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Meiningen

Oktober 1885 – April 1886

Zum Verständnis der folgenden Zeitspanne in Straußens Leben, der für seine ganze Stellung zu Ausübung und selbständigem Schaffen in der Tonkunst entscheidenden Wirkung nur weniger Monate, in denen er Bülows geistiges Arbeiten aus nächster Nähe schaute, muß man sich zurückrufen, wie vortrefflich vorbereitet er nach Meiningen zu seinen ersten Orchesterproben kam. Das rein Technische der Instrumente war ihm von Jugend an geläufig und durch das Mitspielen im Orchester noch vertrauter geworden; er selbst schrieb schon einen glänzenden Orchestersatz im älteren Stil; in der restlosen Aussprache seiner Gedanken in Tonformen jeder Art war seine Gewandtheit vollständig. Formell nach allen Richtungen reif, schien sein ganzes Wesen nur auf den lebendigen Eindruck einer großen musikalischen Persönlichkeit zu warten, um im Sinn des Fortschritts fruchtbar zu werden. – Am 1. Oktober 1885 trat er seine Stelle an dem unter Bülow weltberühmt gewordenen, nur 48 Spieler umfassenden Orchester an. Auch das Meininger Schauspiel stand damals auf dem Gipfel seines durch ausgedehnte Kunstreisen hochgehaltenen Ruhms, so daß selbst ein Bülow äußerte, er habe Mühe, sein Orchester auf der Eindruckshöhe dieses Ensembles zu halten. Gerade in jenem Winter war das Schauspiel nicht auf Gastreisen; Strauß besuchte sämtliche Vorstellungen, und sie gaben ihm Wirkungen ganz anderer Art, als die nie ganz geschlossenen des Münchener Hoftheaters. Auf den Riesenschritt, der seinen Macbeth (1887) vom Vorhergehenden trennt, war dieser Umstand nicht zuletzt von Einfluß. Sofort begann nun das Lernen unter Bülow, dem ersten damals lebenden Meister. Strauß schreibt darüber in der für Paul Riesenfeld verfaßten handschriftlichen Lebensskizze, die er 1898 auch der »Musik« zur Verfügung stellte: »Oktober 1885 täglich Proben der Meininger Hofkapelle unter Bülows Leitung, worin ihn Bülow zum Dirigenten in seinem und Wagners Sinn erzogen hat.« Bülow übte in diesen sechs Wochen, bis Mitte November, täglich von 9-1 mit der Kapelle die Spielfolge für die bald anzutretende Konzertreise, und da er auch die Proben auswendig leitete, konnte Strauß stets die Partitur nachlesen. Zahlreiche Hauptwerke von Beethoven, Wagner, Brahms, Raff u. a. wurden durchgenommen. Die Darstellung von Beethovens Sonaten in dem dreiwöchigen Frankfurter Kurs Bülows und die im gleichen Sinn wirkende Darlegung seiner Symphonien auf diesen Meininger Proben wurden bestimmend für Straußens gesamte Kunstauffassung bis auf den heutigen Tag. Noch im Jahre 1909, also fast ein Menschenalter später, schrieb er für die Weihnachtsnummer der Neuen Freien Presse unter »Persönlichen Erinnerungen an Hans v. Bülow«: »Das Bild der Werke, die er damals probierte, steht seit dieser Zeit unverrückbar vor meiner Seele. Besonders die Art, wie er den poetischen Gehalt der Werke Beethovens und Wagners ausschöpfte, war absolut überzeugend. Da war nirgends ein Zug von Willkür, alles zwingende Notwendigkeit, aus Form und Inhalt des Werkes selbst heraus; sein hinreißendes Temperament, stets von strengster künstlerischer Disziplin und einer Treue gegen den Geist und Buchstaben des Kunstwerkes regiert, brachte in peinlichsten Proben die Werke zu einer Reinheit der Darstellung, die für mich heute noch den Gipfel der Vollkommenheit der Wiedergabe von Orchesterwerken bedeutet. – Sein Wahlspruch war: Lernt erst die Partitur einer Beethovenschen Symphonie genau lesen, und ihr habt auch schon die Interpretation.« Bülow erzählt in seinen Briefen an Spitzweg, mit welch verblüffender Sicherheit Strauß sofort den Taktstock führte, ein Beispiel zu der Beobachtung: princeps orchestrae nascitur: als Orchesterleiter wird man geboren.

