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III.

In dem im Erdgeschosse der Villa Seliger gelegenen Billardzimmer langweilten sich die Sprossen des großen Börsenkönigs nach dem Diner.

Die ältere, brünette Etelka und »das Kleine«, Edith, »das Schaf«, wie sie von ihrem Bruder Leo und ihrer Schwester genannt wurde, spielten eine Partie, indessen der einzige männliche Nachkomme des Hauses Seliger seinen Mokka nebst einer grünen Chartreuse schlürfte und eine Kyriazi nach der andern in Dampf aufgehen ließ.

Sich vor seinen Schwestern nicht im mindesten genierend, lag er, die Beine lang ausgestreckt, auf dem mit einem türkischen Teppich überdeckten Diwan und summte leise vor sich hin:

»Auf dem Baum', da hängt 'ne Pflaum'.«

Er war ein fescher Junge von zweiundzwanzig Jahren, der älteste des Bankdirektors, der in seinem Äußern viel von der germanischen und blonden Mutter an sich hatte, während die Nasen der beiden Mädchen und deren etwas hervorquellende Augen die Vaterschaft des alten Seliger außer Frage stellten.

Aber auch diese beiden waren eher hübsch als häßlich zu nennen. Vor allem Etelka hatte eine schöne Gestalt und ein interessantes Gesichtchen, während Edith mit den blonden Haaren, den blauen Augen und dem leicht gebogenen Näschen geradezu als Typ eines Mischlings zweier fast entgegengesetzter Rassen gelten konnte.

»Sei doch nicht so blöde, Leo, und summe immer das faule Lied vor dich hin,« unterbrach Etelka jetzt die Partie, die sie mit ihrer Schwester erst vor wenigen Minuten angefangen hatte. »Du bläst einem die Ohren voll mit solch einem Stumpfsinn, und das Kleine spielt heute wieder, daß es den vor sechs Wochen im Zoologischen verstorbenen Chimpansen jammern kann.«

Edith, das Schaf, das gleich beleidigt war, schmollte:

»Dann such' dir doch eine andere Partnerin, Telka, wenn ich dir nicht gut genug spiele! Daß ihr zwei euch immer an mir reiben müßt.«

»Ich danke für Obst und andere Südfrüchte,« lachte Leo, sich auf dem Diwan reckend und den Stummel seiner Kyriazi in einem langen Bogen nach dem Marmorkamin in der entgegengesetzten Ecke des Zimmers schleudernd, »da hab' ich bessere Dinge zu tun, als mich an dir zu reiben, Schaf. Wißt ihr schon, Kinder, daß das Schauspiel einen neuen Oberregisseur bekommen hat, der für die neuromantische Richtung schwärmt?«

»Was geht das uns an,« lautete Etelkas gelangweilte Antwort, »ob neuromantisch oder altromantisch. Die Samstage sind mir der reine Ekel, wenn man in die Loge geschleppt wird und sich von acht bis elf Uhr zu Tode mopsen kann.«

»Das ist deine Privatansicht, Telka, die Kunst bleibt doch das Einzige, was unsereinem dieses Leben einigermaßen erträglich macht.«

Dann wandte er sich an Edith:

»Nicht, Schaf, die Kunst bleibt das Einzige?«

Edith sah sich nicht veranlaßt, ihm auf diese Anrede hin eine Antwort zu erteilen, und Etelka stichelte:

»Ja, seitdem du wegen zu stark entwickelter O-Beine und allzu deutlichen Hervortretens deines Nasenrückens als Avantageur bei den Husaren nicht angekommen bist, ist die Kunst wohl das. Einzige, was einem christlichjüdischen Millionärssohn unserer Tage, der auf den schönen Namen Seliger hört, übrigbleibt. Nicht, Leochen? In diesem Falle neide ich dir deine oft gerühmte Männlichkeit nicht, da sind Edith und ich schon besser dran, wir erheiraten mit Papas Geld einen aristokratisch klingenden Namen und lassen die geborene Seliger einfach unter den Tisch des Hauses fallen. Nicht Edith, du kleines Schaf?«

Sie lachte gezwungen und faßte die Schwester, die immer noch schmollte, und der die Tränen in den großen Froschaugen standen, zärtlich um die Taille.

»Laß mich,« wehrte Edith ab, »erst beleidigt ihr einen mit euren Sticheleien und Liebesnamen, und dann soll man wieder gut sein. Ich danke für diese Behandlung. Ich werde Papa bitten, mich wieder in die Schweiz zu schicken, wo ich in Pension gewesen bin in Genf, und dort werde ich studieren, und ihr könnt mich alle hochachten mit euren Partien und euren Vergnügungen, die doch alle nichts taugen.«

»Ob Papa Ja und Amen sagen wird,« sagte nun Leo zweifelnd, und zündete sich eine neue Zigarette an. »Und dann, Schäfchen, das mit dem Studieren und in die Schweiz gehen à la jeune Russe, das ist doch wohl kaum dein Ernst. Dazu amüsierst du dich doch hier in der Stadt viel zu gut, wären es auch nur die schönen Lieder von Davidchen Mandelbaum, die dich für den Augenblick an die Scholle fesseln müßten.«

Eine Glutwelle stieg in Ediths Gesichtchen, als Leo diesen Namen nannte, dann lief sie wie ein ungezogenes Kind, die Türe hinter sich zuschlagend, aus dem Zimmer und schluchzte in dem an das Billardzimmer anstoßenden Speisesaale zum Herzbrechen los.

Leo eilte ihr nach.

»Sei doch gut, Schäfchen,« bettelte er. »So war's ja nicht gemeint. Es ist ja weiter nichts dabei, wenn man sich in deinem Alter andichten läßt und noch seinen idealen Schwarm hat.«

Und Etelka trillerte, als Leo die sich sträubende Edith nach sich ziehend wieder in dem Billardzimmer erschien. »Erst achtzehn Jahr Johanna war und noch ein wahres Kind dabei. Man soll 'nem jungen Mann, wenn man's vermeiden kann, nicht allzutief in die Augen sehn.«

Da heulte Edith wieder los.

