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Die große musikdramatische Epoche

von der Salome zur Ariadne

Ehe wir einen Blick auf das künstlerische Schaffen, also auf den eigentlichen Inhalt der letzten dramatischen Schaffenszeit in Straußens Leben werfen, sei deren äußerer Verlauf gestreift. Der entscheidende Erfolg der Salome leitete jene, bei einem lebenden Künstler ohne Vergleich dastehenden Ehrungen ein, deren er sich als anerkannt erster Meister seither erfreut. Ungemein förderlich wurde, nach dem Beispiel Londons und Neuyorks, die Einsicht, daß umfassendere Veranstaltungen von mehreren Tagen am besten zum Einleben in seine Sonderart dienten. Man gab Zyklen seiner Tondichtungen, wobei freilich die glänzend einführende Italienische Fantasie und der gewaltige Macbeth oft wegblieben, dazwischen Reihen ausgewählter Lieder, auch wohl einzelne Werke mit Orchester aus seiner Epigonenzeit nebst einem Kammermusikabend mit Streich-, Klavierquartett und Violinsonate. Dramatische Zyklen mit den Opern nach Guntram wurden teils für sich, teils mit diesen Konzertreihen abwechselnd gegeben. Meist lud man Strauß selbst ein, allein, oder doch zum größten Teil, die Leitung zu übernehmen. Straußfeste in der Dauer von drei bis zehn Tagen, meist aber sogenannte Strauß-Wochen, gab es in der Folge in Wiesbaden 1908, Dresden 1909, Frankfurt (mit Guntram) und München 1910, Wien, Krefeld, und im größten Stile im Haag 1911, Stuttgart 1912, Karlsruhe und Berlin 1913. Sie bilden Marksteine im Weg des Meisters auf der Höhe seines Ruhms. Auch an sonstigen Ehrungen fehlte es ihm nicht. Schon im Winter 1907/08 war er nach der Leitung von sechs Salome-Aufführungen in Paris Offizier der Ehrenlegion geworden; am 2. Oktober 1908 erfolgte seine Ernennung zum Königlich Preußischen Generalmusikdirektor, welcher hochtönende Titel freilich kaum mehr für ihn bedeutete als für seine Vorgänger Meyerbeer und Mendelssohn; die im Namen angedeutete Macht hatte einzig Spontini besessen. Durch den Tod Joachims ermöglicht, wie es hieß, erfolgte auch seine Aufnahme als Mitglied der Akademie der Künste in Berlin, März 1909. Am 4. Juni des gleichen Jahres führte er beim Tonkünstlerfest des Allgemeinen Deutschen Musikvereins in Stuttgart, wegen Überbürdung zum letztenmal nach achtjähriger Tätigkeit, den Vorsitz in der Hauptversammlung in seiner ruhig humorvollen Art und wurde unter großem Jubel durch Zuruf zum Ehrenvorsitzenden des Vereins ernannt; an seine Stelle trat Max Schillings. Sein engeres Vaterland ehrte ihn im November 1910 mit der Ernennung zum Ritter des Maximilianordens durch den Prinzregenten von Bayern, zusammen mit dem Bildhauer und Maler Max Klinger und dem Zoologen Richard Hertwig. Im August 1911 kaufte der Bayerische Staat die von Behm geschaffene Büste des Meisters zur Aufstellung in der Münchener Pinakothek; bald darauf wurde eine solche von der Hand Hugo Lederers der Berliner Nationalgalerie geschenkt und fand mit Genehmigung des Kaisers dort Platz. Von Ende Oktober 1908 bis 1. September 1909 von der Hofoper beurlaubt, leitete er zunächst nur mehr die Symphoniekonzerte der Königlichen Kapelle im Opernhaus.

Als Opernschöpfer ging Strauß nicht nur in unzähligen Einzelheiten, sondern ganz im allgemeinen dadurch über Wagner hinaus, daß er nach dessen Vorbild für jedes neue Werk, entsprechend seiner Umwelt, in noch höherem Maß auch einen vollkommen anderen Stil anwandte. In diesem Sinn steht seine Musik in einem ungleich engeren Verhältnis zur Dichtung, als es die frühere Art des Schaffens selbst bei musikdramatischen Meistern, wie Auber, Verdi, Bellini, Meyerbeer, Gounod möglich machte. Von einer »Entwicklung« in der Reihe dieser Werke könnte demgemäß nur auf dem Papier die Rede sein, ohne daß sie in der Sache selbst vorhanden wäre. Schon die Gleichzeitigkeit des in mächtiger Strömung vorüberflutenden symphonischen Gemäldes mit der Unterstreichung jedes Satzes und Wortes in der Salome läßt sich nicht in natürliche Verbindung mit Feuersnot bringen, noch viel weniger mit dem düsteren Riesenmaß der Elektra jene freundliche Symphonik des Rosenkavaliers, die nach Jahrzehnten wieder Klänge aus der Italienischen Fantasie und aus schubertverwandten Jugendarbeiten bringt.

