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IV.

In dem obersten Stockwerk der geräumigen Villa Seliger hauste unter der Pflege einer Krankenschwester die Großmutter des Bankvorstandes.

Nach dem vor drei Jahren erfolgten Tode seiner Mutter hatte Seliger die damals neunundachtzigjährige Greisin in sein Haus genommen trotz allen Widerspruchs, den Hilde gegen diesen Gast erhoben.

Frau Rosenbusch hatte vor einigen Tagen ihren zweiundneunzigsten Geburtstag gefeiert. Seit Jahren konnte sie nicht mehr gehen, und nur die leuchtenden schwarzen Augen in dem hageren, fast pergamentenen Gesicht der in den Tagen ihrer Jugend wegen ihrer Schönheit berühmten Jüdin verrieten, daß das hinter dieser knochigen Stirn verborgene Gehirn noch in Tätigkeit sei.

Den lieben langen Tag saß die Greisin, die runzligen und zerfallenen Hände ineinandergefaltet, an dem von der Schwester an das Fenster geschobenen Rollstuhl und starrte durch das ferne Gittertor des Parkes auf die Straße. Ihre schönen Augen, die noch glänzten wie in den Tagen der Jugend, waren schwach geworden, und mit der Sprache des zahnlosen Mundes; wollte es auch nicht mehr so recht gehen, nur das Ohr hatte das feine Gehör aus den Jahren der Kraft und der Gesundheit wie durch ein Wunder bewahrt, und das nimmer müde Gehirn der Greisin versenkte sich in die Erinnerung an ferne und fernste Jahre ihres langen Lebens, von denen sie an guten Tagen endlose Geschichten erzählen konnte, die aber nur der an die seltsame Aussprache des zahnlosen Mundes Gewöhnte verstand.

In ihrer Seele waren noch die Tage lebendig, da der größte Teil ihrer Glaubensgenossen in einem engen und schmutzigen Viertel der Stadt zusammen gewohnt hatte. Sie erinnerte sich noch der Furcht, die man einstmals vor den wilden Horden der Franzosen empfunden, als diese plündernd durch das Tal des Rheins und des Mains gezogen waren, und des Siegesjubels, der durch ganz Deutschland gegangen, da man den großen Napoleon gefangen genommen und auf die Insel Elba geschleppt hatte.

Von solchen Dingen und von den Sitten und Gepflogenheiten ihrer Stammesgenossen in jenen fernen Tagen pflegte Frau Rosenbusch in einem furchtbaren Kauderwelsch zu erzählen, und jedermann bewunderte die Geduld der Schwester, die solche Ausführungen der von den meisten für kindisch gehaltenen Greisin stundenlang mit anhören konnte.

»Sie müssen den Vögeln vor meinem Fenster frisches Futter hinstreuen, Schwester Rosine,« sagte Frau Rosenbusch, nachdem sie drei volle Stunden regungslos wie tot in ihrem Rollstuhl gesessen hatte. »Wenn es Winter ist, müssen die Vögel Futter haben, sonst verhungern sie, und draußen liegt viel, viel Schnee, so viel Schnee, wie damals in dem schrecklichen Winter 18l2, da er Moskau erobern wollte, und da er wiederkam, arm und elend. Das war der Anfang von seinem Ende, Schwester Rosine, da er aus Moskau wiederkam. Damals bin ich ein ganz junges und sehr schönes Mädchen gewesen, Schwester Rosine. Können Sie sich das denken? Da war alles voll von Soldaten. Soldaten, wo man auch nur hinsehen mochte, nichts als Soldaten und Schnee. Da hat meine Mutter selig die silbernen Löffel im Keller vergraben, und mein Vater hat ein, ja, ja, ein metertiefes Loch unter dem Brunnenstein im Hof gemacht, wo er den ledernen Beutel mit den Goldgulden und den Silbertalern versteckte, damit ihn die Soldaten nicht finden sollten; und die Soldaten haben ihn nicht gefunden, Rosine, sie haben ihn nicht gefunden. Sie sind vorbeigegangen an dem Hause meines Vaters wie der Engel des Herrn an den Häusern der Söhne und Töchter meines Volkes im Lande der Ägypter, da er die Erstgeburt schlug.«

Schwester Rosine, die an diese Gespräche Gewöhnte, erwiderte keine Silbe, und Frau Rosenbusch schwieg.

Mit den glänzenden schwarzen Augen starrte sie wieder durch das Fenster, um dann nach einer Weile aufs neue zu beginnen: »Damals haben die Herren Kniehosen getragen, Rosine, und die Damen Perücken aus weißen Haaren. Das war noch eine schöne Zeit, da hätten Sie mich sehen sollen, Rosine, wie ich bei meiner Tante in Koblenz in Pension gewesen bin. Das Haus, in dem meine Tante wohnte, lag dicht am Rhein neben einem großen Hotel, in dem die französischen Offiziere ihr Mittagessen eingenommen haben. Da war einer, ein Marquis, ein wirklicher Marquis, Gaston de Villeroy, Rosine, der hat bei meiner Tante ernstlich einen Antrag gemacht. Er wollte mich heiraten, ich sollte Marquise werden, Rosine, auf seinem Schlosse in der Picardie. Können Sie sich denken, Rosine, daß ich Marquise werden sollte und daß ich schön war mit achtzehn Jahren?«

»Aber gewiß kann ich mir das denken, Frau Rosenbusch,« lautete Rosines Antwort.

