sie mußte sich mit dem Arm an die Wand des Treppenhauses stützen, es flirrte ihr vor den Augen, die Füße trugen sie kaum.

Jetzt war sie fast droben. Eine fürchterliche Angst, eine namenlose Scham packte sie da mit einem Male. Wie eine Dirne schlich sie sich ja wahrhaftig in nachtschlafender Stunde in die Häuser und bot sich dem Manne an, allerdings dem Manne, der sie liebte, und der ihr sein Wort verpfändet hatte, aber dennoch wie eine Dirne! Nein, das konnte sie nicht, trotz aller freien Moral nicht, das ging über ihre Kraft.

Sie drehte sich auf dem Absatz um, die Treppe wieder hinabzusteigen, und, mochte passieren, was da wollte, wieder nach Hause zu fahren.

Da knarrte drunten im Schlosse der Haustür der Schlüssel.

Kam am Ende jemand, fand er sie hier auf der Treppe und würde er sie fragen, was sie denn in dieser Stunde hier in dem Hause wollte?

Wer wußte denn, wer alles, hier wohnen konnte, in einem Hause, in dem man Wohnungen an unverheiratete Offiziere abgab? Vielleicht ein Kamerad Waldburgs, am Ende ein Student oder ein junger Kaufmann, der mit seiner Geliebten die Treppe heraufkommen würde, so daß das Mädchen sie als ihresgleichen ansprach.

Mit aller Anstrengung, sich nicht vom Flecke rührend, lauschte Etelka nach unten. Sie hörte nichts, niemand kam die Treppe herauf. Da ging unten eine Tür, und zugleich erlosch die auf der Treppe brennende Gasflamme.

Ein lähmender Schrecken befiel sie. Jetzt wurde ihr die Situation klar. Der Hausmeister hatte die Tür verschlossen und das Licht gelöscht. Sie war gefangen, ohne fremde Hilfe, ohne die Hilfe eines Menschen, der sie in ihrer kompromittierenden Situation überraschen würde, konnte sie nicht mehr aus dem Hause heraus.

Hinter der Glastür des ersten Stockwerkes, wo der Graf wohnte, brannte noch Licht. Wie ein rettender Strahl erschien ihr dies Licht mit einem Male. Auf den Treppen konnte, durfte sie nicht bleiben, wenn man sie hier erwischt hätte! Man hätte sie am Ende als Einbrecherin festgenommen und auf die nächste Polizeiwache geschleppt! Und nur er, ihr Verlobter, der Graf, Eberhard konnte sie retten!!

Am Ende fand sie doch noch einen Ausweg, wenn sie ihm jetzt gegenüberstand. Sie konnte zum Beispiel im oberen Stockwerk des Hauses bei einer Schneiderin oder bei sonst irgend jemand gewesen, konnte dort aufgehalten worden sein, und man hatte ihr das Haus vor der Nase zugeschlossen. Nun schellte sie hier und bat den Burschen, sie hinunterzugeleiten und ihr das Haus aufzuschließen, was war dabei?

Schon freute sie sich, diesen Ausweg gefunden zu haben. Wenn der Bursche des Grafen die Tür öffnete, dann konnte sie dem ja ihre Bitte vortragen, konnte ihm eine Mark in die Hand drücken, und der Weg ins Freie stand ihr wieder offen.

Ein Entschluß mußte gefaßt werden. Jeden Augenblick konnte jemand die dunkele Treppe heraufkommen und sie überraschen, jede Minute konnte das Licht auf dem Korridor des Grafen gelöscht werden, und sie war verloren.

Leise zog sie die Klingel.

Eine Minute, die ihr eine Ewigkeit dünkte, verrann. Dann wurde ein rascher, leichter Tritt drinnen laut. Sie kannte diesen Tritt, auf den sie damals vor der Probe der Bluette in der elterlichen Villa den ganzen Nachmittag gelauscht. Das war nicht der Tritt des Burschen, der mit dem schweren Gange des Kavalleristen über die Treppen und durch die Zimmer ging, und sich deshalb, wie sie wußte, schon des öfteren den Tadel des Grafen zugezogen hatte.

Die Tür öffnete sich. Sie war keiner Bewegung, keines Wortes mächtig. Wie sie richtig gehört und vermutet hatte, der Graf selber stand vor ihr. Er erkannte sie nicht. Der dichte, schwarze Schleier, den sie vorhin zu Hause um ihr Gesicht und ihren Kopf geschlungen hatte, verhüllte, sie vollständig. Die Reisetasche zitterte in ihrer Hand.