»Ich halt's nicht aus, in diesem Hause nicht, und mit Mama nicht und mit dir und Leo nicht, man kommt sich hier so entweiht, so gemein vor in dieser Umgebung. Alles wird in den Kot gezerrt, ich halt's nicht mehr aus.«

»Na beruhige dich nur, Edithchen,« schmeichelte nun Etelka. »Wenn du erst zwei, drei Jahre älter bist, wirst du die Welt auch mit andern Augen betrachten. Dann wirst du nicht mehr weinen, wenn dir einer sagt, daß Davidchen Mandelbaum schöne Gedichte macht, und daß er dich anschwärmt, dann wirst du dich umsehen unter den Söhnen des Landes, wo es mit deinen Millionen ein Wappenschild zu vergolden und einem wirklichen Grafen aus der Patsche zu helfen gilt.«

»Du hast den Grafen Waldburg im Sinn, Telkelchen,« nahm nun Leo das Gespräch auf. »Wenn du dich nur nicht irrst. Er steht bei den Leibulanen, ist Majoratsherr der allerdings schwer verschuldeten Güter Waldburg-Immenhausen und wird nach dem Tode seines kinderlosen und in der Irrenanstalt untergebrachten Onkels Seniorchef der gräflichen Häuser derer von Waldburg-Immenhausen. Ob der es trotz der Million Mitgift und den noch in Aussicht stehenden Millionen mit der Halbjüdin Etelka geb. Seliger riskieren darf, ist nun doch sehr die Frage, selbst wenn du dich wegen der Waldburg einmal von dem protestantischen und wegen der Immenhausen einmal von dem katholischen Pfarrer taufen ließest, Telkelchen, denn die Immenhausen sind alter Salzburgischer Adel. Wie man sagt, direkte Nachkommen von einem Erzbischof, der den Kindern seiner Haushälterin in Wien Namen und Titel zu verschaffen wußte. Dem Verdienste seine Krone.«

Etelka schwieg. Auch ihr war es ja zweifelhaft, ob Eberhard von Waldburg-Immenhausen, Graf und Rittmeister bei den Leibulanen, dem sie schon mehr Avancen als gut war gemacht hatte, sich jemals zu einem Antrag entschließen würde, bei ihr, bei einer Seliger, trotz all der Millionen des Vaters. Am Ende gab es doch auch noch christliches Kapital genug, mit dem sich ein Mann wie dieser Graf arrangieren konnte.

Sie trat an das Fenster und klopfte nervös wider die Scheiben.

Eine trübe Stimmung überkam sie, und plötzlich, als wenn sie ihren Gedanken eine andere Richtung geben wollte, wandte sie sich an ihren Bruder Leo mit den Worten: »Ich begreife nicht, Leo, daß Frau von Giloty Mama und mich noch nicht zur Teilnahme an dem Winterfest des Krippenvereins aufgefordert hat. Das ist doch regelmäßig in jedem andern Jahre geschehen?«

»Du meinst, weil die ganze Garnison immer dahin kommt, und weil der Graf bei dem Feste eine Hauptrolle zu spielen pflegt,« lautete Leos grausame Antwort. »Ach nein, Telkelchen, die Verhältnisse liegen in diesem Jahre anders. Der Krippenverein setzt sich doch zum großen Teil aus den Damen der hiesigen Regimenter zusammen, und die Leibulanen sind doch in Sachen des gesellschaftlichen Lebens das führende Regiment, über das auch Frau von Giloty nicht hinauskann. Hättest du nun wie ich in den letzten Jahren die Rang- und Quartierliste studiert, dann wüßtest du, daß der tolerante Oberst von Bredow durch einen aus dem Osten stammenden Freiherrn von Kolitzko ersetzt worden ist. Dem Kolitzko – der Name lautet ja schon so polnisch – geht der Ruf eines großen Antisemiten vor dem Herrn voraus. Er macht keinen Unterschied zwischen dem Westen und dem Osten, nicht einmal einen zwischen Berlin und Inowrazlaw, und so hält er von seinem Regiment alles fern, was, wie er sich ausdrückt, nach Knoblauch stinkt und auf Plattfüßen durch dieses schöne Leben geht. Darum bin ich bei dem Regiment nicht angekommen, und darum hat euch Frau von Giloty keine Einladungen mehr für das Winterfest des Krippenvereins geschickt, weil nicht Frau von Giloty, sondern Frau Oberst von Kolitzko das ausschlaggebende Wort zu sagen hat.«

Etelka, die über Leo wütend war, weil er ihr die Wahrheit gesagt hatte, fragte nun ganz unvermittelt: »Was macht denn die Feretti, Leochen?«

Dieser schwieg, und Etelka fuhr fort:

»Die ganze Stadt weiß doch, daß sie seit drei Monaten deine Maitresse ist.«

»Was ist denn das wieder, eine Maitresse,« fuhr nun die kleine Edith dazwischen. »Ihr sprecht immer so dumme Sachen, die ich nicht verstehen kann.«

»Erzschaf,« lautete nun Etelkas Antwort. »Eine Maitresse ist eben eine Maitresse, so wie – na so wie die Mama und der Prinz von Trachenstein – weißt du es jetzt – so sind die Feretti und Leo. Davon haben wir neulich in unserem englischen Kränzchen gesprochen, und Hannah Ehrlich, die sich doch für unseren Leo interessiert, hat das sehr apart gefunden, weil doch die Feretti Italienerin und erste Dame im Corps de ballet ist. Ausländerinnen und Damen vom Theater werden ja in unseren Kreisen immer für sehr apart gehalten.«

Das Gespräch wurde von dem eintretenden Diener unterbrochen, der den Besuch des Prinzen von Trachenstein meldete.

»Führen Sie ihn doch gleich hinauf in den ersten Stock zu der gnädigen Frau,« sagte Etelka, »sie hat Migräne und ist in ihrem Schlafzimmer. Was sollen wir hier mit dem Prinzen von Trachenstein?«

»Wie Sie befehlen, gnädiges Fräulein.«

Lautlos wie er gekommen, entfernte sich der herrschaftliche Diener.

»Dieses Volk, das auf Filzpantoffeln durch die herrschaftlichen Häuser über die hohen Smyrnas schleicht,« brummte Leo vor sich hin, »dieses Volk pflegt über die Interna besser unterrichtet zu sein als der Hausherr und die Hausfrau zusammengenommen. Ich hörte einmal einen, der renommierte, wenn er angetrunken war, von einer Warze, die seine Gnädige, eine Gräfin von Rosenheim, an einem nicht näher zu bezeichnenden Körperteil gehabt haben soll.«

»Pfui Leo,« rief nun Etelka Entrüstung heuchelnd und doch sichtlich interessiert. »Du wirst gemein. Aber das kommt davon, wenn man auf der Hintertreppe verkehrt und schon mit siebzehn ein Verhältnis mit der Kammerjungfer seiner Mutter gehabt hat!«

»Worauf ich mir nicht wenig einbilde, Telkelchen! Ich war damals noch Unterprimaner, und alle meine Mitschüler beneideten mich um meine ersten auf dem Felde der freien Liebe verdienten Sporen!«

»Und das Consilium abeundi war die Folge, he, he,« – ärgerte ihn Etelka weiter – »und dann deine Reise nach Chaux de Fonds in das Institut des Pfarrers Colin, wo es keine Kammerjungfern und keine emanzipierten Mütter gab.«

»Wenn du wüßtest, wie wir uns in La Chaux de Fonds amüsiert haben, Telkelchen, und dem Herrn Pfarrer mit seinen eigenen Töchtern ein Schnippchen schlugen. Jugend hat eben keine Tugend. Darf ich dir noch eine Zigarette anbieten, ich rauche nämlich auch noch eine.«

Nun schmauchten sie beide zur Versöhnung darauf los.