Sie war ein hübsches und stilles Judenmädchen von fünfundzwanzig Jahren, dem das weiße Häubchen und die schwarze Tracht der Krankenschwester gut zu Gesichte standen. Vater- und mutterlos, hatte sie sich früh dem schweren Beruf im israelitischen Krankenhause gewidmet, und nur ungern hatte sie der Chefarzt in die Villa Seliger ziehen lassen. Aber Rosine war ein wenig schwach auf der Brust, sie mußte geschont werden, die Nachtwachen und das Heben schwerer Kranker vertrug sie nicht. So hatte der Arzt in der Stellung bei Frau Rosenbusch eine Art von Sinekure und vor allem eine Erholungsstation für Schwester Rosine gesehen.

»Was haben wir denn heute für einen Tag, Rosine?« fragte die Greisin.

»Wir haben Mittwoch, Frau Rosenbusch.«

»So, so, Mittwoch; und was für einen Monat, Rosine?«

»November, Frau Rosenbusch, Mittwoch den 20. November.«

»So, November.«

Die Greisin schwieg eine lange Weile, indessen Rosine ihre von dem Gespräch unterbrochene Lektüre wieder aufnahm. Endlich sagte sie:

»Ein Mittwoch ist es gewesen, an dem ich mich mit Rosenbusch verlobt habe, Rosine. Soll ich Ihnen das erzählen, wie das zugegangen ist, Rosine, daß ich mich mit Rosenbusch verlobt habe?«

Rosine ließ sich im Lesen nicht stören, aber Frau Rosenbusch fuhr unbeirrt fort:

»Mein Vater selig hatte doch eine Lumpenhandlung, Rosine. Und mein Bruder Aaron ist als fünfjähriges Kind gestorben, und Gott hat meiner Mutter kein Kind mehr geschenkt, Rosine. Da war Rosenbusch Gehilfe in der Lumpenhandlung meines Vaters, und da fragte er meinen Vater eines Tages, ob er nicht könne einheiraten in das Geschäft. Und mein Vater hat ihn gern gehabt, weil er ist gewesen nüchtern und bescheiden und arbeitsam und gescheit, Rosine. Und da ist mein Vater gekommen zu mir eines Tages und hat gesagt: Schmücke dein Haupt, Rahel, und falte deine Hände und singe Dank dem Herrn, deinem Gott, denn ich habe gefunden für dich einen Freier, der mir lieb ist und wert, als sei er mein einziger Sohn, dein Bruder Aaron, den mir hat genommen der Wille des Herrn, meines Gottes. So ward ich Rosenbuschs Frau, Rosine, und ich habe es nie zu bereuen gehabt. Und das war an einem Mittwoch.«

»Ich denke, daß Fräulein Edith heute heraufkommen wird, Frau Rosenbusch,« sagte nun die Schwester. »Sie ist gestern nicht bei uns gewesen, und sie kommt doch regelmäßig ein über den anderen Nachmittag.«

»Was, Rosine?«

»Fräulein Edith, Ihr Urenkelkind, Frau Rosenbusch, dem Sie doch so gerne von den Tagen Ihrer Jugend und Kindheit erzählen, und das Ihnen so gut zuzuhören versteht.«

»Ach ja, Edith, meine Urenkelin Edith. Ich habe noch mehr Urenkelkinder, Schwester Rosine, nicht wahr, noch mehr? Wen hab' ich denn noch?«

»Sie haben hier noch Herrn Leo und Fräulein Etelka, Frau Rosenbusch, aber in Koblenz und in Würzburg und in Wien werden Sie auch noch mehr Urenkelkinder haben, deren Namen ich nicht kenne.«

»Ja, ich hab' auch noch mehr, aber Edith ist die Beste.«

»Ja, sie ist die Beste, Frau Rosenbusch, hier im Hause die Beste,« erwiderte Schwester Rosine mit einem leichten Seufzer.

Sie hatte schon zu viel unter Frau Hildes Launen, Leos Zudringlichkeit und Etelkas hochfahrendem Wesen zu leiden gehabt, als daß sie Ediths stille Bescheidenheit nicht angenehm empfunden hätte.

»Sie sind nicht zufrieden hier im Hause, Schwester Rosine?« fragte da Frau Rosenbusch auf einmal.

Rosine schüttelte den Kopf. Wie kam die Alte darauf? Doch bald maß sie deren plötzlicher Frage keine weitere Bedeutung bei. Sie kannte diese spontanen Lichtblicke in dem Wesen der Greisin, die manchmal an der Schwelle des Kindischwerdens noch einen klaren Gedanken fand. Sie blitzten auf wie Sterne aus dem Dunkel der Wolkennacht, um dann rasch, wie sie gekommen, wieder in einem Meere gleichgültiger Worte zu versinken.