Die Salome komponierte Strauß nach dem von Hedwig Lachmann aus dem Französischen übertragenen Einakter Oskar Wildes, der seit der deutschen Uraufführung in Breslau 1901, dort in der Übersetzung von Dr. Kiefer, unerhörten Erfolg erzielte. Das Buch Wildes brachte ihm der Wiener Dichter Anton Lindner, dessen »Hochzeitlich Lied« er komponierte, mit dem Anerbieten, ihm einen Operntext daraus zu machen. Strauß las das Stück und ging auf den Vorschlag ein. Geschichtliche Werke hatten längst die Vorstellung in ihm genährt, unter den alten Israeliten müßten doch andere und belangvollere Leute gewesen sein, als in der großen Oper Rubinstein, Saint-Saëns, Goldmark sie dargestellt. Hier fand er nun, was ihm vorgeschwebt; die Aufführung unter Reinhardts Leitung verstärkte noch den Eindruck. Bald schickte ihm Lindner die ersten sechs bis sieben Seiten des Operntextes; Strauß kam nicht zurecht damit und las das Stück Wildes wieder nach; hier übersetzte sich ihm gleich der erste Satz »Wie schön ist die Prinzessin Salome« in Musik, und der Gedanke gewann Gestalt, das Werk in dieser Urform selbst, mit einigen Kürzungen, ohne Vermittler zu vertonen. Die Person des Jochanaan dachte er sich zuerst in ihrer äußeren Vernachlässigung eher grotesk; da aber schon Salome und Herodes, und noch mehr die das Scherzo vertretenden fünf Juden ans Zerrbild streifende Gestalten waren, drohte das Ganze für die musikalische Ausmalung zu einförmig zu werden. Zunächst aus dem Bedürfnis des Gegensatzes heraus wurde der Prophet durchaus ernsthaft vertont, und eine Fülle gesanglich-melodischer Wärme ergoß sich alsbald über ihn. Strauß schuf das Wunderwerk dieser Partitur mit dem Riesentonkörper, der zu ihrem Erklingen dient, in dem Bewußtsein, daß nur eine verschwindend kleine Anzahl von Bühnen dafür in Frage kam. In Breslau sah er im Februar 1906 mit Staunen, daß das Werk auch mit »nur« achtzig Mann im Orchester wohl ausführbar sei, wie er an die dortige Theaterleitung schrieb. – In Salome, wie in der folgenden Elektra, – sind Stoffe des Altertums zum Ausgangspunkt der Darstellung von Charakteren und deren seelischen Entwicklungen geworden, Leidenschaften, deren Stärke, Äußerung und Verlauf sich in ungewöhnlichen Maßen bewegt, mithin den eigentlichsten Gegenstand tragischer Kunst darbieten. Die Musik dazu erfüllt ihren echten dramatischen Beruf, das innere und äußere menschliche Erleben; ihrer Personen zu schildern, mit der Beredsamkeit einer unerhörten aufwühlenden Gewalt des Ausdrucks und der Farben. Bemerkenswert ist von vornherein Straußens Freimachung von der gewöhnlichen, dichterisch nicht vollzunehmenden Textherstellung. Er sah, in noch höherem Maß als d'Albert in seinem »Tiefland«, davon ab, die Fälle zu mehren, in denen der Tonsetzer vor der Textwahl die Urteilsfähigkeit seines Gehirns eingeschläfert zu haben scheint, und hatte jedenfalls nicht Lust, dadurch von vornherein den Todeskeim in seine Arbeit zu legen. Der Vorteil der schon in der Feuersnot bewährten einaktigen Form lag auf der Hand. Der Wegfall von Zwischenvorhang und Zwischenakt läßt ganz andere Abmessungen der stetigen Entwicklung und Steigerung aufkommen; nach den ersten Minuten der Wirkung des Szenenbildes kann man den Hörer bis zum Ende vergessen machen, daß er im Theater ist. Was die Wahl von Wildes Drama betrifft, so fallen, abgesehn von der ja überhaupt verschwindend kleinen Auswahl wertvoller und dabei vertonbarer Dichtungen, sofort lauter echt künstlerische und echt musikverwandte Vorzüge ins Auge, wie der Gegensatz der morgenländischen Sinnlichkeit Salomes und der christlichen unberührten Hoheit Jochanaans, die Fülle bilderreicher Sprache, der Gleichbau in meist dreifacher Gliederung jedes dichterischen Gedankens, die scharf herausgestellten, hoch wirkungsvollen dramatischen Augenblicke und Vorgänge. In der Salome ist die Singstimme erlöst vom spätwagnerischen, neudeutschen Fluch der Orchestergebundenheit; selbständig folgt sie rhythmisch und melodisch nur dem Wort; ebenso selbständig ist das Orchester, das Zusammengehn beider von vollkommener Könnerschaft und unerschöpflicher Fülle. Drei Hauptpartien sind teilweise lyrisch und gestatten ein breites Ausströmen des Gesangsmelos, ebenso einige Nebenrollen, wie der eine Soldat und Nazarener. Der größte Teil der Oper würde auch mit Begleitung eines reingestimmten Pianinos durch gesangliche Vorzüge wirken. Jochanaan, in dem das Prophetische, zugleich Jugendliche und Mannhafte, wunderbar getroffen, ist rein gesanglich gehalten, ebenso in der lyrischen Tenorpartie des Naraboth gleich das zweimalige »Wie schön ist die Prinzessin Salome«. Später von Salomes Anreden an Jochanaan und dessen Antworten die Stellen »Sprich mehr, Jochanaan«, – »Und suche des Menschen Sohn«, – »Ich bin verliebt in deinen Leib«, dann die zusammen mit dem Orchester überaus gesangvolle E-dur-Stelle »Deinen Mund begehre ich«, – »Ich will deinen Mund küssen, Jochanaan«, endlich das melodisch ergreifende »Es lebt nur Einer, der dich retten kann«. Auch in der Partie des Herodes sind vokale Schönheiten. Diese Figur gehört nicht zu den Gegenspielern, und dieser elementare Grund spräche dagegen, sie durch Krähen, Jüdeln, Lahmen, Glatze zu verzerren. Sie wirkt mehrfach liebenswürdig und sogar geistesverwandt mit Jochanaan, wenn er, unter den Klängen des gleichen Motivs, desselben Gefühls von der Nähe des Todesengels gewürdigt wird. Das Flehen um Jochanaans Leben ist, wenn auch nicht frei von Furcht um die eigene Person, doch rührend gezeichnet. Rein lyrisch vertont ist die dreimalige Aufforderung an Salome zum Trinken, Essen und Ruhen, wie das meiste, das er bis zu ihrem Begehren nach dem Kopf des Täufers zu ihr sagt. Endlich ist der ganze Schlußauftritt der Salome, bis zum Ende, mit den schaurigen Klangwundern ihrer Begleitung durchaus lyrisch. Im Orchester findet sich an zahlreichen Stellen wundersame Tonmalerei: »Wie süß ist hier die Luft«, oder »Wie schwarz es da unten ist!« Wundersam bewegen die Takte: Salome im Anblick Jochanaans versunken, vor und nach dessen Gesang: »Wo ist er?«, diesen musikalisch umrahmend. Ein dramatisches Seelengemälde wie wenige bietet dann das Zwischenspiel nach dem Abgang Jochanaans, wo zuletzt der Hohn, mit der die Es-Klarinette sein Melos zerkleinert, ein Blitzlicht auf die innere Begründung wirft. Mit unheimlicher Deutlichkeit malt die Flötenfigur zu des Herodes »Wie der Mond heute aussieht«, ebenso die Begleitung zu seinem Angebot der Edelsteine an Salome. Strauß benutzt hier im Leitmotivwesen, wie Wagner, den Vorzug der Programmusik und besonders der dramatischen, daß die Wiederholung einer Stelle schon durch den dichterischen Ort, an dem sie steht, einen bestimmten Gefühlswert bedeuten kann, der durch Einführung eines neuen, an sich noch so wertvollen Melos nicht erreicht würde. Auch rein musikalisch läßt er oft ein Motiv bloß durch die Stelle, an der es, nach allen Entwicklungen und Steigerungen, wieder erscheint, auf ganz neue Art als »Zitat« wirken Man vergleiche die Nummern 21, 45, 66, 68, 85, 89, 91-93, 113, 122, 125, 141, 153, 157, 172, 176, 182, 286-89, 314 bis Schluß.. Zu den gewaltigsten Gefühlsausbrüchen des Werkes gehört der Orchestersatz nach der Zurückweisung Salomes durch Jochanaan und jener Teil des Schlußmonologs Salomes, worin zu den verschiedenen seelischen Motiven der Singstimme die Instrumente unaufhörlich sehnsüchtig deren vorheriges Melos

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wiederholen. An manchen Stellen der Partitur spielt das »Heckelphon« eine markante Rolle, ein damals als verbesserte Neuschöpfung des französischen »Bariton« von Heckel in Biebrich erbautes Holzinstrument, je eine Oktave zwischen Oboe und Fagott gelegen. Seine Töne vom kleinen bis zum eingestrichenen c bringen neue, und gerade in der Salome unersetzliche Farbenwerte in die reichen Holzbläserfarben. – Vielfach wurde über das »Perverse, Hysterische« der Titelrolle geschrieben, ohne zu bedenken, daß diese Gestalt stets redende und bildende ernsteste Künstler in hohem Maß anzog. Wer fähig ist, ein Kunstwerk künstlerisch auf sich wirken zu lassen, wird das Sinnliche nie als kunstfremdes Moment einzeln herausfinden, und Stellen wie jene, gleich dem »Grauenhaften« in Ibsens Baumeister Solneß lockenden Holzbläsertriller, mit denen Salome in die Zisterne hinunterblickt, nicht etwa im Sinne rein körperlicher Empfindung fassen.