Die kleine Edith saß schmollend in der Ecke. Endlich brachte sie schluchzend hervor:

»Aber das geht doch nicht, Telka, daß du den Prinzen durch den Diener einfach schickst in das Schlafzimmer von der Mama!«

»Mauschle nicht, Edith,« brauste nun Etelka mit einem Male auf. »Das ist das Schlimmste, was du dir angewöhnen kannst. Ich sage dir, mauschle nicht und stelle die Worte richtig, Mama und ich haben es dir schon hundertmal verboten.«

»Ja, Etelka hat ganz recht,« sekundierte Leo, »wenn du so fortfährst, Edith, dann machst du dich in der guten Gesellschaft unmöglich und dann kannst du noch trotz deiner Millionen mit deinem Gemauschel an Davidchen Mandelbaum hängen bleiben!«

Das war der Kleinen denn doch des Guten zuviel. Tränen in den Augen verließ sie das Billardzimmer und flüchtete sich hinauf in den zweiten Stock in ihr Mädchenstübchen, wo sie sich von Herzen ausweinen konnte.

Leo behauptete in das Wiener Café zu müssen, um die Rezensionen in, den Berliner Blättern zu lesen. Vorgestern sei eine große Premiere im Deutschen Theater gewesen, von deren Erfolg oder Mißerfolg er sich unterrichten wolle.

So blieb Etelka allein, sie zog sich in die dem Billardzimmer benachbarte Bibliothek zurück und kramte aus dem unteren Teil des Bücherschrankes, wo die nicht eingebundenen Romane standen, Zolas Nana hervor. Die Szene, in der die nackte Nana auf dem Rücken des Ministers reitet, mußte sie noch einmal lesen. Sie hatte ihr zu ausgezeichnet gefallen.

Unterdessen war Prinz Egon von Trachenstein die Treppe zum ersten Stockwerk der Villa hinangestiegen, wo die Gemächer der gnädigen Frau lagen. Den kostbaren Nerz legte er im Vestibül auf eines der hier stehenden Taburetts. Dann trat er vor den über der Toilette hängenden großen Kristallspiegel venezianischer Arbeit und musterte sein Äußeres.

Eigentlich war er trotz seiner sechsundfünfzig doch noch ein schöner Mensch. Freilich als alter Herrenreiter, der er in seiner Jugend gewesen, hatte er nicht viel Fett angesetzt, und der verdammte Anfall, den er im vorigen Sommer gehabt hatte, dessen Charakter die Ärzte nicht erklären konnten oder wollten, hatte seine Spuren zurückgelassen. Sein Gang war seit jenem Tage ein wenig schlotternd geworden, und die rechte Seite der Unterlippe wollte sich nicht mehr in ihre normale Lage bringen lassen.

Aber der mit allen Mitteln der Kunst gepflegte und ebenholzschwarz gefärbte Vollbart deckte diesen Mangel zur Not noch zu. Daß die rabenschwarzen Haupthaare ebenso wie die beiden Reihen blendend weißer Zähne der Kunst des Coiffeurs und des Zahntechnikers ihre Entstehung verdankten, hätte wohl auch das Auge eines Kenners kaum erraten, so paßte alles ineinander und so trefflich war die Natur in diesem Falle nachgeahmt worden.

Prinz Egon von Trachenstein war mit der Musterung seiner äußeren Erscheinung in dem Spiegel des Hauses Seliger durchaus zufrieden und er wäre glücklich gewesen, wenn er sich mit dem inneren Werte in den Taschen seines funkelnagelneuen, natürlich noch nicht bezahlten Gesellschaftsanzugs ebenso einverstanden hätte erklären können.

Aber du lieber Gott! Vollkommen war eben nichts auf dieser besten aller Welten, und so mußte er, der Sproß eines souveränen Hauses, dessen ältester Bruder mit der Herrschaft auch alles andere in die Tasche gesteckt hatte, schon zusehen, wie er in standesgemäßer Weise der ewigen Leere seines Portefeuilles einigermaßen auf die Sprünge half.

Von der Schönheit seines äußeren Menschen waren die anderen, vor allem die Angehörigen des schwachen Geschlechtes, weit weniger überzeugt, als Prinz Trachenstein selber. Denn Dienstmädchen und Kammerkätzchen, denen er alter Kavaliergewohnheit gemäß in Backen und Arme zu kneifen pflegte, machten einen weiten Umweg um Seine Hoheit, seitdem einmal eine eine wertlose Münze des Kirchenstaates an Stelle eines Zweimarkstückes aus seiner fürstlichen Hand erhalten hatte, und sein einziger Trost war und blieb die dicke Hilde, wie er sie im Klub und im Kreise seiner Intimen schamlos nannte, mit der er einst als junger Leutnant ein Verhältnis gehabt hatte, und die dann auf einmal die reiche Frau Seliger geworden war.

Hilde liebte ihn noch, und dieser Liebe hatte er es zu verdanken, daß er nicht längst unter Kuratel gestellt und von seinen einflußreichen Verwandten in einer Kaltwasserheilanstalt untergebracht war. Denn seine Hilde fand Mittel und Wege, ihn immer wieder, wenn ihm das Wasser bis an den Hals ging, ans Trockene zu ziehen.

Daß man ihn hier so unbehelligt ein- und ausgehen ließ, mußte er in diesem Augenblicke auf einmal denken. Freilich der alte Seliger – scheußlicher Name – der kümmerte sich ja schon seit Jahren nicht mehr um seine blonde und dicke Frau. Das war ja das ewige Jammerlied, das ihm seine Hilde vorzusingen hatte. Der hatte nichts im Kopfe als seine Spekulationen und interessierte sich höchstens für ein halbreifes Gänschen, das ihm gerade über den Weg lief. So ein Gourmet, wie sie in diesen überfütterten Kreisen öfter vorzukommen pflegten, wo man auf ein paar Tausend nicht zu sehen brauchte, so einer, der die Spargeln nur im April und die Schoten nur im Mai aß.

Aber schon um des Scheines willen hätte man doch ein Auge auf ihn werfen sollen. Ob man ihn wirklich mit seinen sechsundfünfzig Jahren für so ganz ungefährlich hielt, für einen alten Onkel, der die Händchen streichelt und sich die Filzpantoffeln reichen läßt. Ihn, den alten Lebemann, der so manche nette Chose mit den kleinen Mädchen hinter sich hatte, der trotz seines fürstlichen Namens und trotz der Verwendung seines regierenden Bruders einst seinen Abschied hatte nehmen müssen wegen einer tollen Kiste, die er in dem Nest von Garnison in seiner Wohnung in Szene gesetzt, bei der die kleinen Mädchen im Evakostüm den Wein kredenzt hatten, eine schwarze Maske vor dem niedlichen Gesichtchen, und wo sich jeder Kamerad die Seine nach den Vorzügen des Körpers ohne Rücksicht auf ein schönes oder häßliches Frätzchen hatte wählen müssen.

Prinz Trachenstein kicherte in sich hinein, das seltsame, fast unheimliche Kichern, das er seit seinem Anfalle vom vorigen Sommer an sich hatte, seitdem die Beine schlotterten, und seitdem die rechte Seite der Unterlippe die falschen Zähne nicht mehr bedecken wollte.

