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I.

Der »lange Tag« ging zu Ende. Nur noch eine knappe halbe Stunde war es bis Sonnenuntergang, dann durften die Gläubigen wieder »anbeißen«.

In dem kleinen, an der nordbayrischen Grenze gelegenen Marktflecken, dessen schindelgedeckte Hütten und Häuser von den lieblichen Höhen des Spessart umrahmt werden, schritt der Kantor und Vorbeter Perez Mandelbaum an der Seite seines einzigen Sohnes dem von seiner Familie seit fast einem Jahrhundert bewohnten Gehöfte zu.

Die Unbill, die er und die Seinen samt allen Mitgliedern der kaum sechzig Seelen zählenden jüdischen Gemeinde jahraus, jahrein von Seiten der etwa sechstausend Köpfe starken bäuerlichen Bevölkerung des Städtchens zu erdulden hatten, sie war heute vergessen. Denn am großen Versöhnungstage verzieh man seinem Feinde und machte Frieden mit seinem Widersacher. Und nun gar er, der eben den Samen dieses Friedens und dieser Versöhnung ausgestreut hatte in die Herzen seiner Gläubigen! Wie ein wahrer Rabbi kam er sich in dieser Stunde vor. Nicht wie ein simpler Kantor und Vorbeter, der kaum im Talmud zu lesen verstand, der keine Studien und kein Examen hinter sich hatte. Nein, wie einer, der da wandelte über die Hügel Moria und Zion, wie einer, der da lehrte im Vorhof des Tempels und in den Schulen, ein Eiferer im Gesetz der Väter, ein Verkünder der Propheten, der Perez Mandelbaum auch in der Tat all sein Leben Tag und Nacht war.

In seinem eigenen Innern und in dem Herzen des Sohnes, der wortlos an des Vaters Seite einherschritt, hallten sie auch alle noch nach, die großen, die schönen, die erhabenen Worte, die er eben in dieser Bußpredigt des großen Versöhnungstages an all die Gläubigen des kleinen Fleckens gerichtet hatte. In seinem Innern tönte es noch, wie er geeifert hatte gegen die Weltlust und die Hoffart, gegen die Habgier und die Geldsucht, die Unversöhnlichkeit und den Unglauben, die heute mehr denn je das Volk seiner Väter erfaßt hätten, das Volk, das Gott ausgetrieben aus dem gelobten Lande wie einst in den Tagen Babylons, das er wohnen lasse zur Strafe für seine Sünden als Knechte unter den fremden Völkern, in den großen Städten, dem der Herr Macht und Glanz und Reichtum verleihe, um es zu blenden und nur noch tiefer hineinzuführen in das Verhängnis, weil es die heilige Stätte des Tempels vergessen, das Volk, das mit den Unreinen zu Tische sitze und nicht mehr halte die Waschungen, die Satzungen und die Gebote. Von einer großen, reichen und fernen Stadt, in der er einmal als Knabe mit seinem Vater gewesen, hatte Perez Mandelbaum heute seinen Gläubigen in der Bußpredigt des großen Versöhnungstages erzählt. Von einer Stadt, in der alle großen Geschäfte in den Händen der Söhne seines Volkes seien, wo sie und ihre Frauen und Kinder führen in glänzenden Wagen, hielten die üppigsten Feste, wohnten in Palästen, äßen wie einst Herodes von goldenen Schüsseln und Tellern und mischten sich mit den Söhnen und Töchtern der Unreinen. Von einer Stadt, wo sie die Herrscher seien im Rate und in der Gesellschaft, wo die öffentliche Meinung, die Presse und das Theater, die Kunst und die Politik hinübergeglitten seien in ihre Hände, und wo dennoch Beelzebub, der oberste der Teufel, des Tages harre, sie alle zu vernichten mit dem Schwerte, mit dem Elias die Priester Baals, mit dem Titus die heilige Stadt der Väter schlug.

Das alles hatte Perez Mandelbaum heute seinen Gläubigen verkündet. Und nun schritt er daher an der Seite seines einzigen Sohnes wie ein Prophet des alten Bundes, der dreimal das Wehe über die Sünden seines Volkes ausgerufen hat.

In dem langen schwarzen, kaftanartigen Gewande sah Mandelbaums hohe, hagere Gestalt, die nun auf einer kleinen Anhöhe stand, wo sein Anwesen, »der Jiddehof«, lag, in der Tat wie der berufene Bußprediger des heutigen Tages aus. Glänzend schwarze, nach Altvätersitte geringelte Locken umwallten das infolge der engherzig eingehaltenen Fasten blasse Gesicht, das spitze Kinn verdeckte ein langer, schon angegrauter und schlecht gepflegter Vollbart, über dem die heute von der Aufregung leicht geröteten Wangen mit den scharfen Backenknochen unschön hervortraten. Das wunderbarste an der ganzen Erscheinung Mandelbaums waren aber die unter der hohen weißen Stirn wie vergraben liegenden, von starken Brauen und Wimpern geschützten, in fanatischem Feuer leuchtenden schwarzen Augen, in denen sich eine Welt von Liebe und Güte malen, und die in der nächsten Minute in leidenschaftlichstem Hasse aufblitzen konnten.

Denn Perez Mandelbaum war der echte Sohn seines Stammes, so sehr ihm auch an gewöhnlichen Tagen des Jahres seine Volksgenossen aus dem Wege gingen, und so viel ihn die Praktischen und Schlauen, die Weltklugen und Vorwärtskommer zu verlachen pflegten. Er war geschnitzt aus dem Holze jenes großen Rabbi, gegen den er zetern und wettern konnte, und auch er wäre nicht der Letzte gewesen, um sich der von ihm als gerecht erkannten Sache zuliebe von Haus und Hof jagen, um sich für eine Idee ans Kreuz schlagen zu lassen.

Freilich er war ja nur ein Kleiner, ein ganz Kleiner in dem großen Weinberge des Herrn, ein Tagelöhner, wie er sich selber gern in seinen Predigten zu nennen pflegte, den man allabendlich ablohnt und von dem man nicht weiß, ob man seiner Dienste am nächsten Tage noch bedarf.

Geburt und Geschick hatten ihn festgenagelt an diesen kleinen Marktflecken, in den vor nun beinahe hundert Jahren sein Großvater Abraham Mandelbaum aus dem Pfälzischen als Viehhändler eingewandert war. Abraham war weniger schwärmerisch als sein Enkel Perez gewesen, er hatte mit allem und jedem Geld zu machen verstanden. Bald war ein Acker und bald eine Wiese von einem Bauern, der die Zinsen nicht hatte zahlen können, an den alten Abraham Mandelbaum gefallen, der sich nicht nur auf den Pferde- und Rindviehkauf, sondern auch auf die Geldgeschäfte vortrefflich verstanden hatte.