Aber diesmal schien die Klarheit im Kopfe Frau Rosenbuschs doch länger anzuhalten. Erstaunt, das Buch in ihrer Hand ganz vergessend, lauschte Rosine den Worten der Greisin, die ihr mit einem Male eine tiefe Wahrheit in ihrem Schoße zu bergen schienen.

»Ja, Rosine,« sagte Frau Rosenbusch. »Edith ist die Beste. Wenn sie hier sitzt an meiner Seite und plaudert, dann verstummt mit einem Male vor meinen Ohren das Gemurre und Gemurmel, das ich ganz allein den ganzen Tag aus dem Innern dieses Hauses höre. Dann steigt meine eigne Jugend auf vor meiner Seele, und ich möchte Edith glücklich wissen mit dem jungen Manne, an dessen Seite sie hier schon so oft mir gegenüber gesessen hat!«

»Sie sprechen von dem kleinen David Mandelbaum, Frau Rosenbusch?« fragte Rosine.

»Heißt er so, der Schwarzhaarige, der manchmal kommt? Der mit den braunen Augen, der so schön sprechen kann und so hübsche Sachen liest?«

»So heißt er. Er ist ein Dichter, Frau Rosenbusch. Einer, der im Geschäft des Herrn Seliger arbeitet, aber zu etwas Höherem als zum Geldverdienen berufen zu sein scheint. Was er Ihnen und Edith und mir hier vorliest, sind Gedichte und andere Sachen, die er selbst gemacht hat, Frau Rosenbusch.«

Die Gedanken der Greisin schienen schon wieder bei einem anderen Gegenstand zu haften, denn ganz unvermittelt fuhr Frau Rosenbusch fort:

»Was ich aus dem Innern dieses Hauses vernehme, Rosine, ist furchtbar, und ich allein vernehme es. Ihr meint alle, ich sei blind und taub, und sehe und höre nichts mehr. Aber mein Ohr hört fein, und meine Augen haben ihren Glanz noch nicht verloren, und das Ohr in meinem Innern vernimmt das Rauschen und Brausen und Singen des bösen Geistes, der in diesem Hause herrscht und der dieses Haus zugrunde richten wird, Rosine, wenn es ruft und zankt und schreit und weint hier unter meinen Füßen, und wenn die Töne der Lust, die Musik und das Lachen, nicht schweigen wollen da unten, bis der frühe Morgen tagt.

Aber was schlimmer ist als alles dies, das ist die Gottlosigkeit, die da schreitet durch dieses Haus. Seliger ist abgefallen von dem Gott seiner Väter und hat sich gemengt mit der Tochter eines fremden Volkes. Und Leo ist abgefallen und Etelka ist abgefallen, und nur noch in den Augen Ediths lebt etwas von dem alten Glanze, der sich weidet an dem Worte des Gottes, der unser Volk durch die Wüste und aus der Gefangenschaft der Ägypter in ein gelobtes Land geführt hat.«

Sie schwieg. Mit großen, glänzenden Augen blickte sie wieder durch das Fenster in die weite Ferne, wo die Sonne des scheidenden Frühwintertages blutrot am Abendhimmel stand.

Da öffnete sich die Tür des Zimmers, und Edith trat ein.

Gleich beim Erscheinen des jungen Mädchens bemerkte Rosine, daß sich die Kleine in einer hochgradigen nervösen Erregung befand. Ihre schönen blonden Haare waren verwirrt, ihre Wangen gerötet, und in den Augen standen zwei große, helle Tränen.

»Sie haben ja geweint, Fräulein Edith, was ist denn passiert?« fragte Schwester Rosine.

»Nichts, gar nichts, Schwester,« wich Edith aus. Hilfeflehend suchten ihre Augen die in dem Rollstuhl zusammengekauerte Gestalt der Urgroßmutter.

Rosine bemerkte das wohl, und in dem Gedanken, daß es vielleicht gut sei, das junge Mädchen in seiner Erregung mit der Alten allein zu lassen, daß Edith vielleicht bei der Urgroßmutter ihr schweres Herzchen erleichtern wollte, meinte sie freundlich:

»Nun setzen Sie sich mal, liebes Fräulein Edith. Sie sind ja noch ganz außer Atem, so rasch sind Sie die Treppe hinaufgesprungen. Ich werde jetzt in die Küche gehen und für uns drei ein Täßchen Tee bereiten, und da weinen Sie sich mal aus und erzählen Sie der guten Urgroßmutter, was Sie auf dem armen Herzchen haben.«

Mit diesen Worten verschwand Schwester Rosine. Sie begab sich in die kleine im obersten Stockwerk der Villa gelegene Küche, die einst zu der Wohnung des Hausverwalters gehört, hatte, und. wo sie jetzt, die für Frau Rosenbusch notwendigen Kleinigkeiten an heißem Wasser oder Tee und Eiern selber zuzubereiten pflegte.

