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VIII.

Nach zehn Tagen traf die erste Nachricht von Seiten der Flüchtigen in der Heimat ein. Sie war eine Sensation für die ganze Stadt. In den gesellschaftlichen Kreisen der Hautefinance und in den Kasinos des Offizierkorps wurde eine Woche lang von nichts anderem mehr gesprochen.

Sie bestand in einer kleinen, goldumränderten und wappengeschmückten Karte, die allen Bekannten des Paares ins Haus geflogen kam. Die Aufschrift auf dieser Karte lautete:

London, Westminster-Hotel.

Als Vermählte empfehlen sich:

Eberhard, Graf von Waldburg-Immenhausen
Rittmeister im Leibulanenregiment und Majoratsherr
der Güter Waldburg, Immenhausen und Erlwitz

Etelka, Gräfin von Waldburg-Immenhausen
geb. Seliger.

Wenn einer glücklich war über diese ihn auf der anderen Seite zu Boden schmetternde Nachricht, dann war es der alte Seliger.

Zehn Tage lang hatte er vergeblich im stillen Nachforschungen über den Verbleib seiner ältesten Tochter anstellen lassen, den die Besucher des letzten Krippenfestes allerdings mit dem grundlos verlängerten Urlaub des Grafen in Zusammenhang brachten. Noch in der Nacht der Flucht, von Mainz aus, hatte Waldburg ohne Angabe der Gründe, durch zwingende, später aufzuklärende Umstände veranlaßt, bei seinem Regimentskommandeur telegraphisch um eine Verlängerung seines Urlaubs auf drei Wochen gebeten, die ihm auch anstandslos bewilligt worden war. Dann hatte man in der Garnison von dem Grafen, den man auf einem seiner Güter glaubte, nichts mehr gehört, bis die sensationelle Nachricht von seiner plötzlichen, im Auslande unter so seltsamen Umständen vollzogenen Vermählung mit Etelka Seliger eingetroffen war.

In den Kreisen seiner Kameraden galt der Graf von diesem Tage an als verlorener Mann, und einige Mitglieder des Hochadels, die wie er dem Korps der Leibulanenoffiziere angehörten, erklärten mit aller Bestimmtheit, Waldburg müsse in einem plötzlichen Anfalle geistiger Umnachtung diesen unseligen Schritt getan haben, denn für einen Mann von seinem Namen und seiner Stellung bedeute diese vom Zaun gebrochene Vermählung mit Seligers Tochter trotz aller Millionen des Schwiegervaters so viel wie Selbstmord.

Nüchterne Leute unter den Herren Kameraden führten die Sache auf rein materielle Gründe zurück. Nach ihrer Ansicht hätte Waldburg eine unglaubliche Mißwirtschaft auf seinen Gütern angetroffen, Seliger hätte ihm deshalb die Hand seiner Tochter, um die er sich ja schön auf dem Krippenfeste offensichtlich bemüht habe, abgeschlagen, und er hätte im Einverständnisse mit dem Mädchen diesen letzten möglichen Schritt unternommen, um sich auch gegen den Willen des Vaters in den Besitz der Braut und der dieser in Aussicht stehenden Mitgift zu setzen. Von den Motiven abgesehen, kamen diese »Kenner des Lebens« der Wahrheit am nächsten.

Daß sich Waldburg übrigens der Folgen seines Schrittes bewußt war und also mit voller Überlegung aller Umstände gehandelt haben mußte, ging aus einem Gerüchte hervor, das schon am Tage des Bekanntwerdens seiner Vermählung mit Fräulein Seliger in dem Kasino der Leibulanen umlief. Danach sollte er dem Regimentskommandeur schon von London aus zugleich mit der Vermählungsanzeige die unmittelbar bevorstehende Einreichung seines Abschiedsgesuches in Aussicht gestellt haben, da er gewillt sei, den königlichen Dienst zu quittieren und sich ganz der Bewirtschaftung seiner Familiengüter zu widmen.

Über die Angabe dieser Gründe wurden weidlich Witze gerissen. Einen Abschied, den man in seinen Kreisen nach dem Vorgefallenen als eine unabwendbare Notwendigkeit betrachten mußte, zu erbitten, das war ja weiter kein Kunststück, und die Bewirtschaftung seiner Familiengüter, das konnte nach Einkassierung der Seligerschen Millionen eine ganz angenehme und possierliche Beschäftigung sein.

Kurzum, es war wieder einmal eine Sensation, die größte dieses an Ereignissen so armen Winters, und die einzige der zu Ende gehenden Saison.

In den jüdischen und in den christlichen Kreisen der Privilegierten hatte man gottlob wieder einmal etwas, wovon man sprechen konnte.

Edith schämte sich in ihren Bekanntenkreisen. Ein junges Mädchen aus guter Familie, das mit seinem Bräutigam, der von den Eltern noch nicht einmal offiziell anerkannt war, nach England durchbrannte und sich dort trauen ließ, das konnte sie nicht fassen. So lieb sie Davidchen Mandelbaum hatte, ihm zuliebe wäre sie niemals durchgebrannt.

Leo fand das Vorgehen seiner Schwester hochmodern. In seinen Kreisen prahlte er offen und mit Vorliebe von dem pikanten Fall. Er gerierte sich überhaupt als überzeugter Anhänger der freien Liebe und der wilden Ehe, bei der er zusammen mit seinem Mitstreiter Ibsen durchaus nichts Wildes finden konnte, und stellte den Intimen ein neues Drama in Aussicht, in dem die Flucht einer jungen Dame aus den besten Kreisen eine hervorragende Rolle spielen sollte.

Ähnlich urteilte Frau Hilde, die mit einem Male an jedem Tage viel neugierige Besuche in der Villa zu empfangen hatte. Alle diese hofften interessante Einzelheiten über diese romantische Reise nach England zu erfahren, und Frau Hilde, die auf den gräflichen Schwiegersohn mit dem langen Namen nicht wenig stolz war, kargte mit phantastischen Erzählungen, die sie sich allerdings aus den Fingern saugen mußte, nicht.

Nur Seine Hoheit Prinz Egon von Trachenstein war sehr schlecht auf die ganze Sache, auf diesen unerhörten Affront, wie er sie nannte, zu sprechen und hielt auch bei Hilde nicht mit seiner Ansicht zurück. Sie müsse doch wissen, meinte er, was sie als Mutter und anständige Frau ihrem Hause und ihrem Namen schuldig sei. Sie hätte ihre Tochter anders, anständiger, zurückhaltender erziehen sollen, dann wäre dieser Fall, der jetzt das überall belächelte Ereignis des Tages bildete, einfach undenkbar gewesen.

Wie immer schwieg Frau Hilde gegenüber den Vorhaltungen des Prinzen. Sie war so sehr davon überzeugt, daß er als Hoheit und Bruder eines regierenden Fürsten in gesellschaftlichen Dingen das Richtige treffen müsse, daß sie ihm gegenüber an keinen Widerspruch dachte.