Gleich beim Antritt seiner neuen Stellung lernte Strauß in Meiningen Bülows alten Freund, Alexander Ritter, kennen, der an der ersten Violine im Orchester mitwirkte. Bülow wußte, daß sein damaliger Abgott Brahms für den ausschließend fortschrittlich gesinnten Ritter ein Gegenstand des Abscheus war; doch wurde dieses Thema bei dem häufigen gemütlichen Zusammensein der drei Männer nach den Proben vermieden. Bei Ritter, der mit Frau und Töchterchen dort lebte, brachte Strauß während seines halbjährigen Aufenthalts in Meiningen bald einen ansehnlichen Teil seiner Abende zu. Ritter gehört nach Tätigkeit und Leiden zur echtesten deutschen Edelmusikerart. Als Komponist mit der weihevoll ernsten Schönheit seiner Orchesterdichtungen, die eine Fortentwicklung über Liszt hinaus bedeuten, nicht durchgedrungen, war er froh, als sein alter Dresdener Schulkamerad Bülow ihn 1882 ins Meininger Hoforchester berief, welche Stellung er, wie dieser schreibt, »aus Interesse an meinem Musikmachen akzeptiert«. Er bezog dort neben seinen Einkünften aus Bearbeitungen für Verleger und aus der in Würzburg ihm noch gehörenden Musikalienhandlung, die er sieben Jahre lang geleitet, 900 Mark Jahresgehalt statt der üblichen 600. In der erwähnten Lebensskizze schreibt Strauß an einer der wenigen Stellen, die über äußerste Knappheit der Angaben hinausgehen, wie Ritter ihn, »den bis dahin streng klassisch Erzogenen; nur mit Haydn, Mozart, Beethoven Aufgewachsenen, soeben erst durch Mendelssohn über Chopin, Schumann, bei Brahms Angelangten durch langjährige liebevolle Bemühungen und Belehrungen endgültig zum Zukunftsmusiker gestempelt hat, indem er ihm die kunstgeschichtliche Bedeutung der Werke und Schriften Wagners und Liszts erschloß. Ihm dankt er allein das Verständnis dieser beiden Meister, und er hat ihn auf den Weg gewiesen, den er nun selbständig zu gehen imstande ist. Er hat ihn auch in die Lehren Schopenhauers eingeführt. Ritter war außerordentlich belesen in allen philosophischen Werken, in der neuen und alten Literatur. Sein Einfluß hatte etwas Sturmwindartiges. Er drängte mich dazu, das Ausdrucksvolle, Poetische in der Musik zu entwickeln nach den Beispielen, die uns Berlioz, Liszt, Wagner gegeben haben.«