Sobald Rosine draußen war, eilte Edith auf die Urgroßmutter zu, und vor der Alten in die Knie sinkend, barg sie den Kopf in den Schoß der Frau.

Mit zitternden Händen strich die Greisin über des jungen Mädchens dichtes, goldenes Blondhaar, das sich so zart anfühlte, und das sie trotzdem nicht leiden konnte, denn die Töchter ihrer Familie waren bislang schwarz gewesen wie die sternenlose Winternacht.

»Das ist gut, daß ich hier bin bei dir und bei der Schwester,« schluchzte die kleine Edith. »Ach, Urgroßmutter, dir kann man alles sagen. Du bist ein Mensch, und du bist verschwiegen wie das Grab, und es ist, als ob man sich allein, nur sich selber ein Bekenntnis ablegen würde, und viel schöner, viel heimlicher, viel erleichternder, als sich selber, Urgroßmutter! Urgroßmutter, wenn du sprechen könntest wie in früheren Tagen, wenn du reden könntest, du würdest mir helfen. Ich muß fort aus diesem Hause, fort, fort, weit fort, denn ich werde gemein in diesem Hause. Gemein mit den andern. Mama macht sich gemein, und Papa und Leo sind gemein, und Etelka, und sie alle wollen vergiften, was in mir ist, Urgroßmutter. Und Papa hält sich Maitressen, und Leo hat die Feretti, und Mama hat den Prinzen Trachenstein. Und Etelka will sich einen ergattern, und ich soll auch so werden, das haben sie schon alle beide gesagt. Und ich will doch nicht, ich kann doch nicht, Urgroßmutter, weil ich eine reine und große Liebe in meinem Herzen trage. Und da muß ich fort aus diesem Hause, weit, weit fort; in die Schweiz, wo ich schon einmal in Pension gewesen bin, will ich, Urgroßmutter. Dort will ich studieren, und nichts mehr hören will ich und nichts mehr sehen von all der Gemeinheit hier in dem Hause, in dem ich unrein werden soll und gemein und schlecht, wie Leo und Etelka schon schlecht und gemein geworden sind. Das sollst du Papa sagen, Urgroßmutter, daß ich fort will, daß ich fort muß aus diesem Hause!«

Atemlos hatte sie das alles hervorgesprudelt.

In dem pergamentenen Gesicht der Frau Rosenbusch leuchteten die großen dunkeln Augen, aber steinern blieb dieses Gesicht. Das feine Ohr, das den bösen Geist dieses Hauses auf Zehen durch die Räume schleichen hörte, vernahm kaum den äußern Laut all der Worte, in denen die arme kleine Edith ihr Herz erleichtert hatte, und der alte Kopf der Zweiundneunzigjährigen faßte deren Sinn nicht mehr.

Aber beruhigend, als seien ihre Finger in köstlichen Balsam getaucht, strichen die welken Hände der Greisin über das blonde Lockenhaar und lullten den Geist des Kindes in schöne Träume, in dessen Blondkopf zum ersten Male im Leben die Kluft zwischen der reinen Welt des Guten und der rauhen Wirklichkeit der Dinge sich aufgetan hatte, und in dessen jugendlichem Herzen sich die erste zarte Knospe der Liebe zu entfalten begann, einer Kinderliebe zu Davidchen Mandelbaum, dem schwarzhaarigen Jungen, der die kleine blonde Edith in hundert jauchzenden Liedern seines reichen Herzens besang.

Von alledem ahnte Frau Rosenbusch nichts. Die Urgroßmutter, an der fast vier Generationen vorbeigeschritten waren, starrte hinaus in die nun dunkler und dunkler werdende Ferne, und vor ihrem geistigen Auge stand wieder jener bedeutsame Mittwoch in ihrem Leben, da sie Rosenbuschs Verlobte geworden war.

Schwester Rosine trat wieder ein. Sie deckte den kleinen, aus Rohr geflochtenen, in der Mitte des Zimmers stehenden Tisch und schob dann den Rollstuhl der Greisin vor diesen. Dann goß sie der Urgroßmutter und dem Enkelkinde den duftenden Trank in die Tassen und begann alsbald mit der schwierigen Aufgabe, Frau Rosenbusch zu füttern.

Denn den zitternden Händen der Zweiundneunzigjährigen war es unmöglich geworden, irgendeinen Gegenstand selbständig an die Lippen zu führen, wie das hilflose Kind war sie wieder auf die liebevolle Unterstützung ihrer Mitmenschen angewiesen. Wie den Kindern, so pflegte Rosine auch Frau Rosenbusch einen sogenannten Pudding zu bereiten, indem sie die Tasse mit dem Tee oder dem Kaffee mit Weißbrotstückchen füllte und der Alten dann deren Inhalt langsam Brocken für Brocken mit dem Löffel reichte.

Gerade hatte Rosine diese mühsame, nicht immer sehr appetitliche Aufgabe vollendet, als es mit jugendlichem Ungestüme an die Tür pochte.