Ob man im Hause Seliger ihn, den alten Onkel, wirklich für so ganz ungefährlich hielt?

Diskret pochte er an die ihm wohlbekannte Tür des Boudoirs der Gnädigen, und ein mit schwacher Stimme geflüstertes »Herein« belehrte ihn darüber, daß Frau Hilde Seliger wieder einmal einen ihrer berühmten Migräneanfälle haben müsse, eine Krankheit, die ihm die Erreichung seiner Ziele jedesmal wesentlich zu erleichtern pflegte.

Denn die Migräne versetzte Hilde in eine weiche Stimmung, unter ihrem Einflusse fühlte sie sich als eine alternde, von ihrem Manne und ihren Kindern vernachlässigte, von Gott und den Menschen verlassene Frau, die der stützenden Hand eines liebenden Freundes, dem sie sich nicht dankbar genug erweisen konnte, doppelt und dreifach bedurfte.

In dem kleinen Boudoir, in dem Frau Seliger sich anzukleiden und die Morgenstunden zu verträumen pflegte, entledigte sich Prinz Trachenstein der neuen hellgelben Glacehandschuhe und stellte den Zylinder auf das in der Mitte des Raumes stehende Mahagonitischchen, an dem die Herrin des Hauses den Frühtee einzunehmen pflegte, wenn sie ihre Migräne nicht dazu zwang, dieses wichtige Geschäft im Bett zu erledigen.

Lange haftete das Auge des Prinzen auf dem mit gelber Seide und echten Brüsseler Spitzen dekorierten Toilettentische, dessen raffinierte Ausstattung die Theaterprinzessin von anno dazumal auf das deutlichste verriet.

O, diese Puderquasten und Schminktuben, diese Massage- und Frottierinstrumente, von der Rolle zum Glätten der Falten an den Schläfen und auf den Wangen bis zu den Elfenbeinstiften, mit denen die Nägel gereinigt und mit rosiger Paste aufgefrischt wurden!

Wie manche Nacht aus froher Jugendzeit wurde bei diesem Anblick wach in der Seele Trachensteins, der einst ein gern gesehener Gast hinter den Kulissen des Hoftheaters gewesen in den Garderoben, wo es manches Toilettengeheimnis zu erspähen gab, und wo das Kennerauge des Mannes von Welt in Anspruch genommen wurde, ob sich das Flitterröckchen der Ballerina nicht noch ein ganz klein wenig kürzer schürzen lasse. Ach ja, das waren noch Zeiten gewesen, da die Mutter des jetzt regierenden Bruders, seine Mutter, noch am Leben war, und die Schulden des Jüngsten, ihres Lieblings, immer wieder glatt bezahlt worden waren. Aus dem Nebenzimmer ertönte Frau Seligers schwache Stimme:

»Aber so komme doch herein, Egon! Ich bin so schwach, ich bin so krank. Ich fühle deine Nähe, Geliebter, die mich erfrischt und die mir neue Kräfte gibt, und du kommst nicht.«

Aus dem angenehmen Traume einer schöneren Vergangenheit in die rauhe Gegenwart versetzt, entschloß sich Trachenstein endlich, das Schlafzimmer Frau Seligers zu betreten.

Es war keine angenehme Sache. Der scharfe Duft, der sich aus Moschus und Patschuli mischte und den Schweißgeruch der fetten fünfundvierzigjährigen Blondine kaum verdeckte, reizte ihn jedesmal zum Husten und benahm ihm den Atem. Und der Anblick, der hier seiner wartete, irritierte ihn womöglich noch mehr als dieser Geruch.

Aber was war zu machen? Hilde und ihre unwandelbare Neigung zu ihm waren seine einzige Rettung. Er konnte nicht verhungern, er mußte standesgemäß leben, und seine Passionen spielten ihm an jedem neuen Tage einen neuen Streich. Also en avant zur Attacke, sagte er sich, wenn es auch nicht mehr die schöne Hilde aus den Leutnantstagen vor Jahren war.

Als Trachenstein eintrat, hatte sich Hilde halb im Bett aufgerichtet. Ihr durch ein starkes Doppelkinn verunziertes Gesicht war auffallend gerötet, und unter der seidenen Decke, die in dem stark geheizten Zimmer allein ihren Körper bedeckte, traten die unschönen Formen der fettgewordenen Genießerin des Lebens häßlich hervor.

»Egon,« begann sie wieder mit matter Stimme, »gib mir deine Hand, Egon, damit ich mich aufrichten kann. Ich fühle mich so schwach und so elend, als ob eine Zentnerlast auf mir läge, und meine Pulver helfen mir heute gar nicht.«

Man sah dem Prinzen die Überwindung an, mit der er sich dem Bette näherte und seinen Stuhl dicht neben das Lager Frau Seligers rückte. Zärtlich streichelte er die weiße, kleine und fette, mit protzigen Brillantringen bedeckte Hand, die Hilde ihm reichte.

»Ach, das tut wohl, das tut wohl,« sagte sie leise, »sich doch noch von einem Menschen auf der wehen Welt in all seiner Verlassenheit und in all seinem Elend geliebt zu wissen. Seliger vernachlässigt mich in der schamlosesten Weise, Er kennt nichts als seine Geschäfte, er ist ein Barbar, und die Kinder kümmern sich nicht um mich. Da habe ich denn niemanden auf der weiten, weiten Welt, als dich, Egon, den Freund meiner Jugend, der auch der alternden Frau sein Interesse und seine Liebe bewahrt hat.«

Ihr diese Behauptung zu bekräftigen, führte Prinz Trachenstein die kleine, nach Essence de violette duftende Hand an die Lippen und küßte sie galant.

»Wo hast du dir denn wieder diesen Anfall geholt, liebe Hilde?« fragte er teilnahmsvoll. »Ich kann dir den Vorwurf nicht ersparen, daß du des Abends zu viel ißt und dir am Tage zu wenig Bewegung machst. Wenn du das Haus verläßt, fährst du immer im Wagen, liebe Hilde, und das ist doch bei deinem Körperumfang sicher nicht das Richtige.«

»Fängst du auch noch mit mir an?« klagte sie, »und Seliger, der Barbar, sagte neulich zu mir: Wenn du Steine klopfen und dein Brot verdienen müßtest, wärst du gesund wie ein Fisch im Wasser. Und nun fängst du auch mit mir an, Egon! Das habe ich doch nicht um dich verdient. Es sind doch meine schwachen Nerven, die mich so weit heruntergebracht haben. Neurasthenie, wie auch im vorigen Sommer der Sanitätsrat in Marienbad gesagt hat.«

»Ich will dir ja nur zu deinem Besten raten, liebste Hilde,« wandte Trachenstein dagegen ein. »Wo bist du denn gestern abend gewesen?«

»Im Theater, Egon. Man gab so ein modernes Stück, weißt du, so ein Stück, vor denen ich das reine Gruseln habe. Nichts für das Gemüt, keine ideale Liebe, keine reinen Gefühle, wie sie die Kunst und das Theater erst adeln. So eine Sache von lauter unlauteren und unsauberen Verhältnissen, und ich bin doch nun einmal ideal veranlagt; und lebe für alles, was wahr, edel und schön ist – das hat mich sehr angegriffen.«

»Und nach dem Theater?« fragte Trachenstein weiter.