»Womit kann ich Ihnen dienen, meine Gnädige,« vernahm sie seine liebe Stimme. »Sie müssen sich in der Nummer oder im Stockwerk geirrt haben. Ich erwarte keinen weiblichen Besuch.«

Das Verletzende dieser letzten Bemerkung, aus der sie schloß, was er von solchen Damen halten mußte, die man des Abends noch allein in fremden Häusern traf, nahm ihr den letzten Rest von Überlegung.

»Eberhard,« schluchzte sie unter hellen Tränen, »hilf mir, Eberhard.«

»Etelka!«

Erschrocken, voll maßlosen Erstaunens hatte er ihren Namen ausgesprochen.

»Komm, komm rasch herein, Etelka, wir wären ja verloren, wenn dich hier jemand erkennen würde. Gott sei Dank, ich bin allein, ich habe den Burschen schon in die Kaserne geschickt.«

Von seinem stützenden Arme mehr getragen, als selber gehend, trat sie ein.

Erst, als er die Tür des eleganten Wohnzimmers hinter ihr geschlossen hatte und er sie so vor allen profanen Blicken, wenigstens für den Augenblick, sicher wußte, kam es voll Angst und Sorge von seinen Lippen:

»Aber um Gottes willen, Etelka, Mädchen, Geliebte, was ist denn vorgefallen, was konnte denn passieren, das dich zu diesem unverständlichen, zu diesem für uns beide gefährlichen Schritte bringen konnte?!«

Sie hatte sich in die Ecke des Sofas gleiten lassen. Nun faßte sie sich. Daß er als Mann so vorsichtig und so ängstlich war, daß er in diesem Augenblicke nur an ihren Ruf und an die Leute zu denken schien, reizte sie zum Widerspruche, gab ihr einen Teil der fast verlorenen Tatkraft und Entschlossenheit wieder.

»Unsere Liebe steht auf dem Spiel, Eberhard, unsere Zukunft,« stieß sie nun hervor. »Nur ein rascher Entschluß kann uns retten. Mein Vater hat meine Hand ohne mein Wissen einem anderen versprochen, er wird mich zwingen ...«

»Beruhige dich, Etelka,« tröstete er mit sanfter Stimme.

Angesichts ihrer Erregung hatte er den festen Entschluß gefaßt, seine Ruhe zu bewahren, welcherlei Enthüllungen sie ihm auch machen werde. Und sich zu beherrschen, das wenigstens hatte er in seiner langen militärischen Laufbahn gelernt.

Er trat an sie heran und strich ihr das wirre Haar aus der von perlenden Schweißtropfen bedeckten Stirn. Dann nahm er das Tuch und trocknete ihr die Tränen aus den Augen. Und als er nun einen Kuß auf ihre vollen Lippen drückte, da erschauerte die schlanke, vor ihm in der Ecke des Sofas kauernde Gestalt des Mädchens, und ein leuchtender, ein fast siegreicher Blick aus ihren großen braunen Augen traf sein Gesicht.

»Aber, Kind,« sagte er nun in sanftem Vorwurfe. »Weißt du denn, bist du dir denn klar darüber, welch unüberlegten Schritt du heute unternommen hast? Wenn dein Herr Vater unserer Verbindung seinen Widerspruch entgegensetzt, das ist doch bei vielen Vätern der Fall, dann hättest du mir das einfach schriftlich mitteilen sollen, und wir hätten gewartet, bis der Widerspruch deines Vaters gebrochen ist. Nun hast du mich in die schlimme Lage versetzt, dich mitten in der Nacht hier zu empfangen, und in die schlimmere,« fuhr er lächelnd fort, »auf Mittel und Wege zu sinnen, wie ich dich in tiefer Nacht ungesehen aus dem Hause herausbringen kann. Es hat dich doch niemand auf der Treppe erkannt? Bist du zu Fuß gekommen oder im Wagen? Ist das letztere der Fall, dann hoffentlich auch nicht der Kutscher, dem du dich anvertraut hast? Das Haus hier wird von lauter jungen Kameraden und sonstigen Junggesellen bewohnt, ist also kein Haus, in das sich ein anständiges junges Mädchen bei nachtschlafender Zeit fahren lassen kann. So viel weißt du doch?«

Liebevoll und dennoch voll ernsten Vorwurfs waren seine schönen blauen Augen auf sie gerichtet.

