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II.

Als Davidchen Mandelbaum sich in der neunten Vormittagsstunde des ersten Oktober dem stattlichen Geschäftshause Harry Seligers näherte, stand er eine lange Weile wie erstarrt still. Die Kommerzbank, wie sich das Langsche Geschäft seit seiner Erweiterung und Umwandlung in eine Aktiengesellschaft durch Seliger nannte, war in der Tat ein prächtiger Bau. Aus gelbem Mainsandstein massiv, diebs- und feuersicher aufgeführt, nahm es sich in der lebhaftesten Verkehrsstraße der großen Stadt aus wie eine Zwingburg, die wohl den Millionen der Welt Raum und Schutz in ihren Gewölben und Kellern bieten konnte.

Überhaupt diese Stadt mit den hundert und aberhundert durch die Straßen flutenden, hastenden und drängenden Menschen, mit dem Wagenlärm und dem nicht endenden Läuten der Trambahnen, sie hatte schon am gestrigen Tage einen überwältigenden Eindruck auf Davidchen Mandelbaum gemacht.

Bei einer alten freundlichen Frau namens Levy hatte er draußen in der Vorstadt ein kleines, bescheiden möbliertes Zimmerchen für zwölf Mark den Monat gemietet, und gleich gestern hatte er in einer alten Gasse des Ostens ein billiges Restaurant gefunden, an dessen halbblinden Fenstern ein Pappschild mit der Aufschrift koscher verkündete, daß hier nach dem Ritus seines Glaubens gekocht wurde. Was wollte Davidchen Mandelbaum fürs erste mehr?

Wie gebannt stand er jetzt vor dem hohen, zu seinem großen Erstaunen verschlossenen, schmiedeeisernen Gittertore der Kommerzbank, hinter dem ein reich livrierter Portier, einen von einer goldenen Kugel gekrönten Stab in der Hand, gravitätisch auf und ab ging. Wäre er nicht der völlige Neuling in der großen Stadt gewesen, es wäre ihm sicher aufgefallen, daß hier vor dem stattlichen Gebäude der Kommerzbank sich heute etwas besonderes abspielen mußte. Nicht nur, daß die Tore der Bank noch geschlossen waren, obwohl die Stunde des Geschäftsbeginnes schon längst geschlagen hatte, nein, es standen auch zwei Schutzleute vor dem Eingang des Hauses, und ein Häuflein erregter Menschen, deren Gebaren Davidchen Mandelbaum durchaus nicht zu begreifen vermochte, forderte erregt und vergeblich Einlaß in die Bank.

Es mußte ein großes und bedeutendes Geschäft sein, dachte der kleine schwarzhaarige Judenjunge, in das ihn das Glück und die Verwandtschaft mit seinem Großonkel Jakob Mandelbaum führen sollten, wenn sich die Menschen in so früher Stunde vor dem palastartigen Hause drängten und stießen, und wenn es drinnen so voll war, daß man das Tor absperren mußte und niemandem mehr Einlaß gewähren konnte. Er nahm sich vor, geduldig zu warten wie die andern, die sicher größere Dinge als er, der neue Lehrbub, in der Bank zu erledigen hatten, und musterte mit seinen großen, dunkelbraunen Augen die Front des imponierenden Baues, dessen mit starken Eisengittern bewehrte hohe und helle Fenster so freundlich und einladend in den Strahlen der goldenen Morgensonne glitzerten und leuchteten.

Am besten von allem gefiel ihm die Krönung des Ganzen, ein nackter Mensch mit Flügelschuhen, eine fast lebensgroße Figur aus Goldbronze, die droben inmitten des Firstes auf einer großen Kugel schwebte, und von deren glänzendem Körper die Sonnenstrahlen wie gleißendes Gold in seine Augen drangen. Daß der Mann mit dem Stabe und den Flügelschuhen der Gott des Verkehrs und des Handels sei, den die Heiden Merkur genannt haben, erinnerte er sich, einmal in einem Buche gelesen zu haben, und ganz stolz auf seine Weisheit blinzelte er dem alten Heidengotte wie einem Vertrauten zu, unter dessen Führung er nun auch einmal sein junges Glück versuchen wollte.

Da fiel es ihm auf, daß das Menschenhäuflein vor dem Eingang der Bank von Minute zu Minute dichter und größer wurde, daß sich die Leute, die sich bislang unter den Augen der beiden Schutzleute gesittet und ruhig benommen hatten, immer ungeduldiger gebärdeten.

Erregte Stimmen wurden hie und da laut. Neugierige und Straßenbummler gesellten sich zu den Wartenden, Bäcker- und Schusterjungen, die stehen blieben und einen Gassenhauer pfiffen, heruntergekommenes Gesindel, das mit ironischen Bemerkungen in die Fragen der Ungeduldigen und in die Anweisungen der Schutzleute hineinfuhr.

Ein dicker, ganz vorn stehender Mann, der sich mit einem rot- und gelbkarierten Taschentuch die perlenden Schweißtropfen von dem fast haarlosen Schädel wischte, wandte sich eben an den betreßten Portier und sagte mit lauter Stimme:

»Na, so machen Sie mal auf, Verehrtester, das Warten nützt Ihnen doch nichts, zahlen müßt Ihr, ich hab' den Depotschein hier in meinem Notizbuch.«

Ein lautes Gelächter von Seiten der unbeteiligten Zuschauer bildete die Antwort auf diese drollige Apostrophierung des Betreßten, der sich durch nichts aus seiner würdevollen Haltung als Hüter der Kommerzbank herausbringen ließ. Der eine von den Schutzleuten packte einen laut lachenden und schreienden Bäckerjungen beim Ärmel und befahl: »Weitergehen, nicht stehen bleiben, wenn ich bitten darf, weitergehen, meine Herrschaften.«

Die an dem Behelmten ganz ungewohnte Höflichkeit versagte ihre Wirkung nicht. Ein Dutzend Bummelanten, die die Sache nichts anging und denen das Warten zu langweilig wurde, setzte sich in Bewegung. Nur der Dicke brummte vor sich hin: »Was, warten soll ich nicht, ich warte. Zwölftausend Mark habe ich am 1. Juli eingezahlt, ich will doch sehen, wer mir hier das Warten verbietet, ich will doch sehen, ob ich nicht zu meinem Gelde komme, und wenn ich bis Weihnachten übers Jahr hier warten sollte!«

Jetzt sah sich Davidchen Mandelbaum die Leute, die hier warteten, einmal näher an. Soweit er das beurteilen konnte, waren das keine großen Leute, keine von den Vornehmen, die er gestern allein bewundert hatte, die da fuhren in den mit zwei feurigen Pferden bespannten Wagen, und die sich scheuten, ihre schönen Kleider mit dem Schmutz der Straße in Berührung zu bringen.

Schon der Dicke, der von den zwölftausend Mark gesprochen hatte, der eine gestrickte braune Jacke trug und ein paar hellgraue grobe Beinkleider, sah aus wie ein Bierwirt oder ein Handwerkermeister, wie einer, der immer gearbeitet hatte, und dem es sein Lebtag nicht schlecht gegangen war.

Und auch andere gewahrte er unter den geduldig Wartenden, alte und junge Frauen aus dem Volke, die keinen Hut trugen und ein gestricktes Tuch zum Schutze gegen den Wind um den Kopf geschlungen hatten; Männer in abgeschabten schwarzen Röcken mit ernsten und bleichen Gesichtern, die, nach ihrer Kleidung und Haltung zu schließen, kleine Beamte oder Kaufleute sein konnten.

Von dem nahegelegenen Riesenbahnhof, den er bei seiner Ankunft bewundert hatte, schlug es halb zehn. Eine gute halbe Stunde stand er nun hier mit den andern vor dem Eingang der Kommerzbank und wartete. Da trat der eine der Schutzleute an den Betreßten heran und wechselte mit diesem ein paar Worte. Davidchen Mandelbaum sah, wie der Portier einen Mann in das Innere des Hauses schickte, und wie die Wartenden sich auf die Zehenspitzen stellten und die Hälse reckten. Dann vernahm er die von dem Betreßten mit lauter Stimme gesprochenen Worte: »Wir haben soeben telephonisch Meldung aus der Villa des Herrn Seliger bekommen. Herr Seliger muß jeden Augenblick vor der Bank eintreffen!«

Das Wort: »Herr Seliger muß jeden Augenblick vor der Bank eintreffen!« pflanzte sich nun von Mund zu Mund fort. Der vor dem Eingang stehende Menschenhaufen wurde wieder dichter, nur mit Mühe und unter Anwendung sanfter Gewalt gelang es den beiden Schutzleuten, den Weg für die Passanten frei zu machen.

Gerade in dem Moment, als Davidchen Mandelbaum sich überlegte, was denn das alles zu bedeuten habe, als ihn plötzlich eine furchtbare Angst vor etwas Gräßlichem, was hier vorgefallen sein könnte, die Kehle zusammenschnürte, bog in scharfem Trabe ein mit zwei herrlichen Grauschimmeln bespannter Landauer, auf dessen Bocke, der tadellos gekleidete und glattrasierte Diener neben dem tadellos gekleideten und glattrasierten Kutscher saß, in die Straße und hielt nach wenigen Minuten vor dem Eingang der Bank. Schweiß und weißer Schaum bedeckten die schönen Pferde, die der Kutscher mit einem scharfen Ruck angehalten hatte.

Laute Rufe, Verwünschungen und Flüche wurden jetzt laut. Jedes Kind in der Stadt kannte den eleganten, auf Gummirädern fast lautlos dahinrollenden Landauer, in dem Harry Seliger, der Vorstand der Kommerzbank, von seiner Villa in das Geschäft und von dort nach der Börse zu fahren pflegte. Der Diener in der hellbraunen Livree war vom Bock gesprungen und riß, den Zylinder ehrerbietig lüftend, den Wagenschlag auf. In diesem Moment klirrte eine Scheibe. Ein Bursche, den einer der Schutzleute sofort beim Kragen packte, hatte einen Stein gegen das Wagenfenster geschleudert, schrilles Pfeifen und lautes Johlen empfing den in eisiger Ruhe seinem Wagen entsteigenden Bankvorstand, der die gegen ihn heranflutende Menge mit einem kalten Blick aus seinen dunkeln und starren Augen verächtlich maß.

»Gib das Geld her,« brüllte da einer aus der Menge, und andere, durch dieses brutale Vorgehen mutig gemacht, folgten dieser ersten Stimme und riefen: »Unser Geld, Schuft, Betrüger – der die Wechsel nicht mehr einlösen kann – unser Geld, unser Geld.«

Ein verächtliches Lächeln, wie es nicht geringschätziger um die Lippen eines beleidigten Königs spielen konnte, zuckte nun wieder um den scharfgeschnittenen und sorgfältig ausrasierten Mund Harry Seligers und bildete die einzige Antwort des Bankvorstandes, der, den goldenen Zwicker auf der Nase, sich zunächst den Schaden besah, den sein Landauer erlitten hatte.

Der also war der große Harry Seliger, dachte Davidchen Mandelbaum, der Börsenkönig, der Vorstand der Kommerzbank, der Mann, der die goldenen Millionen in Umlauf setzen konnte.

Der seit einer halben Stunde geduldig wartende Judenjunge war ins Gedränge geraten, nun stand er ganz vorne, dicht neben dem Wagen, und da sah er sich den Gewaltigen genau an.