Aber trotzdem prangte die gräfliche Heiratsanzeige an erster Stelle in der Visitenkartenschale ihres Salons, und die Krone, die über dem Namen ihrer Tochter prangte, berauschte sie an jedem jungen Tage aufs neue.

Während der zehn Tage und Nächte, die man ohne Nachricht über den Verbleib Etelkas gewesen, war kein Schlaf auf Seligers Augen gekommen. Die Kommerzbank und die Konzession betreffend die Kleinbahn waren vergessen. Kein anderer Gedanke hatte Platz in seinem Gehirne gefunden, als der eine, daß er, er selber, seine älteste Tochter in Schande und Unglück, am Ende in den Tod gejagt habe, weil er die leidenschaftliche Aufwallung seiner egoistischen Wünsche nicht hatte bezähmen können. Wo hatte sich Etelka hingewandt, was hatte sie vor?

Nur diese Fragen drängten sich in diesen Tagen in seinem Kopfe, und die Unmöglichkeit, eine Antwort auf diese Fragen zu erlangen, raubte ihm den Schlaf der Nacht und machte ihn vorzeitig zu einem alten, fast gebrochenen Manne.

Kein Mittel hatte er an der Hand, Etelka mit einigem Erfolge zu suchen. Weder der Polizei noch seiner eigenen Familie wagte er Mitteilung zu machen von der Szene, die sich zwischen ihm und der Tochter abgespielt und der Flucht des Mädchens unmittelbar vorausgegangen war.

Und doch war diese Szene der Grund ihrer Flucht, und er allein kannte diesen Grund. Daß Graf Waldburg in der Stadt nicht anwesend war, daß man dessen Reise in irgendeinen Zusammenhang mit der Flucht seiner Etelka bringen konnte, davon ahnte Seliger nichts.

Wie ein Abwesender, wie ein Nachtwandler wie ein Verbrecher schlich er sich durch die Straßen, von seiner Villa in das Bureau und von dem Bureau in die Villa.

In den ersten Tagen hatte er die Hoffnung nicht sinken lassen. Da war er der festen Ansicht gewesen, Etelka halte sich bei einer ihrer auswärtigen Freundinnen verborgen und werde schon über kurz oder lang Nachrichten geben.

Als man aber drei, vier Tage nichts von dem Mädchen gehört hatte, faßte ihn eine namenlose Angst. Sie war eine stolze Natur, seine Etelka. Sie hatte sich ein Leid angetan. Der Fluß würde sie an seine Ufer schwemmen, oder man würde sie irgendwo in den Anlagen oder im Walde erschossen oder vergiftet auffinden.

Furchtbar waren seine Gewissensbisse, erschreckend seine Lage, wenn er seinen nächsten Angehörigen gegenüber immer versichern mußte, daß er sich gar kein Bild davon machen könne, aus welchem Grunde Etelka noch in später Abendstunde das Haus verlassen habe, und wohin sie in aller Welt verschwunden sei. Denn weder mit seiner Frau noch mit seinen Kindern stand er so, daß er sich diesen rückhaltlos anvertraut hätte.

Und endlich nach zehn langen Tagen kam für ihn die Erlösung, Er atmete auf. Von diesen furchtbaren Schmerzen, diesen verzehrenden Qualen und folternden Gewissensbissen war er wenigstens befreit. Etelka lebte. Er hatte sie nicht in den Tod getrieben.

Mochte nun eintreten, was da wollte, mochte die Errichtung der Aktiengesellschaft zum Bau der Kleinbahn nicht zustande kommen, mochte ihn Kutzleben racheschnaubend des Betruges zeihen, mochten seine geschäftliche Ehre und sein Ansehen unter dieser schweren Anklage leiden, Etelka lebte, eine Nachricht aus London war von ihr eingetroffen, er, er hatte sie doch nicht in den Tod getrieben!!

In diesem Gefühle atmete Seliger wieder auf, kam er wieder zu sich selber.

Als er allein war und die Vermählungsanzeige in den Händen hielt, weinte er wie ein Kind. Dann machte er sich auf den Weg und gab, was er, seitdem er Leiter der Kommerzbank geworden, noch nie in seinem Leben getan hatte, eigenhändig eine lange Depesche an die Frau Gräfin Waidburg-Immenhausen im Westminster-Hotel in London auf:

»Gott sei gelobt, mein Kind, daß wir endlich ein Lebenszeichen von Dir haben, und daß meine schlimmsten Befürchtungen nicht wahr geworden sind. Ich habe unrecht an Dir getan, Etelka, bitteres Unrecht, und die Tage, da ich nicht wußte, ob ich Dich noch zu den Lebenden zählen durfte, sind eine harte und gerechte Strafe für mich gewesen. Nun Du lebst und gesund und glücklich bist, ist alles wieder gut. Mögen die Verhältnisse sich entwickeln, wie sie wollen, und möge Deine Handlung für mich auch die schlimmsten Folgen nach sich ziehen, komm' zurück, mein Kind, in die Arme Deines Vaters, der um Dich in Todesängsten lebte und Dich nun um Verzeihung bittet.«

Erst jetzt hatte er Ruhe. Zwei Tage später erhielt er aus London einen Brief Etelkas, nach dem er begierig faßte, wie der Verdurstende nach einem Trünke frischen Wassers greift. Die junge Gräfin schrieb:

*

»Lieber Vater!

Dein liebes Telegramm hat Eberhard und mich maßlos beglückt. Verzeih' mir, aber nach dem, was zwischen uns vorgefallen, konnte ich nicht anders handeln. Daß Du das selbst einsiehst, lese ich zwischen den Zeilen Deiner Eberhard und mich hocherfreuenden Worte. Über alle Einzelheiten werden wir, wie ich hoffe, bald mündlich sprechen können.

Wir verlassen morgen London, um auf einige Wochen auf der Insel Wight ganz unserem jungen Glücke zu leben, bis sich die Wogen des Erstaunens und der Entrüstung in meiner lieben Vaterstadt gelegt haben werden. Eberhard ist schon von hier aus um seinen Abschied als aktiver Offizier eingekommen. Deine dankbare und unendlich glückliche Tochter Etelka.«

Die Zeilen dieses Briefes hatte er verschlungen, er hätte das mit der Grafenkrone der Waldburg-Immenhausen geschmückte Papier an seine Lippen führen und küssen können, so selig war er, daß seine Etelka noch lebte, daß sie sich kein Leid angetan hatte.

Aber die gehobene Stimmung in Harry Seligers Innerem hatte nicht lange standgehalten.

Wie ein Alp war es von seiner Seele gefallen, als er diese erste Nachricht von Etelka und dem Grafen aus England empfangen, als er wußte, daß sein Kind lebte, daß es sich infolge seiner Schuld kein Leid angetan. Nun lag die furchtbare Wirklichkeit wieder wie Zentnerlast auf seinem ganzen inneren Menschen.

An der Börse mied man ihn. Die alten Geschäftsfreunde, Eduard von Giloty und Robert Müller an der Spitze, zogen sich von ihm zurück. In der Villa verkehrte nur noch »das Gesindel«, wie er die Gäste seiner Frau verächtlich zu nennen pflegte, der von ihm vergeblich hinausgeworfene Prinz Trachenstein und Konsorten. In der Bank saß er allein.