Edith sprang in die Höhe. Ihre Tränen waren versiegt. Das war niemand anders als Davidchen Mandelbaum. Denn seitdem ihn sein Großonkel Jakob einige Tage nach seinem Eintritt in die Kommerzbank bei der Familie seines Chefs eingeführt hatte, war der schlanke, schwarzhaarige Judenjunge aus dem kleinen Nest am Spessart, er, der die schönen großen braunen Augen seiner Mutter Rebekka sein Erbteil nannte, ein fast täglicher Gast in der Villa Seliger.

Abends gegen sechs Uhr – die Kommerzbank wurde um fünf geschlossen – pflegte Davidchen Mandelbaum dann zu erscheinen in seinem schwarzen Sonntagsröckchen, mit dem steifen Hütchen, das er sich gleich am ersten Tage in der Stadt als Ersatz für seine gar nicht modisch aussehende Mütze gekauft hatte, mit dem breiten, manchmal gerade nicht blendend weißen Umlegkragen, die braunen Glacéhandschuhe, die er aus Sparsamkeit niemals anzuziehen pflegte, in den langen weißen Händen, deren nicht immer ganz gründlich gereinigte Tintenfinger seine geschäftliche und seine dichterische Tätigkeit verrieten.

Seine sorglose Jugend und die völlige ländliche Unerfahrenheit mit allen gesellschaftlichen Formen und Vorurteilen der Großstadt hatten Davidchen Mandelbaum den ungezwungenen Verkehr in der Villa seines hohen Chefs so leicht gemacht. Seine harmlose Seele dachte nicht im entferntesten an tausend Dinge, die in der sogenannten Gesellschaft den ungezwungenen Verkehr der Menschen erschweren.

Seliger hatte ihn dazu aufgefordert, wenn er sich einsam fühle und nichts Besseres vorhabe, nur in die Villa zu kommen. Da seien junge Menschen in seinem Alter, und da könne er Anschluß finden, und Davidchen Mandelbaum hatte sich das nicht zweimal sagen lassen.

Zwar war ihm der um vier Jahre ältere Leo mit seinen Lebemannsmanieren durchaus nicht sympathisch. Der hänselte ihn am liebsten und stellte seine von den Lüsten und Sünden der Großstadt noch unberührte Unschuld vor allen Leuten an den Pranger. Auch die Weltdame Etelka, von der man nie wußte, ob sie im Ernst sprach oder ob sie einen aufziehen wollte, war nicht sein Fall.

Diesen beiden ging Davidchen Mandelbaum schon seit Wochen geflissentlich aus dem Wege.

Aber die kleine Edith mit den goldenen Haaren, die so blond waren wie die der einst besungenen Marei droben in der fernen Heimat, und die so schöne große Augen hatte wie er selber, die hatte er gleich in der ersten Stunde ihrer Bekanntschaft in sein Herz geschlossen, und ihr, nur ihr allein galt sein fast täglicher Besuch.

Daß er zudringlich oder gar anmaßend erscheinen könne, daß diese Huldigung des Lehrlings der Kommerzbank gegenüber dem Töchterchen des Chefs nicht passend sei, daran dachte Davidchen Mandelbaum nicht.

Droben bei der Schwester Rosine und bei der alten Frau, die nicht mehr gehen konnte, trafen sie sich. Dort war es schön und traulich, schöner und traulicher als auf dem Hofe seines Vaters in den heimatlichen Bergen; und wenn er Frau Rosenbuschs zitternde Hände betrachtete, dann mußte er immer an die Heimat und an die welkenden Hände der alten Buxbaum denken, die sich schützend über die fernen, schönen Tage seiner Kindheit ausgebreitet hatten, und unter denen er allein und einsam herangewachsen war.

Schwester Rosine hatte gerade die altmodische, noch aus dem Haushalte der Frau Rosenbusch stammende Petroleumlampe angezündet und auf den Tisch gesetzt – die Greisin wollte von modernen Beleuchtungsarten nichts wissen – als Davidchen Mandelbaum in das Zimmer trat.

Edith lief ihm entgegen, und die beiden Kinder schüttelten sich die Hände. Länger, als es bei einem gewöhnlichen Gruße üblich, hielt Davidchen Mandelbaum Ediths Hand in der seinen, und beim Anblick des lieblichen jugendlichen Paares glitt es wie sonnige Erinnerung über die pergamentenen Züge der Greisin. Ob sie wieder daran dachte, daß es auch ein Mittwoch war, da sie ihr Vater Rosenbusch als Braut zugeführt hatte?

Die lange, stumme Begrüßung der beiden Kinder wurde durch Schwester Rosine unterbrochen, die sagte:

»Nach dem Geschäft werden Sie wohl Hunger und Durst haben, Herr Mandelbaum. So setzen Sie sich, ich will Ihnen eine Tasse Tee einschenken und, wenn Sie es erlauben, ein Butterbrot streichen.«

Genau so war er es von Hause aus gewöhnt, wenn er aus Wald und Feld gekommen war, und die alte Buxbaum seiner gewartet hätte.

