Hermann Stegemann
Die Krafft von Illzach
Hermann Stegemann

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Wenige Tage darauf schrieb Konrad von Eggheim an seinen Schwager Klaus Krafft nach Straßburg, ob er Claudine nicht für längere Zeit zu sich laden wolle, sie entbehre in dem unwirtlichen und einsamen Hause und in dem Städtchen, wo ihr jeder Umgang fehle, zu viel und werde eine Einladung gewiß gern annehmen.

Und Klaus Krafft antwortete:

›Ein Brief unter Männern, Schwager Eggheim. Meine Schwester hat sich nicht von Ihnen getrennt, was ich lieber gesehen hätte als dieses Sich-Verkämpfen, in dem ihr beide verstrickt seid. Ich bin im Lande geblieben, denn ich bin zu sehr Landwirt, sagen wir Bauer, um den Boden an den Schuhen abzutreten und nach Frankreich zurückzukehren.

›Wir Illzach sind zwischen Vogesen und Rhein zu Hause, wir werden es bleiben. Aber mehr darf man nicht verlangen. Das heißt Loyalität, das versteht sich. Ich bin niemand Rechenschaft schuldig von meinen Gefühlen, nur von meinen Handlungen.

›Wir beide sind vor drei Jahren gegeneinander unter den Waffen gestanden und ich bin auch Ihnen gegenüber offen und sage Ihnen, daß ich Sie achte, daß ich auch in Ihnen den Gemahl meiner Schwester respektiere, aber Ihnen keinen Dienst leisten werde, der Claudinen beeinflußt in ihrem Verhältnis zu Ihnen. Ich weiß, daß Sie das Verhältnis von Mann zu Frau anders auffassen als ich, deshalb sage ich Ihnen das, ehe ich Claudine einlade.

›Wird aber meine Schwester in ihrem elterlichen Hause 283 und unter uns durch unsere alten mächtigen Familienüberlieferungen und unser französisches Kulturempfinden wieder von Ihnen weggeführt, vielleicht gar zu dem Entschlusse gebracht, ihr Leben doch auf eine neue Grundlage zu stellen, so werde ich diese Wendung als gute Schicksalsfügung begrüßen. Das muß ich Ihnen sagen. Wenn Sie das nicht bedacht hatten, als Sie mich direkt um die Einladung baten, so ist dieses Avertissement vielleicht nicht klug von mir. Aber ich habe Ihnen gesagt, ich will loyal handeln, und ich gebe es Ihnen daher trotzdem und will erwarten, ob Sie Claudine trotzdem reisen lassen.

›Wir bleiben bis Ende Februar in der Stadt, kehren dann nach St. Niklausen zurück, und ich werde dort im März den ersten Familientag seit dem Schreckensjahre ausschreiben.‹

Konrad von Eggheim las den Brief und wog jedes Wort, las ihn dann noch einmal, diesmal fliegend, einen kräftigen Puls in den Fingerspitzen, in denen das Blatt vom Stoß seines Herzens leicht zitterte, und legte ihn darauf in die Brieflade.

Drei Tage später erhielt Claudine die Einladung ihres Bruders. Sie saßen bei Tisch. Grauer Tag stand vor den Fenstern und klirrte im gefrorenen Lindengeäst. Kalt und unwohnlich starrte das Haus.

»Ich habe eine Einladung von Klaus erhalten und –« Sie zögerte und blickte ihn prüfend an.

»Eine Einladung? Zu einem Besuche – also wohl nach Straßburg – wenn ich recht verstehe,« füllte er die Unterbrechung artig aus.

»Ja, so ist's, und ich nehme die Einladung an,« erwiderte sie rasch, eine helle Röte in den Wangen.

Seine Kühle hatte sie gereizt und den Nachsatz erzeugt, zu dem sie zuerst noch gar nicht entschlossen gewesen war.

»Du bist hier recht einsam – ich begreife deine Freude,« entgegnete er ruhig, aber ein ganz klein wenig Bitterkeit drang doch durch.

284 Argwöhnisch, unsicher blickte Claudine ihn an.

Ein Stillschweigen, in dem ihnen schwer zumute wurde, legte sich auf sie.

Als Claudine die Reise nach Straßburg antrat, begleitete sie ihr Mann an den Bahnhof, und sie sprachen bis zur Ankunft des Zuges in guter Haltung von gleichgültigen Dingen.

Zwischen Einsteigen und Abfahren lag eine Minute, die streckte sich zur Ewigkeit. Sie sprachen nicht mehr, er sah ihr weißes Gesicht hinter der frostbeschlagenen Scheibe. Endlich setzte sich der Zug in Bewegung und verschwand im schweigenden Tal, über das die Krähen ruderten und die Rauchballen flogen.