Ein stattliches Haus mit Ställen und Wohnräumen, im Orte kurzerhand »der Jiddehof« genannt, erhob sich, als Abraham starb, an Stelle der Hütte, die er einst für ein paar lumpige hundert Taler kurz nach seinem Einzug in den Flecken gekauft hatte. Der Vater des Schwärmers war der Erbe des nicht zu verachtenden bäuerlichen Anwesens geworden, indessen der jüngere Bruder Jakob mit einer reichlichen Geldentschädigung in die große Stadt gewandert war. Dem war das Glück dort hold gewesen. Er war einer von denen geworden, gegen die der Neffe heute in seiner von kaum hundert Ohren gehörten Bußpredigt geeifert hatte. Er fuhr in einem glänzenden Wagen, er machte große Geschäfte an der Börse und dachte weder des Gottes seiner Väter noch seines Neffen Perez, unter dessen Leitung der väterliche Hof wieder mehr und mehr verarmte, und der schließlich zum Kantor und Vorbeter herabgesunken war, da er zum Viehhandel und Geldverleihen, die den Großvater und Vater einst reich gemacht hatten, offenbar kein Geschick besaß.

An den jüngeren Bruder seines Vaters, Jakob Mandelbaum, dachte Perez, als nun ein liebevoller Blick aus seinen großen schwarzen Augen auf die schmächtige Gestalt des an seiner Seite stehenden einzigen Sohnes David fiel. Dem achtzehnjährigen Jungen war es in dem Flecken und auf dem »Jiddehof« zu enge geworden. Auch er war ein Schwärmer, aber nicht der Fanatiker von der Art des Vaters. Seine zügellose, ins Weite schweifende Phantasie ließ es ihm unmöglich erscheinen, auszuhalten auf dem Hofe seines Vaters, in dem kleinen Flecken, und wie dieser Kantor und Vorbeter einer sechzig Köpfe zählenden Gemeinde zu werden.

Er wollte, er mußte hinaus in die große Welt, in die Stadt, gegen die der Vater auch heute in seiner Bußpredigt gewettert hatte.

Schweren Herzens hatte sich Perez Mandelbaum endlich dazu entschlossen, einen Brief an seinen Vaterbruder Jakob in die große Stadt zu schreiben und diesen um Rat zu fragen. Und Jakob hatte voller Freundlichkeit geantwortet. Und dennoch, eine leise Schadenfreude hatte Perez aus diesem freundlichen Briefe herausgelesen, eine Schadenfreude darüber, daß der einzige Sohn des unpraktischen Schwärmers sich nicht wohl zu fühlen scheine in der frommen und weitabgewandten Stille des väterlichen Hauses, daß es ihn, gerade ihn hineinziehe in die große Stadt, wo das Geld pulsierte, und wo die Tausende, die Hunderttausende, die Millionen verdient und gewonnen, verloren und wieder erarbeitet würden, sie, die der Schwärmer Perez immer verachtet, gegen die er in all seinen Reden geeifert hatte. Geradezu unheimlich war Perez die übergroße Freundlichkeit gewesen, mit der sich seines Vaters Bruder Jakob des Geschickes seines Sohnes David annahm.

Er selbst führe kein Geschäft in dem von David gemeinten Sinne, hatte Jakob Mandelbaum geschrieben. Er sei Börsenmakler und Immobiliensensal, was ja beides ein schönes Stück Geld abwerfe, aber zum Lernen für einen jungen Mann nicht das richtige sei. Perez solle seinen Sohn in ein großes Bankgeschäft als Lehrling stecken, und wenn David schlau sei, dann würde er später schon selber sehen, wie er vorankomme. In der Meinung, seinem lieben Neffen und dessen Sohn zu dienen, habe er daher mit seinem Geschäftsfreunde Harry Seliger, dem Inhaber des früheren Langschen Bankgeschäftes, gesprochen, und dieser sei bereit, David Mandelbaum zum 1. Oktober als Lehrling in seinem Bureau einzustellen. Der Junge solle also bis dahin seine Sachen instand setzen und sich am Morgen des 1. Oktober pünktlich um 9 Uhr in dem Langschen Bankhause, der jetzigen Kommerzbank, Kaiserstraße 63, bei dem Chef melden.

Vor acht Tagen war dieser Brief in die Hände von Perez Mandelbaum gelangt und hatte diesem acht schlaflose Nächte bereitet. Heute war der große Versöhnungstag und der 29. September. Morgen sollte David die Reise in die große Stadt antreten, und dann war Perez auf dem einsamen Gehöfte und in dem kleinen Flecken allein.

Denn Perez Mandelbaum war seit achtzehn Jahren Witwer. Zwölf kurze Monate hatte das unfaßbare Glück an der Seite seiner schönen Rebekka gedauert, die ihm noch der Vater gefreit hatte, denn selber hätte der schüchterne und weltverlorene Perez einem Mädchen gegenüber niemals den Mut zu einem Antrag gefunden. Auch hätte das damals der Sitte seines Vaterhauses und den Gepflogenheiten seines Stammes widersprochen, sich selber der Auserwählten seines Herzens zu nahen und dieser von Liebe zu sprechen. Heute freilich war das alles selbst in dem kleinen Marktflecken an der nordbayrischen Grenze ganz anders geworden. Aber damals! Da berief man das in allen jüdischen Familien wohlbekannte Schadchen, einen Mann mit feinen Kleidern, weltmännischen Manieren und diplomatischer Veranlagung. Von dem nahm man Vorschläge in betreff der heiratsfähigen Mädchen entgegen, und wenn man sich sattsam über Alter, Gesundheit, Familie und Vermögenslage der betreffenden unterrichtet hatte, dann machte das Schadchen den ersten schüchternen Versuch, bei der zukünftigen Braut und bei deren Familie anzuklopfen. So hatte es die alte gute Sitte der Väter verlangt.

Freilich ganz so schablonenhaft war es bei der Werbung, die Rebekka Stein zum Weibe des Perez Mandelbaum gefordert hatte, nicht hergegangen. Der alte Stein, ein mit Töchtern reich gesegneter Familienvater, der seine liebe Not gehabt, hatte drüben im Bayrischen in einem kleinen Dorfe schlecht und recht gehaust. Das Geschäft hatte ihn mit Jakob Mandelbaum in jeder Woche zusammengeführt, denn er brachte die Kälber und schlachtreifen Rinder der Bauern in den Marktflecken zum wöchentlichen Verkauf. Feilschend und sich gegenseitig über- und unterbietend hatten sich Jakob Mandelbaum und Simon Stein liebgewonnen, und bei einem den Wochenmarkt beschließenden Tanzvergnügen in der »grünen Linde« war die schwarzhaarige Rebekka mit den dunkelbraunen Glutaugen eines schönen Abends plötzlich aufgetaucht. Vor den Augen des schwärmerischen Perez war sie aufgegangen wie ein schöner, leuchtender Stern im Dunkel der Nacht.