So saß er denn an Ediths Seite und verzehrte das Brot, das ihm Schwester Rosine gereicht hatte, schlürfte durstig den heißen Tee in hastigen Zügen und war glücklich.

Das junge Mädchen betrachtete ihn mit leuchtenden Augen. Wie schön er war und wie männlich, mußte sie in einem fort denken, wie gut und glänzend seine großen Augen, und auf den Lippen sproßte schon der erste Flaum!

»Wissen Sie, was ich heute getan habe, Fräulein Edith?« begann nun Davidchen Mandelbaum, nachdem er den letzten »Rest seines; Butterbrotes, verzehrt und seinen Tee ausgetrunken hatte.

Fragend hingen die Augen des jungen. Mädchens an seinen Lippen, indessen Schwester Rosine schon wieder um Frau Rosenbusch, die eben nicht recht bequem in ihrem Rollstuhl saß, beschäftigt war.

»Ich habe einen Auszug aus meinem Hefte gemacht, da es auf der Bank für mich doch nichts Gescheites zu tun gab. Wissen Sie, Fräulein Edith, aus dem Hefte, von dem ich Ihnen schon einmal erzählt habe, in: das ich alle meine Gedanken schreibe. Diesen Auszug habe ich Ihnen mitgebracht. Es steht viel verworrenes Zeug in dem Hefte, vor allem, seitdem ich hier in die Stadt gekommen bin.«

»Zeigen Sie her,« rief Edith gespannt.

Davidchen Mandelbaum zog ein kleines, schmieriges Notizbüchelchen, das in schwarzes Wachstuch gebunden war, aus seiner Tasche und reichte es Edith. Ihre Köpfe einander nähernd, blickten sie selbander hinein, und in dem freundlichen Lichte der alten Petroleumlampe las Edith mit zitternder Stimme, Tränen in den großen Augen, während Frau Rosenbusch eingeschlafen war und Schwester Rosine wieder in der kleinen Küche hantierte:

»Ist es die Liebe, die in meine Seele
Den schönen Strahl der stolzen Hoffnung senkte;
Ist es die Liebe, die die Schritte lenkte,
Daß ich mich aus dem Kreis der andern stehle?
Ist es die Liebe, die die Abendwolke
Mir röter malt in winterlicher Ferne
Und feuriger die gottgeschaffenen Sterne,
Die dort zu Häupten glühen meinem Volke?
Ist es die Liebe, die die goldnen Locken
So duftend macht, wie Sandelholz und Myrrhen;.
Daß sie am Tag die Sinne mir verwirren,
Daß mir des Nachts die munteren Pulse stocken?
Ist es die Liebe, daß im Traum sich feuchten
Die Augen, die geschaut das holde Wesen,
Und daß wir beide Aug' in Auge lesen,
Was jene fernen Wintersterne leuchten?
Ist es die Liebe – – – – – – – – –«

Sie schwieg. Sie konnte nicht weiter lesen, und ihn anstarrend mit den großen Augen, als ob sie ihn eben jetzt zum ersten Male in ihrem Leben sähe, nickte sie stumm mit dem schönen Kopfe in namenloser Verwirrung.

Purpurrot waren ihre Wangen, auf die der grelle Schein der Lampe fiel.

Sie waren allein in dem trauten Zimmer, Frau Rosenbusch schlief fest, tief atmend in dem Rollstuhl, und Schwester Rosine ließ sich nicht blicken.

Und als wenn eine ungekannte und unverstandene Kraft sie zueinander zöge, näherten sich ihre Hände und sanken brennend ineinander. Er lag vor ihr auf den Knien, den Kopf in ihrem Schoß, die Augen zu ihr emporschlagend, den Mund ihren Lippen nähernd, und sie streichelte wie abwesend sein seidenweiches, dunkles Haar.

»Ist es die Liebe, Edith?« stammelten seine Lippen.

Und sie nickte unter Tränen, schluchzend, im tiefsten Grund ihres jungfräulichen Wesens zum ersten Male erschüttert: Die Liebe!

Da besannen sie sich. Frau Rosenbusch hatte eine Bewegung in ihrem Rollstuhl gemacht. Im Zimmer erhob sich ein leises Geräusch. Es war die uralte Schwarzwälderkuckucksuhr, die zum Schlage ausholte.

Mit hellem Ruf kündete der künstliche Vogel die erste Stunde ihres Glückes.

Jetzt saß Davidchen wieder ganz still und vernünftig an ihrer Seite. Nur noch lose ruhte ihre Hand in der seinen, als schämten sie sich beide dieser ersten, so keuschen Berührung.

Aber lange dauerte es, bis er wieder den Mut zu einem lauten Wort fand, so daß die feierliche Stille, in der sich ihre Seelen einander näherten, in der ihre jugendlichen Körper zueinander strebten, unterbrochen wurde.

Erst als Schwester Rosine wieder eintrat und sagte: »So still, Herr Mandelbaum?« raffte er sich zusammen, und ohne daß er es gewollt hatte, plauderte er nun plötzlich von seinem Geheimnis, weil ihm gerade nichts anderes einfiel.