»Da habe ich eine Kleinigkeit im Römischen König gegessen und bin dann sofort nach Hause gefahren.«

»Hummersalat und Gänseleber und Makronentorte mit Sahne, wenn ich richtig vermute,« sagte der Prinz nun vorwurfsvoll. »Du darfst wirklich nicht gegen deinen eigenen Körper wüten, Liebste.«

»Und du, was hast du gestern abend gemacht, Egon?« begann nun Frau Seliger, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.

Das war ihm gerade recht, wenn sie selber die ihn schon die ganze Zeit beschäftigende Frage aufbrachte.

»Ich?« sagte er gedehnt. – »Wo soll ein alter Junggeselle wie ich, der keinen Menschen mehr auf der weiten Welt hat, seine Abende wohl vollbringen? – Im Klub bin ich gewesen, Hilde.«

»Und hast wieder gespielt?« fragte sie.

»A bah,« rief er aus, »gespielt, was man so nennt gespielt – hab' das Glück mal versucht – ist mir aber nicht hold gewesen die Dame Fortuna – dann bin ich früh schlafen gegangen.«

Lauernd ruhten die Augen des Prinzen auf Frau Seligers Gesicht. War der Augenblick günstig oder nicht? Sollte er es wagen? Heute schon wieder wagen, nachdem sie ihm in der vorigen Woche erst mit einer respektablen Summe! – Und wieviel? – Das alles wollte er aus diesen Augen lesen, und deshalb sagte er, ehe er auf den Kernpunkt seines ganzen Besuchs einging: »Liebe Hilde – du mußt dich heute in deiner Krankheit sehr einsam und verlassen gefühlt haben!«

Tränen des Mitleids mit sich selber und mit ihrem grausamen Schicksal traten in ihre schönen blauen Augen, und voll Wehmut kam es von ihren Lippen:

»Ach ja, wenn wir Frauen alt werden, dann fällt ein Freund, nach dem andern von uns ab. Selbst der eigne Mann braucht nicht mehr nach uns zu fragen. Wenn ich dich nicht hätte, Egon!«

Sie preßte seine Hand in der ihren und führte sie dann an ihren vollen Busen in die Gegend des Herzens, um ihn ihrer unwandelbaren Liebe und Dankbarkeit zu versichern. Und da sagte er denn das entscheidende Wort:

»Liebe Hilde, ich will dir keine Komödie vorspielen, ich will meine Fehler und Sünden nicht beschönigen. Ja, ich bin wieder leichtsinnig gewesen, ich bin in meinen alten Fehler der mangelnden Vorsicht verfallen. Ich habe gestern abend wieder bedeutende Verluste im Bakkarat gehabt. Wenn du mir nur für einen Augenblick mit fünftausend –«

Nun war es heraus.

Einen Moment schwieg sie und sah ihn entsetzt an. Dann sagte sie weiter nichts als:

»Willst du mir meine Schatulle herüberreichen, sie steht in der obersten Schublade des kleinen Waschschrankes. Ich habe den Schlüssel hier auf dem Nachttisch.«

Als er die Schatulle holte, reute es ihn, daß er nicht zehntausend gesagt hatte. Wenn er das gewußt hätte, daß sie heute so weichherzig und so wehleidig war!

»Aber sei vorsichtig, Guter, Bester, einziger Freund,« bettelte sie, während er die fünf Scheine zusammenfaltete und sie in seiner bis auf den letzten »blauen Lappen« geleerten Ledertasche barg.

Rascher, als es in diesem Falle der gute Ton und die Höflichkeit zuließen, empfahl sich Prinz Trachenstein von seiner freigebigen Gönnerin. Der scharfe Geruch in dem Schlafzimmer der fetten Blondine war ihm nachgerade unerträglich geworden, seinen Zweck für heute hatte er ja erreicht, und so drückte er denn nicht ohne sichtliches Widerstreben einen Kuß auf die ihm von Hilde zum Abschied dargereichten vollen Lippen und bemerkte noch in sanftem Tone:

»Schone dich nur ja recht, meine Liebe, damit der Anfall rasch vorübergeht. Es wäre doch jammerschade, wenn dich jetzt am Beginn der Gesellschaftssaison deine Krankheit ans Haus oder gar ans Bett fesseln würde.«

In tiefem Mitgefühl mit sich selber und ihrem leidenden Zustand schluchzte nun Frau Seliger:

»Ach Gott, Egon, ich bin eine alte Frau. Was kann die Welt mir noch gewähren? Man wird mich in den Salons und in den Ballsälen diesen Winter schwerlich vermissen.«

Lächelnd drohte er mit dem Finger:

»Na na,« meinte er schäkernd, »deine Freunde werden schon nach dir fragen, und neulich in dem Changeant aus hellem Samt hast du trotz allem manche viel später erblühte Rose in den Schatten gestellt.«

Das gefiel ihr. Sie wurde ganz munter. Wenn er das sagte, er, der anerkannte Kenner der Frauen, der berühmte Viveur, von dem man sich immer noch Wunderdinge erzählte, da mußte schon was Wahres dran sein. Denn Prinz Trachenstein war ein Mann von Ehre, ein Kavalier, kein gemeiner Schmeichler, wie sie in den Salons der Welt die jüngeren und älteren Damen der Hautefinance zu Dutzenden wie die Schmeißfliegen umsummten.

Einen Moment war sie ganz glücklich. Aber als die Tür des blauen Boudoirs hinter ihm ins Schloß gefallen war, packte sie plötzlich wieder das Gefühl ihrer Verlassenheit und Einsamkeit, und ganz unvermittelt schluchzte sie wie ein kleines Kind darauf los.

Da trat die Zofe in das Zimmer und meldete, daß Herr Sanitätsrat Dr. Sartorius, den man auf Befehl der gnädigen Frau vor einer Stunde telephonisch angerufen habe, da sei und seine Aufwartung zu machen wünsche.

Schneller, als man es bei Frau Seligers Körperfülle hätte vermuten sollen, fuhr diese im Bett in die Höhe und rief:

»Gott, Babette, wie sehe ich denn aus? Kann ich mich denn so vor dem Sanitätsrat sehen lassen? Meine Haare sind ja in einem ganz desolaten Zustande! Reichen Sie mir rasch den Spiegel herüber. – So – so – und dann die Büchse mit dem rosa Puder, drüben steht sie im Boudoir auf dem großen Toilettentisch, schnell, schnell, Babette, wie sehe ich denn aus?«

Babette brachte das Gewünschte, und mit ihrer kunstgerechten Hilfe gelang es Frau Seliger, das reiche blonde Haar, durch das sich nur ganz wenige Silberfäden zogen, rasch in Ordnung zu bringen und den Wangen mit Hilfe der Puderquaste eine rosige Farbe zu verleihen.