Von Tag zu Tag war der stille und ernste Junge noch wortkarger und verschlossener geworden zur Verzweiflung seines Vaters, der einen praktischen und gewandten Geschäftsmann aus seinem Perez machen wollte, einen Mann, ähnlich seinem jüngeren Bruder Jakob, der in der großen Stadt saß und spielend die Hunderte und Tausende verdiente. Und eines schönen Tages war Perez, Tränen in den Augen, vor seinen Vater getreten und hatte zweierlei gesagt.

»Vater,« hatte er gesagt, »ich muß mit Euch reden, Vater. Ich will ein Rabbi werden, der den Menschen das Heil und die Wahrheit verkündet, und, Vater, ich kann nicht leben ohne die schwarze Rebekka, gib mir sie zum Weibe und laß' mich werden ein Rabbi!«

Da hatte der alte Handelsmann die Hände über dem Kopfe zusammengeschlagen und hatte seine Meinung gesagt in seiner Art und Weise: »Perez, Schemihl, biste meschugge?! E Rabbi willste werden, wo nichts is dran zu verdienen, und dem Stein seine Rebekka willste machen zu deinem ehelichen Weibe, wo nichts hat als fünf lebendige Schwestern und e ganz zerrissenes Hemd auf dem Leib?«

Da hatten die hellen Tränen in den Augen seines Perez gestanden, und der Junge hatte kein Wort mehr erwidert und war davongeeilt. Drei Tage hatte der alte Mandelbaum auf seinem Widerstand beharrt. Aber als man nach drei Tagen immer noch nichts von seinem Perez gesehen und gehört hatte, da war er weich und ängstlich geworden, da ließ er die Wälder absuchen und die einsamen in der Gegend verstreuten Gehöfte nach dem Verlorenen, und endlich hatte man ihn halb erfroren und halb verhungert in einer Arbeiterhütte im tiefen Walde gefunden.

Und damals war Moses Mandelbaum, der so viele übervorteilt und so manchen kleinen Mann um seine letzte Kuh und sein Gemüseländchen gebracht hatte, in sich gegangen. Er hatte an seine Brust geschlagen und hatte gerufen: »Gott, der Herr meiner Väter, ist ein gerechter Gott. Er hat mich gestraft in meinem Sohne, der will werden e Rabbi und heiraten das Mädchen, das ist arm. Gott hat mich gestraft.«

Und noch an demselben Tage hatte er angespannt und war zu Simon Stein hinüber ins Bayrische gefahren und hatte selbst den Brautwerber um Rebekka für seinen Sohn Perez gemacht. Der alte Stein, der eine bettlägerige Frau und sechs unversorgte Töchter, eine schöner als die andere, wie er immer zu sagen pflegte, zu Hause hatte, war bei Moses Mandelbaums im Wirtshaus nach der Regelung des Viehkaufs erfolgter Werbung fast in die Erde gesunken. Ungläubig, als ob er nicht recht verstanden hätte, hingen seine großen hervorstehenden, graugrünen Augen an den Lippen seines alten Geschäftsfreundes. Als ehrlicher Mann stammelte er: »Mandelbaum, weißte was de redest, Mandelbaum, ich kann ihr geben nichts mit, als was se hat auf dem Leibe, Mandelbaum, und ihre Tugend, für die bin ich gut, Mandelbaum.«

Aber Mandelbaum hatte eingeschlagen in die harte, ihm dargebotene Rechte seines Freundes Stein und hatte gesagt: »Siehste, Stein, mein Perez is geworden krank und siech nach der schönen Rebekka. Er will werden e Rabbi und er will verkünden der Welt das Recht und die Wahrheit un ich dachte aus ihm zu machen einen großen Geschäftsmann wie sein Onkel Jakob, was is fast ein Millionär drunten in der großen Stadt. Aber man soll nicht löken wider den Stachel, man soll sich nicht auflehnen, Stein, gegen den Willen des Herrn. Denn der Herr, der das Heer der Ägypter schlug in der Finsternis, hat die Macht, und des Herrn Macht ist ewig. Und wie der alte Elieser warb um Rebekka am Brunnen für den Sohn seines Herren Abraham, so werbe ich in Wahrheit um deine Rebekka für meinen Perez, damit sich die Hand des Herren nicht im Zorne auf uns senke. Denn mein Perez würde dienen sieben Jahre um deine Tochter wie der Erzvater Jakob um die Rahel und er fühlt in sich die Kraft des Herren wie Simson, den seine Mutter dem Tempel gelobte.«

»Du bist ein frommer Mann und ein guter Mann, Mandelbaum,« hatte Stein darauf erwidert, »und nun komm mit zu meinem Weibe und zu Rebekka, daß ich ihnen künde die Freude, die uns durch deine Werbung is widerfahren.«

So war es damals hergegangen vor neunzehn Jahren, als Perez Mandelbaum die schöne Rebekka Stein zum ehelichen Weibe begehrt hatte. Und kurz nach der Hochzeit war Perez der alleinige Erbe von dem »Jiddehof« geworden. Bei einem Viehtransport aus dem Bayrischen war der Vater tödlich verunglückt. Ein wütender Bulle, den der Alte nicht mehr bändigen konnte, hatte ihm mit den Hörnern den Leib aufgerissen, mitten auf der Landstraße zwischen dem Dörfchen und dem Marktflecken, und als man den furchtbar Verwundeten auf einem Leiterwagen endlich in das Krankenhaus brachte, hauchte er mit den Worten: »Gott segne meinen Sohn Perez,« seine arme Seele aus.

Da hatte die Zeit der geistigen Reife und die der praktischen Selbständigkeit für den jungen Perez begonnen. Ein einziges Jahr ungetrübten Glückes war ihm an der Seite seiner Rebekka zuteil geworden. Des schlauen Simon Stein kluge Tochter hatte ihm die Idee, jetzt als verheirateter Mann noch mit dem Studium der Theologie zu beginnen, gründlich ausgeredet, sie hatte ihn darauf hingewiesen, sich dem Hofe und den Geschäften zu widmen, und in den kurzen Monaten seiner glücklichen Ehe mit Rebekka blühten Hof und Geschäfte in seiner Hand. Und bald nach der Hochzeit war die selige Stunde gekommen, da ihm sein Weib ins Ohr geflüstert, daß der Herr seinen Bund mit Rebekka gesegnet habe, und er, er sah darin ein sichtbares Zeichen der Liebe und der Gnade des Herrn, der ihn und seinen Samen groß machen wollte, wie den Samen des Vaters Abraham, dem er einst ein Land der Verheißung und den Segen für alle Geschlechter der Erde versprochen hatte.