Schon gegen die Mitte des Monats Oktober verreiste Bülow auf einen Tag und überließ Strauß die Einstudierung von Brahms' A-dur-Serenade. Mitten in der Probe erschien die Erbprinzessin mit Gefolge und bat, ihr die Holländerouvertüre vorzuspielen, wobei Strauß »mit dem Mut der Verzweiflung seinen Takt schlug«. Bülow hätte ihn wohl gleich im ersten Konzert der Spielzeit seine Symphonie dirigieren lassen. Aber Brahms, der am 15. nach Meiningen kam, um seine eigene, die neue Vierte, einzustudieren, hatte gebeten, dies bis dahin aufzuschieben. In die Brahmssche Art hatte sich Strauß so eingelebt, daß Bülows leidenschaftliche Vorliebe für diesen Meister sich trefflich mit seiner Aufnahmefähigkeit vertrug – bis zu dem Augenblick, in dem sein eigenes Schaffen persönliche Gestalt gewann. Dann freilich kam der Umschlag von Grund aus. – Am Sonntag, den 18. Oktober 1885, um 4½ Uhr, erfolgte die doppelte Feuertaufe von Strauß; zwischen Beethovens Coriolanouvertüre und siebenter Symphonie spielte er Mozarts c-moll-Konzert mit den von ihm selbst komponierten Kadenzen und dirigierte dann seine Symphonie. Brahms sagte: »Ganz hübsch, junger Mann,« empfahl ihm, als Beispiel für Themenerfindung die Schubertschen Tänze zu studieren, und warnte vor thematischen Spielereien, wie dem Übereinanderschachteln mehrerer nur rhythmisch gegensätzlicher Themen über einem Dreiklang. Bülow aber schrieb an Hermann Wolff in Berlin über Strauß' Eindruck auf Brahms: »Br. sehr warm (rar!) auf ihn zu sprechen;« und ferner: »Rich. Strauß' Symphonie recht sehr bedeutend, originell, formell reif, und er ein geborener Dirigent. Er macht sich in jeder Beziehung vortrefflich, elastisch, lernbegierig, taktfest und taktvoll, kurz, eine firstrate Kraft. NB. Er hat bisher noch gar nicht dirigiert – auch noch niemals öffentlich klaviziniert, aber es gelingt ihm das Mozartsche Konzert, wie alles Übrige, gleich aufs erste Mal.« – »Strauß homme d'or. Symphonie famos. Sein Spieler- wie Dirigentendebut geradezu verblüffend. Wenn er Lust hat, so kann er mit S. H. Genehmigung mein sofortiger Nachfolger werden. Dies einstweilen unter uns.« Arn 25. war Brahmskonzert: Vierte Symphonie, Violinkonzert, gespielt von Brodsky-Leipzig, und Akademische Festouvertüre, bei der, um die Streicher nicht noch mehr zu verringern, Bülow und Strauß das Schlagzeug übernahmen und, des Pausenzählens ungewohnt, nur mit der größten Mühe mitkamen, ja sogar ansehnlich »patzten«, wie Strauß erzählt. Wenige Wochen später schon erfolgte die dauernde Trennung. Das Verhalten von Brahms, von ihm selbst brieflich gegen Bülow reuevoll als unfaßliche Dummheit bezeichnet, daß er, entgegen der Abmachung, seine Vierte zuerst in Frankfurt durch die Meininger aufführen zu lassen, sie statt dessen im dortigen Museumskonzert selbst leitete, beschleunigte Bülows längst beschlossenen Rücktritt, der noch im November folgte. Am 1. Dezember richtet er seinen Dank an Strauß als den in einer am gleichen Tag überreichten Abschiedsadresse des Hoforchesters zu Oberst Unterzeichneten. Von diesem Tag an leitete Strauß die Hofkapelle allein und studierte in den täglichen Proben einen großen Teil des gesamten Konzertspielplans älterer und neuerer Richtung durch. »Meine schöne Lehrzeit in Meiningen ging am 1. April 1886 zu Ende.«

Gleichzeitig mit dem Emporkeimen neuer Welten in ihm, welche die gärend subjektive, persönliche Art, in der Bülow empfand und musizierte, erstehen ließ, ging die ausübende Pflege der an Gegebenem sich weiterfühlenden bisherigen Weise fort. Anfang Dezember spielte er bei einer Kammermusik im Reunionssaal des Hoftheaters vor dem Herzog den ungemein schwierigen Klavierpart seines preisgekrönten Quartetts. Es gefiel auch dem Publikum, »was mich sehr wunderte, da es durchaus kein gefälliges und einschmeichelndes Werk ist«, schrieb der Autor an Bülow. Das Weihnachtskonzert brachte: Manfredouvertüre, Reifs Klarinettenkonzert, von Mühlfeld geblasen, und Brahms' dritte Symphonie, die Strauß damals noch mit Begeisterung leitete. Das Schlußkonzert, das ihm stürmische Ehrungen brachte, enthielt seine Konzertouvertüre; die Ozeanarie, gesungen von Therese Malten; Variationen und Vierte Symphonie von Brahms unter Leitung des Autors. Der Eindruck auf Strauß war derart, daß er dann in München mit Thuille und anderen eine Skatkasse zur Anschaffung der Partitur gründete, deren Besitzer das Los entscheiden sollte. – Auf der letzten Probe mit dem Hoforchester am 1. April 1886 feierte Strauß Bülows Andenken durch eine zuhörerlose Aufführung von dessen Tondichtung Nirwana. Sein Abschied von Meiningen, wo durch Bülow und Ritter die für sein weiteres Leben zur Entfaltung bestimmten Keime in ihn gelegt worden waren, zeigt, wie sehr man ihn dort zu schätzen wußte. Am folgenden Tag verlieh ihm, der Herzog das Verdienstkreuz für Kunst und Wissenschaft, während Straußens Mutter und Schwester zum Besuch dort weilten. Montag, den 5. April, hielt er die letzte Probe im Gesangverein, der ihm zum Abschied ein künstlerisch ausgeführtes Kästchen mit Ansichten von Meiningen überreichte. Am folgenden Tag fuhr das Schauspiel nach Barmen; auch der Herzog war abwesend; es wurde öde und leer in der Stadt. Am zehnten, dem Tag nach dem letzten Kammermusikabend, verließ auch Strauß die freundliche kleine Residenz.