»Das hast du dir doch alles selber im voraus sagen können, Etelka,« fügte er jetzt noch hinzu.

»Das habe ich mir alles gesagt, Eberhard,« sagte sie nun mit fester Stimme, »alles, was du mir da vorhältst, Eberhard, und dennoch bin ich zu dir gekommen, weil nur wir beide zusammen, wir allein uns retten können.«

Erstaunt, fragend, ungläubig sah er sie an.

»Ja, nur wir zwei allein,« wiederholte sie noch einmal in festem Tone. »So einfach wie du es dir vorstellst, liegen die Verhältnisse nicht, so leicht wird der Widerspruch meines Vaters nicht zu brechen sein. Seine Ehre, sein Wort hat er dem anderen verpfändet, daß er ihm mein Jawort bringen wird. Er hat mich an Dr. von Kutzleben verkuppelt.«

»Wer ist das?«

»Der Syndikus an der Kommerzbank, deren Leiter und man kann wohl sagen, deren Seele mein Vater ist. Es muß sich um wichtige geschäftliche Dinge, vielleicht geschäftliche Verlegenheiten handeln, daß mein Vater so weit gehen konnte, die Hand seiner ältesten Tochter als Preis auszusetzen. Aber er hat es getan, Eberhard, und durch einfache Worte und Vorstellungen wird er, wie ich meinen Vater kenne, von seinem Vorhaben nicht abzubringen sein.«

Waldburg war nachdenklich geworden. Er glaubte gehört zu haben, daß die Ehen in den jüdischen Finanzkreisen in vielen Fällen aus ganz anderen Motiven, als aus der gegenseitigen Zuneigung der beiden zunächst Beteiligten zustande kommen sollten.

Und deshalb fragte er nun:

»Hast du denn für deine Behauptungen irgendeinen Beweis, Etelka? Ist dir irgendein Motiv bekannt, aus dem dein Vater solchen Wert auf eine Ehe mit Kutzleben legen sollte. Ist er ein reicher Mann, hat er irgendwelchen Einfluß oder irgendwelche Macht?«

Etelka überlegte. Dann sagte sie:

»Soviel ich weiß, ist sein Vater Ministerpräsident in Walportshausen, ob es damit im Zusammenhange stehen kann?«

Und seltsam. Als Etelka den Namen Walportshausen nannte, erinnerte sich der Graf plötzlich eines Gespräches, das er an diesem Morgen in der Eisenbahn auf der Fahrt in seine Garnison mit angehört hatte. Der Name Seliger war von den beiden Herren, offenbar Angehörigen der Hautefinance, mehrfach genannt worden, deshalb hatte er hingehört. Man hatte von einem Bahnprojekt gesprochen, fiel ihm jetzt ein, dessen Trace von der Stadt nach Weilingen und Feldkirch führen und in Walportshausen endigen sollte. Die Namen waren in seinem Kopfe haften geblieben, weil er diese Ortschaften von Felddienstübungen her und aus dem letzten Kaisermanöver genau kannte. Das gab doch zu denken, wenn der Vater des von Seliger für Etelka erwählten Mannes Ministerpräsident in Walportshausen war, und Seliger als der eigentliche Urheber des neuen und interessanten Bahnbaus genannt wurde.

»Was überlegst du dir, Eberhard?« fragte nun Etelka.

»Wenn der Alte Ministerpräsident ist, dann kann die Sache allerdings ihren Haken haben,« sagte er ernst.

»Sie hat ihn, glaube mir,« beharrte sie.

Ein weher Zug der Trauer trat in das Gesicht des Grafen.

Es klang fast wie Rührung, als er nun mit beinahe brechender Stimme die Worte sprach:

»Und du kommst zu mir, Mädchen, wo unsere schönen Hoffnungen so trübe geworden sind?«

»Liebst du mich, Eberhard?«

Sie war von dem Sofa aufgesprungen, nun warf sie sich ihm lachend an den Hals. Mit jenem hellen, goldenen Lachen, das er auf den Bergen und in den Tälern von St. Moritz so oft an ihr bewundert hatte. »Etelka,« stammelte er, und seine Stimme zitterte.