Am 20. Juni 1905 ist Salome vollendet; Strauß kam dann öfters zu Schuchs Proben von Berlin nach Dresden, manchmal nur kurz, um sich bis zum Abgang des nächsten Zuges in die Schönheiten der Gemäldesammlung zu versenken. Am 9. Dezember erfolgte an der Dresdener Hofoper die Uraufführung in Wirks Spielleitung und mit Frau Wittich, Burrian, Perron in den Hauptpartien, hundertzwei Musikern im Orchester. Es war der bekannte weittragende Erfolg, der entscheidende des Musikdramatikers Strauß. Dieselbe Spielzeit 1905/06 brachte eine Reihe weiterer Erfolge. Vom 16.-20. Mai leitete er das Werk dreimal in Graz. Schon zu Beginn der nächsten Spielzeit, Anfang September, meldeten die Blätter, daß er ein neues Musikdrama, Elektra, begonnen habe. In Berlin selbst erregte Salome mit Emmy Destinn als Sängerin und der dell'Era als Tänzerin der Titelrolle großen Jubel. Man ließ zuletzt den Stern von Bethlehem am Nachthimmel aufgehn. Es folgte München, dann Stuttgart mit Anna Sutter als Salome, unter ungemessenem Beifall, am Ende des Jahres Turin mit der Bellincioni, Ende Januar (1907) das Neuyorker Metropolitan-Opernhaus in glänzender Aufführung mit Olive Fremstadt, Burrian, van Roy. Dann das Brüsseler Monnaie-Theater, Ende März, wogegen die geistlichem Einfluß dienenden Blätter sich erhoben, ebenso wie früher gegen Massenets Herodias. In Neapel drang die Oper in Abwesenheit von Strauß glänzend durch; in Wien wurde sie von der durch ihre geistreiche Verfügungen altberühmten Hoftheaterzensur verboten, was Direktor Simons vom Deutschen Volkstheater veranlaßte, das Werk durch die Breslauer Truppe unter Direktion von Loewe aufführen zu lassen. Erst vier Jahre später, 1911, brachte er es dann mit großem Erfolg selbst. Im nächsten Winter, 1907/08, leitete Strauß die Salome mehrmals in Paris. Mannigfache Schwierigkeiten waren erst durch Briefwechsel zu überwinden: mit der Direktion in der Frage der Tantiemen, da die Große Oper diese sonst nach der Zahl der Akte berechnet, und mit der Autorengesellschaft Paris, die Strauß erst zu ihrem Mitglied haben wollte, worüber er selbst in der Allgemeinen Musikzeitung vom 8. März 1907 Näheres berichtet. In Neuyork und Chikago, hier erst Dezember 1910, wurde die Oper gleich wieder verboten; die Antwort auf die Begründung der ersteren Maßregel gab Strauß in seinem wenige Zeilen umfassenden Beitrag zu der Festschrift zur Goethefeier des Neuyorker Liederkranzes, veröffentlicht in der Allgemeinen Musikzeitung im April 1908, worin er die Höhenkunst als etwas bezeichnet, das nur einem entsprechenden geistigen Boden, nicht aber dem der Heuchelei entsprießen könne. Auch in London fand die Oper später, Ende 1911, noch Beanstandung und unsinnige Veränderungen durch die Zensur.

Zwischen allen den obenerwähnten Kapellmeisterfahrten war in Berlin und Marquartstein die Arbeit an seinem bisher gewaltigsten Werke, der Elektra, fortgeschritten. Nach der Salome hätte Strauß am liebsten eine komische Oper geschrieben, aber es fand sich kein Stoff. Da machte ihn ein Freund auf die Dichtung Hugo v. Hofmannsthals aufmerksam, die er dann bei Reinhardt mit Gertrud Eysolt in der Titelrolle sah. Er fühlte, daß hier die Musik an einigen, besonders an textlich knapp gehaltenen Stellen, noch über die Dichtung hinaus viel zu sagen hätte, so in der Erkennungsszene des Orest, die er den Dichter um einige Zeilen zu erweitern bat, in dem tödlichen Freudenrausch der Elektra – der gleiche Fall wie in Salome z. B. bei dem Tanz und der Schlußszene. Bei anderen Teilen lockte es ihn, die bisherigen Grenzen des musikalischen Ausdrucks zu erweitern; der Figur der Klytämnestra schien ihm manchmal nur eine Musik zu entsprechen, die, das Element des sinnlichen Wohllauts ganz von sich abstreifend, mit dem neuen Vorwurf auch ungewohnte Wege gehe. Rastlos arbeitete er, dieser Vorstellung gerecht zu werden; dreimal wurde die große Szene mit Elektra vertont, bis sie ihm endlich genügte; das Folgende ergab sich dann in raschem Fluß. Auch das Einleben in den Elektrastoff knüpfte an frühere künstlerische Eindrücke und Erwägungen an. Auf seiner Reise in Griechenland im Jahre 1893 hatte Strauß mit seinem durch die mitgenommenen Goetheschen Kunstschriften geöffneten Sinn aus der wilden Aufgeregtheit der Bildwerke vorklassischer Zeit mit ihrer gewalttätigen Plastik die Vorstellung eines dionysisch bewegten Menschentums gewonnen, das ihn echter griechisch dünkte als die apollinisch ruhige Linie der eigentlichen Blütezeit; die dichterische Art Hofmannsthals erschien ihm aus glücklicher Einfühlung in diese ganze Umwelt hervorgegangen. Die Uraufführung der Elektra erfolgte in Dresden am 25. Januar (1909) als erster Abend der Straußwoche, nach einem tags zuvor gehaltenen Vortrag von Oskar Bie über Strauß' Entwicklung vom Symphoniker zum Musikdramatiker. Am 26. war Salome mit Frau Akté, dann Feuersnot und Domestika, endlich wieder Elektra. Wenn der äußere Erfolg zunächst hinter dem der Salome zurückblieb, so liegt der Grund in dem größeren Ernst, den die noch gesteigerte Geschlossenheit vom Hörer verlangt, und in der Abwesenheit von Zügen, die man derart »sensationell« auffassen kann, wie den Tanz der Salome. In Elektra feierten die beiden Grundwesenheiten genialen Schaffens, die hohe Steigerung der Einfühlungs- und der Gestaltungskraft, ihren größten Erfolg, meist zum Nutzen des Werkes. Gewiß hätte er das weniger in Musik verwandelbare, äußerlich allzu Zerrissene und Bewegte, das eigentlich Nichtmusikalische, kürzen lassen können, doch er brauchte es zum Gesamtbild; als solches hätte Elektra zwar durch keine Auslassung gewonnen, sie wäre nur eingänglicher, in ihrem Wesen als Seelendrama klarer geworden. Ihre musikdramatische Höchstschätzung als Ganzes wird dadurch nicht berührt; sie kann nur dann eine Täuschung sein, wenn alle Bewertungen eines Ausdrucksgehalts, der an seelischer Tiefe über Haydns Symphonie hinausgeht, ebenso irrtümlich und somit bejahende Werturteile dieser Art gegenstandslos waren. Die Sprachbehandlung ist härter, herber als in Salome, entsprechend der Umwelt der griechischen Heldenzeit, wie die Dichter sie malen, im Vergleich mit der morgenländischen.