Der große Betrieb, dem er vorstand, nahm zwar unverändert von Tag zu Tag seinen gewohnten Fortgang. »Ein Zug, der sich einmal im Fahren befindet, läßt sich so schnell nicht aufhalten,« pflegte Seliger zu sagen. Aber sehr selten kam jemand außer den Bediensteten, die irgendein geschäftlicher Anlaß hinaufführte, zu ihm in das Bureau. Hier hauste er die langen Stunden des Tages, oft bis tief in die Nacht hinein, ein einsamer und, wie er sich immer wieder sagte, ein alternder, fast gebrochener Mann.

Des Abends zwischen neun und zehn Uhr trat er gewöhnlich den Heimweg in die Villa an und zog sich, von niemandem als von seinem Diener gesehen, in sein einsames Schlafzimmer zurück.

Wenige Wochen nach dem Bekanntwerden von Etelkas Flucht hatte Doktor von Kutzleben seine Beziehungen zu der Kommerzbank endgültig gelöst. Seine Tätigkeit als Rechtsanwalt und Notar erlaubte ihm das, zumal da er vor kurzem auch zu Eduard von Giloty, dem Leiter der vereinigten Industriebanken, als juristischer Berater in lukrative Beziehungen getreten war.

»Die Ratten verlassen das Schiff,« hatte Seliger mit einem trüben Lächeln gesagt, als ihm die Post den Scheidebrief Doktor von Kutzlebens übermittelt hatte.

In diesen schweren Tagen und Wochen, da von dem Projekt der Kleinbahn auch nicht einmal mehr die Rede war, da die großen Pläne der Zukunft nur in Seligers Innerstem noch lebten und sich regten und selbst von diesem in furchtbarer Resignation zur Ruhe verwiesen wurden, war es nur ein einziger Mensch, der getreulich bei ihm standhielt: Klotilde Marbach, die seine Schreibmaschine bediente und die Korrespondenz des großen Bankdirektors zu erledigen hatte.

Heiter und harmlos, mit ihrem silbernen Lachen erschien sie an jedem neuen Morgen bei dem verschlossenen und einsamen Manne und unterzog sich in dem kleinen Zimmer neben dem Privatbureau, in dem einst so große Pläne hin- und hererwogen worden, der von Tag zu Tag abnehmenden Arbeit, die von Seliger ins Stenogramm diktierten Briefe abzuschreiben und ihm diese dann zur Unterschrift vorzulegen.

Wie oft ertappte er sich dabei, daß sein Auge den graziösen Bewegungen des hübschen, jungen Mädchens folgte, und daß er zu gleicher Zeit an seine unglückliche Ehe mit Hilde und an die furchtbaren Zustände in der Villa dachte, wo der Prinz, als sei er der Herr des Hauses, nach Hildes Willen ungeniert schaltete und waltete.

Aber es war nicht mehr das alte, auf derber Sinnlichkeit sich aufbauende Interesse, das er Klotilde Marbach nach all den trüben Erfahrungen der letzten Wochen entgegenbrachte, wollte es ihn manchmal bedünken. Ein zwar zärtlicher, aber fast väterlicher Ton lag in seiner Stimme, wenn er der kleinen Marbach in mehr bittenden als befehlenden Worten einen Auftrag erteilte.

War es ein Wunder? Er irrte sich nicht. Die Zeit verging wie im Fluge, und ein Jahr löste das andere gleichgültig ab. Ja, es war nichts anderes, als die bittere Wahrheit. So rüstig und so jugendkräftig er sich auch noch fühlte, an seinem letzten Geburtstage hatte er das sechsundfünfzigste Lebensjahr überschritten, und die Marbach war zwanzig. Gut und gern hätte er ihr Vater sein können, ja sogar schon ein recht ältlicher Vater. Er war sechsunddreißig Jahre älter als sie, war es da ein Wunder, wenn sich bisweilen ein väterlicher Ton in seine Stimme mischte, wenn er sie freundlicher, als das nötig war, manchmal wollte es ihm scheinen, zärtlich, anredete?

Sollte er sich einen Vorwurf darüber machen, sollte er die Gefühle verdammen und, verbannen, die täglich und stündlich beim Anblick der kleinen Marbach emporstiegen in seinem einsamen Herzen, er, den seine eigene Frau mit einem halbgelähmten Prinzen in seinem eigenen Hause hinterging, er, der sein Lebtag kein keuscher Joseph gewesen, und der nun mit einem Male an der Schwelle des Alters die zarte Knospe einer späten Liebe zu einem jungen und reizenden Geschöpfe in seinem verlassenen Herzen emporkeimen sah?

Warum war er so weich geworden, als er Etelkas Nachricht aus England empfangen? Nur aus diesem Grunde! Nur deshalb, weil in dem eigenen Herzen noch nicht alles verdorrt und verkümmert sein konnte, nur weil ihn die schönen und braunen Augen der kleinen Marbach an jedem neuen Morgen so rührend gefragt hatten: »Haben Sie denn immer noch keine Nachricht über den Verbleib Ihres Kindes, Herr Seliger?«

Von der Kleinbahn war nicht mehr die Rede. Das große Projekt, von dem er einst gemeint hatte, daß es die Krönung seiner Lebensarbeit werden sollte, ruhte, und die unerschöpflichen Kalilager, die er in der Umgegend von Walportshausen angekauft hatte, ruhten auch.

Was lag daran? Ob er ein paar Millionen mehr oder weniger hatte, ob Leo und Etelka und Edith das Geld dereinst mit noch volleren Händen zum Fenster hinauswerfen würden, das war doch schließlich gleich.

Manchmal kam es ihm vor, als sei er gar nicht mehr er selber. Dem leidenschaftlichen Ausbruche seines Temperamentes und seiner unerschütterlichen Willenskraft, da er entschlossen gewesen, das Lebensglück seines Kindes um einen Börsencoup in die Wagschale zu werfen, war eine tiefe Apathie gefolgt. Wie ein Träumer und Nachtwandler, ein verliebter Narr noch obendrein, schlich er jetzt durch dieses an rauhen Kanten der harten Wirklichkeit so reiche Leben, er, Harry Seliger, der Begründer und Leiter der Kommerzbank, der große Unternehmer und Spekulant, der aus dem kleinen Bankier im Hause Adolf Langs der allmächtige Börsenkönig hatte werden wollen, und der es beinahe schon geworden war.

Auch an diesem Nachmittage, es war etwa sechs Wochen nach Etelkas Flucht, saß er wieder einsam in seinem Bureau und blätterte in den Zeitungen, die, ein hoher Stoß, auf seinem Arbeitstische lagen.

Und ganz plötzlich, während sein Auge über den Handelsteil der Blätter hinhuschte, über endlose Zahlen und Projekte, von denen man da sprach, erfaßte ihn ein seltsamer Gedanke, der noch niemals Platz in seinem vielbeschäftigten Gehirne gegriffen hatte.