War Strauß als Dirigent in Meiningen ein anderer geworden, als er nach den vorhergehenden, in München und Berlin empfangenen Eindrücken jemals von sich selbst hätte ahnen können, so zeigten sich tonsetzerisch in erster Linie die dort vervollständigten Brahms-Eindrücke wirksam. Geschrieben hat er in Meiningen nur die Burleske für Klavier und Orchester, die seltsamerweise vier Jahre lang auf die Aufführung warten mußte. Er vollendete sie erst nach Bülows Abreise, war aber nach dem: ersten Durchspielen mit Orchester sehr entmutigt und geneigt, sie für »reinen Unsinn« zu halten, wie er an Bülow schrieb. In einer unbekannten nachher angefangenen Rhapsodie in cis-moll für Klavier und Orchester begann er nach dieser Erfahrung anstatt des ersteren eine Harfe dem Orchester beizugeben. Den Klavierpart der Burleske hatte der Meister, für den er bestimmt war, bereits gesehn und trotz des geistsprühenden Gehalts und der pianistischen Dankbarkeit für unspielbar erklärt. Bei diesem Urteil vergesse man nicht, daß damals die maßvoll edle konservativ geartete Schönheit eines Saint-Saëns, besonders dessen Heinrich VIII., Gegenstand seiner immer neuen Bewunderung war und er bereits sehr schwer mit Neuem Fühlung nahm. Die Burleske gibt sich als ein etwas ausgedehntes, aber durchaus glänzend dahinrauschendes, geistsprühendes Stück voll köstlicher Lebendigkeit, doch in keiner Weise ausschweifend; dem Gehör des heutigen Konzertbesuchers mutet sie nichts zu, was es nicht mit größtem Vergnügen sich zu eigen machen könnte. Die Einheit von Tempo, Takt, Tonika (in Dur und Moll) und Thematik lassen das Werk als abgerundete Schöpfung echt symphonischen Stils erscheinen. Eigenartig beginnt die Pauke auf vier Kesseln

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In einer rhythmischen Verschiebung grüßt Brahms:

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In reizenden Stellen hält das Klavier mit der Pauke kleine Zwiegespräche, in denen alle Geister schalkhaften Humors lachen. Das Stück wurde lange Jahre vernachlässigt zugunsten tausendfacher Wiederkäuerei.