Und aus diesem wolkenlosen Himmel des Glückes hatte ihn eines Tages die Geburt seines einzigen Sohnes David gerissen. Drei Tage war das Kindlein alt, das Messer des Rabbi hatte gerade das Werk der Beschneidung getan, da befiel die Wöchnerin in der Schlafstube ein schweres Kindbettfieber, von dem es keine Rettung gab. Als Davidchen zehn Lebenstage zählte, trugen sie die arme kalte Rebekka hinaus auf den Friedhof in die Ecke, wo keine Blumen blühen und wo sich keine Rosen um Holz- und Eisenkreuze winden, wo die verwitterte, den meisten unlesbare Schrift der Väter auf den plump behauenen Steinen und den zerbrochenen Säulen kündet, daß hier der Herr über Leben und Tod das Ziel gesetzt hat einem Menschendasein, das da war wie ein Gras, wie die Blume auf dem Felde, die da frühe blühet und bald welk wird, die des Abends abgehauen wird und verdorret.

Und eine solche Blume war auch die kaum zwanzigjährige Rebekka gewesen, der der Herr über Leben und Tod plötzlich ein Ziel gesetzt hatte, mitten in der Bahn. Und nicht allein ihr, mit ihr auch ihm, mitten in der Bahn! Denn mit dem Tode Rebekkas war der große Wandel in seinem ganzen Wesen eingetreten. Seit diesen Tagen war Perez Mandelbaum der stumme Perez geworden. Wie er heute schweigsam, fast wie ein Verklärter dahinschritt an der Seite seines Sohnes, so war er achtzehn Jahre lang an dessen Seite dahergegangen. Die Sorge um den Hof und die Geschäfte, die er zusammen mit Rebekka ein Jahr lang im Sinne seines Vaters schlecht und recht geführt, hatte er der alten Buxbaum überlassen, einer jüdischen Vettel, die zu den Kindbetterinnen pflegen ging, und von der man sagte, daß sie noch manche außer der jungen Rebekka Mandelbaum zu Tode gepflegt habe. Denn die alte Buxbaum, die damals schon halb taub und blind gewesen, hatte es sich nicht zweimal von Perez sagen lassen, sie solle doch auf dem »Jiddehof« bleiben und sich des armen kleinen, mutterverlassenen Waisenknaben annehmen. Sie war gerne geblieben, und unter ihren welken Händen wuchs Davidchen heran.

Als die Rebekka mit Davidchen niederkam und bald darauf ihr junges Leben ließ, war die Buxbaum dreiundsechzig gewesen, nun war sie einundachtzig, aber immer noch flink auf den Beinen, und blind und taub und furchtbar dürr und häßlich anzuschauen, so daß kleine Kinder und schwangere Weiber einen Schrecken bekommen konnten. Aber gut war sie und verträglich, und ihr Pflegekind Davidchen hatte sie über alle Maßen liebgewonnen, je mehr der Vater seine eigenen Wege gegangen war und sich nicht um das Kind gekümmert hatte. Denn damals nach Rebekkas Tode war in Perez Kopfe aufs neue der Gedanke lebendig geworden, daß er ein Rabbi werden müsse, einer, der der Welt und den Söhnen und Töchtern seines Volkes die Wahrheit und das Recht verkündet. Und so hatte Perez Mandelbaum eines Tages Kind und Haus der alten Buxbaum überlassen und war hineingefahren in die Stadt, um sich dort für das Rabbinat vorbereiten zu lassen. Nach einem Vierteljahr war er aber zurückgekehrt auf den »Jiddehof«, krank an Leib und Seele, fast ein gebrochener Mann. Denn die Kenntnisse, die er sich in der Jugend angeeignet, sie hatten nicht ausgereicht zum Studium, und was er dort in der Stadt gehört und gesehen, hatte ihn mit tiefer Wehmut und mit Entrüstung gegen die Söhne und Töchter seines Volkes erfüllt.

Und damals war ihm eingefallen, daß die großen Propheten und Bußprediger seines Volkes hinausgingen in die Wüste, sich vorzubereiten auf den heiligen Beruf eines Verkündigers von Gottes Strafgericht.

Da war auch er menschenscheu geflohen in die Stille der Wälder und hatte voll Eifer und in heißer Inbrunst die heiligen Schriften seines Volkes studiert. Und da in vielen Monaten der Einsamkeit war es langsam klar geworden in seinem Kopfe und ruhig in seiner Seele. Aus der unendlichen Wölbung des blauen Himmels, im Rauschen der Blätter, im Erblühen und Verwelken der Blumen, im Sturmwind und Gewitterschauer hatte draußen in der freien Natur der Eine zu ihm geredet, der da war von Anbeginn der Welt, der da ist und der da sein wird in alle Ewigkeit. Den Einen und Gerechten, vor dessen Auge es keine Verhüllung, vor dessen Ohr es keine Lüge gab, hatte Perez Mandelbaum in der Einsamkeit seiner Wälder gefunden, und ihn, diesen Einen und Einzigen, allein in seinem Herzen und in seinen Sinnen, war er aus dem Bergwald, in dem er sechs Monate gehaust hatte, wieder hinabgestiegen in den Flecken, in das alte Gemäuer seines Hofes und hatte in der damals freigewordenen Vorbeter- und Kantorstelle den Beruf seines Lebens gefunden, dem er nun seit siebzehn langen Jahren mit einer an Fanatismus grenzenden Liebe an jedem Sabbat und an jedem Feiertage des Jahres oblag.

Während der Vater in all den Jahren sich einzig und allein diesem seinem frommen Berufe widmete, war unter den welkenden Händen der alten Buxbaum der kleine David allmählich herangewachsen. Ein seltsamer, in sich gekehrter Mensch, dieser schmächtige, schwarzhaarige Judenjunge mit der scharf gebogenen Adlernase und den wunderbaren dunkelbraunen Augen, die das Erbteil seiner Mutter, der schönen Rebekka, waren. Schon um dieser Augen willen hatte Perez Mandelbaum das Kind nur verstohlen und von der Seite betrachten können. Sie erinnerten ihn an sein allzu früh verlorenes Glück, sie waren und blieben eine ewige Mahnung an die heißgeliebte Entrissene und sie brachen die notdürftig vernarbten Wunden seines armen Herzens immer wieder aufs neue auf. Um sich vor sich selber und vor dieser Erinnerung zu schützen, überließ Perez den kleinen David der alten Buxbaum, die dem Kinde und dem heranwachsenden Knaben nicht viel zu berichten hatte, die nichts anderes vermochte, als die welkenden Hände mit einer rührenden, mütterlichen Liebe über diese junge Menschenpflanze zu breiten.