Es wollte ihn mit einem Schlage bedünken, als ob all das, was da stand, so furchtbar gleichgültig sei. Wie lange lebte der Mensch, sechzig Jahre, und wenn es hoch kam, siebenzig Jahre, dann zerfiel er in Staub und Asche, und was er in diesem Leben errungen, was er zusammengehamstert hatte, das war für ihn selber völlig gleichgültig.

Die Eitelkeit des Lebens, von der schon der Prediger im Alten Testament so ergreifend gesprochen hatte, sie packte ihn heute. Was da in den Zeitungen stand, gleich, in fünfzig, sechzig Jahren, alles gleich, wenn er erst in der imposanten Familiengruft ruhte, und Leo und seine Töchter alles unter die Leute gebracht haben würden.

Wozu also das alles? Er lächelte vor sich hin. Als sei er, Harry Seliger, für den es sein Leben lang nur Wechsel und Coupons, Diskont und Kapital und Zinsen gegeben hatte, mit einem Male ein Philosoph geworden! Ob die Kleinbahn fuhr oder ob sie nicht fuhr, ob das Kali in der Erde lagerte oder ob es ausgegraben wurde, für ihn im. Verlaufe von höchstens zwanzig kurzen Jahren völlig gleich!

Und dafür hatte er Etelka, die erst einundzwanzig Jahre zählte, opfern wollen!!

Er faltete das Blatt, in dem er gerade von der glänzenden Prosperität der amerikanischen Midland Railway, gelesen hatte, zusammen, da pochte man schüchtern an seine Tür.

Wer konnte es sein? Es war schon sechs. Die Bank war geschlossen. Nur er, der kein Zuhause mehr hatte, saß noch allein hier und grübelte vor sich hin.

Auf sein Herein erschien Klotilde Marbach.

Seliger schrak heftig zusammen. Wie sah sie aus, das Kind, wie er sie zur Beruhigung seiner leidenschaftlichen Wünsche stets in seinem Inneren nannte. Dicke, rote, verweinte Augen, ein blasses, verzogenes Gesichtchen, und dann, sie, die sich stets in eine helle Bluse zu kleiden pflegte, ganz schwarz, eine Trauerkleidung, der man ansah, daß sie in aller Hast für die Minute zusammengestoppelt war.

Das Fenster im Bureau stand offen. Man war zu Anfang des April, und der junge Frühling hatte in diesem Jahre mit einem fast sommerlichen, herrlichen Wetter eingesetzt. Die sinkende Sonne, die sich in den Scheiben des gegenüberliegenden Hauses spiegelte, ergoß ihren goldenen Schimmer über Klotildes so wundervoll schöne und jetzt so schmerzensreiche Gestalt.

Einen Moment hingen Seligers Augen wie gebannt an diesem Anblick, dann fragte er endlich:

»Aber um Gottes willen, Fräulein Marbach, was ist Ihnen denn, wie sehen Sie aus, was ist Ihnen passiert?«

»Vater ist heute mittag plötzlich gestorben,« schluchzte sie nun mit brechender Stimme, »heute mittag um drei, gerade, als ich ins Geschäft gehen wollte, ich komme nur, mich zu entschuldigen, Herr Seliger, und nachzusehen, ob nicht etwas Wichtiges ...«

Tränen unterbrachen ihre Rede.

»So plötzlich?« fragte er rasch, »von einer Krankheit Ihres Herrn Vaters, wenigstens von einer ernstlichen, haben Sie mir doch nichts erzählt, Fräulein Marbach?«

»Nein, er war auch heute morgen noch ganz gesund, ein Herzschlag, Herr Seliger, sagt der Arzt.«

»Wie alt war denn Ihr Herr Vater?« fragte er nun teilnahmsvoll.

»Er wäre im September sechzig geworden,« schluchzte sie.

Da zuckte er leise zusammen.

»So jung noch,« entfuhr es, ohne daß er es wollte, seinen Lippen. »Aber, so setzen Sie sich doch einen Moment, liebes Fräulein,« sagte er rasch. »Ich weiß ja, daß in solch einem Falle auch die aufrichtigsten Trostesworte des wahrsten Freundes ihre Wirkung verfehlen, aber glauben Sie mir, mein Kind, das ist der Schmerz der ersten Stunde, und Sie sind noch jung, Sie werden auch das überwinden, und wenn Ihr Herr Vater und ich selber längst zu Staub und Asche vermodert sein werden, dann werden sie noch leben und genießen, denn der Jugend gehören denn doch einmal die Zukunft und das Leben.«

»O, Sie sind immer so lieb und gut zu mir gewesen, Herr Seliger. Das war auch meines armen Vaters letzter Trost. Immer, wenn er einmal davon sprach, daß er nicht ewig bei mir bleiben könne, daß er alt sei, und ich jung, dann haftete er sich an Sie, an meinen Chef, bei dem ich eine Stütze und einen Trost finden sollte. Und so bin ich denn auch in solchem Vertrauen zu Ihnen gekommen, Herr Seliger.«

Es tat ihm wohl, daß heute, gerade in dieser Stunde, da ihn die Nichtigkeit des irdischen Besitzes mit voller Macht gepackt hatte, jemand, daß sie so zu ihm sprach. Und in einer Aufwallung seiner Gefühle sagte er:

»Liebes Fräulein Marbach, Ihr Herr Vater soll sich in seinem Vertrauen nicht getäuscht haben. Denken Sie an mich, wenn Sie der Stütze und der Hilfe bedürfen sollten. Seien Sie versichert, daß ich Ihnen warme Freundschaft, daß ich Ihnen die Gefühle eines Vaters entgegenbringe!«

Seine Stimme zitterte, und das Blut stieg ihm in die Schläfen, da er sich plötzlich bewußt wurde, welch furchtbare Lüge er soeben dem jungen Mädchen gegenüber ausgesprochen hatte.

Aber trotzdem oder vielleicht gerade deshalb reichte er ihr die Hand und hielt ihre kleine zitternde Rechte in der seinen.

Und sie, hingerissen von ihrem namenlosen Schmerze, ganz aufgelöst in Gram und Trauer, duldete die fast zärtliche Berührung dieses Mannes, der ihr soeben seinen väterlichen Schutz versprochen hatte, und der ihr in langen Tagen und Monaten gemeinsamer Arbeit auch in der Tat ein Vater gewesen war.

Er hatte seinen Sessel dicht an den Stuhl gerückt, auf dem Klotilde Platz genommen hatte, und als ob er seine leidenschaftlichen und immer ungestümer sich regenden Wünsche nach dem schönen jungen Mädchen dadurch bannen und beruhigen könne, redete er, die kleine, liebe Hand streichelnd, leise in Klotilde hinein:

»Gewiß, Ihr Schmerz ist groß, liebes Fräulein Klotilde, aber welcher von uns Menschen ist gefeit gegen solchen Schmerz? Wenn wir das Liebste, was wir auf der Welt haben, hergeben und begraben müssen, dann ist das bitter, unsäglich bitter, aber es ist Menschenlos. Doch ungeliebt durch dieses arme Leben zu wandeln, vielleicht betrogen, gehaßt und verlästert von denen, die einem alles verdanken, die einem darum am nächsten stehen sollten –« seine Stimme zitterte, er zuckte zusammen, – »glauben Sie mir, Fräulein Klotilde, das ist noch bitterer! 1«

Ein fragender Blick aus ihren schönen braunen Augen traf ihn, ein Blick, der sein stürmisches Blut aufs neue in Wallung versetzte.