Wir sehen den 21 jährigen jungen Meister im Frühling des Jahres 1886 voll des Dranges, all das Gewaltige, das er in diesem glücklichen Winter »gelernt«, das heißt, was Bülow aus dem Unbewußten in ihm geweckt hatte, nun auch auf anderem Boden, als dem es entsprossen war, zu betätigen. Das treulose Glück aber wollte nicht, daß ihm, den doch sein Meister ausdrücklich für fähig erklärte, jetzt schon an erster Stelle zu wirken, der langjährige Leidensweg teils überhaupt beschränkter, teils für ihn persönlich bedrückender und unbefriedigender Verhältnisse erspart blieb. Seine Leistungen hatten nur das kleine Meiningen zum Zeugen gehabt, und Bülow, der sie rühmend in die Welt hinaustrug, war selbst mancherorts bei den Machthabern nicht beliebt; auch wurden gerade damals keine erreichbaren Stellen frei. In Meiningen hieß es, die Kapelle solle verkleinert werden. Ehe sich die Lage noch geklärt hatte, bot ihm der Münchener Intendant v. Perfall die Musikdirektorstelle am Hoftheater an, von der aus er sich zum Hofkapellmeister emporarbeiten könne. Bülow riet (Dezember 1885) von Petersburg aus, die bisherige Stelle, bei einigermaßen künstlerisch günstigen Abmachungen mit dem Herzog, festzuhalten: »Sie gehören zu den Ausnahmemusikern, die nicht von der Pike auf zu dienen nötig haben, die das Zeug haben, sofort einen höchsten kommandierenden Posten zu bekleiden. Pas de zèle – Aufschieben. Sich der, freilich für Ihren regen Geist nicht sonderlich drohenden Gefahr, an den Ufern der Isar zu verphilistern, zu verrüpeln, eventuell zu verprotzen, zunächst nicht exponieren.« Strauß wäre, wie er Bülow antwortete, jede andere gute Stellung lieber gewesen, da er »die Welt nicht bloß in München kennen lernen« wolle. Aber es zeigte sich nichts Erwünschtes, und so sagte er Perfall zu. An Ritter hatte er sich in Meiningen derart angeschlossen, daß es ihm Herzenssache war, auch den Freund zur Übersiedlung nach München zu bewegen. Ritter hatte das dortige Hoftheater von der Uraufführung seines Einakters »Der faule Hans« noch in bester Erinnerung und stimmte zu. Bülow empfahl ihn brieflich an Spitzweg, als seinen »alten liebenswürdigen Schulkamerad, Komponist des ›Faulen Hans‹ und Freund des fleißigen Strauß«. Eine Woche hielt sich Strauß Anfang April (1886) in München auf, wo er den geldlich äußerst bescheidenen Vertrag mit v. Perfall unterzeichnete. Dann trat er die italienische Reise an, zu der ihm Brahms geraten. Mit keinem Wort Italienisch, was Bülow sehr bedauerte, und so wenig Französisch, als man eben damals vom Münchener Gymnasium mitbekam, zog er fort, um Rom, Neapel, Capri, Sorrent, Pompeji, Florenz, Comersee, Vierwaldstädtersee zu sehn. In Italien empfing er jene mächtigen Eindrücke von Natur und Kunst, die zu dem ersten echt Straußschen großen Werk, der Italienischen Fantasie, die Stimmung gab. »Ich habe nie so recht an eine Anregung durch Naturschönheit geglaubt, in den römischen Ruinen bin ich eines Besseren belehrt worden, da kamen die Gedanken nur so geflogen,« schrieb er an Bülow. Die Entwürfe zum zweiten Satz z. B. entstanden in den römischen Caracalla-Thermen. Wir können erst später betrachten, wie sich diese Ströme neuen Empfindens, die aus den Eindrücken einstigen großen Menschentums, herrlicher Natur und der Zeugnisse einer mächtigen Vergangenheit herflossen, zum fertigen Kunstwerk gestalteten. Erst gilt es, die Entwicklung anderer Triebkräfte aus jenem überreichen Zeitraum in Straußens Leben zu überblicken und die äußeren Umstände kennenzulernen, die sich mit kleinlicher Tücke in den Weg des zum Großen Bestimmten stellten.