War doch die Buxbaum in ihrer Jugend einmal selber die glücklichste Gattin, die Mutter von fünf Kindern gewesen! Aber der Herr, der da gab, nahm auch wieder, nicht nur den Mann, den eine Blutvergiftung dahinraffte, nein auch die Kleinen alle fünf in einem einzigen Jahre, als eine Scharlachepidemie unter den Kindern des Fleckens gewütet hatte. Daß die Buxbaum damals nicht den Verstand verlor, daß sie sich aufrecht erhielt und noch die Kraft fand, sich als alleinstehende Frau dem schweren Gewerbe einer Kindbettpflegerin zu widmen, das verdankte sie einzig und allein ihrem Glauben, der da stärker war als der Tod, der die Berge versetzen konnte und der sich zu trösten vermochte mit dem Worte der Väter: Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt.

Etwas von diesem Glauben, der an Resignation unter die schwere Hand des Schicksals grenzte, hatte sie auch dem kleinen David beigebracht, der als Vier- und Fünfjähriger neben dem Misthaufen mit den Hühnern und Tauben des Hofes spielte, der als Sieben- und Achtjähriger mit den Kindern der christlichen Bauern und Handwerker in die Gemeindeschule lief, um die Buchstaben des Alphabetes und die vier Spezies des Rechnens zu seinem unverlierbaren geistigen Besitz zu machen.

Die kleine jüdische Gemeinde verfügte nicht über eine eigene Schule. War ein Judenjunge oder ein Judenmädchen so weit, und konnten es die Eltern zu seiner Erziehung nicht in die Stadt geben, dann lief es eben mit oder vielmehr neben den andern in die öffentliche Schule, wo es allein oder zusammen mit drei oder vier Leidensgenossen auf der untersten Bank in der Judenecke saß und, was es von selber hörte und begriff, mit den andern mitlernen durfte. Denn der Herr Lehrer kümmerte sich wenig um solch einen Jungen und um solch ein Mädchen in einer Schule, wo der Religionsunterricht die Hauptsache war, und Hochwürden, der Herr Pfarrer, alle Woche einmal revidieren und nach den Hauptstücken des Katechismus fragen kam.

In der Judenecke auf der untersten Bank hatte auch Davidchen Mandelbaum gesessen und die Glutblicke seiner schönen dunkelbraunen Augen hinüberschweifen lassen zu den vollbesetzten Bänken der Glücklichen, der blonden Knaben und Mädchen, die hier für voll angesehen wurden, mit denen sich der Herr Lehrer die ganze Stunde über beschäftigte, indessen er für seine Tafel, auf der er sich redlich mühte und plagte, kaum einen flüchtigen Blick zu haben pflegte. So hatte Davidchen Mandelbaum für sich allein in der Schule und zu Hause gelernt und gearbeitet. Als er zu lesen verstanden, war die Geißblattlaube hinten an der Gartenmauer unter dem hohen Nußbaum im Sommer sein Lieblingsplatz geworden. Hier hatte man eine weite Aussicht in die Lande, und hier ließ es sich vortrefflich phantasieren und träumen. Die alten Bücher, die er in des Vaters Zimmer und droben in der Bodenkammer gefunden, sie waren hier seine Freunde geworden. Freilich in vielen hatte er trotz aller Mühe, die er sich gegeben, nicht zu lesen vermocht. Viele waren in seltsam großen eckigen Buchstaben gedruckt, in hebräischen und aramäischen Lettern, wie er jetzt wußte.

Trotz seiner Bitte hatte ihn der Vater nicht eingeweiht in die Kunst, diese Ungeheuer von Buchstaben zu lesen, und das hatte lange und tief gewurmt und genagt an seinem kindlichen Herzen. Denn er hatte sich eingebildet, daß gerade diese Bücher, die er nicht lesen konnte, die wichtigste Weisheit enthalten müßten. Aber bald fand er einen Trost in anderen Schriften, die, von niemandem gesucht und beachtet, in der Ecke der Bodenkammer verstaubten und vermoderten. Mit diesen schlich er sich in seine Geißblattlaube, und wenn der Herbst kam, und wenn der Wind in wildem Sturme um den »Jiddehof« pfiff, dann kroch er zu der alten Buxbaum an das Herdfeuer der Küche und las dort wundersame Geschichten in den alten Büchern von Harun al Raschid, dem großen Zauberer, von dem Schatze in der Höhle Xa Xa, von der schönen Melusine und der wundervollen Fatme. Auch gereimte Sprüche und Lieder fand er, und ganz plötzlich regte sich in seinem Herzen der Wunsch, auch solche Geschichten ersinnen und solche Lieder machen zu können. Aber trotz aller Mühe, die er sich gab, es wollte und wollte ihm nicht gelingen, bis eines Tages das große Ereignis in sein junges Leben trat, von dem er heute wußte, daß es ihn ganz heimlich und still, so ganz von selber aus einem Träumer und Phantasten zu einem Dichter gemacht hatte.

Das war damals gewesen, als er, ein Vierzehnjähriger, in der Schule zum ersten Male gesehen, daß des reichen Mittelhofbauern blonde Marei viel goldenere Haare und viel blauere Veilchenaugen als all die andern Mädchen in der Klasse hatte. Das große Einmaleins und der Aufsatz, den sie zu schreiben hatten, waren ihm mit einem Male die gleichgültigsten Dinge von der Welt geworden. Wie ein Weltverlorener saß er in der Klasse in der untersten Ecke auf seiner Judenbank und starrte hinüber zu der blonden Marei, die die verzehrenden Blicke aus seinen dunkelbraunen Glutaugen wohl bemerkt hatte. Das war an einem heißen Julitage gewesen, und als er sich gegen Abend allein in seiner Geißblattlaube befand, kritzelte er mit seiner Bleifeder auf das fettige Papier, in das ihm die Buxbaum sein Vesperbrot gewickelt hatte, seine ersten Verse: »Deine Augen sind zwei blaue Sterne, die erblühten in der Sonne Schein, sind des Sommerhimmels hohe Ferne, sind des Berges schönster Edelstein. Deine Lippen sind des Meers Korallen, sind der Junirosen dunkle Pracht, sind Rubinen, die in Felsenhallen haßerfüllt der Höhle Gnom bewacht. Deiner Haare wunderbare Flechten sind das Gold in schwarzer Erde Schoß, drum im Kampf die rohen Männer rechten, sind des Jünglings bitteres Todeslos.«

Dies war sein erstes Gedicht.