Mächtig wirkt der Monolog Elektras »Allein, weh, ganz allein«, welcher, wie der auch für Orchester ohne Gesang großartige Schlußauftritt, leider wenig im Konzertsaal erscheint. Mit einer an Gluck mahnenden Prägung, doch farbenreicher, sind hier die Hauptmotive des Ganzen an der Hand der das Stück einleitenden Aussprache der Heldin entwickelt. Wundersam ergreifend tritt den starren Oktaven des Vergeltungsmotivs das berühmte As-dur-Thema der kindlichen Liebe zu Agamemnon gegenüber, in der selbstverständlich die Bewunderung des Weibes für den heldenhaften älteren Mann mit enthalten ist.

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Und wo findet sich in zusammenhängender Aussprache das Seelengemälde einer Persönlichkeit, wie die Szene der Chrysothemis: »Ich kann nicht sitzen und ins Dunkle starren!« mit der herrlichen Melodie: »Und aus ihnen selber quillt süßer Trank«, im Zusammenwirken von Singstimme und Orchester einer der wohltuenden Ruhepunkte in dem Nachtstück der Leidenschaft. Es folgt das großartige Duo Elektra-Klytämnestra, das in seinen seelischen Abmessungen ohne jeden Vergleich in der Opernwelt dasteht; das Duo Chrysothemis-Elektra, durch das lebhafte Sätzchen des Dieners, der Aegisth holen soll, unterbrochen, mit der rührenden Klage der jüngeren Schwester über den Tod Orests und den dramatisch einschlagenden Zwischenrufen Elektras: »Es ist nicht wahr!«, dann die unheimlich glutvolle Beschreibung des Leibes der Chrysothemis als Werkzeug der Rache – mit der echten Gesangstelle Elektras: »Von jetzt ab will ich deine Schwester sein!« Das dritte große Duo Elektra-Orest ist, in jedem Betracht ohne alles Aber, auch rein musikalisch, von edler ergreifender Schönheit, in deren Art kaum noch Gleiches von so andauernder Empfindungs- und Stilhöhe in der Oper da war. Nach den rührenden Rufen »Orest!« bei dem musikalisch wundervollen Wiedererkennen folgt die Szene, in der sich Elektra gegen den Bruder ausspricht, eine Seelenentschleierung von verhältnismäßig ruhiger Ausdrucksfülle ohnegleichen. Man singe die Takte 163a »Ich habe alles, was ich war, hingeben müssen«, erfasse die ruhige große Linie der ganzen Stelle 173a und jene: »Der ist selig, der seine Tat zu tun kommt« 176a. Musikalisch höchst reizvoll ist dann die kurze Episode, in der sich Elektra gegen Aegisth freundlich gibt. Und endlich die in ihrer einfachen Gefühlssprache naiv großartige Triumphweise. Es sei gestattet, hier den Schluß eines längeren Elektra-Artikels des Verfassers zu wiederholen: Wir leben in teils unendlich primitiven und rohen, teils unendlich verwickelten Kulturverhältnissen, daraus kann sich für unser Leben keine große Linie ergeben, das versteht sich. Aber wenn uns diese große Linie doch noch in der Kunst entgegentritt, auf dem verstärkenden Grund einer musikalisch fast schrankenlosen Phantasie und Darstellungskraft, dann müssen wir als Gebildete für diesen Ersatz dankbar sein Siehe Nummer 74-113, 1a-100a, 52a, 75a, 110a-160a, 176a-181a, 203a-212, 215a bis Schluß.. Wagner schenkte ihn uns durch die Germanen, Strauß durch die Griechen der Vorzeit. Danken wir beiden ernsthaft nach dem Spruch: sancta sancte tractanda. Strauß selbst, der in Salome wesentlich das schöne Raubtier gesehen, war bei Elektra von einer natürlichen Anlage der Heldin überzeugt, die ihm für das Gesteigerte, Maßlose des Seelenlebens jener vorklassischen Griechenzeit bezeichnend erschien. Und gewiß kann man die Beherrschung des ganzen weiblichen Empfindungslebens durch den Vergeltungsgedanken, als eine Gefühlserkrankung auf jenem Gebiet, auch »hysterisch« nennen; dann geschieht dies aber in einem weiteren, dem der gewöhnlichen sit venia verbo, Salonsexualisten fast entgegengesetzten Sinn. Weshalb der eine große Vergeltungsgedanke Elektras unserer mit einer ganzen Anzahl solcher sich kühl befassenden Zeit heute so fremd ist, deutete ich in »Straussiana« an. Aber auch die grauenhafte Empfindungsroheit, die unsere Gesetzgebung und Rechtsprechung in Behandlung der Roheitsdelikte zeigt, deren Strafausmaß manchmal einer Sympathiekundgebung gleicht, erweckt bei dem anständig, aber unklar Fühlenden als natürliche Gegenwirkung jene fast als Heuchelei wirkende scharfe Verurteilung der Gewalttat da, wo sie nur in der Dichtung und auf gerechten Beweggründen beruht. Daher das Urteil mancher über die »barbarische« Handlung Elektras. Das schlechte Gewissen ihrer Zeit in bezug auf diese Dinge spricht unbemerkt aus ihnen. Denn niemand darf denken, daß er durch die öffentlichen Zustände nicht in seinem Gefühlsleben im selben oder im entgegengesetzten Sinn beeinflußt wird.