Der Dirigent Strauß, wie er sich in Meiningen entwickelte, steht in der Reihe jener, deren echte Ahnen am Pult Lully, Gluck, Spontini, Weber, Liszt, Wagner, Bülow sind. Diesem ist er ein Schüler von unvergänglicher Treue geworden, der sich trotz des unendlich vielen rein Persönlichen, das er selbst gibt, noch heute als solcher bekennt. Lehren läßt sich diese Art des Dirigierens natürlich nicht, nur erwecken, bei dem, der durch sein Empfinden dazu vorbestimmt ist. Denn es handelt sich bei ihr darum, jeden Takt einer überhaupt wertvollen, vor allem der klassischen Musik, aus dem eigenen Empfinden heraus wiederzugeben, und wo ein solches nicht von selbst unversiegbar quellend einsetzt, wäre jene »Bülowsche Art« bloße Redensart oder vergebliche Absicht. Die Grundlage bot Strauß außer seiner genialen Musiknatur die Kenntnis des Orchesterkörpers durch frühes Anhören, Mitwirken und das Studium zahlreicher Partituren. Die Wagners sahen ihn in München gar oft allein im Arbeitszimmer, wo er bei schwierigen Stellen wie im Ernstfall abklopfte und wiederholte, sobald er sich nicht genügt hatte. Durch die Tätigkeit am dortigen Hoftheater mit dem damals schon bequem gewordenen Orchester gut eingeübt, beherrschte er später in Weimar als Meister Wagners Werke, wie die Manuskriptopern von Zeitgenossen. Mit größter Raschheit und Schärfe wußte er nachmals als Dirigent des Berliner Tonkünstlerorchesters die Richtlinien für das charakteristische Erfassen und rasche Herausarbeiten der Absichten noch unbekannter und teilweise noch nicht ausdruckssicherer Künstler festzustellen. Die Bestimmtheit und Schnelligkeit, mit der er selbst minderen Orchestern seine Auffassung eigener und fremder Werke beibrachte, entwickelte sich in erstaunlichster Weise. Von der Mitte der neunziger Jahre an, als ein Jahrzehnt hindurch kaum ein großes deutsches Musikfest ohne ihn geplant wurde, weil seine Persönlichkeit, besonders am Rhein, schon mit zur Feststimmung gehörte, bemühte man ihn zuweilen auch für weniger passende Aufgaben; so hat er in jener Gegend gelegentlich mit einer über die Mittagszeit währenden Korrektur(!)-Probe Bachs »Zufriedengestellten Äolus«, in Krefeld nach halbstündiger Verständigung das Duo aus Feuersnot, in dem er das noch unsichere Orchester bewundernswert geistesgegenwärtig, großzügig zusammenhielt, in Köln gar, sicher seit Meiningen zum erstenmal, Mozarts Requiem, und anderswo oft mit entwaffnend ahnungslosen Zivil- und Militärmusikern die von der jeweiligen Ortsgröße nach Kräften vorbereiteten modernen Tondichtungen geleitet. Was er dabei als Erzieher des Orchestermusikers im In- und Ausland an Kunstwerten schuf, wenn er in einer Spielzeit zuweilen mit über 30 Körperschaften probte, ist unermeßlich und nur vom Praktiker ganz zu würdigen. Zwar tut der Orchestermusiker im allgemeinen nach Seite der feineren Ausführung nichts von selbst, aber wenn einer, der einmal unter Strauß tätig war, jemals wieder unter einem anderen berufenen Leiter spielte, so war diesem der Boden zur Erzielung höherer Leistungen vorbereitet. Auch das mehr süddeutsche »suaviter in modo, fortiter in re« seiner Orchestererziehung kam der Sache gewiß zu statten. Im Januar 1914 konnte Strauß in seinem weitbekannt gewordenen Brief an den Oberbürgermeister einer großen Stadt betonen, daß er »die Orchester fast der ganzen zivilisierten Welt dirigiert« habe. – Hier machen wir die ganz natürliche Beobachtung, daß gerade überragende Erscheinungen, wie Strauß, die Mängel ihrer Umwelt, da, wo sie mit ihr in Berührung kommen, besonders scharf vor Augen führen. Es fand sich später nach Weimar keine Hauptstadt, die fähig war, entgegenzunehmen, was er ihr in unbeschränkt leitender Stellung hätte bieten können und was er in Weimar nach Maßgabe der geringen Mittel bot: die Schaffung eines! vorbildlichen Bühnen- und Konzertkörpers für die geschichtlichen Hauptstile. Diese Möglichkeit galt ja im allgemeinen bei den Höfen für nichts, gegenüber der, einem durch die eigene Persönlichkeit oder die seiner Ahnen ausgezeichneten Kavalier und Kunstliebhaber, oft auch nur Kavalier, eine angenehme und würdenreiche Stelle zu verschaffen, seit eine kunstfremde Reaktion zugunsten der alten richtigen Hof-Theaterzeit wieder eingesetzt hatte. Mancher würde vielleicht teilweise oder ganz auf die einträglichste Wandertätigkeit, wie Strauß sie im Nebenamt viele Jahre lang ausübte, verzichten, wären nicht die Fürsten, ja selbst die Städte allzu selten, die eine erste Größe in dieser Art an sich zu fesseln suchen. Was Strauß schon damals zugekommen wäre, die unbedingte künstlerische Leitung eines mit ersten Kräften arbeitenden Opernkörpers, fand er erst in seinem 56. Lebensjahre in Wien.


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