Voll tiefen Schauers überflog er damals diese mit zitternder Hand geschriebenen Zeilen. Er las sie zwei-, dreimal langsam durch und zerknüllte das Papier, auf dem er seinen ersten leidenschaftlichen Gedanken an Marei den poetischen Ausdruck verliehen hatte, und warf den Knäuel weit von sich fort. Dann suchte er ihn behutsam unter den Steinen und Holzspänen, die in der Geißblattlaube lagen, wieder hervor und zerriß ihn in hundert kleine Fetzen, die er dem Spiel des sommerlichen Windes übergab. So schämte sich seine keusche Knabenseele des ersten tiefen und unvergeßlichen Eindrucks, den das Weib auf sie gemacht hatte. Mit niemandem, auch nicht mit der alten Buxbaum, sprach er von Marei; aber dieser selber konnten die werbenden Blicke nicht entgehen, die Davidchen Mandelbaum an jedem Morgen nach ihrem Platze richtete, und eines schönen Tages wurde es dem Mädchen zu bunt. In der Pause trat sie voll Zornes an ihn heran und sagte: »Das geht nicht, David Mandelbaum, daß du mich an jedem neuen Tage mit deinen Blicken verfolgst. Ich muß mich ja vor den Leuten schämen, denn du bist ein schmieriger Judebub, und ich bin eines reichen Bauern ehrsame Tochter. Hast du mich verstanden, David Mandelbaum?«

Da hatte er den Traum seiner Nächte und die Hulderscheinung seiner seligen Jugendtage angestarrt mit einem einzigen großen und entsetzten Blicke, und dann war er davongerannt aus der Schule, trotzdem der Unterricht noch gar nicht zu Ende war. Oben auf dem Heuboden hatte er sich verkrochen und hatte geschluchzt, daß sich die Steine hätten erweichen können. Und seit jenem Tage war er fortgeblieben aus der Schule und hatte angefangen zu arbeiten, auf dem Hofe seines Vaters, wo es viel zu tun gab, da die alte Buxbaum fast nichts mehr sah, und da der Vater sich nur um seinen Beruf als Rabbi kümmerte.

Der Lehrer hatte gesagt, wenn David Mandelbaum wolle, könne er ruhig fortbleiben, er habe genug gelernt und konfirmiert wie die andern Kinder würde er ja doch nicht, weil er bloß ein Judebub sei.

Damals hatte sich David Mandelbaum bei Baruch Süßmann in der Marktgasse, in der Handlung, wo es alles gab, ein dickes Heft in einem festen Einbande gekauft. In dieses schrieb er alle seine Gedanken, wie sie ihm gerade in den Sinn kamen, bald in Prosa, bald in Reimen, und dieses Heft, in das er niemandem einen Einblick gewährte, war sein Heiligtum. Auf der ersten Seite des Heftes aber stand: »Ich bin ein Jud' mit rabenschwarzen Haaren, ein Kind der unheilvollen, düsteren Nacht; und du bist blond wie deine Väter waren, ich bin die Schwäche, und ihr seid die Macht. Ins Tal der Schatten hab' ich mich verloren, ihr wandelt in der Sonne goldener Pracht, doch auch die Sonne ward aus Nacht geboren und sinkt zurück in rabenschwarze Nacht.«

Er wäre zufrieden gewesen als Tagelöhner auf dem Hofe seines Vaters, wenn nicht dieses Heft und diese Gedanken und Gedichte gewesen wären, die ihn immer und immer wieder aufs neue plagten und ängstigten. Dem Vater mit dem strengen Glauben an einen gerechten und strafenden Gott, dem Vater, der kein Wort für ihn übrig hatte, wagte er nicht sich anzuvertrauen, und die alte Buxbaum, die einst seine Spiele mit den Hühnern und Tauben des Hofes belacht hatte, verstand ihn schon längst nicht mehr. Aber wie der Vater suchte auch er draußen in der großen und freien Natur Trost und Erleichterung. Am liebsten trieb er die Gänse hinaus auf die von den sanften und bewaldeten Höhen der Berge umrahmten Wiesen. Von hier hatte man einen köstlichen Blick über den Flecken und nach dem nahen Walde, hinauf in den Himmel und weit hinaus in die Ebene, wo die Stadt lag, die Stadt mit den vielen tausend Menschen, die er alle nur vom Hörensagen kannte, die Stadt, von der der Vater in seinen Bußpredigten zu sprechen pflegte als von einer Stätte des Teufels, in der die Söhne und Töchter seines Volkes zugrunde gerichtet würden.

Ach, wenn er sie nur einmal in seinem Leben hätte sehen können, die Stätte des Teufels, von der der Vater sprach. Aber so ganz allein aus sich heraus vor den Vater hinzutreten und diesem Manne zu sagen: Vater, ich will hinein in die große Stadt zu den Menschen, nach der Stätte des Teufels, wie du die Stadt immer nanntest, dazu hatte er nie den Mut gefunden, und er hätte ihn niemals gefunden, nie, nie in seinem Leben, wenn nicht die letzten Sommerferien den klugen Josef Süßmann, den Sohn aus der Handlung, wo er sein Heft gekauft, in den Flecken geführt, und wenn nicht dieser die Mission erkannt hätte, die David Mandelbaum in der großen Stadt zu erfüllen hatte.

Der kluge Josef Süßmann, den sie in die große Stadt in die Judenschule geschickt hatten, und der jetzt dort bei Bär & Sohn die Handlung lernte, der war in diesem Sommer gerade zur rechten Zeit gekommen. Ihm hatte Davidchen Mandelbaum draußen im Walde sein Herz ausgeschüttet, und ihm hatte er sein Heft gezeigt, in dem sich schon eine eng beschriebene Seite an die andere reihte. Und Josef Süßmann hatte alles gelesen, und dann hatte er gesagt: »David Mandelbaum, du bist e kluger Mensch, du bist e gescheiter Mensch, David Mandelbaum, du derfst nicht bleiben hier in dem Nest und du derfst nicht versauern bei deinem Vater. Du mußt hinein in die Stadt zu den Menschen und du mußt werden ein Schriftsteller und ein Journalist, die da schreiben die großen Zeitungen und werden gehört und gelesen von alle Lait.« – Und zaghaft, aber lohende Freude in seinen dunkelbraunen Augen, hatte Davidchen Mandelbaum den klugen Josef Süßmann gefragt: »Wie soll ich das anfangen, Josef, daß ich werde in der Stadt ein großer Schriftsteller und ein Journalist, was wird gelesen von alle Lait?« – Da hatte der kluge Josef Süßmann den Rotkopf in beide Hände gestützt, hatte sich hinter den Ohren gekratzt, und nachdem er lange nachgesonnen, hatte er endlich gefragt: »Du willst werden ein praktischer Mensch und willst sein ein schlauer Mensch, Davidchen. Und was ist ein schlauer Mensch, der fällt nicht gleich mit der Tür in das Haus. Hast du niemanden in der Stadt, keinen Verwandten oder Bekannten, der dich kann vorwärtsbringen und einschieben, der sich kann verwenden für dich bei Laiten von Einfluß und von Macht, denn nur durch die anderen Laite kannst du rasch und sicher in der Stadt vorankommen, Davidchen Mandelbaum?«