Noch immer ruhte ihre Hand in der seinen, die sie ihm nicht zu entziehen wagte. Und nun suchte seine zitternde Linke ihr tief braunes, seidenweiches Haar, das unter dem kleinen schwarzen Krepphütchen, das sie sich an diesem Nachmittage in aller Eile zusammengesteckt hatte, widerspenstig hervorquoll. Er streichelte dieses Haar und berührte ihren blendend weißen Nacken. Schauer der Seligkeit, wie sie ihm seit Jahren nicht zuteil geworden, rannen wohlig und aufstachelnd durch sein heißes Blut. Auf ihrem schlanken Rücken ruhte seine Hand, und die Worte des Trostes, die er immer noch zu spenden versuchte, gewannen mit einem Male, einen Ton, vor dem er selber im Innersten seines Wesens erschrak.

»So weit ist es mit dir, Seliger, so weit,« rief ihm die mahnende Stimme seines Gewissens, aber vergeblich, zu.

»Wenn Sie einen Freund brauchen, Fräulein Klotilde, wenn Sie nicht wissen sollten, an wen Sie sich in Ihrem Schmerze und in Ihrer Einsamkeit zu halten haben, dann erinnern Sie sich meiner. Ich will Ihnen ein Freund, ein Berater, ein neuer Vater sein, glauben Sie! O, ich weiß, was Einsamkeit und Verlassenheit bedeuten, armes Kind. Einsam und verlassen bin auch ich in langen Jahren meines Lebens gewesen, einsam und verlassen, wie Sie es jetzt sind. Was können das Geld und die Macht und der Reichtum, wenn die Seele sich einsam fühlt, allein, ohne den anderen, der ihr erst Freude und Lebensmöglichkeit zu leihen imstande ist!«

Erschrocken, die Augen groß und klar zu ihm aufhebend, sah sie ihn an.

Wie der Mann da sprach, wie seine fahlen Wangen plötzlich zu glühen begannen, wie Farbe und Leben in sein sonst so blasses, fast marmorkaltes Gesicht stiegen. Und wie heiser seine Stimme klang, wie rasch, fast krampfhaft er diese Worte hervorsprudelte. Was war das? Ihr wurde angst.

»Ich weiß ja, daß Sie mir der beste, der edelste Freund und Wohltäter sein werden, Herr Seliger,« stammelte sie in namenloser Verwirrung und griff nach dem Schirm, den sie neben sich an den Stuhl gelehnt hatte.

Und er in dem tollen Wahne, daß sie ihm jetzt entfliehen und für immer entweichen müßte, völlig beherrscht von dem einen, einzigen, unabweisbaren Wunsche, sie endlich in seine Arme zu schließen, riß sie an sich und bedeckte ihr fieberndes Gesichtchen mit glühenden Küssen.

»Um Himmels willen, was habe ich getan, lassen Sie mich los, Herr Seliger, haben Sie Erbarmen mit mir, lassen Sie mich los,« schrie das junge Mädchen.

Aber er, fest entschlossen, die nun endlich errungene Beute nicht wieder fahren zu lassen, hielt sie mit Riesenkräften und zog sie zu sich nieder auf das in dem Bureauraume stehende Sofa, wo ein wildes Ringen zwischen dem alternden Manne und dem jungen Mädchen begann.

Da gab sie endlich nach. Auch ihr Blut war in seiner rücksichtslosen Umarmung in Wallung geraten. Sie ahnte, sie wußte seit Wochen, daß er sie mit seinen Blicken verzehrte, daß er sie liebte, und sie kannte seinen Reichtum und seine unbegrenzte Macht.

»Klotilde, Klotilde,« stammelte er, »ich will dir ein Freund sein, ich will dich auf Händen tragen, jeden Wunsch will ich dir erfüllen. Ich kann die Einsamkeit meines Lebens nicht mehr ertragen, ich bete dich an, Klotilde, sei mein, sei mein!!«

Da fühlte er, wie sich ihr Arm fest um seinen Hals schlang, wie sich die gewaltige Anspannung ihrer Nerven und Sinne in einem heißen Tränenstrome löste, und die leise gehauchten Worte: »So mach' mit mir, was du willst,« trafen sein Ohr.

Mit einem Jubelschrei sprang er auf. Er lag ihr zu Füßen.

»Klotilde, Klotilde,« stammelte er wieder, »du, du wolltest mir die Kraft deiner Jugend schenken, Klotilde?!«

Dann schloß er sie wortlos in seine Arme, und sie erwiderte seinen Kuß.

Als sie von ihm ging, wußte er, daß sie zu ihm zurückkehren und ihn nie wieder verlassen werde.

In fast heiterer Stimmung trat er kurz nach sieben Uhr den Heimweg in die Villa an. Moralische Bedenken altmodischer Natur, wie er sich gerne auszudrücken pflegte, kannte er nicht. Es war gut, daß es endlich so gekommen war, sehr gut, und vor allem, daß es so rasch und so unerwartet gekommen war.

Er hätte es auf die Dauer doch nicht länger ertragen, die unglückseligen Verhältnisse in seinem Hause, die nun schon Jahre unverändert währten, und den von Tag zu Tag leidenschaftlicher werdenden Wunsch nach dem Besitze Klotildes, auf die er schon am ersten Tage, da sie ihre Stellung in der Kommerzbank angetreten, ein Auge geworfen hatte. Ja, mit ihr, an ihrer Seite, in ihren Armen würde er, der Sechsundfünfzigjährige, noch einmal jung werden.

Es war schon dunkel, und die Gaslaternen brannten, als er durch die abendlich belebten Straßen der Stadt dem vornehmen Villenviertel zuschritt. Aber es war ein Genuß heute im Freien. Fast sommerlich warm ließ sich diese Frühlingsnacht an.

Als er die Anlagen erreicht hatte, verlangsamte er seine Schritte. Wie balsamisch das schon duftete, die Hyazinthen, die der städtische Gärtner in diesen Tagen auf die großen Beete gepflanzt hatte. Früher, als in anderen Jahren begannen die Roßkastanien ihre blendendweißen und hellroten Kerzen zu entfalten, junger Frühling und junges Leben allüberall, wohin man sah. »Junge Liebe,« sagte Seliger fast schwärmerisch vor sich hin.

Er hätte es nie gedacht, daß noch so viel in seinem Herzen schlummere, daß so viel in seiner Seele begraben lag, und nun mit einem Male nach dem hellen Sonnenlichte dieses neuen Lenzes rang. Eine Melodie, die ihm gerade einfiel, pfiff er leise vor sich hin, übermütig wie ein Gassenjunge, während er sich in Gedanken sein junges Glück in allen Einzelheiten verführerisch ausmalte.