In den beiden tragischen Einaktern, Salome und Elektra, wirkte Straußens eigene Einstudierung und Leitung unvergleichlich und gewann viele erst für die Werke. Es ist bekannt, daß er zuweilen unbedenklich die Hörbarkeit der Singstimme und die Deutlichkeit des Textes zu opfern bereit ist, wo wesentlich das Orchester Träger des Ausdrucks wird, obgleich man von Strauß öfter hören konnte: Haltet euch genau an die Stärkezeichen, dann versteht man jedes Wort! Hier empfand er wohl die allgemeine Vertrautheit mit dem Stoff und konnte das Orchester mit der vollen Klangmöglichkeit der Partitur wirken lassen, ohne eine Verdunkelung des Dramatischen zu befürchten, ein Umstand, der ja schon in der Anlage des Orchesterparts hervortritt. Eine vorbildliche Aufführung, d. h. eine, bei der die melodische Linie ebenso wie das Wort stets verständlich, also das Drama gewahrt bleibt, war bisher wohl nur im Münchener Prinzregententheater möglich. Im unverdeckten Orchester ändert die starke Dämpfung des Klangs durch die Notwendigkeit gemäßigter Akzente allzu sehr die Ausdrucksfarbe. – Nach der Dresdener Uraufführung folgten München, Frankfurt und Berlin, wo der Erfolg unter Leo Blech, mit Plaichinger-Elektra, Rose-Chrysothemis, Götze-Klytämnestra, Bischoff-Orest, vielleicht größer und jubelnder als in Dresden war. Beispiellose Zustimmung fand Elektra am 24. März in Wien unter Reichenberger mit der gewaltigen Klytämnestra der Frau Bahr-Mildenburg in Straußens Anwesenheit; dann in Graz, Köln, Hamburg, Hannover und vielen anderen Städten. Conried erwarb das Werk für das Manhattan Operahouse und hatte glänzenden Erfolg, zuerst am 28. Januar (1909) unter Campanini (bei zehn Dollar für den Sperrsitz). In rascher Folge wurde es dann auch französisch, englisch, italienisch, böhmisch und ungarisch übersetzt und aufgeführt. Im März 1910 erregte Strauß mit der Leitung der Elektra in London, im April in Prag und Frankfurt großen Jubel.

Schon in Besprechungen der Uraufführung tauchte die Notiz auf, Strauß habe gesagt, »das nächstemal schreibe ich eine Mozartoper« und stehe mit Hoffmannsthal betreffs eines Buches dazu in Unterhandlung. Bald darauf schrieb dieser den Entwurf zum Rosenkavalier, den er Strauß vorlas und dann gleich ausarbeitete; jeder fertige größere Teil ging an ihn ab und wurde vom 1. Mai 1909 ab sogleich vertont. Am 20. September sang und spielte Strauß auf einer Abendgesellschaft aus Anlaß des französischen Musikfestes im Haus von Thomas Knorr, Besitzers der Münchener Neuesten Nachrichten, längere Szenen mit Walzern aus dem neuen Werke vor. Am 26. beendete er in Garmisch die Partitur. Beinahe wäre infolge von Unstimmigkeit mit der Dresdener Intendanz die dortige Uraufführung des Rosenkavalier gescheitert; wir verdanken diesem Zwischenfall eine ausführliche, in der Allgemeinen Musikzeitung sieben Spalten füllende Erklärung aus der Feder von Strauß, vom 9. Oktober 1910, der damit die nach der entschiedenen Absage der Dresdener Intendanz scheinbar beendeten Unterhandlungen wieder aufnahm. Dieser Artikel zeigt eine seltene Vereinigung von ruhiger Sachlichkeit, überlegenem Takt und feinsinniger Schonung der schwachen Punkte in der gegnerischen Stellung bei geschicktester Selbstverteidigung. Die Überlassung eines Werkes unter Bedingung der Aufführung eines anderen, hier der Wiederaufnahme Salomes und Elektras, war nichts neues, und in diesem Falle ganz besonders künstlerisch begründet. Trotz der empfindlichen Verlegenheit, in die Strauß durch den Rücktritt der Intendanz vom ursprünglichen Vertrag gebracht war, und der Möglichkeit, sie unter Beweisen ins Unrecht zu setzen, zeigt dieses Schriftstück eine bewundernswerte Abwägung Verstandes- und gefühlsmäßiger Punkte in klarer und vornehmer Sprache.

Hoffmannsthal hatte in seinen Dramen Ödipus und Elektra »mit dem Grauen zu Nacht gespeist« und suchte nun für sich und für Strauß die tageshelle Umgebung der empfindungsvoll leichtsinnigen Gemütlichkeit des Altwiener Adels auf. Trotz des raschen Verlaufs der Arbeit und der Bruchstückweise erfolgenden Absendung des dritten Akts an den rasch jede Textsendung vertonenden Strauß, wobei ein zurückgreifendes Vergleichen, Anpassen, Feilen der einzelnen Teile unmöglich war, verband bei dieser mit Ohrfeigen vermischten zarten Liebkosung in Hofmannsthals künstlerischer Anschauung vielleicht doch eine höhere Einheit das still Empfindungsreiche mit der derben Spaßhaftigkeit, obschon der dritte Akt ihn selbst nicht befriedigte. Auf der Bühne scheint dieser Zusammenguß unmöglich, so gut er dem Musiker gelungen ist, und das Heil für diese köstlich feine Spieloper einzig in der Beseitigung alles Derben und möglichst vielen Beiwerks zu liegen, so daß sich die in unwiderstehlich reinen Jugendduft getauchte Liebesgeschichte möglichst nur zwischen den vier Hauptpersonen und dem Vater abspielt. Bei der Ausgestaltung des lieblichen Idylls wußte der Dichter nicht immer, was dem Musiker frommt. Mancher weitere Reiz wäre uns bei strafferer Formengebung des Textbuchs noch beschieden worden, da Strauß diesem gewöhnlich ganz und gar folgte und vokal wenig selbständige Gliederungen einführte. Einzelnemale ist die dramatische Lage für den Musiker, der doch mit Lücken des Wortverständnisses rechnen muß, nicht bestimmt genug; zahlreiche mehr erzählungsmäßig wertvolle Motive dienten zwar der tonsetzerischen Anregung, sind aber operntechnisch nutzlos. Die sinnvolle Wortgebung ist oft mehr dem mit vornehmer Natürlichkeit der Sprachtechnik wirkenden Schauspieler mundgerecht, als daß sie jene klare Rhythmik böte, die der melodischen Erfindung vorbereitend in die Hände spielt. Man erkennt die Abneigung gegen die alte Opernform, auch in der Spieloper, zugunsten des Durchkomponierens, obgleich es klar ist, daß für das musikalische Lustspiel nach Seite der Verständlichkeit der Handlung wie der formfeinen Vertonung die alte Aufmachung mit begleitetem oder Klavier-Rezitativ, ja selbst mit Dialog, unvergleichlich günstiger lag, als die durchkomponierende Form nach Art der Meistersinger, vielleicht dem einzigen Text, der wirklich zu ihr paßt. Doch beim Kunstwerk sind die Vorzüge, nicht die Fehler maßgebend, und im Spiel der Hauptgestalten bleibt für die Opern Wirkung genug, um der Dichtung auch als Textbuch hohen Wert zu geben. Dem Musiker gibt sie manchmal sogar zu viel und verstößt so gegen die Regel, daß man ihm etwas zu sagen übrig lassen, also weniger entwickelte Gedanken, ins Kleine gehende Ausmalungen, feine Gefühlsüberlegungen als bloße klare Andeutungen bieten muß. Nichts redet mehr für die aus dem Vollen schöpfende Künstlernatur in Strauß, als daß er vier Stunden dieser Musik in der mit fabelhafter Feinheit ausgeführten Partitur gab, wo die Hälfte genügt hätte. An ein Abschätzen der Ausmessungen bei den Aufzügen hat er so wenig gedacht als Hofmannsthal. Daß die ersten Aufführungen das, was nun einmal da war, vollständig boten, läßt sich verteidigen. Strauß ging dann sofort an erhebliche Striche und hat solche auch anderweitig gestattet. Nur scheint noch kein rechtes Abwägen in der Sache zu sein. Die Vertonung schmiegt sich leicht, duftig, oft in reicher und flüssiger melodischer Erfindung der Szene an; die Instrumentation ist blühend polyphon; die oft beanstandete Inanspruchnahme des Blechs für geringfügige Akzente ist mehr innere Angelegenheit; diskret ausgeführt stört sie nicht. Mit Recht entzücken im ersten Akt Vorspiel und Duo, im zweiten die knappe lebhafte Orchestereinleitung, die Duoszene, Eintritt des Rosenkavaliers. Ein Glanzstück auserlesener sprühender Technik bietet die fugenartige Prestoeinleitung des Orchesters zum dritten Akt; überaus reizvoll sind die Walzermotive, und ganz in dem wonnig heilen Grundton des Ganzen das Terzett und Duett am Schluß, das freilich die Auftrittszene des Rosenkavaliers nicht mehr überbieten kann. Daß Strauß neben der ganzen Fülle anderer Obliegenheiten, in erniedrigendster Feinheit die Ausarbeitung der Rosenkavalierpartitur im Zeitraum von siebzehn Monaten vollenden konnte, ist bisher wohl das staunenswerteste in seiner Schaffenslaufbahn. Es ist begreiflich, daß er nicht die Tänze der Maria-Theresiazeit, langsamen Dreher, Gavotte usw. anwendete; jedenfalls empfand er geschichtliche Treue in diesem Punkt nicht als notwendig und nicht als aus der übrigen Musik mit derartiger Natürlichkeit hervorgehend, wie es seine äußerst fein gearbeiteten Walzer unleugbar sind, zu denen auch der rhythmische Übergang meist von zwingendem Fortfluß ist. Die Walzer selbst vertonen, leicht beschwingt und frohmütig, ihr echtes daktylisches Schema als Perlen geistreich feiner Satzkunst.