»Wissen Sie, womit ich jetzt in meinen freien Stunden des Abends zu Hause beschäftigt bin, Fräulein Rosine?«

Die Schwester schüttelte den Kopf und sah ihn fragend an.

»Ich will ein großes Werk schreiben,« sagte er fest. »In den letzten Wochen bin ich mit dem Entwurf ins reine gekommen, und vor etwa acht Tagen habe ich mich an die Ausarbeitung gemacht. Es soll ein Stück werden, ein Theaterstück, Schwester Rosine.«

»Und wo haben Sie den Stoff zu diesem Stück hergenommen?« fragte die Schwester, »das ist ja äußerst interessant.«

Ediths Augen hingen an den Lippen des Sprechenden.

»Woher ich den Stoff genommen habe, Schwester Rosine?« wiederholte Davidchen Mandelbaum. »Das weiß ich, offen gestanden, selber nicht, woher! Es ist mir eingefallen, aus mir heraus, ein phantastischer Stoff. Es ist, als ob alles aus meiner eigenen Seele wüchse und wüchse, und doch, wenn ich es näher betrachte, scheint es mir völlig fremd. Es ist kein modernes Stück und kein geschichtliches Drama, Schwester Rosine, es ist überhaupt nichts dergleichen, es sind auch gar keine Menschen, die in diesem Stücke spielen. Es sind zwei Seelen, die sich suchen und suchen und sich einst finden müssen.«

Schwester Rosine lachte. »Also eine ganz phantastische Sache, Herr Mandelbaum?«

»Wenn Sie es so nennen wollen. Ich weiß nicht, wie ich, es bezeichnen soll. Es ist etwas von dem, was im Grunde lebt, nicht das an, der Oberfläche, was wir mit den Händen greifen und sehen und hören können. Das nicht, Schwester Rosine. Was ganz anderes. Das, was sich plötzlich meldet in tiefster Stille im Winkel des Herzens, ohne daß wir es gerufen haben, und ohne daß wir es los werden können, das, was wir zu begründen nicht imstande sind, was uns beschleicht, wir wissen nicht warum, als Furcht und Angst, das da kommt auf leisen Sohlen und schwindet, wenn wir nicht hinhören wollen, das Leben der Seele, die eine andere Seele sucht und in uns weint und schreit und bittet, bis wir sie durch die Welt da draußen wieder übertönen lassen, und die einmal versunken oft nicht mehr gehört wird!«

»Ich habe Sie wohl nicht recht verstanden, daraus wollen Sie ein Theaterstück machen, Herr Mandelbaum?«

»Doch ja, Schwester Rosine. Sie müssen mich doch verstehen können und begreifen, was ich meine, Sie, die in der Einsamkeit weilen, Sie, die mit einer fast Abgeschiedenen hausen, und der täglich diese seltsame Stimme der Seele reden muß.«

»Daß man der Stimme der Seele lauschen und diese Stimme vernehmen kann, das verstehe ich recht wohl, Herr Mandelbaum, das habe auch ich in vielen einsamen Stunden des Lebens erfahren. Aber was ich nicht verstehe, das ist das, wie man daraus ein Theaterstück machen kann.«

»Das will ich Ihnen sagen, wie ich mir das denke, Schwester Rosine,« beharrte Davidchen Mandelbaum.

Edith hatte ihren Stuhl ganz dicht an den seinen herangeschoben.

»Ich denke mir eine Welt auf der Bühne,« fuhr der fort, »Schwester Rosine, die gar keine Welt mehr ist. Man sieht und hört alles wie in der wirklichen Welt, aber man sieht es durch einen Schleier, man hört es wie aus weiter Ferne, so wie man das Rauschen und Brausen, das Leben einer großen Stadt hört, wenn man auf einem hohen Turme über allen Menschen steht. Und was da vorgeht auf dieser Bühne, das dürfen keine gewöhnlichen Vorgänge des Lebens sein, und doch sind es wieder ganz gewöhnliche. Wie man es nimmt, Schwester Rosine.«

Die Schwester schüttelte den Kopf;

Aber Davidchen Mandelbaum ließ sich nicht irre machen.

»An einem Beispiel,« sagte er, »wird das klarer. Nehmen Sie einmal an, man stellte in einem solchen Stück dar, wie das Alter den Menschen beschleicht. So wie es Frau Rosenbusch beschlichen hat. Der Mensch und das Alter, das wären dann die beiden Seelen, die sich suchen und finden müssen. Ein ganz gewöhnlicher Vorgang aus dem Leben und doch kein gewöhnlicher, wie Essen und Trinken, Heiraten und Voneinandergehen, nicht, Schwester Rosine?

Da denke ich mir einen Herbstabend wie heute, schon mehr Winter als Herbst, ganz so wie heute draußen die Stimmung! Die Bühne stellt ein trauliches, lange von demselben Menschen bewohntes Zimmer dar, und an dem Ofen im Lehnstuhl sitzt der Mensch, dem das Alter seinen Besuch abstattet, und bei dem es sich dann als ständiger Begleiter für den Rest seines Lebens niederläßt.