Mochte Hilde in der Villa hausen und den Prinzen empfangen, so oft ihr beliebte, ihn würde das nicht mehr genieren. Irgendwo in einem verborgenen Winkel der großen Stadt würde er schon für sein Geld ein stilles Plätzchen finden, ein von einem grünen Gärtchen umrahmtes kleines Häuschen, wo die Blumen blühen und duften mußten, wie hier, dorthin würde er seine Klotilde bringen, dort würde er sein verstohlenes Glück vor den neidischen Augen der Welt verbergen, und in diesen Hafen des Friedens würde er sich flüchten, hinaus aus einem offiziellen Heim, das ihm nachgerade zur Hölle geworden war.

Wenn er sich so alles genau überlegte, es hatte eigentlich so kommen müssen, wie es gekommen war. Er grollte Hilde nicht. Wer hatte ihn denn damals dazu gezwungen, einer Tänzerin von einem kleinen Hoftheater die Hand zum ehelichen Bunde zu reichen? Niemand, kein Mensch auf der weiten Welt. Es waren also sein eigenster Wille und seine eigenste Torheit gewesen. Daß sie die Pflichten der Ehe nicht sehr schwer nehmen würde, hätte er sich als welterfahrener Mann denken können. Und dann, er selber. Ein treuer Ehegatte war er in besseren Jahren auch nicht gewesen.

So war es gekommen, von Tag zu Tag mehr und selbstverständlicher, daß, nachdem die Kinder einmal geboren waren, ein jedes seine eigenen Wege ging, ohne daß eines das Recht gehabt hätte, dem anderen einen ernstlichen Vorwurf aus seinem Lebenswandel zu machen.

Was hatte er nicht alles auf dem Kerbholz! Im Vergleich mit seinem langjährigen Sündenregister war die Rückkehr Frau Hildes in die Arme ihres Prinzen Trachenstein eine harmlose Sache.

Sie hatte doch auch ein Herz, und er hatte sie daran gewöhnt, daß er sich niemals um sie kümmerte, damals schon, als er noch jung und unternehmungslustig gewesen, und als er in den fashionabeln Bädern Belgiens und Deutschlands und im Winter an der Riviera mit seinen Maitressen ein regelmäßig wiederkehrender Gast geworden war.

Jetzt würde alles anders, noch einmal an der Schwelle des Alters würde er mit Klotilde wieder jung, würde, mußte alles gut werden.

Er bog in die elegante Straße ein, in der die vornehme Villa Seliger inmitten des im Frühlingsglanze träumenden, herrlichen Parkes lag.

Vor dem großen Gittertore hielt eine Droschke. Er beachtete sie kaum. »Trachenstein wird eben wieder bei meiner Frau sein,« dachte er, über sich und sein eheliches Leben lächelnd, einen Augenblick.

Als er den Korridor betrat, meldete ihm der Diener, der ihn erwartet zu haben schien:

»Im blauen Salon, Herr Seliger, warten zwei Herren schon seit einer halben Stunde. Sie sagten, den Herrn unbedingt persönlich sprechen zu müssen und haben sich nicht abweisen lassen.«

Seliger sah nach der Uhr.

»Halb acht, so spät,« meinte er kopfschüttelnd.

Dann legte er Hut und Mantel ab und trat in den Salon. Der Diener hatte schon vor einer Viertelstunde die Gaskrone angezündet. Ihr helles Licht fiel, als Seliger den Raum betrat, auf zwei einfach in Schwarz gekleidete Herren, die leise, aber eifrig miteinander sprechend in der Fensternische des Zimmers standen und den eintretenden Hausherrn fürs erste nicht zu bemerken schienen.

»Wer war das? Was wollten die, jetzt in vorgerückter Abendstunde?« fuhr es Seliger durch den Kopf.

Ein unangenehmes Gefühl bemächtigte sich seiner, als ob von diesem Besuche nichts Gutes zu erwarten sei.

Da drehte sich der eine der beiden um, so daß das volle Licht der Gaskrone auf seine Züge fiel.

»Das richtige Schutzmannsgesicht,« müßte Seliger in diesem Augenblicke denken, und er konnte sich nicht helfen, ein jäher Schreck durchzuckte ihn.

Aber er faßte sich rasch.

»Was verschafft mir die Ehre, meine Herren?« fragte er.

Nun konnte er auch dem andern ins Gesicht sehen, ein stämmiger, untersetzter Kerl, dem man den altgedienten Unteroffizier auf den ersten Blick ansah.

»Sie sind Herr Harry Seliger, Leiter der Kommerzbank?« fragte jetzt der mit dem Schutzmannsgesicht.

»Der bin, ich. Ich habe Sie soeben gefragt, was mir die Ehre Ihres Besuches verschafft?«

»Wir kommen im Auftrage der königlichen Staatsanwaltschaft, Herr Seliger, wir haben den Befehl, Sie zu verhaften!«

Seliger wankte. Er war leichenblaß geworden.

Der Mann mit dem Schutzmannsgesicht entfaltete ein Aktenstück, das er aus der Brusttasche gezogen hatte. Der amtliche Verhaftungsbefehl, wie Seliger auf den ersten Blick sah.

»Darf ich Sie fragen, meine Herren, in welcher Angelegenheit der Herr Staatsanwalt –«

»Wir haben keinerlei Erklärungen abzugeben,« lautete die gemessene Antwort, »nur den Befehl, Sie dem Herrn Untersuchungsrichter vorzuführen. Wir haben den Wagen unten warten lassen, Herr Seliger, und ich war der Meinung, daß die Sache am Abend weniger peinliches Aufsehen erregen würde.«

Seliger hatte eine ironische Bemerkung auf den Lippen, einen Dank für diese an der Kriminalbehörde gewiß selten beobachtete zarte Rücksichtnahme. Aber er fürchtete, durch eine solch überflüssige Bemerkung die ausgesuchte Höflichkeit der Beamten in ihr Gegenteil zu verkehren, und so sagte er:

»Ich komme eben von der Bank zurück. Sie gestatten wohl, meine Herren, daß ich erst einen kleinen Imbiß einnehme. Ich stehe dann sofort zu Ihrer Verfügung.«

Er ließ sich in dem nebenanliegenden Speisezimmer Tee und eine kalte Platte von dem herbeigeklingelten Diener servieren und wunderte sich, mit welch gesundem Appetit er, seit wie lange nicht, diese Mahlzeit verzehrte, obwohl der eine der beiden Beamten es für nötig hielt, in der Tür des Speisezimmers Posto zu fassen und ihn zu beobachten.

Nur ein Gedanke beherrschte während des Essens seinen Kopf. Was war vorgefallen, was konnte es sein, was hatte er sich zuschulden kommen lassen, woraus der Staatsanwalt das Recht herleitete, gegen ihn vorzugehen und ihn in seiner Wohnung festzunehmen?

Und plötzlich kam es wie eine Erleuchtung über ihn.