Harry Seliger mochte die Fünfzig hinter sich haben. Seine Haltung in dem eleganten schwarzen Jackettanzug, den der aufgeknöpfte moderne Paletot sehen ließ, war noch eine ungebeugte. Finstere Entschlossenheit blitzte in diesem Momente, da Davidchen Mandelbaum ihn zum ersten Male in seinem Leben sah, aus Seligers Augen, und tiefer Ernst lagerte auf seiner hohen, stark gewölbten Stirn, die ein funkelnagelneuer Zylinder beschattete. Das Charakteristischste aber an dem ganzen blassen und interessanten, scharfgeschnittenen, jüdischen Gesichte war die erhabene Ruhe in diesen kalten, klaren Augen. Den Bart trug Harry Seliger in Kotelettform, wie ihn die Rotschilds zu tragen pflegten, und wie er seitdem für viele große und kleine Krösusse in der ganzen Welt typisch geworden ist.

Wie ein Tierbändiger musterte Seliger den ganz dicht an ihn herandrängenden Haufen, die Hände der Vordersten rührten schon an seinen Körper; als seien sie unrein und beschmutzt, wehrte er sie mit einer leichten Bewegung, mit einem verächtlichen Blicke seiner kalten Augen von sich ab.

»Das Geld her!« brüllte da wieder einer wie eine angegriffene Bestie, und der ganze Menschenhaufen drängte auf Seliger ein, da die Schutzleute jetzt keine Macht mehr über die aufgebrachten Leute hatten.

Seliger zählte die Menschen, man sah es deutlich an seinen Blicken, die von einem zum andern schweiften, so wie er die Hunderte und die Tausende, so wie er die Millionen zu zählen gewohnt war. Sechzig bis siebzig Menschen mochten es nach seiner oberflächlichen Schätzung sein. Sechzig bis siebzig, die ihre Geldforderung von ihm befriedigt wissen wollten. Und wieder glitt das verächtliche, menschenmißachtende Lächeln um seine Lippen, dann erhob er die Hand und sagte mit lauter Stimme:

»Was wollen Sie von mir? Ich begreife nicht, daß man auf mich warten und die Bank abschließen konnte. Die Depots werden sofort ohne Kündigung mit Zins und Zinseszins einem jeden an meiner Kasse ausgezahlt.«

Er winkte dem Betreßten.

»Öffnen Sie, Portier, schicken Sie mir den Hauptkassierer und lassen Sie die Leute einen nach dem andern in Ordnung eintreten.« Und dann mit erhobener Stimme: »Es liegen für fünfzehn Millionen unanfechtbare Werte in den Tresors der Bank.«

Das Gittertor sprang auf. Hinter Seliger und Davidchen Mandelbaum, der sich rasch und aalglatt hineingezwängt hatte, flutete die Menge in den mollig durchwärmten Korridor des großen Bankhauses, vor dessen Kassenschaltern sie nun dicht gedrängt Kopf an Kopf stand.

»Punkt zehn Uhr kommen die Herren vom Aufsichtsrat zu einer außerordentlichen Sitzung hier zusammen,« wandte sich nun Seliger an den tief dienernden Portier und schritt dann der in dem Erdgeschoß untergebrachten Hauptkasse zu, wo der Kassierer in unsagbarer Verwirrung seiner Befehle harrte.

»Sind Depotkündigungen seit gestern eingelaufen, Grünert?« fragte Seliger den alten, schon im Dienst des ehemaligen Langschen Geschäfts ergrauten Beamten.

»Jawohl, Herr Seliger,« lautete die Antwort.

»In welcher Höhe?«

»So weit ich es übersehen kann, für zwei Millionen und siebenmalhunderttausend Mark.«

»Gut, Sie zahlen alles sofort in bar aus. Setzen Sie sich mit der Reichsbank in Verbindung, falls Sie nicht genügend bares Geld haben sollten. Das Guthaben bei der Reichsbank beläuft sich augenblicklich auf wieviel?«

»Auf fünf Millionen und dreimalhunderttausend Mark, Herr Seliger.«

»Schön. Und die Leute, die da draußen herumstehen, Grünert, wie hoch schätzen Sie diese Leute?«

»So weit ich sehen kann, Herr Seliger, lauter kleine Leute mit Einlagen von tausend bis zehntausend Mark.«

»Wird alles auf Heller und Pfennig ohne Kündigung sofort jetzt bezahlt, Grünert. Soviel um diese kleinen Leute zu befriedigen, werden Sie haben?«

»Ich denke ja, Herr Seliger.« Ein befriedigtes Lächeln um die Lippen, stieg der Gewaltige die breite, mit Wurzener Läufern belegte Marmortreppe hinan zum ersten Stockwerk, in dessen Balkonzimmer sein Direktionsbureau gelegen war.

Etwas echauffiert hatte er sich doch. Die Szene auf der Straße, vor den Toren der Kommerzbank, der Stein, den der freche Bursche gegen das Fenster seines Landauers geschleudert, sie hatten ihn doch aufgeregt. In diesem Augenblick, da er sich fast erschöpft in den weichen, vor seinem Schreibtisch stehenden Sessel niederließ, wollte es ihn mit einem Male bedünken, als sei er doch nicht mehr der zähe, der unbeugsame Harry Seliger der früheren Zeiten, über dessen Scheitel die Stürme der Gründerjahre und die Epoche der großen Börsenkrache spurlos dahingegangen waren, der einst in dem Hofe der von ihm in einem kleinen Städtchen am Rhein ins Leben gerufenen Jutespinnerei einem johlenden Haufen revoltierender Arbeiter, den Revolver in der Hand, standgehalten, bis das aus der nahen Großstadt herbeigerufene Militär kam.

Der, der er vor fünfzehn, zwanzig Jahren gewesen, der war er am Ende heute doch nicht mehr, heute, wo er seine Kräfte mehr denn jemals in seinem Leben nötig hatte, heute, wo endlich das große Millionenprojekt, der Plan langer Monate, die Sorge von hundert schlaflosen Nächten, das stolze Gebäude seiner unbegrenzten Gewinnsucht und seiner zügellosen geschäftlichen Phantasie mit Hilfe des in der reichen Stadt angehäuften Großkapitals realisiert werden sollte.

Es war ein gewagtes, ein tolles, ein nur für ihn allein denkbares Spiel, das er heute mit der Welt, mit der Börse, mit seinen Geldgebern trieb. Seliger verhehlte sich das nicht einen Augenblick. Und doch war dieser gefährliche Weg, den er heute beschritten, der einzig mögliche, wollte er sich nicht der Gefahr aussetzen, daß sein gewaltiger, sein ganzes Wesen berauschender Zukunftsplan, der ihn in der Tat zu einem König des Geldmarktes machen sollte, an der Zaghaftigkeit und Ängstlichkeit seiner Mitarbeiter scheiterte.

Mit der schönen weißen Hand, deren kleinen Finger ein einziger auf Tausende geschätzter Solitär schmückte, strich sich Harry Seliger durch das schon stark gelichtete Haar. Dann holte er unter den auf seinem Schreibtisch liegenden Zeitungen die gestrige Abendausgabe des Handelsblattes hervor und las noch einmal mit einem Lächeln der Genugtuung, dem sich aber ein banges Angstgefühl untermischte, den gesperrt gedruckten und an der Spitze des Blattes stehenden Artikel:

»Zu dem jüngsten Bankkrach in unserer Stadt. Der bei den Gerichten angemeldete Konkurs der seit Jahrzehnten bestehenden Bankfirma J. J. Stern & Co. ist dem Zusammenbruche der Grundstück- und Länderbank auf dem Fuße gefolgt, und wenn nicht alle Zeichen trügen, dürfte dieses Désastre in unserer Finanzwelt nicht das letzte sein, das weit über die Grenzen unserer Stadt hinaus die Gemüter in Aufregung versetzen und die Börse beunruhigen wird. Wie wir allerdings nur gerüchtweise erfahren, soll auch die angesehene und von allen Fachkreisen für fest gehaltene Kommerzbank (früher Adolf Lang & Co.) stark engagiert und an den Verlusten der verkrachten Grundstück- und Länderbank beteiligt sein. Wenigstens wird uns versichert, daß im Laufe des gestrigen Tages präsentierte Wechsel in der Höhe von etwa einhundertundfünfzigtausend Mark an der Kasse der Kommerzbank nicht eingelöst worden sind.«

Den Kopf in die Hand gestützt saß Harry Seliger einige Augenblicke überlegend vor dem auseinandergefalteten Zeitungsblatte, dann riß er ein Stück Papier von dem vor ihm liegenden Notizblock und schrieb:

»Zu unserer Freude sind wir heute in der Lage, die gestern von uns gebrachte Notiz über die angeblichen Verluste der Kommerzbank (vormals Adolf Lang und Co.) bei dem Zusammenbruch der Grundstück- und Länderbank auf das energischste zu dementieren. Wie wir soeben erfahren, sind sämtliche infolge unserer Notiz gekündigten Depots an der Kasse der Bank auf Heller und Pfennig ausgezahlt worden. Die nicht eingelösten Wechsel, die die erste Veranlassung zu unserer Notiz gaben, haben sich schon im Laufe des gestrigen Nachmittags als Fälschungen erwiesen, über deren Ursprung man noch völlig im unklaren ist, die aber der Vorstand der Bank der königlichen Staatsanwaltschaft zur weiteren Verfolgung und Behandlung der Sache überwiesen hat.«

Noch einmal überflog Seliger diese von ihm geschriebenen Zeilen, dann drückte er auf die elektrische Klingel.

Dem eintretenden Boten befahl er: »Rufen Sie Fräulein Marbach.«

Als diese, eine hübsche kleine Jüdin von etwa zwanzig Jahren, erschien, ordnete er an:

»Schreiben Sie diese Zeilen drinnen in meiner Privatschreibstube mit der Maschine ab, Fräulein Marbach, kuvertieren Sie und adressieren Sie mit der Aufschrift ›Eilt‹ an die Redaktion des Handelsblattes. Die Notiz ist wichtig und muß noch in der heutigen Abendausgabe erscheinen. Sie werden den Brief daher durch einen Boten auf die Redaktion bringen lassen, und dann wissen Sie ja, daß alles hier oben Diktierte und Geschriebene strengstes Geschäftsgeheimnis ist.« »Jawohl, Herr Seliger.«

Während sich die Kleine in das nebenanstoßende Schreibzimmer begab, folgten ihr Harry Seligers Blicke, und lange haftete sein Auge auf der Tür, durch die die anmutige Erscheinung der schlanken Jüdin verschwunden war.

Ja, wenn er an frühere Jahre zurückdachte, da er noch der »schöne Harry«, der »unternehmende Harry« gewesen, da wäre es ihm auf ein paar braune Lappen mehr oder weniger nicht angekommen, um die kleine Marbach, deren Anblick auch heute wieder sein Blut in Wallung versetzte, zu seiner Geliebten zu machen, ihm, der anderthalb Dutzend Maitressen ausgehalten hatte, den seine Freunde einen Gourmet in der Liebe nannten, der lebte und leben ließ, der sogar Frau und Kinder in dem Einschlagen ihrer eigenen Wege nicht hinderte.