»Weil nur wir zwei zusammen uns retten können, tat ich diesen letzten, verzweifelten Schritt.«

»Was hast du vor, Etelka?«

»Fliehe mit mir, entführe mich. Dann wird der Vater müssen, ob er will oder nicht!«

Nun war es heraus. Fest entschlossen, mit einer leidenschaftlichen Emphase und dennoch in einem Tone, aus dem er herausempfinden mußte, daß dies ihr voller Ernst war, hatte sie ihm diesen wahnwitzigen Vorschlag entgegengeschleudert.

»Du bist von Sinnen, Etelka! Meine Stellung, mein Name, deine, meine Zukunft!«

Sie lachte bitter.

»Meine Zukunft wird eine elende, eine an Sünden reiche Ehe an Kutzlebens Seite sein.«

Da nahm er sie in seine Arme, als ob sie ihm der Rivale entreißen wollte, und preßte sie fest an seine Brust.

Sie aber riß sich los.

»Bist du entschlossen, liebst du mich, oder fürchtest auch du für die Millionen, wenn uns der Vater auf die Dauer seines Lebens feind bleiben sollte?«

Wie physisch von ihren Worten getroffen, wankte er zurück.

Dann warf er sich vor ihr auf die Knie und stammelte: »Etelka, ich liebe dich! Du beleidigst mich ohne Grund, du tust mir unrecht. Freilich meine väterlichen Güter werden zu einem feudalen Leben kaum die Mittel abwerfen, und wir werden das eine oder andere verkaufen müssen, wenn wir mit deinem Vater in ewiger Feindschaft bleiben müßten. Aber gleichviel, du hast mein Wort, und ich bin gewohnt, mein Wort zu halten.«

»Nur deshalb?« kam es in kaltem Tone von ihren Lippen. »Ich gebe dir dein Wort zurück, geleite mich hinunter auf die Straße, nicht beim Worte wollte ich dich halten, ich gebe dich frei.«

Da lag er wieder zu ihren Füßen.

»Etelka, Etelka,« stammelte er, »ich liebe dich, ich liebe dich, wie ich noch nie einen Menschen auf dieser Welt geliebt habe! Wo treffen wir uns morgen, ich bin bereit.«

»Heute, nicht morgen, in dieser Nacht noch, Eberhard,« antwortete sie. »Ich muß aus dem Machtbereiche des Vaters, sonst sind wir beide uns verloren. Höre, ich habe den Plan erwogen. Du bist erst heute von deinem Urlaub zurückgekehrt, wann läuft er ab?«

»Morgen mittag um zwölf.«

»Du bittest morgen früh von irgendeinem Platze aus telegraphisch um Verlängerung deines Urlaubs und wir, wir reisen in dieser Nacht!« »Aber, Kind, es gehören auch Mittel zu einer solchen Reise, die sich unter Umständen Wochen, ja Monate hinziehen kann.«

Wortlos reichte sie ihm das Einlagebuch, in dem er verständnislos blätterte.

»Das sind meine Ersparnisse,« sagte sie in ruhigem Tone. »Sie können bei jeder Filiale der Deutschen Bank in bar gegen meine Unterschrift abgehoben werden, und sie werden reichen, bis wir irgendwo nach Recht und Gesetz Mann und Frau geworden sind.«

»Und wo?« fragte er verwirrt, da er sich nun völlig in ihrer Gewalt, wie in der Macht eines Dämons fühlte.

»In England,« antwortete sie. »Eine meiner Freundinnen, die geschieden ist und in Deutschland sich mit ihrem Liebhaber nicht verheiraten durfte, hat sich auch in England trauen lassen. Dort macht man keine Schwierigkeiten. Ich weiß es von ihr mit aller Bestimmtheit, sie hat mir noch neulich im Kränzchen die ganze Affäre erzählt.«

Sie sah nach der Uhr.

»Noch eine Stunde haben wir Zeit. Um elf Uhr fünfundvierzig fährt der D-Zug nach Köln, er hat direkten Anschluß nach Vlissingen, wo ihn morgen mittag der Dampfer erwartet. Morgen gegen Abend sind wir in London. Hat der Bursche deine Sachen schon ausgepackt?«

Ein Blick in das Schlafzimmer zeigte ihm, daß der Reisekoffer noch unberührt dastand, so wie er ihn an diesem Nachmittag dem säumigen Diener übergeben hatte.

Diesen in der Hand kam er zurück.

»So komm,« sagte er leise und verließ mit ihr, keines Widerspruches fähig, das Haus.


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