Julius Stettenheim
Unter vier Augen
Julius Stettenheim

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Bei dem Anarchisten-Häuptling, genannt Numero Eins.

Ich ging in meinem Zimmer auf und ab und dachte darüber nach, wie merkwürdig es doch sei, daß die Flucht häufiger als der Verbrecher ergriffen werde, da erhielt ich die Nachricht, daß Numero Eins, der angenehme Dynamitbürger, nach Mexiko – o Ironie des Schicksals! – gesprengt worden sei. Ich säumte sofort nicht, ihm einen Besuch zuzufügen. Denn diese Numero Eins ist und bleibt eine interessante Persönlichkeit. Ein Mann, dem keine Luft zu hoch ist, wenn es gilt, das alte England in dieselbe zu sprengen, verdient gewiß, interviewt zu werden. Ich versicherte also mein Leben gegen Flugschaden, machte mein Testament, ließ in meiner Wohnung einen Brief zurück, in welchem ich die Motive meines traurigen Entschlusses in kurzen Worten auseinander setzte, umarmte stumm meine 109 nichts Böses ahnende Wirthin und machte mich auf den Weg.

Ist Numero Eins zu sprechen? fragte ich den Portier.

Derselbe zeigte mit geheimem Grauen auf ein Parterre-Zimmer, auf dessen Thür Nr. 1 zu lesen war. Als ich daselbst eintrat, fand ich eine alte Frau mit der Toilette beschäftigt, obwohl ihr dies nichts nützte, da sie sehr häßlich war.

Trotzdem stieß sie einen lauten Schrei aus.

Wie freut es mich, hub ich an, in dieser Verkleidung den Mann vor mir zu sehen, vor dem Großbritannien zittert.

Ich bin kein Mann! rief die Frau und flüchtete hinter einen Sessel.

Ich weiß, ich weiß, sagte ich höflich. Und doch kann man sich die furchtbare Persönlichkeit, welche als Numero Eins London vom Erdboden fortfegen will, absolut nicht als Weib vorstellen.

Sie sah mich mit fürchterlichen Blicken an und rief bebend: Was fällt Ihnen ein! Sie irren sich in mir! Großbritannien zittert nicht vor mir, und ich will London nicht vom Erdboden fortfegen. Ich kenne London gar nicht.

O, ich verstehe, warf ich ein, daß Sie Ihre Person mit dem tiefsten Geheimniß zu umgeben 110 gezwungen sind, denn England wird kein Mittel unversucht lassen, Ihre Auslieferung zu erzwingen.

Was soll denn England mit mir wollen? Ich habe nichts Böses gethan, ich bin eine harmlose Wittwe! sagte die Dame, indem sie den Klingelzug zu erreichen suchte.

Ich trat ihr in den Weg und lachte: Sie eine Wittwe, ein Mann, der jede Stunde bereit ist, tausend Wittwen in's Werk zu setzen! Sie sind neben Napoleon I. der größte Wittwenfabrikant Europas, sagte ich bedeutend.

Mein Gott! rief die Numero Eins und sank in einen Stuhl.

Nun da ich sah, daß sie sich beruhigte, fand auch ich ruhigere Worte. Ich ehre Ihr Incognito, sagte ich, indem ich einen gemüthvollen Ton anzuschlagen mich bemühte, und daß Sie maskirt sind, finde ich durchaus richtig. Sie können nicht vorsichtig genug sein. Ihre Verkleidung gefällt mir außerordentlich. Wer wie Sie eine größere Auswahl von Morden auf dem Gewissen hat, muß natürlich jeden Augenblick darauf gefaßt sein, daß ihm ein Leid zugefügt wird.

Herr, fuhr Numero Eins auf, wie können Sie sich unterstehen, mir zu sagen, daß ich Morde 111 begangen habe! Ich habe noch keinem Menschen ein Haar gekrümmt, ich –

Sie suchte wieder den Klingelzug zu erreichen, ich sagte aber, daß ich bereits gefrühstückt hätte, und fuhr dann fort: Natürlich haben Sie selbst keine Morde begangen, aber sie doch angeordnet, befohlen, geleitet. Selbstverständlich stellt sich ein Agitator erster Klasse nicht bloß, er läßt umbringen, für derlei niedrige Hausarbeit hat ein Mann wie Sie seine Privathenker, die für gute Bezahlung arbeiten, der Nemesis in den Spieß laufen und dann aufgehängt werden.

Hülfe! schrie Numero Eins.

Natürlich, gab ich zu, unmöglich können Sie Alles allein machen. Ohne Hülfe kann kein Mensch die Welt auf den Kopf stellen, Alles ruiniren und umgestalten. Wären Sie vielleicht so freundlich, mir etwas von Ihren Plänen zu sagen, welche Sie in nächster Zukunft auszuführen gedenken? Soll London wirklich in die Luft fliegen?

Sie sind wahnsinnig! rief Numero Eins.

Dann verzeihen Sie mir meine Neugierde, erwiderte ich. Ich finde es sehr begreiflich, daß Sie über Ihre Pläne nicht jedem Unberufenen etwas mittheilen und daß Sie das tiefste Geheimniß aufrecht erhalten. Aber eine Bitte hätte ich noch. Darf ich sie aussprechen?

112 Wieviel wollen Sie? fragte Numero Eins, indem sie an den Schreibtisch eilte.

Wieviel? fragte ich. Ich wäre mit einem einzigen Portrait zufrieden. Sie haben sich hoffentlich vor Ihrer Flucht photographiren lassen.

Numero Eins warf mir ein Bild mit zitternder Hand auf den Tisch und flüchtete wieder hinter den Sessel. Der vielgenannte Agitator befand sich wirklich in einer hochgradigen Aufregung. Wen könnte das in Staunen setzen? Mich nicht. Niemand. Ich nahm das Bild und blickte es dankbar an. Numero Eins hatte sich also auch in England schon als Frau verkleidet. Die rauhen Züge verrathen aber die furchtbare Persönlichkeit. Welch ein Contrast zwischen dieser und dem sie umhüllenden Costüm!

Nun bat ich, mich zurückziehen zu dürfen.

Numero Eins athmete auf.

Ich ging. Hinter mir wurde sofort der Schlüssel im Schloß umgedreht. Die arme Numero Eins muß in fortwährender Angst leben, überfallen zu werden.

Als ich an dem Portier vorüberging, sagte derselbe zu mir: Was haben Sie denn der alten Frau gethan? Sie war ja ganz aus dem Häuschen!

Bleiben Sie dabei, antwortete ich ihm, für alle Welt muß Numero Eins eine alte Frau sein und bleiben, wenn Sie das Gastrecht ehren wollen.

113 Der Portier brummte etwas in den Bart und schob mich zur Thür hinaus. Das zeigte mir, daß die tiefste Discretion sich für ihn von selbst verstand.

Ich aber ging, glücklich im Besitz eines Bildes, welches die englische Regierung nach den Morden im Phönixpark mit Gold aufgewogen hätte.


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