Eine Kleinigkeit wäre es mit der kleinen Marbach gewesen, deren Vater gelähmt war und als Pfründner der israelitischen Armenstiftung lebte, die er vor zwei Jahren aus Mitleid in sein Geschäft genommen, und die infolge ihrer Klugheit und ihrer Verschwiegenheit wie keine zweite zu der Vertrauensstellung seiner Privatsekretärin geeignet war.

Aber seit seine beiden Töchter Etelka und Edith herangewachsen waren, seit sein Ältester Leo selber solche Streiche die Hülle und die Fülle machte, und seitdem sein Weib, die blonde Hilde, ein altes Verhältnis mit einem Prinzen aus der Zeit ihrer Bühnenlaufbahn wieder aufgenommen, war es ihm, als sei er, der über Fünfzigjährige, nun berufen, die Ehre des Hauses wenigstens äußerlich wieder aufrecht zu erhalten und wenigstens dieses junge Blut, dessen Existenz er völlig in seinen Händen hielt, zu schonen.

Als er sich eben bei diesen Gedanken ertappte, lächelte er wieder sarkastisch vor sich hin. Er, Harry Seliger, der Mann der ungeahnten Spekulationen an der Börse, der verwöhnte Liebling Fortunas, mit einem Male voller Skrupel einem Mädchen gegenüber, nach dem er nur die Hände auszustrecken brauchte, er, ein Moralfatzke, er, der dem Rabbi und dem protestantischen Pfarrer an einem Tage ins Gesicht gelacht hatte, weil sie Bedenken gegen die Erziehung seiner Kinder erhoben, die weder getauft worden waren, noch auch der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörten. Er, der dem Pfarrer gesagt hatte, er werde ihn bemühen, falls sich Etelka oder Edith für einen christlichen Gatten entschieden, und Leo werde sich wohl eine Religion der Lebensklugheit ganz allein zurechtzuzimmern wissen, denn Leo sei ein gescheiter Mensch, ein Philosoph, der seine eigenen Wege wandeln und Bücher und Theaterstücke schreiben wolle. Er, Harry Seliger, ein Mann der Skrupel, es wäre zum Lachen gewesen, wenn er nicht in solchen Anwandlungen die sicheren Vorboten des nahenden Alters vermutet hätte.

Aber es waren nur wenige Minuten, während deren seine Gedanken bei dem schönen jungen Mädchen, bei den mißlichen Verhältnissen seines häuslichen Lebens und bei dem Philosophieren über die moralischen Anwandlungen seiner eigenen Persönlichkeit verweilten. Der Artikel des Handelsblattes zauberte bald wieder das große, das gewaltige Werk vor seine erregte Seele, das die Krönung seiner ganzen Lebensarbeit, das das Exempel auf die Rechnung aller seiner ungeheuren Spekulationen an der Börse bilden sollte.

Langsam und in langen Jahren, mit kluger Vorsicht und mit der seinem Stamme eigentümlichen Zähigkeit hatte Harry Seliger das nach dem Tode Adolf Langs übernommene Bankgeschäft alten und kleinen Stiles in die Aktiengesellschaft in dem großen palastartigen Gebäude der Hauptverkehrsstraße der großen Stadt umgewandelt, dem er den stolzen Namen der Kommerzbank gegeben hatte.

Alle Krisen einer unsicheren und wagehalsigen Zeit hatte Harry Seliger glücklich überstanden, durch alle Klippen und über alle Untiefen einer an manchen Tagen seines an Erfahrungen reichen Lebens wildbewegten See hatte er das Schifflein, dessen Steuer er in jungen Jahren übernommen, siegreich hindurchlanciert. Auf diese Weise war er der geworden, der er heute noch war, der vor keinem Mittel zurückschreckende, rücksichtslose Geldmann, der die Millionen nicht verloren gibt, wenn er auch nur noch einen geliehenen Tausender in seinen Händen hält.

Nach dem Tode Adolf Langs, seines einstigen Gönners, des Besitzers der Millionen und der alten Bank, waren schwere Zeiten über das Land hereingebrochen. Der große Krieg zwischen Deutschland und Frankreich hatte für lange Monate alle Werte in Frage gestellt, hatte alle Spekulationen brachgelegt und das ganze geschäftliche Leben und Treiben einer Nation unterbunden, deren einziges Augenmerk auf die siegreichen Schlachten in einem fremden, fabelhaft reichen Lande gerichtet war. Und dann war plötzlich, fast über Nacht, der märchenhafte Umschwung gekommen. Ungeahnte Summen, von deren Größe man gar keine rechte Vorstellung gehabt, waren in die Kasse eines bislang fast armen Landes geflossen. Die Städte hatten sich gedehnt und gestreckt, sie wollten den Gürtel zersprengen, den man um ihre Hüften gelegt hatte. Ein neuer Schienenstrang entstand neben dem andern, und die Dampfmaschine ward mit einem Schlage Siegerin in einer neuen Welt.

Neue Fabrikstädte schossen wie die Pilze empor aus der deutschen Erde, ganze Stadtviertel wurden an einem einzigen Tage gegründet und in knapp einem Jahre aufgebaut. Ein Unternehmungsgeist, wie er dem nüchternen deutschen Volke bislang völlig fremd gewesen, begann sich in allen Ecken und Winkeln zu regen, und wie ein belebender Strom neuen Blutes rollte das rote Gold durch das Land, dem man bislang im Schweiße seines Angesichts das Brot und des Lebens Notdurft mühsam abgerungen hatte.

In dieser Zeit, da das Geld sozusagen auf der Straße lag, da man nur zuzugreifen brauchte, da sich der Wert der Grundstücke in wenigen Jahren infolge der allgemeinen Bauwut verzehnfachen konnte, waren die ersten großen Erfolge des heutigen Börsenkönigs Harry Seliger gefallen. Wie ein Fels hatte dieser energische schlaue Jude der allgemeinen Brandung standgehalten, hatte Million um Million aus dem Geldgeschäft Adolf Lang & Co. herausgeschlagen, bis das Erbteil, das der alte Kommerzienrat hinterlassen, sichergestellt und aus dem Geschäfte ohne Schaden herausgezogen werden konnte, bis er selber der alleinige Inhaber des Langschen Bankhauses geworden war.

Das Hypothekengeschäft war damals in einer wildbewegten Zeit die Spekulation des jungen Harry Seliger geworden. Mit Geld zu hohen, aber nicht wucherischen Zinsen, belieh er in einer Zeit, der das Gesetz keinerlei Beschränkung auferlegte, die von wagehalsigen Spekulanten angehäuften Grundstücke. Und er hatte Glück. War ihm ein Terrain, dessen Besitzer nicht mehr zu zahlen vermochte, zugefallen, dann fand sich in jenen Tagen schon ein zweiter, der sein Glück probierte, der das von dem andern begonnene und nicht zu Ende geführte Projekt wieder aufnahm und das an Seliger gefallene Grundstück um teures Geld und gegen eine neue auf dem Lande lastende Hypothek übernahm.

Damals war der Großonkel Davidchen Mandelbaums Seligers rechte Hand geworden. Der Immobiliensensal und Börsenmakler vermittelte den Verkauf und die Belehnung der Grundstücke gegen eine hohe Provision, und Mandelbaum und Seliger sogen gemeinsam an dem Marke der durch die allgemeine Lage außer Rand und Band geratenen Unternehmer.

Zusammen mit Mandelbaum, dem hartnäckigen, sparsamen und skrupellosen Geldeintreiber, diesem Genie in der Liquidierung einmal entstandener Forderungen, hatte er auch den Plan zur Umwandlung des Langschen Bankgeschäfts in eine Aktiengesellschaft ausgearbeitet. Denn Harry Seliger sagte sich damals, daß nur eine bedeutende Vergrößerung des Stammkapitals, das Hunderttausende im Jahre abwerfende große Hypothekengeschäft, das er lächelnd ein Bedürfnis seiner Zeit nannte, ermöglichen werde, und daß es ihm als dem Leiter und starkbeteiligten Teilhaber der Kommerzbank leichter sein werde, das eigene Kapital zu schonen, es allmählich ganz in Sicherheit zu bringen und sich mit den Zinsen des fremden Kapitals zu bereichern, als wenn er als alleiniger Inhaber bei jedem neuen Geschäfte an jedem neuen Tage die eigene Haut wieder zu Markte tragen müsse.

So war denn mit Hilfe einiger Großkapitalisten und einer ganzen Anzahl kleiner Leute die Kommerzbank schon vor einer Reihe von Jahren zustande gekommen, und Harry Seliger, dem vertragsgemäß eine glänzende jährliche Tantieme zugute kam, schöpfte den Rahm von der Milch anderer, deren Kapital sich im besten Falle mit sechs bis sieben Prozent verzinste.

Das war der eigentlich ideale Zustand, und so hätte es bleiben müssen, wenn ihn nicht vor wenigen Jahren, jetzt noch an der Schwelle des Alters, die wilde Spekulation wie in seinen jungen Tagen wieder am Kragen gepackt hätte. Der Mann, der von sich behauptete, daß ihm noch nie in seinem Leben ein einziges Geschäft mit Ausnahme seiner Heirat fehlgeschlagen, der bei einem Glase Wein gelassen sagte, daß ihm das Rollenlassen der Millionen zu einer lieben Gewohnheit geworden sei, er war im Innersten seines Wesens, wie er das oft in seinem Leben gefühlt hatte, ein Phantast. Es konnte ihm passieren, daß ihn eine Idee packte, daß sie ihn nicht losließ, tage-, wochen- und mondelang, wie den Spieler eine Zahl, auf die setzen zu müssen er durch einen Zufall sich einbildet, und auf die er so lange setzt, bis sie ihn zugrunde gerichtet hat.

Und auch eben wieder in diesem Augenblicke, da er die Aufsichtsräte der Bank zu einer ausschlaggebenden Sitzung erwartete, liebkoste Harry Seliger die von ihm gefaßte und zum Entschlusse herangereifte Idee, deren Ausführung die Krönung seines Lebenswerkes werden sollte, und zu deren Verwirklichung er viel mehr als die Millionen der Bank, zu deren Verwirklichung er das Geld Hunderter und Tausender nötig hatte.

Wie ein Träumer saß der große Geldmann da, den Kopf in die Hand gestützt, das Auge fest auf einen Plan geheftet, den er der Schublade seines Schreibtisches entnommen und vor sich ausgebreitet hatte. Denn alle die Gründungen, die er vor Jahren hypothekarisiert hatte, an denen er und sein Freund Mandelbaum soviel Geld verdient, blieben nun hinter diesem Riesenprojekte zurück. Wenn das einschlug, wenn nur die Hälfte seiner kühnen Erwartungen in Erfüllung gehen sollte, dann mußte sich das hier angelegte Kapital mit 60 Prozent verzinsen. Dann war er es, der die im Schoße der Erde schlummernden, von keiner Menschenseele geahnten Millionen ins Rollen brachte, denn wenn ihn nicht alles täuschte, barg dieser Boden, den er erworben und den er ausbeuten wollte, reichere Schätze als die Diamantfelder Südafrikas und die Goldgruben von Klondyke.

Und ganz in der Nähe der Stadt lag dieses Terrain, mit einer Kleinbahn, wie er sie träumte, in zwei bis drei Stunden bequem zu erreichen. Nutzloses Brachland und wüstes Geröll, das den umliegenden armen Gemeinden gehörte, das nur hier und da von einer Wiese oder einem Streifen Waldes unterbrochen wurde.