Eine neue Erscheinung sind in der Partitur die in der Höhe begleitenden Achtelakkorde von drei Flöten, drei Soloviolinen, Celesta und Harfen, die den Halb- und Ganzschluß der Liebesmelodie auf Quinte und Grundton beim Eintritt des Rosenkavaliers begleiten und bei richtiger Ausführung, also natürlich nicht überall, aber z. B. selbst bei der Erstaufführung in dem kleinen Theater in Basel geradezu atemhemmend überirdisch klangen.

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Und beim Tonikaschluß:

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Der zum Baß konsonanzbildende Akkord wird dabei jedesmal erst durch den um je einen Halbton höheren und tieferen vorbereitet, motivisch aber erhält der letztere den Akzent, so daß sich für das Ohr ein den Hauptrhythmus 4/4 umspielender 3/8-Takt ergibt.

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Das gleiche Motiv wiederholt sich bei dem womöglich noch innigeren zweiten Liebesduett am Ende der Oper.

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Ebenso bei dem Schluß auf der Tonika:

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Am 26. Januar 1911 erfolgte an der Dresdener Hofoper die Uraufführung mit Frau v. d. Osten-Rofrano, Margareta Siems-Marschallin, Perron-Lerchenau, Scheidemantel-Faninal. Schon während der öffentlichen Hauptprobe drahteten die Berichterstatter fieberhaft, wobei freilich da und dort der überspringende elektrische Funke des Verständnisses arg vermißt wurde. Der Erfolg war kein minderer als der von Salome und Elektra. So hatte dort Schuch mit Ausnahme des Guntram, – Weimar 1894, – sämtliche Uraufführungen Straußscher Bühnenwerke geleitet: 1901 Feuersnot, 1905 Salome, 1909 Elektra, 1911 Rosenkavalier. Glänzend bewährte sich die Spielregie des in den letzten Tagen herbeigeholten Reinhardt. Die rasch sich folgenden ersten fünfzig Aufführungen waren ausverkauft. Im Februar ward die Oper in München zum stärksten Erfolg für Strauß, die Sänger, unter denen Hermine Bosetti in der Titelrolle und Bender als Lerchenau hervorragten, für Mottl und das Hoforchester. Dann folgte Mailand, wo die Oper erst nach einigen Vorstellungen glänzend durchdrang; am 4. März ging ein Rosenkavalier-Sonderzug nach Dresden, um auch den Berlinern Gelegenheit zum Anhören des Werkes ihres Generalmusikdirektors zu geben. Tags darauf errang das Werk im tschechischen Nationaltheater zu Prag jubelnden Beifall. In Wien schloß sich anfangs April 1911 an die Rosenkavaliervorstellungen eine Reihe großer Erfolge: ein Liederabend Franz Steiners mit Strauß als Begleiter und vielem Wiederholungsverlangen, an der Hofoper Elektra unter Leitung des Autors, in der Volksoper Salome unter Zemlinsky. Einen der glänzendsten Haltepunkte in dem Siegeszug der Oper bildete Köln, wo sie bei den Festspielen in der ersten Hälfte des Juni, im wesentlichen mit der Dresdener Besetzung, ihrem Autor und Leiter rauschenden Erfolg brachte. Bei der Aufführung in der Berliner Hofoper unter Dr. Mucks Leitung, mit Frieda Hempel als Marschallin, Artôt de Padilla als Oktavian und Paul Knüpfer als Lerchenau, wurde fast jedes Wort verstanden; man hatte die »bedenklichen« Stellen in usum delphini gemildert. Es kam hier also, im Gegensatz zu vielen anderen Bühnen, das musikalische Lustspiel in der beabsichtigten Form heraus.