»Kutzleben, Kutzleben!« Der Name wirkte in seinem Inneren wie ein alles erhellender Blitzstrahl. Kein Zweifel war möglich, aus dem Passus seiner Briefe und Zirkulare, in dem es hieß, daß die Konzession für den Bau der Kleinbahn erteilt sei, hatte man ihm einen Fallstrick gedreht. Kutzleben gegenüber war ihm das unvorsichtige Geständnis entfahren, daß er den endgültigen Bescheid über die Erteilung der Konzession mit dessen Unterstützung erwarte, und aus Rache für dessen fehlgeschlagene Hoffnung auf eine einträgliche Verbindung mit Etelka hatte er ihn der Staatsanwaltschaft wegen Betruges denunziert.

In diesem Gedanken atmete Seliger auf. Klipp und klar würde er vor Gericht beweisen, daß ihm nichts ferner gelegen habe, als die Absicht eines Betruges, daß er damals der festen Ansicht gewesen sei, die Erteilung der Konzession sei nur eine Frage der Zeit, und daß in einer voreiligen Redaktion der Zirkulare und Briefe die von der Staatsanwaltschaft zum Grunde der Anklage gemachte Stelle stehengeblieben sei.

Der in der Tür postierte Beamte schien ungeduldig zu werden und sah nach der Uhr. Seliger erhob sich.

»Wir können gehen, meine Herren,« sagte er, »ich bin bereit,« in dem Tone und der Haltung des Mannes von Welt, der sich auch in solcher Lage den untergeordneten Organen der Polizeigewalt gegenüber als der Überlegene fühlt.

Im Dienstraum des Untersuchungsgefängnisses mußte Seliger lange warten. Er bat den diensttuenden Beamten, ihm die Erlaubnis zum Schreiben eines Briefes zu erteilen, was dieser auch bereitwillig gestattete. An wen sollte er schreiben? Hilde würde sich schwerlich ängstigen, und in der Villa ging die Kunde von seiner Verhaftung wohl schon von Mund zu Mund. Aber Klotilde!!

Zum ersten Male seit langen Jahren wieder traten ihm Tränen in die Augen, als er nun schrieb:

»Inniggeliebte!

Ich hätte nicht gedacht, daß ich am ersten Tage meines unfaßbaren Glückes diese Zeilen an Dich, liebe Seele, die mir neue Kraft und neue Jugend schenkt, richten müßte. Aber die Schicksale der Menschen wandeln manchmal einen wunderbaren Weg.

Infolge eines Verdachtes und, wie ich mit Sicherheit annehmen kann, einer Denunziation von seiten eines früher an der Kommerzbank Angestellten, hat man mich heute abend in meiner Wohnung verhaftet. Ängstige Dich nicht, süßes Herz, und schlafe gut, wenn Dich der Schmerz um den Tod Deines Vaters schlafen läßt. Es muß sich bald alles aufklären, und ich kehre in Deine Arme zurück.

Angesichts der Tatsache, daß Du in diesen Tagen materieller Hilfe wohl am schwersten entbehren kannst, füge ich diesem Briefe einen Scheck über dreitausend Mark bei, die Du an der Kasse der Kommerzbank erheben kannst.

Mit tausend Küssen

Dein namenlos glücklicher
Harry.«

Er zog das Scheckbuch aus der Tasche und stellte das Formular aus. Dann verschloß er Brief und Scheck in ein Kuvert und bat einen Schutzmann, die Sendung einem Dienstmann zur sofortigen Besorgung zu übergeben. So war er wenigstens über Klotildes nächste Zukunft beruhigt.

Aus dem Nebenzimmer trat ein Beamter mit der Meldung, daß der Herr Untersuchungsrichter das Verhör auf den nächsten Morgen vertagen werde.

Seligers ruhige Stimmung geriet ins Wanken. Er hatte sofort den Antrag stellen wollen, ihn gegen Hinterlegung einer Kaution in beliebiger Höhe auf freiem Fuße zu belassen, nun mußte er wohl oder übel die erste Nacht in seinem Leben im Gefängnis verbringen.

Man wies ihm eine Einzelzelle an. Die Beamten befleißigten sich alle eines zuvorkommenden und höflichen Wesens. Über die Behandlung, die er im Gefängnis erfuhr, konnte er nicht klagen. Im Vollgefühle seiner Unschuld und in der sicheren Hoffnung, daß man ihn nach dem ersten Verhör auf freien Fuß setzen werde, und daß dann die ganze Sache gerichtlich rasch aufgeklärt werden würde, verbrachte er eine leidliche Nacht.

Freilich das Verhör am folgenden Morgen entmutigte ihn nicht wenig. Der Untersuchungsrichter, ein im Dienst ergrauter und verschlossener Beamter, der seine einzige Aufgabe in der raschen Überführung des Angeklagten sah, ging auf Seligers liebenswürdigen Ton nicht ein. Er behandelte den ganzen Fall streng sachlich und hielt sich an die Akten, die ihm von der Staatsanwaltschaft zugegangen waren.

Auf die Frage des Angeklagten, ob er nicht gegen Stellung einer Kaution in beliebiger Höhe in Freiheit gesetzt werden könne, gab er die Antwort, Seliger müsse einen darauf hinzielenden Antrag bei dem Staatsanwalt einreichen und diesen Antrag begründen.

Als der Untersuchungsrichter ihm am Schlüsse des Verhörs auf seine Frage mitteilte, daß Oberstaatsanwalt von Holtenhausen die Anklage vertrete, ward er einen Moment ganz mutlos. Er erinnerte sich, daß Kutzleben des öfteren von Holtenhausen und dessen Familie gesprochen hatte, mit der er sehr befreundet war.

Am Nachmittage desselben Tages empfing Seliger den Besuch seines Rechtsbeistandes. Dieser scherzte über das Mißgeschick, das dem großen Bankdirektor widerfahren. Er rechnete mit aller Bestimmtheit auf einen Freispruch und versprach Seliger, bei der Staatsanwaltschaft sofort die nötigen Schritte wegen seiner Freilassung gegen eine Kaution zu tun.

Wider alles Erwarten wurde das Gesuch des Angeklagten um Freilassung abschlägig beschieden. Der Fluchtverdacht sei bei den Vermögensverhältnissen Seligers auch gegen eine Hinterlegung von mehreren hunderttausend Mark nicht ausgeschlossen, hieß es in der Antwort.

Er mußte sich in das Unvermeidliche fügen, ausharren im Gefängnis, bis der Tag der Hauptverhandlung vor der Strafkammer herangekommen war.

Obwohl er alle zulässigen Vergünstigungen genoß, obwohl er sich selbst verköstigte und seine eigenen Zigarren rauchte, das untätige und einförmige Leben im Untersuchungsgefängnis, der Mangel an Bewegung und frischer Luft, die Sorge um den ungewissen Ausgang des Prozesses, das alles fiel schwer auf seine schon überreizten Nerven, und als nach langen drei Wochen der Tag der Verhandlung endlich herangekommen war, sah sich Seliger kaum mehr ähnlich.