Freilich der Wald, das war sein Sorgenkind, der Wald war Krongut, in dem Walde lag das Jagdschloß eines kleinen Duodezfürsten, und an diesem Schlosse und dessen Rechten konnten in letzter Stunde alle seine Pläne scheitern. War doch der Plan, den er hatte, den er für sich allein in seinem Innern hegte, nicht kurzerhand, nicht auf geradem Wege, nicht so mit einem Schlage auszuführen. Sollte die ganze Sache in Kürze den gewünschten reichen Gewinn abwerfen, dann mußte die einsame und weltverlassene Gegend, in deren armen Dörfern ein paar elende Bauern hausten, dem Eisenbahnnetze angeschlossen werden, eine Kleinbahn mußte die Dörfer und das Gelände mit der Stadt verbinden, mußte den Verkehrsweg hergeben, auf dem die Millionen in die Hände Harry Seligers und seiner Teilhaber rollen sollten.

Die Kleinbahn, die für ihn, den Kenner der Verhältnisse, für ihn, der da wußte, daß Kalilager mit unermeßlicher Ausbeute in diesem scheinbar wertlosen Boden ruhten, nur das Mittel zum Zweck sein sollte, mußte den andern als Zweck hingestellt werden, denn mit dem Momente, wo der Reichtum des Bodens nicht sein Geheimnis blieb, war es mit dem Erwerb weiteren Geländes zu einem Spottpreis für ihn aus.

Das war der Traum seiner Seele. Eine neue Industriegegend wollte er mit einem Schlage herauszaubern aus einem bislang fast unbewohnten Stück Landes, die Bahn sollte dies Stück Land mit den Städten verbinden, Arbeiterkolonien sollten die armseligen Bauerndörfer werden, und die nur von ihm gekannten Schätze dieses Bodens sollten zum Erwerb Tausender und Tausender sich wandeln. Wenn ihm das gelang! Wenn er in dem von ihm erträumten Produkte das Mittel gefunden hatte, den teuern und immer seltener werdenden Salpeter von dem Weltmarkte zu verdrängen, wenn diese Lager, die er alle an sich zu bringen entschlossen war, das Dungmittel für die Gefilde und Äcker Deutschlands in ihrem Schoße bargen, wenn man die Methode fand, diesen künstlichen Dung auf eine billige Art und Weise herzustellen, dann, dann wäre er ein Segen für Millionen geworden, dann hätte er wie Faust dem Meere neuen Grund und Boden abgerungen, dann würde Fabrik um Fabrik erstehen aus dem heute nutzlosen und verachteten Gelände, und jede von diesen Fabriken würde die goldene Frucht aus allen Feldern der deutschen Erde ersprießen und erblühen lassen.

Das war sein Traum.

Wenn er sich ihm hingab, dann vernahmen seine Ohren das Ächzen der Spaten, die in die harte Erde drangen, das Rollen der Wagen, die auf den Schienen die Kalisalze in die Fabrik brachten, das Fauchen und Stampfen der Maschinen, die Stimmen der tausend und tausend Arbeiter, die sich im Dienste dieser neuen Industrie, ein Heer von Menschen, in dem Lande, das bislang eine Wüste war, angesiedelt hatten.

Diesen Sommer waren es zwei Jahre gewesen, daß ihn der Zufall die wunderbare Entdeckung des Kalilagers nicht fern von der großen Stadt in jener abgelegenen, dem großen Verkehr noch nicht erschlossenen Gegend machen ließ. Wie alle Leute, die es sich leisten können, hatte auch er seine Schrullen. Im Sommer, wenn die Tage heiß und die Nächte schwül waren, im tiefen Winter, wenn eine weiche, weiße Schneedecke die weiten Gefilde bis an das ferne Gebirge bedeckte, dann pflegten ihn diese Schrullen zu packen. Dann verschwand Seliger plötzlich, ohne daß jemand eine Ahnung davon hatte, aus dem nervösen und hastenden Treiben der Stadt, aus dem aufregenden Wirrwarr der Geschäfte und verkroch sich Tage, oft ein oder zwei Wochen lang in irgendeinen abgelegenen Winkel, um sich auszuruhen und seine geistigen und körperlichen Kräfte wieder zu sammeln.

Früher, in jungen Jahren, war er ein eifriger Jäger gewesen. In schönen Sommernächten und am neblichten Herbstmorgen konnte er damals regungslos lange Stunden auf dem Anstand verharren, bis die Sonne aufging und ihm den an einsamen Lichtungen des Waldes wechselnden Hirsch oder Rehbock zeigte.

In den letzten Jahren hatte er die Jagd aufgegeben, es wollte ihn bedünken, seine Hand sei nicht mehr so sicher wie früher, und sein Auge nicht mehr so scharf.

Aber als er im Sommer vor zwei Jahren in der Zeitung gelesen, daß die Feld- und Waldjagd der Gemeinde Walportshausen um den Spottpreis von sechshundert Mark zu verpachten sei, war er eines Tages dort hinausgefahren und hatte sich die Jagdrechte von dem Bürgermeister und den Gemeindevertretern zuschlagen lassen. Und damals hatte man ihm über die schlechten Trinkwasserverhältnisse in Walportshausen geklagt. Alles Grundwasser, das man grub, sollte eine rötliche Farbe und einen widerlich salzigen Geschmack haben, in den Kochtöpfen der Bauern setzten sich im Laufe der Wochen die Salzkristalle an, und das Fleisch, das man in diesem Wasser kochte, wurde rot, als ob es nicht frisch, sondern als ob es gepökelt sei.

Das hatte Seligers Interesse erregt. Zunächst hatte er als Geschäftsmann nur die Möglichkeit und die Rentabilität einer Quellwasserleitung aus den nahen Bergen für Walportshausen ins Auge gefaßt. Als aber die von einem Chemiker auf seine Veranlassung vorgenommene Untersuchung ergab, daß es sich hier um Kalisalze handelte, die vermutlich in großen Mengen in dem Boden um Walportshausen lagerten, da hatte Seliger den Walportshausenern das generöse Versprechen gegeben, die Quellwasserleitung gegen eine ganz minimale Verzinsung des von der Kommerzbank vorzuschießenden Kapitals anzulegen, und über den kalihaltigen, das Dörflein umgebenden Boden war kein Wort mehr gefallen.

Und wirklich, die Wasserleitung war in knapp einem halben Jahre gebaut worden. Seitdem galt Seliger, der sich im Wald vor dem Dorfe eine kleine Jagdhütte hatte anlegen lassen, bei den Bauern der ganzen Gegend als eine Art von Wohltäter, der ihnen die neue Wasserleitung aus reiner Menschenliebe so gut wie geschenkt hatte.

Und im stillen, ohne daß jemand in der Stadt und in der Gegend davon irgend etwas ahnte, hatte der große Finanzmann seinen Plan weiter verfolgt und seine Forschungen fortgesetzt. Ein Laboratorium in Paris und eines in Wien hatten von ihm Proben der aus dem Wasser der Walportshausener Gegend gewonnenen Kalisalze erhalten, und die Chemiker in der französischen und österreichischen Hauptstadt hatten festgestellt, daß eine wirklich große Ausbeute an solchen Salzen einen völligen Umschwung in der Industrie der Dungmittelproduktion herbeiführen könne.

Dann war der schwierigste Teile von Seligers heimlicher Arbeit gekommen. Er war auf dem Punkte angelangt, die Ertragsfähigkeit des Walportshausener Bodens an Kalisalzen feststellen zu müssen, ohne daß die Gemeinde, ohne daß die Unternehmer in der nahen Stadt etwas von den in dem Boden vorhandenen Reichtümern auch nur ahnten.

Und auch diese schwere Aufgabe hatte Seliger glücklich gelöst. Eine fröhliche Jagdgesellschaft, Herren, die er bei seinem letzten Aufenthalte in Trouville kennen gelernt hatte, und die kein Wort deutsch verstanden, weilten acht Tage in Walportshausen. Sie waren Seligers Gäste und gingen mit ihm auf die Jagd. Und während die Bauernjungen als Treiber und Führer durch den Wald ein schönes Stück Geld verdienten, während man nach Füchsen und Dachsen grub und an den verschiedensten Stellen den Versuch machte, ob man das Walportshausener Grundwasser nicht doch wenigstens zur Berieselung der Wiesen verwenden könne, stellten die fremden Herren fest, daß unter dem unfruchtbaren Boden des Dorfes ein meilenlanges und meilenbreites Kalilager sich erstrecken müsse, dessen regelrechte Ausbeutung im Laufe der Jahre viele Millionen abwerfen werde.

Nach vierzehn Tagen reiste die Jagdgesellschaft ab, und Seligers großer Plan stand fest. Das Gelände, um das es sich handelte, gehörte der Gemeinde. Der spärliche Graswuchs, der auf dem über den Salzlagern liegenden Boden gedieh, diente den Schafherden der Umgegend als Nahrung.

Dem ganz beglückten Gemeinderat machte Seliger den Vorschlag, das von der Kommerzbank für die Anlage der Wasserleitung vorgeschossene Kapital nicht mehr zu verzinsen, sondern einen entsprechenden Wert an Grundstücken an die Bank abzutreten, die er später als Baustellen für die Anlage von Arbeiterwohnstätten verwenden wollte. Das Brachland, das kaum das nötige Futter für die Schafherden lieferte, war der Gemeinde um ein billiges feil, und bald kam ein Kaufvertrag zustande, nach dem die Kommerzbank, die in Wirklichkeit Harry Seliger hieß, in den Besitz eines meilengroßen Geländes in der Umgegend von Walportshausen gelangte.

In den Finanzkreisen der Stadt zerbrach man sich vergeblich die Köpfe, was Harry Seliger mit diesem großen neuen Spekulationsobjekt eigentlich bezweckte. Da er aber diesen Ankauf ebenso wie damals die Anlage der Wasserleitung aus seinen eigenen Mitteln bestritt, und die übrigen Teilhaber der Bank zu weiteren aus diesem Ankauf entstehenden Verpflichtungen nicht herangezogen wurden, überließ man seine Pläne ihm und der Zukunft und mokierte sich im stillen über diese Kapitalsanlage des großen Finanzgenies, deren Zinsen wohl auf dem Mars oder auf dem Monde ausbezahlt werden würden.

Und Harry Seliger war das gerade recht. Er ließ fast zwei Jahre vergehen, er ließ Gras über die ganze Angelegenheit wachsen, ehe er seinen Teilhabern und der Finanzwelt gegenüber mit einem neuen Plane hervortrat, der den von seiner Seite vollzogenen Ankauf des wertlosen Geländes bei Walportshausen plötzlich in den Augen der Welt in ein anderes Licht rückte.