Die Zofe hatte die zu dieser Handreichung notwendigen Utensilien eben in dem blauen Boudoir wieder an ihren Platz gebracht, als Sanitätsrat Sartorius eintrat.

Ein jovialer Sechziger im langen schwarzen Gehrock, mit einem rosigen und runden Gesichte, die goldene Brille auf der etwas zu breiten Nase, den unvermeidlichen Spazierstock mit der silbernen Krücke, auf die er sich während seiner Konsultationen immer zu stützen pflegte, in der Hand.

Er war beim raschen Hinansteigen der Treppen ein wenig außer Atem geraten und hielt nun das große rotseidene Taschentuch pustend vor den Mund.

Es dauerte eine ganze Weile, bis er zu Worte kam, denn Dr. Sartorius litt schon seit einigen Jahren, obwohl er das niemals zugeben wollte, an Asthma. Endlich war er so weit, in Ruhe sprechen zu können und, seinen Stuhl dicht an Frau Seligers Bett setzend, die schönen hellen Augen teilnehmend auf seine Patientin geheftet, begann er nun:

»Na, na, wo fehlt es denn heute wieder, meine liebe gnädige Frau? Das Wetter läßt sich in diesem Winter auch gar zu schlecht an. Heute haben wir einen infamen Nordwest bei einer Temperatur von kaum zwei Grad über Null. Und dabei der Nebel und die Feuchtigkeit der Luft. Da soll einer gesund bleiben! Alle Hände hat man voll zu tun. Das ist heute meine einunddreißigste Visite. Alles liegt an Influenza oder Grippe. Haben Sie sich auch der kalten Luft zu sehr ausgesetzt, gnädige. Frau?«

Frau Seliger, die von dieser neuen Teilnahme, die man ihr entgegenbrachte, wieder ganz gerührt war, richtete sich nun halb im Bett in die Höhe und lispelte mit schwacher Stimme: »Ach nein, mein liebster Sanitätsrat, Sie wissen ja mein altes Leiden, die Neurasthenie, wegen deren Sie mich im vorigen Sommer nach der Kur von Marienbad in die reine Höhenluft von St. Moritz geschickt haben. Damals war es in der Tat viel besser, droben in dem schönen St. Moritz, wo die Luft so rein ist und so stärkend und so klar. Aber seitdem ich wieder hier in der Stadt bin, läßt mich's nicht mehr, liebster Herr Sanitätsrat. Ich fühle, daß meine Nerven bald am Ende ihrer schwachen Kraft angelangt sein werden.«

»Lassen Sie mich einmal den Puls fühlen, gnädige Frau.«

Mit einer matten Bewegung reichte Frau Seliger dem Sanitätsrat den dicken, auch im Bett mit einem Perlenbracelet geschmückten Arm, und Sartorius zählte, die Uhr ziehend, gewissenhaft die Schläge.

»Ein ganz klein wenig Fieber scheint mir ja vorhanden zu sein, gnädige Frau. Ein ganz klein wenig Fieber. Ich werde Ihnen drei Migräninpulver verschreiben, von denen Sie je eines alle drei Stunden in einer Oblate nehmen werden. Das wird sie wesentlich beruhigen und zur Besserung Ihres Befindens beitragen.«

»Schmecken die Pulver sehr schlecht?« fragte Frau Seliger ängstlich.

»Sie nehmen sie ja in der Oblate, meine Gnädigste. Sie werden so gut wie nichts davon schmecken, wenn Sie die Pulver vorsichtig nehmen, so daß nichts auf die Zunge fällt. Ihre Zofe wird ja verstehen, wie man die Pulver reicht. Man tunkt die Oblate in ein Glas Wasser, legt sie dann vorsichtig auf einen Eßlöffel und schüttet das Pulver darauf. Dann faltet man die nassen Enden der Oblate übereinander und nimmt das Ganze mit einem Schluck Wasser.«

»Haben Sie gut zugehört, Babette?« fragte Frau Seliger.

»Jawohl, gnädige Frau!« lautete die Antwort der Zofe. »Es ist ja nicht das erste Mal, daß ich Ihnen die Pulver reiche.«

»Aber die andern hatten einen andern Namen, Babette,« warf Frau Seliger ein. »Nicht wahr, Herr Sanitätsrat, was Sie mir damals verschrieben, ist Aspirin gewesen, nicht, so hieß es doch? Und jedes Pulver hat natürlich seine Eigentümlichkeiten und will speziell behandelt sein.«

»Sie haben recht, gnädige Frau,« sagte Sartorius mit ernstem Gesicht. »À propos. Würden Sie mir einmal die Zunge zeigen?«

Nicht ohne leises Widerstreben willfahrte Frau Seliger diesem Wunsche, und Sartorius meinte:

»Ein ganz klein wenig belegt. Etwas Califig wäre da am Platze, die Verdauung ist doch nicht wesentlich gestört?«

Frau Seliger wurde puterrot wie ein junges Mädchen, das der Arzt zum ersten Male im Leben die diskretesten Dinge ausfragt, und schüttelte nur leise mit dem Kopfe.

»Von dem Califig nehmen Sie dann zweimal am Tage einen Eßlöffel voll, gnädige Frau. Ich kann wohl hier schreiben?«

Sartorius setzte sich an den vor dem Fenster des Schlafzimmers stehenden eleganten Damenschreibtisch im Stile Louis' XV., an dem Frau Seliger, wenn sie sich nicht wohl fühlte, ihre Korrespondenz erledigte, und schrieb, sich mit seiner Patientin unterhaltend, die beiden Rezepte.

»Haben Sie denn auch das scheußliche Stück gesehen, das sie jetzt im Schauspielhause geben, Herr Doktor, das neue?« fragte Frau Seliger. »Es hat einen nordischen Namen und ist von einem, na, wie heißt er denn –«

»Meinen Sie Ibsen, gnädige Frau?«

»Nein, ein anderer, doch egal. Es ist scheußlich, lauter unsaubere Verhältnisse und unmoralische Dinge. Man kann ein junges Mädchen heutzutage wirklich nicht mehr in das Theater schicken. Doch damit ich's nicht vergesse, Herr Doktor, meine Freundin, Frau von Giloty, sagte mir neulich, daß die Luft von Klosters noch stärkender für die Nerven sei, als die von St. Moritz. Wie wäre es mit Klosters im nächsten Sommer, natürlich als Nachkur für Marienbad, Herr Sanitätsrat?«

»Ich habe für die gnädige Frau an ein stärkendes Seebad gedacht,« erwiderte Sartorius. »Vielleicht in der Bretagne oder in der Normandie, wenn Trouville nicht zu lärmend wäre?«

»Gehen Sie mir mit Trouville,« wehrte Frau Seliger lebhaft ab. »Das ist ja das Dorado meines Mannes, es wäre mein Tod, wenn er mich begleiten wollte, so fällt mir sein Wesen auf die Nerven.«

Sartorius lächelte.

»Na, es ist ja noch Zeit bis zum nächsten Sommer. Vielleicht läßt sich auch ein stiller Ort an der holländischen oder belgischen Küste verschreiben. Sagen wir Middelkerke oder Zandvoort.«

»Nur nicht zu still, liebster Doktor, auch die Stille kann auf die Nerven fallen, wenn es auch nicht gleich Ostende oder Scheveningen zu sein braucht.«

Sartorius sah nach der Uhr.