Es war ein alter, schwacher Mann, der dort auf der Anklagebank, von dem Gerichtsdiener geleitet, Platz nahm. Man hatte eine große Anzahl von Zeugen geladen, die über das Vorleben und die geschäftliche Zuverlässigkeit des Angeklagten aussagen sollten.

Ein Schauer lief durch Seligers Körper, als er die Zeugenbank musterte. Wer saß nicht alles da: Robert Müller und Eduard von Giloty, Hahn, und alle die anderen, die einst an der Sitzung zur Konstituierung der Kleinbahnaktiengesellschaft teilgenommen hatten, und dort, dort saß auch Doktor von Kutzleben, mit den kalten, blauen Augen und dem nichtssagenden, gleichgültigen Gesicht, ein widerliches Lächeln um die fest aufeinandergekniffenen Lippen.

Die Röte der Wut stieg Seliger in die Wangen, als er diesen Menschen sah.

Kutzleben, der ihn zweifellos denunziert hatte, und der nun auch noch als Zeuge in seiner Sache vernommen werden sollte!!

Und dann dort hinten. Voller Menschen war der enge Raum des Sitzungssaales. Viele Bekannte bemerkte er darunter, alle, die an der Börse etwas zu sagen hatten, die sich den sensationellen Anblick nicht entgehen ließen, Seliger, den großen Seliger, dem kein Problem zu schwierig, dem kein Hindernis unübersteiglich gewesen, auf der Anklagebank vor dem Richter zu sehen.

Wieder lief ein Zittern durch seinen Körper, und wieder haftete sein Auge auf diesem kalten, diesem aalglatten Kutzleben, der sich eben seine braunen Handschuhe in aller Seelenruhe zuknöpfte.

Und ein Gedanke stieg plötzlich auf in seinem Innern, ein Gedanke der Rache, der ihn nimmer lassen wollte. Wie, wenn er diesen Menschen hier an der Stätte des Gerichtes preisgab, wenn er mit Hintenansetzung seiner eigenen Interessen, ohne Schonung seiner eigenen Persönlichkeit diesen Kutzleben der allgemeinen Verachtung auslieferte?!

Immer fester bohrte sich dieser Gedanke in sein Gehirn, immer leidenschaftlicher, mit einer wahren Wollust faßte er den Entschluß, angesichts aller dieser Menschen diesem Kutzleben die Anklage der Erpressung und der Mitgiftjägerei entgegenzuschleudern.

Die Verhandlung nahm ihren Anfang. Die Aussage des Angeklagten war klipp und klar ohne Hinterhalt. Auf die Anklage der Vorspiegelung falscher Tatsachen und des versuchten Betruges, die der Staatsanwalt gegen ihn erhoben, habe er zu erwidern:

Er gebe zu, daß der Passus über die erteilte Konzession in seinen Prospekten und Briefen stehengeblieben sei, aber er bestreite seinerseits jede betrügerische Absicht. Die Zirkulare und Briefe seien in einem Momente abgefaßt worden, da absolut kein Grund vorgelegen habe, an der Erteilung der Konzession von Seiten Seiner Hoheit des Fürsten von Walportshausen zu zweifeln. Er habe in gutem Glauben gehandelt, daß die Konzession erteilt werde, zumal er den Bruder Seiner Hoheit, den Prinzen Egon Trachenstein, nach Cannes geschickt habe, um die Unterschrift von Seiten des regierenden Fürsten zu erlangen.

Prinz Egon Trachenstein, der nach dem Angeklagten als erster Zeuge vernommen wurde, drückte sich sehr gewunden aus. Die Sache war ihm verflucht unangenehm, ein Affront, wie er noch gestern zu Frau Hilde gesagt hatte. Er gab aber zu, von Herrn Seliger mit dem Auftrage, seinen fürstlichen Bruder um die Konzession zu ersuchen, nach Cannes geschickt worden zu sein; sein Bruder sei aber in der Zwischenzeit schon nach Paris gefahren, und er habe sich infolgedessen seines Auftrages nicht entledigen können.

Die folgenden Zeugen, Eduard von Giloty und Robert Müller an der Spitze, sagten alle sehr günstig über Seliger aus. Sie waren einmütig der Ansicht, daß sie dem Angeklagten nach seinem ganzen Vorleben und seiner Geschäftspraktik einen Betrug nicht zutrauen könnten, und Eduard von Giloty ging sogar so weit, zu versichern, daß er in der falschen Angabe von der Erteilung der Konzession, einen Betrug im Sinne des Gesetzes nicht erblicken könne, da die Erlangung eines eigenen Vorteils durch das Zustandekommen des Bahnbaues Seliger ja noch gar nicht nachgewiesen sei.

Als einziger Belastungszeuge und als letzter wurde Doktor von Kutzleben vernommen.

Feierlich versicherte er unter seinem Eide, daß Seliger ihm bei einer Unterredung unter vier Augen selber gesagt habe, daß die in den Briefen und Zirkularen angekündigte Konzession tatsächlich nicht erteilt sei, daß er sich also den Interessenten gegenüber nach seinem eigenen Geständnisse der Vorspiegelung falscher Tatsachen und des Betruges schuldig gemacht habe.

»Und wissen Sie noch, bei welcher Gelegenheit, Herr Doktor, ich Ihnen dieses Geständnis machte, das Sie jetzt aus Rache gegen mich ausspielen wollen,« schrie da Seliger und sprang von der Anklagebank auf. »Wissen Sie das noch?«

Kutzleben erbleichte. Daß sich Seliger hier selber preisgeben würde, daran hatte er nicht gedacht.

»Als Sie mir sagten, Herr Doktor, daß die Hand meiner Etelka der einzige Kaufpreis sei, um den Sie mir die Konzession durch Ihren Herrn Vater, den Ministerpräsidenten von Walportshausen, verschaffen wollten, wissen Sie das nicht mehr, Herr Doktor? Ja, meine Herren, so weit bin ich gegangen in meiner Verblendung, diesem Menschen wollte ich die Hand meines Kindes anvertrauen, weil er mir um diesen Preis die Konzession der Bahn versprach!«

Kutzleben wankte, er brachte kein Wort mehr über die Lippen, auf seinen fahlen Zügen lasen alle das Geständnis seiner Schuld.

Nach dem Vorgefallenen faßten sich Staatsanwalt und Verteidiger kurz. Eine Viertelstunde nach den Plaidoyers verkündigte der Vorsitzende das Urteil. Es lautete auf Freisprechung des Angeklagten, da der Gerichtshof nicht zu der Überzeugung gelangt sei, daß er in betrügerischer Absicht gehandelt habe.

Als Seliger das Gerichtsgebäude verließ, traf er auf der Straße Klotilde, die keinen Einlaß mehr in den Saal bekommen hatte und die hier seit dem Beginne der Verhandlung seiner wartete.

Unbekümmert um die Menschen, die ihn hier hätten überraschen können, schloß er das junge Mädchen in seine Arme.

»Dank, Dank, Klotilde,« stammelte er, »die Zeit der Prüfung ist um, laß mich an deiner Seite und mit deiner Jugend ein neues Leben beginnen!«


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