Eine weiche Stimmung kommt über diesen Menschen, er sehnt sich nach einem Unbekannten, nach einer andern Seele, und weiß nicht, wem diese Seele gehört. Der Raum, in dem er Jahre verbrachte, erscheint ihm heute einsam und traurig, und die Abendstunde, in der die Blätter draußen von den Bäumen fallen, weckt die Erinnerung an die vielen anderen Herbste, die er schon erlebt hat.

Und da, da pocht es leise an die Tür, und das Alter erscheint. Es setzt sich an seine Seite, reicht ihm die Hände, spricht von den Erinnerungen ferner Jahre und Tage.

Können Sie sich jetzt denken, wie ich es meine, Schwester Rosine?«

Leise nickte die Schwester mit dem Kopf.

»Jetzt kann ich es mir denken, Herr Mandelbaum. Aber sehr traurig müßte dieses Stück den Menschen stimmen, wenn er sieht, wie das Alter sein letzter und bester Freund geworden ist.«

»Das war nur ein Beispiel. Ich könnte mir hundert solcher Stücke denken, in denen die gewöhnlichsten Vorgänge des Menschenlebens die allgemeinste Bedeutung gewinnen würden. Neulich las ich im Faust die Szene, wie die Sorge zu dem alten Faust kommt, und er unter dem Hauche ihrer Lippen erblindet. Das ist auch solch ein Suchen und Sehnen zweier Seelen, die sich fliehen und doch finden müssen, weil sie zueinander gehören und nicht voneinander lassen können.«

Die Kuckucksuhr holte zum Schlage aus. Eine Stunde hatten sie so verplaudert. Kurz nach acht Uhr pflegte man in der Villa Seliger zu Abend zu essen, und so gegen sieben trat Davidchen Mandelbaum gewöhnlich seinen Heimweg an.

Schwester Rosine machte sich um Frau Rosenbusch zu schaffen, die eben wieder aus ihrem Schlummer erwacht war. Ihr reichte Davidchen die Hand zum Abschied, Edith huschte an seiner Seite die Treppe hinunter.

»Ich gehe ein Stückchen mit,« flüsterte sie im Hausgange, »es war so heiß droben bei Urgroßmutter, die kühle Luft tut mir wohl.«

Rasch hatte sie ein Tuch um ihren Kopf geschlungen und war in den weiten Abendmantel geschlüpft. Nun schritten sie Seite an Seite durch den Park nach dem Gartentor, und Davidchen war es ganz feierlich zumute, da er zum ersten Male neben der Geliebten aus dem Hause ging. Wie ein Symbol schien es ihm heute. Als müsse er einstmals an ihrer Seite hinausschreiten aus diesem Hause in das reiche, vielgestaltige Leben, das er verstehen lernen und erobern wollte mit den Waffen seines Geistes und seiner Phantasie.

Sie standen auf der Straße, und wortlos reichte er Edith den Arm. Leise schauerte er zusammen, als er fühlte, wie sie sich auf ihn stützte, wie sich ihr schlanker Körper sehnsüchtig an den seinen schmiegte.

Und wie im Traume wandelten die beiden Kinder dahin. Der Mond stand am Winterhimmel, mit Sonnenuntergang hatte der leichte Frost der vorigen Nacht, der die Landschaft mit glitzerndem Reife überzogen, wieder eingesetzt.

Ihr Weg führte sie durch die Gärten des Villenviertels nach den Anlagen, und im Schein der flackernden Gaslaternen, im Glanze des bleichen Mondes erstrahlte die ganze Umgebung, all die Bäume und all die Sträucher wie ein demantener Märchenwald, durch den der verwunschene Prinz seine entzauberte Prinzessin führt.

Ferne Stunden der Kindheit erwachten wieder in dem Herzen Davidchen Mandelbaums, da er daheim auf dem alten Hof des Vaters die Geschichten gelesen, die seinem Geist den ersten romantischen Anstrich gegeben, die Geschichten von der Wunderlampe des Aladin, von den Schätzen in der Höhle Xa Xa und von der schönen Melusine, die gar kein Menschenkind, sondern ein Fabelwesen aus den Tiefen des Wassers gewesen war.

»An was denkst du?« flüsterte Edith.

Da sah er ihr holdes Gesichtchen inmitten der leuchtenden, silbernen Einsamkeit dieser märchenhaften Winterlandschaft, und da küßte er ihre Augen und ihren Mund.

»Meine Prinzessin,« stammelte er.

Und sie riß sich los und eilte wie ein flinkes Wiesel den Weg zurück, den sie eben gekommen waren.

Er aber stand wie der Prinz in dem Märchen vor der das Schloß umziehenden Dornenhecke und starrte den Spuren nacht die ihr zarter Fuß in dem leichten Schnee, der die Wege der Anlagen bedeckte, gelassen hatte.


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