Aber nun war der Moment gekommen. Eine ganze Anzahl neuer Fabriken, die rüstige Leute aus der Landbevölkerung als Arbeiter nötig hatten, war in dem letzten Jahre vor den Toren der Stadt entstanden. Die Arbeiter klagten über den Mangel an billigen Wohnungen und die teuern Lebensmittelpreise in der Stadt, die Unternehmer über die von Monat zu Monat höher werdenden Löhne, die sie bewilligen mußten. Wer jetzt eine Verbindung schuf, welche die Leute vom Lande in einer halben Stunde billig zu ihrer Arbeitsstätte beförderte, der durfte getrost auf einen großen Erfolg rechnen. Eine Kleinbahn nach den weltverlorenen und menschenüberfüllten Nestern im Norden der Stadt war zum Bedürfnis geworden, und die Spur dieser notwendig gewordenen Kleinbahn führte, wie Harry Seliger richtig spekulierte, über Weilingen und Feldkirch nach Walportshausen.

Seit Monaten manövrierte Harry Seliger, der allmächtige Börsenmann, der sie alle an der Hand hatte, in der Presse zugunsten der Kleinbahn Weilingen – Feldkirch – Walportshausen. Die Blätter aller Parteirichtungen hatten von Seliger inspirierte Artikel gebracht, die diese Bahn als eine Notwendigkeit hinstellten, als ein soziales Bedürfnis, die die Vorteile dieses Bahnbaues für Stadt und Land in tausend Zungen priesen und das schufen, was man Stimmung nannte, die das Geld für das großartige Unternehmen in den Taschen der großen und der kleinen Kapitalisten locker machten. Sogar die Volkswacht stand in diesem Falle auf Seligers Seite. Freilich saß der Verleger, der im vorigen Jahre neue Maschinen nötig gehabt hatte, bei der Kommerzbank tief in der Kreide.

Und da im letzten Augenblicke – Harry Seliger konnte mit den Zähnen knirschen, wenn er daran dachte – waren die großen Krache gekommen, welche die kleinen und die großen Geldgeber in der Stadt vor den Kopf gestoßen hatten. Vor einem Vierteljahre der Zusammenbruch des alten Geschäftes J. J. Stern & Co., und vor knapp drei Wochen der Konkurs der Grundstück- und Länderbank.

Und an diese Krache hatte sich das Gerücht, das unkontrollierbare, das fürchterliche, das jedes Unternehmen lahmlegende wie ein Gespenst geheftet.

Eines Mittags an der Börse war es plötzlich aufgetaucht, dieses Gerücht: die Kommerzbank sei bei den Verlusten von J. J. Stern & Co. und von der Grundstück- und Länderbank in Mitleidenschaft gezogen.

Und trotz aller Dementis hatte es sich gehalten, dieses lächerliche Gerücht, das mit einem Schlage in diesem Momente alle seine Pläne durchkreuzen konnte.

Was war zu tun gegen ein solches Gerücht? Nur der schlagende Beweis der Solvenz konnte einem solchen den Grund und Boden entziehen. Aber woher ihn nehmen, diesen schlagenden Beweis! Wochen-, monate-, jahrelang konnte unter Umständen ein Institut von der Größe der Kommerzbank seinen Kredit hinziehen und die Welt durch immer neue und verschwiegene Anleihen in dem Glauben erhalten, daß es noch zahlungsfähig sei, wenn auch schon das Gespenst des Zusammenbruchs in allen seinen Räumen einherging. Nein, nur ein einziger großer Coup, der an einem einzigen Tage erbrachte Beweis, daß man in der Lage war, Millionen auszuzahlen, vermochte dieses Gerücht zu töten, und nur mit einem einzigen Schlage konnte das in diesem Augenblicke so notwendig gewordene und schon halb verlorene Vertrauen zurückkehren.

Und zu diesem waghalsigen Schritte hatte sich Harry Seliger in diesen schweren Tagen, da für ihn sein ganzer großer Zukunftsplan auf dem Spiele stand, kaltblütig entschlossen, und dieser Schritt war ihm heute – wie er zu hoffen wagte – geglückt.

Schon dreimal hatte es an die Tür geklopft und Seliger hatte es, gefangen genommen durch all diese Gedanken, überhört. Jetzt trat der Diener, den er vorhin nach Fräulein Marbach geschickt hatte, ein und meldete: »Da drunten ist ein junger Mensch, der sich bei Herrn Seliger vorstellen möchte, und Herr Dr. von Kutzleben wartet im Empfangszimmer.«

»Was will der junge Mensch?« fragte Seliger.

»Er heiße David Mandelbaum und sei zum 1. Oktober von Herrn Seliger als Lehrling für die Kommerzbank engagiert.«

»Daß Sie von dem Unwichtigen immer zuerst reden müssen, Lorenz,« fuhr Seliger nun auf. »Schicken Sie den jungen Menschen zu dem Buchhalter Cohn, Cohn soll ihm seine Arbeit anweisen, und führen Sie Herrn Dr. von Kutzleben herein!«

»Der Herr Seliger entschuldigen,« stotterte nun Lorenz, »der junge Mensch bestand darauf, den Herrn Chef selber sprechen zu wollen. Er sagte, er sei ein Großneffe des Herrn Jakob Mandelbaum, der doch ein alter Geschäftsfreund von Herrn Seliger ist.«

Da mußte Seliger lachen über die Zähigkeit dieses sicher so weltfremden Judenjungen, der aus dem Nest am Spessart kam, über dessen Vater der alte Jakob Mandelbaum so oft seine Witze gerissen hatte, und in einer Anwandlung der Großmut und der Neugier entschied er: »So lassen Sie Herrn Dr. von Kutzleben noch fünf Minuten warten und führen Sie den jungen Menschen herein.«

Davidchen Mandelbaum erschien auf der Schwelle. Im schwarzen verschnittenen Anzügelchen, den steifen Filzhut verlegen in der Hand drehend, die Röte der Aufregung auf den Wangen, am ganzen Körperchen zitternd wie Espenlaub.

»Ich soll bestellen viele und schöne Grüße von meinem Großonkel Jakob Mandelbaum, wo ich bin gewesen gestern, und soll mich melden als Lehrbub bei dem Herrn Seliger für sein großes Bankgeschäft.«

Belustigt musterte Harry Seliger den kleinen schwarzhaarigen Jungen vom Scheitel bis zur Sohle, und dann sagte er lachend:

»Also dir ist es zu eng geworden in dem Dorfe, wo dein Vater haust als der große Rabbi, und du sollst werden ein großer Geschäftsmann, hat mir gesagt dein Großonkel Jakob Mandelbaum, wie die Rothschilds und die Hirschs und die Mendelssohns geworden sind große Geschäftsleute in einer großen Stadt.«

»Ja so etwas will ich werden, Herr Seliger,« antwortete Davidchen Mandelbaum treuherzig.

»Na, wenn du das willst, dann heiße ich dich in der Kommerzbank freudig willkommen,« lautete Seligers lachende Erwiderung, »und nun geh hinunter, mein Sohn, und frage nach dem Buchhalter Herrn Cohn, der soll dir zeigen, wie man einen Brief richtig adressiert und wie man die Marken aufklebt, damit sie nicht wieder abfallen, so daß der Empfänger Strafporto zahlen muß, denn das muß man wissen, wenn man ein großer Geschäftsmann wie die Rothschilds, die Hirschs und die Mendelssohns werden will.«

Davidchen war sichtlich enttäuscht. Er hatte sich von seinem Empfange bei dem großen Harry Seliger als der Großneffe von dessen Freund Jakob Mandelbaum und von der Ansprache, die das Genie der Börse an ihn als den zukünftigen Jünger Merkurs richten würde, entschieden mehr versprochen.

Ernüchtert wandte er sich zur Tür und stieg die Treppe hinab, um sich nach Herrn Buchhalter Cohn zu erkundigen und nach der Arbeit, die dieser ihm zu überweisen hatte.

Noch hatte Davidchen Mandelbaum die im Erdgeschosse der Bank gelegenen Bureaux der subalternen Beamten nicht erreicht, als die hochgewachsene Gestalt des Dr. von Kutzleben in Seligers Direktionszimmer erschien. Seliger erhob sich, ging seinem Besuche, der kalt und förmlich nach einer tiefen Verbeugung in nächster Nähe der Tür stehen blieb, entgegen und reichte diesem die Hand.

Es war ein oberflächlicher formeller Händedruck, mit dem der aristokratische Doktor diese Begrüßung des großen Geldmannes erwiderte.

Etwas Anmaßendes, beinahe etwas Herausforderndes hatte die ganze Erscheinung, hatte das Auftreten des etwa dreißigjährigen Mannes an sich, den man wohl als den Typ des den höchsten Gesellschaftskreisen entstammenden Juristen bezeichnen konnte. Der bis oben zugeknöpfte schwarze Gehrock zeigte den neuesten Schnitt, an einer goldenen Schnur baumelte das unvermeidliche Monokle, das Dr. von Kutzleben bei wichtigen Entschließungen in das linke Auge zu klemmen pflegte.

Das tadellos frisierte, hellblonde Haar war schon ein wenig gelichtet, der volle, wohlgepflegte etwas dunkle Schnurrbart gab dem harten und kalten Gesichte das im deutschen Vaterlande so beliebte martialische Aussehen, das fast zu einer gesellschaftlichen Schablone der männlichen Jugend zwischen dem 25. und 35. Jahre geworden ist.

»Darf ich Sie bitten Platz zu nehmen, Herr Doktor«, begann Seliger das Gespräch.

Kutzleben nahm den ihm angebotenen breiten Klubsessel dankend an, und die Handschuhe von den weibisch gepflegten Händen ziehend, sein Gegenüber mit einem fragenden Blicke aus den herzlosen blauen Augen messend, sagte er in langsam gesprochenen, gelangweilten Worten:

»Sie haben mich wohl in meiner Eigenschaft als Rechtsbeistand hierher rufen lassen, Herr Seliger?«

Die Art und Weise des Doktors machte Seliger etwas nervös. Die schon ergrauten Kotelettes mit der Hand streichend und sich gewaltsam zur Ruhe zwingend, erwiderte er:

»Allerdings, Herr Doktor. Sie sollen mir endlich Gewißheit darüber bringen, ob die fürstliche Regierung die Konzession zur Durchführung der Trace durch das fürstliche Jagdgebiet erteilt hat. Die Sache ist nun seit vier Monaten anhängig, eine Entscheidung dürfte selbst bei dem langsamen Geschäftsgange, den Behörden belieben, in dieser Zeit gefallen sein.«

Gemütlich strich sich der Doktor seinen vollen Schnurrbart, dann sagte er immer in demselben gelangweilten Tone:

»Die Angelegenheit ruht noch auf demselben Punkte, Herr Seliger, wie vor vier Monaten. Der Fürst ist auf Reisen im Auslande, in Spanien, wie ich durch einen Zufall erfahre, er selber muß seine Genehmigung erteilen, und vor seiner Rückkehr wird die fürstliche Forstverwaltung keinerlei Schritte in dieser Angelegenheit tun.«

Seliger brauste auf.

»So sollen wir warten, bis es dem Fürsten beliebt, von seinen Lustfahrten zurückzukehren?«

»Es wird uns wohl nichts andres übrig bleiben, Herr Seliger,« lautete Kutzlebens gleichgültige Antwort. »Wenn das alles war, was Sie mir zu sagen hatten, dann darf ich unsere Unterredung wohl als beendet betrachten. Ich habe die Ehre, Herr Seliger.«

Er erhob sich.