»Also drei Pulver, alle drei Stunden eins, und von dem Califig zweimal am Tage einen Eßlöffel voll. Ich werde mir die Ehre geben, morgen noch einmal nach dem Befinden zu fragen, gnädige Frau.«

Während Frau Seliger den Besuch des Arztes empfing, amüsierte sich Etelka in dem Billardzimmer köstlich über den Prinzen Trachenstein. Der alte Onkel, wie die Mädchen im Hause Seliger den Prinzen nannten, der auch mal gerne was Junges sah, hatte es nicht unterlassen können, ehe er aus dem Hause ging, im Parterrestock einmal anzuklopfen. Hier war ihm die übermütige Etelka entgegengetreten und hatte ihn gefragt, ob sie ihm nicht mit einem Glase Marsala dienen könne. Trachenstein, der grundsätzlich nichts ausschlug, war Seligers lustiger Tochter in das Bibliothekzimmer gefolgt. Nun saß er hier der schlauen Brünette gegenüber und ärgerte sich weidlich, wie sich das helle Mädel über ihn lustig machte.

Nachdem er das zweite Glas Marsala auf Etelkas spezielles Wohl geleert hatte und der naheliegende Gesprächsstoff über die jüngste Première und die bevorstehende Ballsaison erledigt war, fragte Etelka auf einmal ganz unerwartet:

»Sie besuchen doch auch unsere Bälle, Hoheit?«

Ein schmerzliches Lächeln zuckte um Trachensteins Lippen und verzog die schon ohne dieses Lächeln herabhängende Unterlippe. Selbst der Arm begann schon zu zittern, wenn er nach dem Glase griff, von dem schlotternden Gange ganz abgesehen, und da sollte er Bälle! Das Teufelsmädel, was die nur vorhatte, solche verfängliche Fragen an ihn zu richten.

»Ich dachte mir, Hoheit,« fuhr Etelka in aller Ruhe fort, »Hoheit sind doch, so viel ich weiß, unverheiratet, und ich meine, ein Prinz adeligen Geblüts müßte doch bei unserer Damenwelt die schönsten und besten Aussichten haben. Wenn ich mir da so vorstelle, so über Nacht Hoheit und Prinzessin von Trachenstein zu werden, in den Gotha hineinzukommen, herrlich, herrlich!«

Trachenstein glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen. Ein junges Mädchen aus der Hautefinance mit einer Mitgift von – von – wer wußte denn von wieviel – sagte ihm, dem Sechsundfünfzigjährigen, mit den schlotternden Beinen, mit dem gefärbten Vollbart, der Perücke und den falschen Zähnen solche Dinge? Aber freilich, man sah's ihm ja nicht an. Und sich stolz emporreckend, den Rest seiner männlichen Kraft zusammennehmend, meinte er:

»Ach ja, ausgeschlossen ist es ja ganz und gar nicht, daß ich mich noch einmal verheiraten werde, gnädiges Fräulein. Aber unsereiner hat doch auch seine Ideale, und wenn ich könnte, wie ich nicht kann, d. h. wenn die Verhältnisse einmal günstiger für mich werden, was durchaus nicht ausgeschlossen ist, durchaus nicht, dann müßte es eine arme Adelige reinen Geblütes sein, der ich willig Hand und Herz schenken würde, meine Gnädige!«

Etelka schüttelte sich vor Lachen, und Prinz Trachenstein sah ganz verblüfft drein.

»Eine arme Adlige edlen Geblüts,« wiederholte sie langsam, »einen solchen Idealismus hätte ich allerdings nicht hinter Ihnen gesucht, Hoheit.«

»Man täuscht sich manchmal in den Menschen,« erwiderte er mit philosophischer Ruhe. »Wenn es uns gelingt, die große Sache durchzusetzen – die noch vorhandenen Ersatzansprüche an den Fiskus für die annektierten Teile unsers souveränen Landes – dann, ja dann –«

Ganz entzückt schlug er die Augen in die Höhe. »Ja, das sind viele, viele Millionen, mein gnädiges Fräulein, die der Fiskus dann an unser fürstliches Haus zu zahlen hätte, und die Rechtsansichten der größten in- und ausländischen Gelehrten sind in dieser Sache geteilt.«

Da öffnete sich die Tür des Bibliothekzimmers, und Seliger erschien auf der Schwelle.

»Hoheit erzählen mir soeben von den Ersatzansprüchen, die sein fürstliches Haus bei dem Fiskus noch geltend zu machen hat,« lachte Etelka. »Vielleicht kannst du ihm da einen praktischen Rat erteilen, Papa.«

»Es wäre mir lieb, Etelka,« sagte nun Seliger, »wenn du mich mit S einer Hoheit eine Weile allein lassen wolltest. Ich habe nämlich eine wichtige Angelegenheit mit Seiner Hoheit zu besprechen und bin froh, daß ich Seine Hoheit durch einen Zufall hier getroffen habe.«

»Wie du wünschst, Papa. Auf Wiedersehen, Hoheit.«

Sie reichte Trachenstein die Hand. »Und bonne chance in Dingen der Ersatzansprüche, schon wegen der armen Adligen aus edlem Geblüte, der ich ihr Glück von Herzen gönnen würde!«

Trachenstein hatte sich erhoben. Er war im Zweifel, was er jetzt tun sollte. Daß ihm auch der Zufall diesen Seliger in den Weg führen mußte, in dessen Villa er nur in Abwesenheit des Hausherrn zu verkehren pflegte. Was der nur von ihm wollte, der Börsianer, der Hebräer, dachte er verächtlich in seinem Innern. Ob der ihn am Ende zur Rechenschaft ziehen wollte. Ernst genug dazu sah er aus. Ein Duell! Er mit seinen schlotternden Beinen, wo auch der rechte Arm schon zu zittern begann. Ein Duell mit einem, pfui Deifel, er, Seine Hoheit Prinz Egon von Trachenstein, der Bruder des regierenden Fürsten Heribert, einst Rittmeister bei den Leibulanen, mit einem Seliger von der Börse! Das wäre ein Skandal, Donnerwetter ein Skandal!

Wenn der was von ihm wollte, dann sollte er ihm doch seinen Sekundanten schicken, kommentmäßig, und das Ehrengericht würde ihm schon reinen Wein einschenken, ob sich ein Prinz mit einem Herrn Seliger von der Börse schlägt. Die bürgerlichen Gerichte würden dann die Sache entscheiden. Daß ihm der Zufall den in den Weg führen mußte!

Was sollte er jetzt machen? Hier in der Villa, ihm Auge in Auge. Zum Auskneifen war es doch nun zu spät.