Den Abschluß dieser fortlaufenden musikdramatischen Schaffenszeit sollte ein Werk bilden, in dem Strauß sich als den Bühnenautor im eigentlichsten älteren Sinn, als Vokaltonsetzer, wiederfindet und hier der Mehrstimmigkeit zum erstenmal auf die einschmeichelndste Art in ausgedehnter Form seinen Zoll spendet, ein Werk, dem trotz des unermeßlichen Klangreizes, äußerliche, fast lediglich betriebstechnische Bedenken, an deren Beseitigung man leider vor der Aufführung nicht dachte, fast überall entgegenstanden, unter anderem schon die Nötigung, Schauspiel- und Opernpersonal an einem Abend gleichzeitig zu beschäftigen. Am 24. April (1912) beendete er nach etwa einjähriger Arbeit die einaktige Oper Ariadne auf Naxos, zu spielen nach Molières Komödie Der Bürger als Edelmann, zu der er auch die farbensprühende heitere Schauspielmusik schrieb: Zwei Vorspiele, Gesangs-, Pantomimen- und Ballett-Einlagen. Die fünf Akte Molières hatte der Textdichter Hofmannsthal in zwei zusammengezogen, wobei die Liebesintrige nebst der nicht mehr zeitgemäßen Verkleidungsburleske wegfiel und nur das mit leise tragischem Unterton versehene Charakterbild des Großkaufmanns und Parvenus Jourdain mit seiner Vorliebe für das äußere Wesen der Edelleute übrigblieb. Statt des Balletts, das sich der Komödie anschloß, dichtete Hofmannsthal den burlesk-lyrischen Einakter Ariadne auf Naxos hinzu, in den er durch eine gleichfalls selbständige höchst geistreiche Dialogszene von der Komödie aus hinüberleitete. Es handelte sich in dem Einakter um den zur szenischen Vertonung in seltenem Maße anreizenden Einfall Jourdains, da er von der geplanten Vorführung der Oper Ariadne durch ein »seriöses« Ensemble auf seiner Privatbühne Langeweile fürchtet, gleichzeitig durch die Buffotruppe mit den Typen: Brighella, Skaramuzzio, Harlekin, Truffaldino ihr Gesangs- und Tanz-Intermezzo von der treulosen Zerbinetta spielen zu lassen. Die Ariadneszenen sind vom Auftreten des Bacchus ab, also im Hauptteil, in erster Linie Buchdichtung. Es bietet einen seltenen Genuß, in stiller Klause die Feinheiten des Stils auszukosten, der sich bis zum künstlerischen Einswerden in Geist und Sprache des Goethe von zweiten Teil Faust und einzelner lyrisch-epischen Antikenszenen hineingelebt hat. Über die »Verwandlung« Ariadnes durch Bacchus hat sich der Dichter sehr fein in einem Brief an Strauß ausgesprochen, den man in Leopold Schmidts Almanach für die Musikalische Welt 1912/13 abgedruckt findet. Der Hörer kann das dort Ausgeführte nur unbestimmt empfinden, ebenso wie ihm der erste Ausruf des Bacchus hinter der Szene: »Circe, Circe, kannst du mich hören?« mit seinem im Text wohlvorbereiteten Zusammenhang unklar bleiben muß. Dagegen dürfte er bis dahin durch die Flut herrlicher Klänge, die leicht, licht und lieblich auf ihn hereinschlägt, ungefähr in die Stimmung jenes Flitterwochenpaars aus Blumenthals »Weißem Rössel« gekommen sein, dem außer der seligen Tatsache des Zusammenseins »alles ganz egal« ist. Ursprünglich war das Stück für Reinhardts Kammerspiele gedacht, und die Oper selbst sollte nur etwa zwanzig Minuten dauern, sie wurde aber um eine volle Stunde länger, und man entschied sich nicht dafür, ungefähr ebensoviel von der ohnehin verkürzten, aber immer noch allzulangen Komödie Molières zu streichen. Man unterließ, sich zu sagen, daß diese, als Abbild bestehender Verhältnisse, für die damaligen Pariser unendlich unterhaltender war als für uns, denen ein Gleiches nur durch ein ebenso naturwahres und genial entworfenes Bild etwa einer gewissen nord- oder westdeutschen Großindustriellenart von heute geboten werden könnte. Oder etwa anderer Vertreter des Emporkömmlingtums, an denen ja das letzte Kapitel deutscher Geschichte das reichste aller Zeiten und Völker ist.

Für die Uraufführung dieses Werkes konnte nicht, wie für die vier letzten von Strauß, die Dresdener Hofoper mit ihren großen Ausmessungen ernstlich in Betracht kommen, während das »Kleine Haus« des damals eben vollendeten neuen Stuttgarter Hoftheaters unvergleichlich geeignet dafür erschien. Bei der Besetzung handelt es sich dort freilich von vornherein um ein Zusammenwirken mit auswärtigen ersten Kräften. Die Partitur verlangt zehn stimmlich, technisch und musikalisch auserlesene Gesangskünstler, die im Verlauf in Gruppen zusammentreten: das Duo der Hauptpersonen Ariadne und Bacchus, Terzett der drei Nymphen, Männerquartett der vier Buffotypen, durch den Hinzutritt des Koloratursoprans Zerbinetta zum Quintett erweitert. Dessen zweites Auftreten faßt den Sopran und Bariton hinter der Szene zum Liebesduettino zusammen, von den zwei Tenoren und dem Baß auf der Bühne belauscht. Außerdem hat jeder der beiden Soprane, der lyrische wie der kolorierte, seine eigene Szene von großem Aufbau und in dem ausgedehnten Finale treten die ersten der drei Gruppen, Duo und Terzett, in reichgegliederte, stellenweise ineinander übergreifende Wechselwirkung. Das Buffoquintett hat das letzte Wort. Man erblickt in dieser ganzen Anlage eine richtige Gesangsoper, trotz feinstausgearbeiteter Begleitung des Orchesters, dessen fünfunddreißig Stimmen sämtlich von Solisten, also mit nur ebensoviel Ausführenden besetzt sind, darunter Flügel, großes Schiedmayer-Harmonium und Celesta. Die Gesänge der Buffotruppe, vor allem deren erstes Quintett, bringen Proben eines eigenartigem, im höchsten Maß reizvollen Stils darin, der Themen allereinfachster Art mit der ganzen Feinkunst und dem Reichtum straußischer Harmonik durchführt, wie (S. 44) »etwas behäbig«:

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Ein Glanzstück, in dem Strauß seine Herrennatur in der Erweiterung der Grenzen neuer Aufgaben einmal versuchsweise nachdrücklichst auf den Gesang anwendet, ist die große Zerbinettaszene mit dem

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und der nur als Stichprobe hier zu verzeichnenden Koloratur auf dem Wort »Gott« (S. 77 des Auszugs).

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Übersprudelnd von Lebhaftigkeit in flüssigster musikalischer Sprache gibt sich das 1912 in Stuttgart leider größtenteils gestrichene zweite Buffoquintett. Die folgende dritte Szene, von der Ankündigung des Bacchus durch die drei Nymphen bis gegen den Schluß hin, durch 70 Seiten des Klavierauszugs ein einziges glutvoll dahinströmendes Musikstück, bringt gegen den Schluß einige berückend wohllautende Kontrapunkte je zweier Gesangsthemen, die das Notenbeispiel nur in der dürftigsten Skizze andeutet (S. 181 und 183 des Auszugs).