»Nein, bleiben Sie,« rief Seliger. »Sie haben doch meine Einladung zu der außerordentlichen Sitzung des Aufsichtsrates erhalten. Sie findet um halb zehn statt, in wenigen Minuten. Sie dürfen nicht fehlen, weil ich heute die Gründung der Kleinbahn zur Sprache bringen muß.«

»Auch ohne die Erteilung der Konzession,« kam es nun in ironischem Tone von Kutzlebens Lippen, »heute, nachdem solche Gerüchte über den Kredit der Kommerzbank in den Lüften schwirren?«

»Sie werden die Erklärung dieser Gerüchte im Laufe der Sitzung erhalten, Herr Doktor. Jetzt habe ich nur die eine Frage, wird die Konzession von seiten der fürstlichen Regierung erteilt?«

»Das kann kein Mensch wissen, Herr Seliger, kein Mensch, das liegt ganz in dem Ermessen Seiner Hoheit, ob Hoheit die Stille seines Waldes durch eine Eisenbahn gestört wissen will oder nicht!«

Kutzlebens Ton brachte Seliger zur Verzweiflung.

»Dann müssen wir eben ohne Seine Hoheit vorgehen,« sagte er rasch, »dann muß die Trace um den Wald herumgeführt werden, und die Kosten für die beiden Tunnels sind dann noch aufzubringen.«

Kutzleben lächelte. Er weidete sich an der Verzweiflung des großen Geldmannes, der da von Unmöglichkeiten redete, von Kosten, die den ganzen Voranschlag des Bahnbaues über den Haufen warfen, zu deren Bewilligung die Geldgeber niemals zu haben waren.

Diese Gedanken, deren Richtigkeit er selber nur allzugut einsah, las Seliger seinem Gegenüber von dem Gesichte ab, und in einer Anwandlung von Schwäche ließ er sich jetzt zu den Worten verleiten:

»Aber Sie sind doch früher ganz anderer Meinung gewesen, Herr Doktor? Seine Hoheit haben doch Ihrem Herrn Vater, dem Herrn Ministerpräsidenten, freie Hand in allen diesen internen Fragen des Fürstentums erteilt, und wenn Ihr Herr Vater die Konzession –«

Da unterbrach der Doktor Seliger.

»Das war früher, Herr Seliger, im vorigen Winter, da lagen die Verhältnisse freilich ganz anders, als sie sich jetzt entwickelt haben, ich glaube nicht, daß mein Vater diesen wichtigen Schritt ohne die Genehmigung Seiner Hoheit tun würde.« »Spielen wir keine Komödie miteinander, Herr Doktor. Die Sache ist zu ernst und zu wichtig, spielen wir keine Komödie – die Konzession muß erteilt werden. Was ist Ihr Preis?«

»Ich bedauere, in diesem Falle keinen Preis nennen zu können, Herr Seliger. – – Ja damals, als ich mich noch der stillen Hoffnung hingab« –

Er schwieg. Kalt und herzlos waren seine Augen auf Seliger gerichtet, so daß diesem unwillkürlich die Worte entfuhren:

»Bin ich denn ein Despot, Herr Doktor? Kann ich denn Etelka zwingen, wenn sie nicht will, wenn sie der Meinung ist, daß Sie nur die ihr in Aussicht gestellte Million Mitgift erheiraten wollen?«

Kutzleben wandte sich ab. Eisige Verachtung, Haß und Bosheit kündeten seine Blicke, als er nun in kühler Ironie sagte:

»Prinz Egon von Trachenstein ist der Bruder Seiner Hoheit. Der Prinz gehört zu den Intimen Ihres Hauses, Herr Seliger, lassen Sie sich den Einfluß des Prinzen nicht entgehen.«

»Ich muß mir doch verbitten, Herr Doktor!«

In wildem Zorn waren diese Worte von Seligers Lippen gekommen.

Aber Kutzleben bewahrte seine Ruhe.

»Es liegt mir völlig fern, Sie durch die Nennung des Prinzen zu beleidigen, Herr Seliger. Gerüchten über Damen der Gesellschaft messe ich keine Bedeutung bei, und Ihre Frau Gemahlin wird wissen, wie weit sie gehen darf, so gut wie sie weiß, daß sie als die Herrin von Millionen allem Gerede der Welt die Stirn bieten kann.«

Da faßte sich Seliger. Auch er hatte endlich diesem gegenüber seine berühmte eisige Ruhe wiedergefunden.

»Ich danke Ihnen für Ihren Rat, Herr Doktor,« sagte er nun in ruhigem Tone. »Die Konzession wird erteilt. Kommen Sie mit in den Sitzungssaal, ich denke, daß die Herren vom Aufsichtsrat der Bank bereits versammelt sind.«

Es waren sieben Herren, die den Aufsichtsrat der Kommerzbank bildeten und die sich vollzählig in dem eleganten Sitzungssaale des Instituts zu der von Seliger einberufenen außerordentlichen Versammlung eingefunden hatten.

Die prächtige Abundantia, die den schönen Saal als Deckengemälde zierte, paßte vorzüglich zu dieser Kollektion älterer und jüngerer Lebemänner, über die sie das goldene Füllhorn ihrer reichen Schätze verschwenderisch ausgoß.

Nicht so still und gemessen wie an gewöhnlichen Tagen ging es heute in diesem Sitzungssaale zu. Die Herren, die sonst ihre Importen rauchend gemütlich und im Halbschlafe in den weichen Polstersesseln den von vornherein gutgeheißenen Rechenschaftsbericht des Bankvorstandes entgegenzunehmen pflegten, die sonst nichts als die Höhe der Dividende und die der Tantiemen interessierte, standen heute lebhaft diskutierend und mit den Händen ihre eindringlichen Reden begleitend in den Fensternischen.

Ein glatzköpfiger Fünfziger mit einer fürchterlichen Nase ging, beide Hände in den Hosentaschen, auf dem hohen Smyrna auf und nieder, wie die Bestie im Käfig, die das ersehnte Stück Pferdefleisch erwartet, um es verschlingen zu können. Nur ein Dicker saß regungslos seine Henry Clay schmauchend auf einem der Sessel und spielte gelangweilt mit den schweren Berlocks seiner goldenen Uhrkette, von denen er eine ganze Auswahl auf dem runden Bauche hängen hatte.

In der einen Fensternische stand Viktor Hahn, Generaldirektor der Vereinigten Aktienbrauereien und Mitglied des Aufsichtsrates von einem Dutzend von Aktiengesellschaften, ein Geschäft, das dem hageren und gewandten Juden eine jährliche Tantieme von 120 000 Mark einzubringen pflegte.

Er hatte den Mitinhaber der Würzburgerschen Bank, den ehemaligen Prokuristen bei Cassel & Söhne, Robert Müller, in die Unterhaltung gezogen. Auch Müller wurde von Kennern auf 100 000 Mark Tantieme geschätzt.

Die Nachricht des Handelsblattes, daß die Kommerzbank, von der dieser Aktien in Höhe von dreimalhunderttausend Mark besaß, bei dem letzten Börsenkrache in Mitleidenschaft gezogen sei, war Robert Müller auf die Nerven gefallen. Voll Ungeduld erwartete er mit den andern Harry Seliger, der ihnen Aufklärung und Beruhigung über diese sensationelle Meldung des Handelsblattes verschaffen sollte.

Der lebhafte Viktor Hahn, Generalkonsul der Republik Ecuador – dieser herrliche Titel und ein prächtiges Wappen an seiner Wohnung waren die lauten Verkünder dieser Ehren und kosteten nicht viel mehr, als was der Blechschmied für das Schild verlangt hatte – den Kenner auf zweiundzwanzig Millionen schätzten, redete mit Mund und Händen in ihn hinein.

»Es ist unerklärlich, wie solch eine Notiz in das Handelsblatt gelangen konnte. Die Redaktion ist doch sonst so vorsichtig, Herr Müller, meinen Sie nicht auch, die vorsichtigste Redaktion der ganzen Welt? Und haben Sie gehört, einen Auflauf soll es gegeben haben, ich bin gespannt, was der Seliger zu der Blamage wird sagen können.«

Robert Müller schüttelte den blonden Kopf. Er hatte die Geschichte an diesem Morgen schon etliche Male über sich ergehen lassen, aber er war viel zu vorsichtig, seine eigenen Vermutungen über den innern Zusammenhang der Vorgänge zu äußern.

Das laute Schnarchen des Dicken, der in dem weichen Sessel eingeschlafen und dem die Henry Clay aus dem Munde geglitten war, unterbrach den Redeschwall Viktor Hahns.

»Angenehme Ruhe, Herr Kommerzienrat,« hatte er auf den Lippen, aber er fürchtete den allmächtigen Eduard von Giloty, den Direktor der vereinigten Industriebanken und Aufsichtsrat aller namhaften Institute, dessen adeliger Name als Lockvogel in den Prospekten figurieren mußte, zu wecken und dann die Ungnade des Gewaltigen auf sich zu ziehen. Denn Eduard von Giloty, der Mann der großen Beziehungen, war das unentbehrliche christliche Relief, das man jedem neuen, mit jüdischem Gelde ins Leben gerufenen Aktienunternehmen zu geben niemals versäumte.

Eduard von Giloty, Millionär von Hause aus, war ein ungemein harmloser Mensch. Hineingeboren in die Verwaltung der vereinigten Industriebanken, deren Gründer und erster Leiter sein Vater gewesen, ließ er sich von dem Strome tragen, in den ihn das Schicksal geworfen. Noch sein Vater war ein einfacher bürgerlicher Giloty gewesen, dem die Regierung vieles verdankte, und der deshalb durch einen mit dem erblichen Adel verbundenen Orden und den Titel eines geheimen Kommerzienrates ausgezeichnet worden war.

Eduard hatte als Nobilitierter und als geborener Millionär gleich eine besondere Rolle gespielt. Vom Geschäft verstand er nichts. Das war auch nicht nötig, denn die vereinigten Industriebanken hatten treffliche Verwaltungsbeamte und waren nicht totzukriegen. Aber desto mehr verstand Eduard von Giloty vom Essen und Trinken, von Importzigarren und schönen Frauen, und die Genüsse auf diesen Gebieten hatten den jetzt Zweiundsechzigjährigen zu einem früh gealterten Manne gemacht, dessen dicken Leib man nur noch in einem von zwei eleganten Juckern gezogenen Coupé voranzubringen in der Lage war.

Giloty nahm sich nichts übel. Die andern waren alle die reinen Waisenknaben gegen ihn. Was er jährlich an Tantiemen schluckte, ging in die Hunderttausende, fünf-, sechsmal im Vierteljahre hatte er eine Generalversammlung zu absolvieren und das bedeutete für ihn jedesmal einen Gewinn von dreißig- bis vierzigtausend Mark. Giloty redete niemals in den Versammlungen, er schmauchte die traditionelle Henry Clay und setzte, wenn die Sitzung beendet war, als erster seinen Namen unter das Protokoll. Ein G., wenn es sich um eine Bagatelle von zehntausend Mark handelte, ein v. G., wenn es die Zwanzigtausend überstieg, und wenn es sich der Mühe lohnte und die Hunderttausend erreicht waren, sein schön geschriebenes Eduard von Giloty, Geheimer Kommerzienrat.

Den Gewaltigen in seinem Schlafe nicht zu stören, unterhielten sich die Herren jetzt mit unterdrückter Stimme.