»Darf ich Sie bitten, wieder Platz zu nehmen, Hoheit,« begann Seliger das Gespräch. »Es freut mich in der Tat, daß uns der Zufall heute hier so zusammengeführt hat, da das mir einen Gang in Ihre Wohnung erspart. Ich wollte Sie nämlich in einer wichtigen Angelegenheit um Ihre Vermittlung bitten, Hoheit. Selbstverständlich unter vollster Diskretion, wie das unter Ehrenmännern üblich, und Sie können sich meiner Dankbarkeit versichert halten, Hoheit.«

Bei diesen Worten Seligers ging ein Leuchten über Trachensteins Züge. Also der Jude, der reiche Jude, bedurfte in irgendeiner Sache seiner Dienste, das hörte sich ja ganz anders an als das, worüber er sich eben Sorgen gemacht hatte, ein Duell, ein Skandal, ein Affront.

Fast wohlwollend kam es nun von seinen Lippen:

»Aber ich bitte, Herr Seliger, wenn es irgendwie in meinen schwachen Kräften stehen sollte, dann würde es mir ein Vergnügen sein, Herr Seliger.«

»Es handelt sich zunächst um eine Anbahnung, Hoheit, um den Versuch, Ihren fürstlichen Herren Bruder, Seine Hoheit den Fürsten Heribert, für eine Sache zu interessieren, die in erster Linie für mich und dann aber auch für die Allgemeinheit und für Seine Hoheit den Fürsten von großem Vorteil wäre. Stehen Eure Hoheit in regem Verkehr mit Ihrem fürstlichen Herren Bruder?«

»Passablement,« erwiderte Trachenstein, den ebenholzschwarzen Vollbart mit der weißen aristokratischen Hand streichend, »passablement.«

»Hoheit ist der gegenwärtige Aufenthalt Seiner Hoheit des regierenden Fürsten bekannt?«

»Mein Bruder gedachte den Winter in San Sebastian zu verbringen, weilt aber eben, wenn die Nachrichten der Kreuzzeitung über den Aufenthalt der Fürstlichkeiten richtig sind, in Cannes bei seinem Vetter, einem russischen Großfürsten.«

»In Cannes?«

Einen Moment überlegte Seliger, dann sagte er:

»Würden Hoheit in meiner Sache und natürlich auf meine Kosten nach Cannes fahren, um Seiner Hoheit dem Fürsten ein Schriftstück zur Unterzeichnung vorzulegen, dessen ich zur Gründung einer neuen Aktiengesellschaft bedarf? Es handelt sich um die Konzessionierung eines Bahnbaues, dessen Trace zu einem kleinen Teile durch das fürstliche Jagdgebiet führt.«

Trachenstein spielte den Unnahbaren. Bedenklich zog er die Brauen in die Höhe. Er wußte, daß ihn sein Bruder wohl kaum empfangen würde. Hatte sich dieser doch schon seit Jahren, seit jener Skandalaffäre mit den kleinen Mädchen, in deren Folge er den Abschied erhalten, völlig von ihm losgesagt.

Aber die glänzende Aussicht, den Millionär, den Börsenkönig in seine Hände zu bekommen, war die Veranlassung, daß er erwiderte:

»Sie bringen mich in die größte Verlegenheit, Herr Seliger. Sie wissen, daß ich gerne zu Ihren Diensten bin, aber, ich kann doch in meiner Stellung nicht so ohne weiteres gegen Entgelt den Vermittler spielen.«

Er schwieg einen Moment, dann fuhr er langsam, Seliger unausgesetzt mit den lauernden Blicken betrachtend, fort:

»Aber am Ende ließe sich doch ein Weg finden. Eben sprach ich mit Ihrem Fräulein Tochter darüber, daß unser Haus, daß insonderheit ich noch Ansprüche an den Fiskus wegen der annektierten Teile unseres Landes habe. Ich persönlich bin leider zu arm, die Sache allein bis zu den obersten Gerichten durchzuführen. Wenn nun Sie, Herr Seliger, einen Teil dieser Kosten tragen wollten, dann wäre am Ende eine Form gefunden, unter der ich, natürlich nur unter der Bedingung, daß, falls wir obsiegen sollten, auch Sie einen Teil der vom Fiskus auszuzahlenden Gelder erhalten würden –«

Seliger lächelte. Er kannte den alten Prozeß des Hauses Trachenstein, den längst in allen Instanzen verlorenen, für den kein Finanzier mehr einen Tausender gab, und der nur noch im Kopfe des Prinzen Egon und einer seiner alten Tanten, die im Böhmischen wohnte, spukte.

Fürst Heribert war seinerzeit abgefunden worden. Er hatte als Chef des Hauses unterzeichnet, und für den Anspruch seiner Verwandten zahlte der Fiskus keinen roten Heller mehr. Aber es war ihm lieb, daß Egon von Trachenstein in diesem vermeintlichen Anspruch das Mittel sah, sich in den Dienst seiner Sache zu stellen, und so erwiderte er:

»Meine Angelegenheit ist allerdings sehr eilig, Hoheit. Die Bahn soll schon im Laufe des nächsten Sommers begonnen werden. Ich erkläre mich bereit, Ihren Prozeß zu prüfen und auch Geld in diese Sache zu stecken, aber nur unter der Bedingung, daß Sie auf meinen Vorschlag eingehen, als Äquivalent dafür persönlich bei Seiner Hoheit dem Fürsten in Angelegenheit der Konzession vorstellig zu werden. Also abgemacht. Reisen Sie nach Cannes. Legen Sie Ihrem fürstlichen Herren Bruder das Schriftstück zur Unterzeichnung vor, ich eröffne Ihnen zu diesem Zwecke an der Kasse der Kommerzbank einen Kredit von zehntausend Franks.«

Im Innern frohlockte Trachenstein. Aber er war keiner von denen, die sich von ihrer Freude so leicht überwältigen lassen, und im Bewußtsein, in diesem Moment bei Seliger alles erreichen zu können, sagte er:

»So gerne ich zu Ihren Diensten wäre, Herr Seliger, es wird mir nicht möglich sein, in diesem Moment nach Cannes zu fahren, heute nicht, morgen nicht, übermorgen nicht. Ich will ganz offen sein Herr Seliger. Wir haben heute den vierzehnten. Hier,« er zog ein Papier aus dem Portefeuille, in dem er vorher die von Hilde empfangenen Tausendmarkscheine geborgen hatte, und reichte es Seliger.

Einen Moment zögerte dieser.

»Gut,« sagte er dann, »Hoheit, gut, die Reise nach Cannes kommt mich teuer zu stehen. Aber es muß versucht sein. Das Akzept über fünfzehntausend ist zahlbar am fünfzehnten an den Geldverleiher Jeideles, Moses Jeideles, Brückenstraße 11. Reisen Sie. Jeideles wird sein Geld an der Kasse der Kommerzbank finden, und Sie fahren nach Cannes. Ich erwarte Sie morgen früh um zehn Uhr zu näherer Rücksprache aller Einzelheiten in meinem Bureau.«

Nun hatte er dem Prinzen gegenüber, wie er glaubte, den richtigen Ton wiedergefunden. Höflich aber kühl geleitete er Seine Hoheit nach dem Tore der Villa und reichte ihm beim Abschied herablassend die Hand.


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