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Wer sich gerne mit Fachausdrücken befaßte, mag feststellen, daß, obgleich Bacchus, Dionysos, der Held dieses Duos ist, doch gerade die ruhige, in allem Feuer zarte und harmonische, linienvolle, die sogenannte Appolinische Schönheit hier die Feder des Komponisten führte.

Eine witzige Bemerkung leistete sich Strauß in einer der letzten Proben, als er die Damen bat, ihre Darstellung nicht zu sehr auszuarbeiten; zur Zeit Molières habe man das in der Oper nicht gekannt: der Unfug des Spiels in der Oper ist eine neumodische Erfindung. Am 24. Oktober (1912) fand eine Aufführung vor geladenem Publikum, am 25. die erste öffentliche, unter Leitung von Strauß, statt. Das Fest, das er auf der Grundlage der urecht musikalischen Gegensätzlichkeit des Pathetischen und Burlesken seinem Künstlerherzen mit der Wahl des wohnlichen kleinen Schauhauses, der erlesenen Gesangskräfte, der solistischen Besetzung des Kammermusikorchesters und der szenischen Leitung durch den ersten Bühnenmeister Reinhardt geben wollte, verlief, wie das meiste hoch Gedachte auf Erden, nicht ohne anfängliche Störung. Bei der Hauptprobe ließen die eigens durchgängig verschafften altitalienischen Streichinstrumente an Reinheit und Schönheit des Zusammenklangs zu wünschen übrig; der Zerbinetta fehlte gegenüber der ungeheuren Aufgabe, die sie als erste in erstaunlicher Weise bewältigte, die Leichtigkeit. Der Baldachin, der sich zuletzt auf das liebende Paar Ariadne und Bacchus herabsenkte, entsprach zwar bestens dem Geschmack eines Jourdain und seiner Zeit, stimmte aber wenig zu der indes ins theatralisch Zeitlose verwandelten Szene; auch klappte sein Erscheinen noch nicht ganz. Hofmannsthal schrieb in dem erwähnten Brief an Strauß, mit dem Eintritt des Bacchus hätten, die puppenhaften Kulissen verschwunden und nur weite, sternfunkelnde Nacht das Bühnenbild zu sein. Diese dichterisch gefühlte Anweisung, die im übrigen sehr schön befolgt wurde, läßt nur die Liebesgrotte auf der Bühne stehn, über deren Eingang »Efeu und Weinlaub vorfällt«, und dieser kleine szenische Vorgang dürfte vollständig genügen, um dem Zuschauer das die Wirkung der Musik nicht störende Bild zu geben. Man hat damals, wie später auch anderwärts zu viel an dieser Szene herumversucht, zu wenig der über alles erhebenden Wirkung der Musik vertraut. Die köstliche Schauspielerszene, größtenteils gestrichen, fügte man, etwas gezwungen, in den Schauplatz des zweiten Aufzugs des Schauspiels, anstatt sie, nach Vorschrift, auf der bereits zum Spiel hergerichteten Bühne der Oper vor sich gehn zu lassen. Zunächst fiel es recht schwer, sich mit der Verbindung der oft mehr literarisch andeutenden Art des Bearbeiters und der grotesk bühnenmäßigen, die Reinhardt hier anwandte, zu befreunden. Im Text blieb eine Stelle von solcher Wirkung, wie die weggelassenen Schlußworte des Originals, überhaupt nicht mehr stehn: »Wenn ich irgendwo auf der ganzen weiten Welt einen größeren Narren finde, so gehe ich nach Rom und erzähle es dem Papst!« Sehr oft war das Wort abgeschwächt und die Wiedergabe, Geste usw. dafür vielfach vergröbert. Die in letzter Stunde der Not allzu langer Spieldauer gehorchend, zu unheimlich später oder vielmehr früher Stunde beschlossenen Striche waren recht unglücklich; außerdem erstickte die Spielleitung Reinhardts das Schauspiel im beispiellosen Pomp der Gewandung und nahm ihm durch starkes Betonen des Grob-Tölpischen in der Hauptperson dem Emporkömmling Jourdain, die Erträglichkeit. Ermüdet kam man bei dem eigentlichen musikalischen Teil, der orchesterfarbenfrischen Tafelszene und der nach einer Pause folgenden Ariadne-Oper, an. Grete Wiesenthals Tanz des Küchenjungen, der unvergleichlich musikdurchtränkt, jede Verzierung der Melodie, jede kleine Betonung in der Begleitung in die Linie seines Bewegens mit aufnahm, erregte freilich das nachhaltigste Entzücken. – In München wurde ihre Aufgabe der herber geistigeren Clotilde von Derp zuteil, die sie gleichfalls mit vielem Glück löste. Die drei Hauptpersonen in Stuttgart, Mizzi Jeritza-Wien als Ariadne, Hermann Jadlowker-Berlin als Bacchus, Margaretha Siems-Dresden als Zerbinetta, boten gesanglich Hervorragendes; der Tenor Jadlowkers strömte mit wunderbarer, heute fast unvergleichlicher Fülle und Schönheit. Darstellerisch war freilich, wie schon angedeutet, Stimmklang und Persönlichkeit der Zerbinetta weniger zu der munteren Rolle geeignet, wodurch ein Hauptmoment und Hauptreiz, der Gegensatz zur Ariadnefigur, nahezu fortfiel. In München sollte dies Hermine Bosetti glänzend nachholen.

Bei der Ariadne wiederholte sich der Fall des Rosenkavaliers: die zwischen dem Beginn der Gesamtproben und der Aufführung des Werkes gelegene Zeit war, wohl infolge der großen, durch die auswärtigen Solisten verursachten Kosten, zu kurz angesetzt, um der Öffentlichkeit eine künstlerisch standhaltige Einrichtung des Stückes zu bieten. In beiden Fällen ein ganz ähnliches Bild: in der letzten nichtöffentlichen Probe Bestürzung der Hauptbeteiligten über allzugroße Länge, und Unmöglichkeit, in der Eile die richtige kürzende Bearbeitung zu finden. Bei der Ariadne war diese mit Beseitigung eines, wenn auch nur kleinen Teils der Musik und Schonung großer schauspielerischer Längen, für viele andere Bühnen einfach unannehmbar; man stellte an manchen die ganze Musik und die von Hofmannsthal hinzugeschriebene Regieszene, die wertvollste des ganzen Schauspiels, wieder her und strich dafür in der eigentlichen Komödie einen großen, ja mehr als einstündigen Teil. – Anders beim Rosenkavalier. Entgegen der Krankheitsbestimmung, welche die Abnahme größerer Körperteile für unerläßlich erklärte, lebte die zarte Lichtgestalt des lyrischen Zeitbildes mit dem ungeheuren Fremdkörper der Intriganten-Plattheiten und Hanswurstspäße am süßen Leibe in äußerlicher Gesundheit fort, zum Schmerz derer, welche die unvergleichliche Partitur verdientermaßen lieben. Und es wäre so leicht, das Störende zu beseitigen, ohne dem klaren Verlauf der Handlung zu schaden.


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