Jakob Mandelbaum, der ebenfalls dem Aufsichtsrate der Kommerzbank angehörte, war zu Robert Müller und Viktor Hahn getreten. Ihn interessierte die Sache am meisten, da er wußte, daß Seliger den Bahnbau Weilingen-Feldkirch-Walportshausen in allernächster Zeit zur Sprache bringen wollte, und daß die über die Kommerzbank zirkulierenden Gerüchte die Gründung der Bahngesellschaft am Ende vereiteln könnten. Und er war doch schon seit Monaten im stillen mit dem Erwerb des in Frage kommenden Geländes von Seliger betraut worden.

Moritz Stern und Max Wassermann waren erst an diesem Morgen von außerhalb zu der von Seliger schon lange vorbereiteten außerordentlichen Versammlung des Aufsichtsrates der Kommerzbank eingetroffen. Sie saßen gleich Giloty an dem großen, die Mitte des Raumes einnehmenden grüngedeckten Tische und unterhielten sich leise über die in diesen Tagen erfolgte Kurstreibung der amerikanischen Petroleumwerte an der Amsterdamer Börse.

Da trat Seliger in Begleitung des Dr. von Kutzleben ein.

Die Begrüßung zwischen den im Sitzungssaal Versammelten und dem nun erscheinenden und ungeduldig erwarteten Vorstand der Bank war heute eine förmliche, fast kalte. Seliger merkte, daß die Herren ihn für die in dem Handelsblatt erschienene Nachricht mitverantwortlich machten, und das war ihm gerade recht.

Dr. von Kutzleben hielt sich im Hintergrunde. Er wußte, daß eine gut gespielte Bescheidenheit von seiner Seite diesen Millionären immer imponierte und für ihn nur von Vorteil sein konnte.

Auf eine einladende Handbewegung Seligers setzte man sich an den mit Aktenmappen, Zigarrentellern und Tintenfässern besetzten Tisch. Der Form entsprechend ergriff Eduard von Giloty als Vorsitzender des Aufsichtsrates zuerst das Wort und erklärte die von Seliger einberufene außerordentliche Versammlung für eröffnet. Dann meldete sich der Bankvorstand zum Wort:

»Lassen Sie uns gleich auf die Hauptsache kommen, meine Herren,« begann Seliger. »Ich habe diese außerordentliche Sitzung des Aufsichtsrates einberufen, um Ihnen das dringliche und schon seit Monaten einer Entscheidung harrende Projekt der Kleinbahn Weilingen-Feldkirch-Walportshausen, das ich zusammen mit unserm Rechtsbeistand, Herrn Doktor von Kutzleben, ausgearbeitet habe, zur Vorbereitung vorzulegen.«

Jetzt vermochte Viktor Hahn, der Generalkonsul der Republik Ecuador, nicht mehr an sich zu halten. Er unterbrach Seliger, ohne daß er sich bei Giloty zum Wort gemeldet hatte, mit dem in gereiztem Tone hervorgestoßenen Satze:

»Ich dachte, Herr Seliger, Sie hätten diese außerordentliche Versammlung einberufen, um den Aufsichtsräten der Bank Aufklärung darüber zu erteilen, wie es möglich ist, daß eine Notiz über die Insolvenz der Kommerzbank in dem Handelsblatte zum Abdruck gebracht werden konnte.«

Alle andern nickten zur Bestätigung dieser Vermutung Viktor Hahns lebhaft mit den Köpfen, und Robert Müller, der Teilhaber von Cassel & Söhne, sagte mit seiner sanften Stimme:

»Wir erwarten allerdings eine Erklärung dieser peinlichen Zeitungsnotiz und des sich daranschließenden noch peinlicheren Vorfalles von Ihrer Seite, Herr Seliger!«

Seliger lächelte. Die ganze Verachtung, die er gegen diese Strohpuppen, gegen diese Marionetten, die immer zu allen seinen Entschließungen Ja und Amen gesagt hatten und nun um ihr Geld bangten, auf dem Herzen hatte, sprach sich in diesem Lächeln des großen Geschäftsmannes aus.

»Da Sie von mir eine Erklärung verlangen, meine Herren,« sagte er nun in gelangweiltem Tone, »so will ich Ihnen verraten, daß ich selber die in Frage stehende Notiz verfaßt und in das Handelsblatt gebracht habe, deren glänzenden Widerruf Sie heute abend lesen werden!«

»Sie selber?«

Wie aus einem Munde tönte diese erstaunte, empörte Frage dem Vorstand von Seiten seiner sieben Aufsichtsräte entgegen. »Sie selber?«

»Ja, ich selber,« wiederholte Seliger noch einmal. »Meinen Sie, ich wollte mir meine Geschäfte ruinieren lassen durch Gerüchte, die in die Luft gesetzt werden, und die ich niemals beim Schopfe fassen kann? – Sie kümmern sich ja kaum um die Geschäfte der Kommerzbank, meine Herren. Sie finden sich einmal im Jahre zusammen, setzen Ihren Namen unter das Protokoll und streichen die Tantiemen ein, die wir erobert haben. Meinen Sie, ich wollte mir meine Geschäfte ruinieren lassen?«

»Ich muß Sie doch bitten, Herr Seliger,« schrie Viktor Hahn, der Generalkonsul der Republik Ecuador, und Eduard von Giloty schnaufte:

»Was haben Sie gesagt, ich habe Sie nicht richtig verstanden, Herr Seliger.«

Die beiden von auswärts zugereisten Herren spitzten die Ohren, und Robert Müller schüttelte den blonden Kopf, um damit zu sagen, daß Harry Seliger in seiner Brüskierung des Aufsichtsrates doch wohl zu weit gegangen sei.

Aber der ließ sich nicht irremachen. Wie er sie jetzt vor sich hatte, diese Halunken, diese Drohnen, die immer nur da waren, wenn es den Rahm abzuschöpfen galt. Das war ihm gerade recht. Wie heute morgen den kleinen Leuten auf der Straße, so trat er nun auch diesen entgegen, wie ein Bändiger, die Peitsche der Ironie und des Spottes in der Hand:

»Ja, meine Herren, das habe ich getan, ohne Sie zu fragen, als Leiter und Gründer der Kommerzbank, auf dessen Schultern die ganze Last der Arbeit und Verantwortung ruht, ich ganz allein, weil ich mir meine Geschäfte nicht ruinieren lasse. Die Gründung der Bahn ist spruchreif geworden. Ich bedarf zu dieser Gründung Geld, viel Geld, soviel Geld, wie Sie aus Ihren eigenen Mitteln niemals bewilligen werden. Um nun dieses Geld zu beschaffen, muß der Kredit der Kommerzbank unerschüttert dastehen, und man hat diesen Kredit durch Gerüchte an der Börse zu erschüttern versucht. Nur der an einem Tage gelieferte schlagende Beweis der Solvenz der Bank vermag die Zuversicht des Publikums wiederherzustellen, vermag das Vertrauen der Finanzkreise, die ich zur Gründung der Bahn nötig habe, wieder zu erobern. Während Sie sich hierher bemühten, sind für eine Million Depots von meinem Kassierer innerhalb einer knappen Stunde an der Kasse ausbezahlt worden, wer seine Wechsel nicht einlösen kann und bei J. J. Stern und andern in Mitleidenschaft gezogen ist, der zahlt an einem einzigen Tage keine Million aus, meine Herren! Aus diesem Grunde, um alle Gerüchte in einem einzigen zu fassen und mit dem einen zu vernichten, habe ich selber die nicht nur Sie aufregende Notiz für das Handelsblatt geschrieben.«

Viktor Hahn war sprachlos. Giloty schnappte nach Luft wie ein Weihnachtskarpfen, der in der Bütte keinen Tropfen Wassers mehr zu finden vermag, und die Herren von auswärts flüsterten leise miteinander.

Der vorsichtige Robert Müller faßte sich diesmal als erster und meinte, sich an seine Kollegen vom Aufsichtsrate wendend:

»Es ist wohl unsere Pflicht, meine Herren, schon im Interesse der kleinen, bei der Bank beteiligten Leute nach dem, was in dem Handelsblatte gestanden, eine Revision der Depots vorzunehmen, denn ich bin der Ansicht« –

»Sie fürchten für Ihre dreimalhunderttausend Reichsmark, Herr Robert Müller,« lachte nun Seliger heiser, »seien Sie unbesorgt, wenn Sie die durch meine Worte gegebene Erklärung für die Notiz im Handelsblatt anzuzweifeln belieben und eine Revision der Depots vorschlagen, die für mich in diesem Falle den Vorwurf der Unredlichkeit bedeutet, dann werden Sie mir wohl gestatten, daß ich Ihnen Ihr Depot von meinem Kassierer vorzählen lasse, bevor ich hier meinen Austritt aus der Kommerzbank und die Kündigung der mir gehörenden und in Aktien der Bank angelegten Kapitalien zum Ausdruck bringe!«

»Was hat er gesagt?« schrie da Viktor Hahn.

Seliger drückte auf den Knopf der elektrischen Klingel, und weder den vorsichtigen Robert Müller noch die um ihn drängende Gruppe der übrigen Herren Aufsichtsräte auch nur eines Blickes würdigend, befahl er dem eintretenden Diener:

»Schicken Sie sofort den Kassierer in den Sitzungssaal, Bertrand, er soll das offene Depot des Herrn Robert Müller, Mitinhabers der Würzburgerschen Bank, zum Nachzählen mitbringen. Und die andern Herren? Wer von den andern Herren wünscht sich noch von dem unversehrten Vorhandensein seiner der Kommerzbank anvertrauten Gelder zu überzeugen, damit ich den Diener nicht zweimal zu bemühen brauche, in dieser meiner letzten Amtshandlung als Vorstand des unter Ihrer Aufsicht stehenden Instituts?«

Bertrand war mit einem »Jawohl, Herr Seliger!« bereits wieder verschwunden, und alle, Robert Müller an der Spitze, drängten sich nun um den Bankvorstand, ihn durch Entschuldigungen und Bitten von seiner eben geäußerten Absicht zurückzubringen.

Finster, den Kopf in die Hand gestützt, saß Seliger da. Von diesem kleinen Robert Müller hätte er dies am allerletzten erwartet. Auf alle Fragen und Bitten hatte er nur die eine Antwort: »Wir werden weiterreden, meine Herren, wenn der Kassierer da war, und sich Herr Robert Müller von dem Vorhandensein seiner Wertpapiere überzeugt haben wird.«

Der Kassierer erschien. Es war Robert Müller ungemein peinlich, angesichts dieser Herren die eigentlich von ihm selbst geforderte Manipulation des Nachzählens der Wertpapiere vornehmen zu müssen. Flüchtig und zerstreut, aber dennoch beim Anblick der ihm gehörenden Schätze eine leise Erregung in seinem ganzen Wesen, eine flüchtige Röte auf den Wangen, kam er seiner Aufgabe nach.

Vor Robert Müllers Augen verschloß der Kassierer die Pfandbriefe und Aktien wieder in die Ledermappe, in der sie seit dem Tage der Einzahlung geruht hatten, und verschwand lautlos.

Wieder ergriff Seliger das Wort: »Ich erkläre hiermit meinen Austritt aus der Kommerzbank und kündige das von mir in die Bank eingezahlte Kapital zum nächsten vertragsmäßigen Termin.«

Das bedeutete das Ende der herrlichen und von Jahr zu Jahr steigenden Tantiemen, die diese Herren von Seligers Arbeit skrupel- und mühelos geerntet hatten.