Da war ihm Jakob, der Onkel seines Vaters, der die Hunderte und die Tausende in der großen Stadt verdienen sollte, endlich eingefallen, aber zugleich hatte er das Bedenken geäußert, daß der Großonkel kein Journalist und kein Schriftsteller, sondern ein einfacher Geschäftsmann sei. Aber Josef Süßmann hatte gelacht über sein Bedenken und hatte gemeint: »Was einer ist, das ist ganz egal, Davidchen, wenn er nur hat Geld und Macht und Einfluß, und wenn er hat mitzureden ein Wort und kennt die anderen Lait. Halt dich an deinen Großonkel Jakob und fang' an als Geschäftsmann, denn auch die Schriftstellerei und der Journalismus sind bloß ein Geschäft. Wenn du hast gelernt, wie gemacht wird das Geld, wie es wird gewonnen an der Börse, dann haste gelernt die Hauptsache in deinem Leben, Davidchen, dann kannste werden, was de willst. Dann wirste finden die Lait, die da machen die Bücher un das Theater un die Zeitungen und die öffentliche Meinung. Du bist ein Glückspilz, daß du hast deinen Großonkel Jakob Mandelbaum in der großen Stadt.«

So war es gekommen, daß Davidchen Mandelbaum den Entschluß faßte, den Vater und den »Jiddehof« und die alte Buxbaum zu verlassen, um in die große Stadt zu gehen, um dort sein Glück zu versuchen, wenn er auch als Lehrbub in dem Langschen Bankhause bei Harry Seliger, von dem er nichts als den Namen kannte, den Anfang machen mußte. Etwas beklommen war es ihm heute allerdings um das Herz, sonderlich nach der Predigt des Vaters, der heute die Stadt, in die er hineinwollte, wieder als ein wahres Sodom und Gomorrha gemalt hatte. In seinem Stübchen stand der große Koffer, den er in den letzten Tagen sorgfältig und ganz allein gepackt hatte, denn die alte Buxbaum hatte wieder einmal das Reißen und konnte kaum mehr vom Fleck.

Aber unter der Halle des altväterlichen Hofes erwartete sie jetzt trotz aller Schmerzen in den Gliedern die beiden Ankommenden, Vater und Sohn. Die schielende Sepherl, ein Kind von dreizehn Jahren, ein wahrer Ausbund jüdischer Häßlichkeit, hatte ihr beim Decken des Tisches geholfen, der an dem wundervollen, noch warmen Septembertage unter der gelbgewordenen Weinlaube vor dem Hause stand. Eine mütterliche Zärtlichkeit lag jetzt in dem ganzen Wesen der alten Buxbaum, die auch heute trotz ihrer Einundachtzig die Fasten gehalten hatte, als sich Davidchen an ihrer Seite am Tische niederließ. Sie hatte es bei Perez durchgesetzt, daß man gestern zum Abschied des Jungen die erste fette Gans des Jahres geschlachtet hatte; denn Grieben mit Kartoffeln waren von jeher das Leibgericht ihres vergötterten Pflegesohnes gewesen. Das Gänsefleisch wurde eingefettet oder eingepökelt und diente dann den Winter über als willkommene Speise an Stelle des bei den christlichen Bauern üblichen Schweinefleisches, das Moses den Kindern seines Volkes verboten hat.

Es war ein wunderbares, fast alttestamentliches Bild, die drei im Scheine des scheidenden Tages unter der Weinlaube vor dem altväterlichen Hause das Brot des Sabbats brechen und die erste Mahlzeit dieses langen Tages mit feierlichem Ernste einnehmen zu sehen, die Greisin, die die welkende Rechte auf den Arm Davidchens gelegt hatte und ihn ansah mit Blicken der Liebe und Verehrung aus den schon trüb gewordenen und immer entzündeten Augen, den Mann in dem langen schwarzen Kaftan, der seine hohe schlanke Gestalt faltenreich umwallte und das Apostelhafte seines von künstlich gedrehten Schläfenlocken umrahmten, scharfgeschnittenen Gesichtes noch erhöhte, und endlich den Jungen, dem die Frische der Jugend und die Aufregung der für morgen bevorstehenden Abreise auf beiden Wangen brannten.

Hinter den nahen Bergen, die über die von Hauswurz überwucherte Steinmauer des alten Hofes hineinguckten, war die Sonne längst zur Rüste gegangen, aber der Schein der im Westen aufsteigenden Abendwölkchen vergoldete noch die wie aus einer fernen Welt der Vergangenheit mitten in die hastende Gegenwart versetzte Gruppe dieser drei Menschenkinder, die sich so nahe standen, sich so liebten und sich dennoch so wenig zu sagen hatten, weil die lange Einsamkeit der Jahre das Wort zu einem kargen Gaste ihres Hauses und den Weg vom Herzen zu den Lippen allzu weit gemacht hatte.

Als die Nacht herniedersank, erhob sich Perez Mandelbaum, der große Rabbi, von seinem Sitz, und die Hände feierlich ineinanderlegend, sprach er mit seltsam singender Stimme: »Wir danken dir, Gott der Väter, für diesen Tag der Buße und der Versöhnung, dessen Sonne deine Hand über uns niedergehen läßt. Wir danken dir, Gott der Väter, für Speise und Trank, und geloben, dem Armen das Seine zu geben und den Fremdling nicht zu hassen, und vor allem zu lieben den Sohn und die Tochter unseres Volkes, denen wie uns dein Segen geworden, und die du wie alle Menschen nach deinem Bilde geschaffen, Herr über Leben und Tod, Herr der Heerscharen. Amen!«

Nach diesen Worten brach der Rabbi das Brot und reichte die Stücke seinem Sohne und der alten Buxbaum, und dann schenkte er den Birnenmost ein, den er zusammen mit David vor wenigen Tagen selber gekeltert hatte, draußen im Garten in der altväterlichen Kelter, die noch völlig ähnelte den Keltern, zu denen die Töchter seines Volkes vor Hunderten von Jahren die Trauben aus den Weingärten von Engeddi getragen hatten.

Davidchen ließ sich die Grieben schmecken und das Brot und den Most, denn seit der Sonne Untergang am gestrigen Abend hatte er nichts mehr gegessen, und die Jugend verlangte trotz des hart herandrängenden und nahe bevorstehenden Abschieds ihr Recht.