Jetzt war der Moment für Eduard von Giloty gekommen. Wo es etwas einzurenken galt, war er am Platze. Pustend und mühsam erhob sich der Geheime Kommerzienrat von seinem Sessel und sagte:

»Meine Herren! Es war ein Lieblingswort meines Vaters, des berühmten Johannes von Giloty, des Begründers der vereinigten Industriebanken: es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Und aus meinem eigenen Schatze füge ich hinzu: es wird überall mit Wasser gekocht, meine Herren. Wenn Herr Robert Müller in begreiflicher Erregung über die Notiz des Handelsblattes eine Revision der Depots verlangte, so war das nichts, was seinen Rechten und Pflichten als Aufsichtsrat der Kommerzbank zuwiderläuft, und wenn Herr Seliger als Vorstand der Bank in einem solchen Verlangen ein Mißtrauensvotum sieht, dann kann ich ihm das nicht verübeln. Aber wie sagt doch unser großer Dichter Schiller: ›Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.‹ Ich denke, wir schaffen die ganze mißliche Sache aus der Welt, indem wir erklären, daß wir uns mit dem Vorgehen des Herrn Seliger, betreffend die Notiz im Handelsblatt, einverstanden erklären und Herrn Seliger unseres unbeschränkten Vertrauens versichern. Was Herrn Robert Müller und Herrn Seliger nicht hindern soll, bei dem sich an diese außerordentliche Versammlung im Französischen Hof anschließenden Bankett durch eine Flasche Pommery und Greno extra dry die uns allen unliebsame Disharmonie aus der Welt zu bringen.«

Alle, Robert Müller an der Spitze, erhoben sich von ihren Sitzen, und Seliger quittierte mit einem Nicken des Kopfes dieses ihm von dem Aufsichtsrat der Kommerzbank einstimmig erteilte Vertrauensvotum. Dann sagte er rasch:

»Ich denke, nach diesem unliebsamen Zwischenfalle können wir nun endlich zu der Tagesordnung unserer Sitzung, der projektierten Kleinbahn Weilingen-Feldkirch-Walportshausen übergehen.«

Fragend neigte Eduard von Giloty den dicken und geröteten Kopf nach allen Seiten, dann erhob er sich mühsam von seinem Polstersessel und sagte:

»Ich erteile hiermit Herrn Seliger das Wort in Sachen der Gründung einer Aktiengesellschaft ›Kleinbahn Weilingen-Feldkirch-Walportshausen‹.«

Devot und mit einer aristokratischen Verbeugung überreichte Dr. von Kutzleben dem an seiner Seite sitzenden Bankvorstand die umfangreichen, den Bahnbau betreffenden Papiere, die er seiner schwarzen Ledermappe entnommen hatte, und Seliger begann, den goldenen Kneifer auf die leicht gekrümmte Nase klemmend:

»Der Voranschlag des Prospektes, der der Genehmigung des Aufsichtsrates der Kommerzbank bedarf, ist Ihnen vor einigen Wochen zugegangen, meine Herren. Er stützt sich auf die Kostenberechnung der Baufirma Julius Lehmann & Söhne, die als die preiswerteste und annehmbarste aus dem seinerzeit von der Kommerzbank ausgeschriebenen Wettbewerb siegreich hervorgegangen ist. Es handelt sich, wie Sie wissen, um ein Objekt von rund siebzehn Millionen und fünfmalhunderttausend Mark, in welche Summe, so weit wie möglich, alle Eventualitäten, vor allem die Kosten der anzukaufenden Ländereien miteingerechnet sind.«

Bei diesen Worten Seligers wurde Jakob Mandelbaum, der sich bislang ganz schweigsam verhalten hatte, lebendig. Siebzehn Millionen und fünfmalhunderttausend Mark, da kam ein netter Brocken auf den Ankauf der Immobilien, mit dessen Vermittlung ihn sein alter Freund Seliger schon unter der Hand und im stillen betraut hatte.

Die lange, klapperdürre Gestalt des Juden mit dem Vogelgesichte und der furchtbaren Habichtsnase, der an der Börse nie anders als La Mancha genannt wurde, rutschte unruhig auf dem Sessel hin und her, und die Spinnenfinger Mandelbaums, die wie zum Zugreifen und Festhalten geschaffen schienen, kritzelten nun Zahlen und nichts als Zahlen auf den weißen Rand des vor ihm liegenden Handelsblattes, eine vorläufige Kalkulation der Provision, die bei diesem großen Geschäft für ihn abfallen mußte.

Die Aufmerksamkeit der andern war völlig auf Seliger gerichtet, der in dem ihm eigentümlichen sachlichen und kühlen Tone fortfuhr:

»Der Prospekt macht nun den Vorschlag, meine Herren, das gesamte Veranlagungs- und Betriebskapital der Kleinbahn in Höhe von fünfundzwanzig Millionen Mark in Prioritäten und Aktien zu tausend Mark einzuteilen, die zu dreiundeinhalb Prozent verzinst werden, von denen alljährlich ein den Einnahmen der Bahn entsprechender Teil durch Auslosung getilgt werden soll. Der Prospekt spricht die Absicht aus, die fünfundzwanzig Millionen des Baues allmählich zu emissionieren und die Zulassung dieser Aktien zum Handel an der hiesigen Börse zu beantragen. Die erste Abteilung, fünftausend Aktien à tausend Mark, würde mit dem ersten April des der Eröffnung der Bahn folgenden Jahres emissioniert und, wie ich hoffe, könnte die zweite Emission am ersten Juli desselben Jahres, keinen Zwischenfall vorausgesetzt, erfolgen. Alle Einzelheiten werden die Herren aus dem ihnen zugegangenen Prospekt ersehen haben. Ich füge noch hinzu, daß ich selbst fünftausend Vorzugsaktien, d. h. je tausend einer jeden Abteilung in Höhe von fünf Millionen Mark, also ein Fünftel des gesamten Betriebskapitals für meine Rechnung übernehme.«

Die Aufsichtsräte reckten die Köpfe, als ob sie nicht recht verstanden hätten, und Eduard von Giloty legte die fleischige Rechte hinter die Ohrmuschel, um besser hören zu können. Ein Fünftel des ganzen Geschäfts übernahm Seliger selber, das mußte ja eine Bombensache sein, wenn der schlaue Mann von Anfang an eine solche Summe in das Unternehmen steckte.

»Die Rentabilität der Bahn, für die die Konzession von Seiten der in Frage kommenden Behörden schon vor Monaten erteilt ist, steht außer Frage,« fuhr Seliger jetzt fort. »Die baldige Verbindung der volkreichen Orte Weilingen, Feldkirch und Walportshausen mit der Stadt ist ein volkswirtschaftliches und soziales Bedürfnis, da die meisten der in den städtischen Fabriken beschäftigten Industriearbeiter in diesen Dörfern wohnen. Aber auch der allgemeine Verkehr nach dem Gebirge dürfte sich nach dem Bau der Bahn heben und der Gesellschaft vor allem für die Sommermonate reiche Einnahmen sichern. Von dem Güterverkehr brauche ich gar nicht zu reden, denn Sie wissen ja selbst, daß die in Frage stehenden Dörfer infolge ihrer starken Bevölkerung reichlich konsumieren, und daß vor allem das so günstig gelegene Weilingen die halbe Stadt mit Gemüse versorgt! Da der Aufsichtsrat der Kommerzbank, in deren Namen sich die neue Gründung vollzieht, hier vollzählig versammelt ist, und wir mehr als beschlußfähig sind, stelle ich den Antrag, über die Gründung der Aktiengesellschaft ›Kleinbahn Weilingen-Feldkirch-Walportshausen‹ abzustimmen, damit wir die notwendigen Schritte zur Inangriffnahme des Bahnbaues allmählich einleiten können. Die Aktien dürften nach meiner Ansicht einige Wochen nach der Ausschreibung der Sache bereits überzeichnet sein.«

Da meldete sich der vorsichtige Robert Müller, der schon wieder während der ganzen Auseinandersetzung Seligers die lebhafteste Unruhe gezeigt hatte, zum Wort.

Es war ein bitterböser Blick, der ihn nun aus Seligers harten Augen traf, aber im Bewußtsein erfüllter Pflicht verharrte der Teilhaber der Würzburgerschen Bank und sagte in bescheidenem, aber festem Tone:

»Meine Herren, ich habe den Voranschlag der Firma Julius Lehmann & Söhne einer eingehenden Prüfung unterworfen und lese aus diesem Voranschlag wohl mit Ihnen allen heraus, daß diese Firma den Bahnbau für siebzehn Millionen und fünfhunderttausend Mark nur unter dem Vorbehalt übernimmt, daß die Durchführung der Trace durch das Jagdgebiet des in der Nähe von Walportshausen begüterten Fürsten genehmigt wird. Nach den von mir eingezogenen Erkundigungen würde aber eine Nichtgenehmigung dieser Linie den ganzen Bahnbau in Frage stellen. Es bliebe nämlich kein anderer Weg, als die Umgehung der fürstlichen Wälder – ein Umweg von nahezu vierundzwanzig Kilometern – und die Durchbohrung des Gebirges mittels zweier Tunnels hinter Feldkirch und vor Walportshausen, was die Kosten des Bahnbaues und den Ankauf des Geländes um Millionen verteuern würde. Und davon hat Herr Seliger uns nichts gesagt.«

Tiefe Blässe im Gesicht und mit bebenden Lippen trat Seliger diesem hartnäckigen Gegner, der heute sein Verderben zu wollen schien, entgegen, und mit den Händen auf die Tischplatte schlagend, schrie er:

»Wer hat Ihnen gesagt, daß die Konzession zur Durchführung der Trace durch den fürstlichen Wildpark nicht erteilt werde, Herr Müller, wer hat Ihnen das gesagt? Ich übernehme die Garantie, die volle Garantie, meine Herren, daß diese Konzession erteilt werden wird! Haben Sie mich verstanden?«

Zitternd setzte sich Robert Müller, aber seine Lippen murmelten in das Ohr des ihm zur Seite sitzenden Viktor Hahn:

»Die Nichtgenehmigung dieser Trace wirft den ganzen Bahnbau über den Haufen!«

Auch diese leise gesprochenen Worte waren dem feinen Ohre Harry Seligers nicht entgangen. Sollte dieser Strohkopf mit seinen ewigen Bedenken, mit seiner Angst, die ihm an der Börse den Namen Hosenmeyer eingetragen, wieder das ganze Projekt in Frage stellen? Noch einmal rief er daher mit lauter Stimme:

»Ich garantiere mit meinem ganzen Vermögen, daß die Konzession erteilt wird, meine Herren!«

Da flog ein satanisches Lächeln um die schmalen Lippen Dr. von Kutzlebens, und er neigte sich tief über seine Akten, damit keinem die Schadenfreude, die sich bei dieser Erklärung Seligers auf seinem Gesichte malte, auffallen sollte.

Es war zwei Uhr mittags geworden, als der Aufsichtsrat nach langer Debatte mit sechs gegen eine Stimme die Gründung der Aktiengesellschaft beschloß. Allerdings unter dem Vorbehalte, daß die Konzession zur Führung der Trace durch den fürstlichen Wildpark erteilt werden würde.


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