Schweigend vollendeten sie das Mahl. Und erst, nachdem der Vater die kurze Pfeife, die er an den Tagen der Feste ausnahmsweise zu rauchen pflegte, ausgeschmaucht hatte, nachdem er das Dankgebet an den Gott seiner Väter gerichtet, öffnete der große Rabbi den Mund, um sich zum Abschied an seinen Sohn zu wenden. Dem ward es ganz feierlich zumute, und die Tränen traten ihm in die Augen, während die alte Buxbaum andächtig die Hände faltete und am ganzen Leibe zitterte, als der große Rabbi Perez Mandelbaum sprach:

»Mein Sohn David, du ziehst in die große Stadt zu den Menschen, und es ist dein Wille, und es ist der Wille des Herrn, des Gottes meiner und deiner Väter, daß ein Mensch Vater und Mutter verlassen soll, daß er soll ziehen aus dem Lande seiner Geburt und von seiner Freundschaft und aus dem Hause seines Vaters, wohin ihn Gott und seine Bestimmung rufen. Du willst werden ein Mann der Welt, ein Mann des Geschäfts, mein Sohn David, und es ist gut so; denn der Herr soll segnen deiner Hände Arbeit und die Gedanken deines Kopfes, wie er segnete den Erzvater Jakob, auf dessen Haupt der Erzvater Isaak seine Hand gelegt.«

Der große Rabbi erhob die Hand und legte sie auf den Scheitel seines Sohnes, der vor ihm niederkniete, und dann fuhr er fort: »Aber gerecht ist der Herr, der Gott unserer Väter, ein eifernder Gott und ein wahrer Gott, ein Gott, der da sagte, ich dulde keine andern Götter neben mir, neben dem du kein Bildnis machen darfst und kein Gleichnis, nicht draußen vor den Menschen und nicht drinnen in deinem Herzen, denn der Herr will die Stätte deines Herzens teilen mit keinem, denn er ist ein einiger Gott. Darum gib du ihm in allem, was du tust und denkst, mein Sohn, dein Herz und laß dir seine Wege wohlgefallen. Dann wird es dir gut gehen, und du wirst lange leben auf Erden. Du wirst deine Frucht bringen zu deiner Zeit, gleich dem Baum, der da ist gepflanzet an dem Ufer des Jordan, dessen Blätter niemals verwelken können. Wandle nicht im Rate der Gottlosen. Tritt nie auf den Weg der Sünder, setze dich nie auf die Bank, wo die Spötter sitzen, sondern zeige Lust zum Gesetze des Herrn und trage seine Gebote in dir Tag und Nacht.

Andere wirst du sehen in der großen Stadt drunten, die da verlassen haben das Gesetz Mosis, und die errichteten das goldene Kalb, wie die Kinder Israels in der Wüste, zu deren Füßen der Vater Moses die Tafeln des Gesetzes zerschlug, da sie tanzten um das Götzenbild, so daß sie alle Scham und Furcht des Herrn vergessen hatten. Solche wirst du finden in der Stadt, die da sind wie Spreu, die der Wind verstreut, die Gott läßt dahinfahren in seinem Zorn, an denen er heimsucht ihre Sünde an Kindern und Kindeskindern bis in das dritte und vierte Glied. Aber du, mein Sohn, sollst bleiben in Gott und dann wird Gott, der Herr unserer Väter, bleiben in dir. Der Baum sollst du werden, der da gute Früchte bringt, der da blühet und grünet in jedem neuen Jahre, so daß sich in seinem Wipfel sammeln die Vögel des Himmels, und daß die Menschen eine Freude an ihm haben.

So wandle du, mein Sohn, in die Stadt durch das Leben, durch die Hütten der Mühseligen und Beladenen, durch die Paläste der Mächtigen und Großen und durch die Häuser der Reichen, ein Weiser, ein Kluger, ein Guter, dem der Herr den Segen gab auf seinen Pfad!«

Bei diesen Worten küßte der große Rabbi seinen Sohn auf die Stirn, und als David die wundervollen dunkelbraunen Augen, die das Erbteil seiner Mutter Rebekka waren, aufschlug zu seinem Vater, fielen zwei heiße Tränen nieder auf seine Hände, die ersten, die Perez seit dem Tode seines Weibes wieder geweint hatte.

Die Dämmerung lag auf dem Tal, und die Nacht kam. In dem Halbdunkel entschwand die hohe Gestalt des großen Rabbi den Blicken Davids, aber in seiner Hand fühlte der Junge den harten Deckel eines Buches, das ihm der scheidende Vater gegeben hatte. Leise schlich er sich in die Küche, und in dem Lichte des flackernden Kienspanes, den die alte Buxbaum in angeborener Sparsamkeit hier am Herde zu brennen pflegte, las er die Überschrift dieser von dem Vater eigenhändig geschriebenen Blätter: »Eine Lebensführung für meinen einzigen Sohn David Mandelbaum, aufgezeichnet in Stunden der Liebe und der Angst von seinem Vater.«

Da stürzten dem Jungen die hellen Tränen aus den Augen über diesen Vater, der ihn je und je geliebt und der fast nie ein Wort mit ihm gewechselt hatte, und wie durch einen Schleier der Wehmut las er die erste Seite dieses seltsamen Buches, das er sich vornahm, auf seinem Herzen zu tragen. Und auf dieser Seite stand:

»Der Herr, der Gott unserer Väter, ist ein gerechter Gott und ein strenger Gott. Sein Wort ist die Wahrheit, und die Lüge zerfließt vor seinem Angesicht. Er wandelt in einer Feuersäule und wohnt in einer Wetterwolke. Sein Arm ist lang und erreicht den Schuldigen am Ende der Erde. Seine Boten fliegen vor ihm her, die Lenden gegürtet und das Schwert der Rache in den Händen. Denn die Räder seines Wagens sind die Winde, und der Sturm ist sein Führer, und die Schlünde der Erde bieten vor seinem Zorne keine Flucht. Und fliehst du an die Enden der Welt, siehe, der Herr ist da, und bettest du dich in der Hölle, siehe, der Herr ist auch da, und nähmst du Flügel der Morgenröte und flögest du zum äußersten Meere, die Hand des Herrn wird dich erreichen, wenn du dein Herz mit dem Fluch der Sünde beladen hast.

Lies in diesem Buche deines Vaters, was alles Sünde ist, was alles zur Sünde werden kann! Aber freundlich ist der Herr wie das Säuseln des Windes, der da kühlet deine brennende Stirn nach dem heißen Tage, wie der Strahl der Sonne, der da weckt am Morgen die Blumen aus dem Schlaf, daß sie erblühen und dastehen in all ihrer Kraft und Herrlichkeit, dem, der da wandelt die Pfade des Gerechten.«

Die ganze Nacht kam kein Schlaf auf Davids Augenlider. Und lange starrte er empor zu dem sternbesäten Himmel, in dessen lichten Höhen nach dem Glauben seines Vaters der Herr wandeln sollte, der da war wie eine Wetterwolke, wie eine Feuersäule und vor dessen Arm es kein Entrinnen gab.


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