›Du machst wohl die Probe aufs Exempel, Konradel,‹ schrieb Tante dem Strohwittling von Dornkirch, ›das ist forsch von Dir. Ich mein als, sie hat zu lang aus Stolz ausgehalten, um nun aus Fremdheit und Fremdtun aus der Ehe zu laufen. Denk freilich alleweil, daß es keine Kleinigkeit ist, was Claudine erlebt hat durch den Krieg und nach dem Krieg. Sie steht zwischen zwei Mächten, ist beinahe wie das Elsaß selber, weiß nicht mehr, wem sie gehört. Nun wollte sie zu allererst einmal sich selbst gehören. Das ist respektabel, Konrad, und ich wollte, dazu brächtet ihr Mannsleut und regierende Herren auch zuerst einmal das Elsaß. Nachher findet sich das andere schon. Das heißt, wenn ihr stark genug seid, es festzuhalten. Also laß ihr die Freud, Du hast ihr die Tür aufgemacht – geb Gott, daß sie Dir wieder zurückkommt. Man hat sich ja doch nicht jahrelang im Arm gehabt ohne Stücke ineinander zu verlieren, auch wenn's noch nicht die große Liebe gewesen ist. Weißt Du, Kreisdirektor, die kommt überhaupt erst in der Ehe, nach dem ersten Kind, manchmal sogar erst nach dem ersten Grab. Kannst übrigens einmal Hasen schießen kommen. Memmingen läßt sie mir den Rosenkohl im Garten abfressen, der Gichtkrauter. In der Ersten Kammer hat er den Platz geräumt, da ist jetzt der lange Marschall von 285 Biberstein, ein feiner Kopf, in die erste Reihe gerückt. Du kennst ja die Neuershäusener mit ihren klugen Augen und starken Kinnbacken.‹

Konrad hatte keine Zeit, Tante Memmingens Kohl zu schützen. Er sagte auch eine höfliche Jagdeinladung seines Schwagers Klaus ab, nahm sich aber vor, dem Familientag nicht fern zu bleiben.

Claudine fand sich in dem Haus der Familie an der Kalbsgasse zwar daheim, aber seltsam – ihre Erinnerungen kreisten alle um ihren letzten Aufenthalt in diesen Räumen. Wie sie mit ihrem Kinde hierhergeflüchtet war und hier gesessen und – sie gestand es sich heute – auf Konrad gewartet hatte, das ging ihr in der Erinnerung nach. Es schien ihr, als läge es viele Jahre zurück. Als wäre auch dieses Kind schon sehr, sehr lange tot. Aber sie verlor es in diesen Tagen aufs neue. Sie hatte es nicht genug geliebt, ganz gewiß hatte sie es nicht genug geliebt um seiner selbst willen. Und eine unendliche Fülle unverbrauchter und ungelebter Liebe und ein heißes Bedürfnis nach Zärtlichkeit stieg in ihr auf und wurde in einsamen Nächten tapfer von ihr niedergerungen.

Mit ihrer Schwägerin Amélie kam sie zu keinem innigeren Verhältnis mehr. Das war auch früher so gewesen, aber jetzt fiel ihr erst auf, wie eng umgrenzt der Horizont der Frau Klaus Kraffts war; doch eins entging ihr nicht, Amélie liebte ihre Kinder auf das zärtlichste, mit jener weichen, beinahe behaglichen Zärtlichkeit, die zu ihrem gelassenen Wesen stimmte.

Klaus ging zerstreut und unstet umher. Er wartete auf den ersten Vorfrühlingstag, um aufs Land zurückzukehren.

»Ich will wenigstens meine Weinberge und meine Weizenäcker und Rübenfelder unter den Augen haben, wenn ich auch bei unserem Pachtsystem nicht selbst großbauern kann. Aber ich habe doch das Gefühl, zu etwas da zu sein.«

Als er so sprach, gingen die beiden Geschwister über 286 die neugebaute Wallbrücke am Schiltigheimer Tor. Es war noch Schnee in der Luft, aber auf dem Glacis fleckten schon grüne Rasenbänder die weiße, leicht vergilbte Flur.

Und Klaus hob den Kopf aus den Schultern, sog die Luft ein und fuhr fort:

»Es weht von Süden, wir bekommen Tauwetter. Die Wasserhühner rüsten schon zur Hochzeit.«

Auf dem dunklen Spiegel der Festungsgräben glitten die kleinen schwarzen Tauchenten, zu zweien, wie an der Schnur gezogen, unablässig hinter einander her.

Hinter neuen hellen Häusern, rotgesprenkelten Brandmauern und mit Glasfluß bedeckten, glänzenden Ziegeldächern stieg der Münsterturm schwebend in den wolkenverhangenen Himmel. Auf dem Reitweg bewegten die Bereiter der Ulanenoffiziere die hochbeinigen, norddeutschen Pferde, die Klaus mit dem kritischen Interesse des erfahrenen Züchters betrachtete.

»Ja, schon wieder Frühling,« sagte Claudine unwillkürlich.

»Die Zeit vergeht,« antwortete der Freiherr, und beide wußten, was sie damit hatten sagen wollen.

Nach einer Weile nahm Claudine das Gespräch wieder auf.

»Du mußt dir eine Aufgabe suchen, Klaus.«

Er lächelte bitter.

»Weißt du mir eine?«

»Wollten sie dich nicht in eine Assemblée schicken als Deputierten, ich glaube, davon im ›Industriel alsacien‹ gelesen zu haben.«

»Ah, du beginnst dich für Politik zu interessieren! Nun ja, ich sollte in den Bezirkstag gewählt werden, eine deutsche Einrichtung, aber ich habe abgelehnt.«

»Warum?«

»Weil ich es richtiger finde, abzulehnen statt sich wählen zu lassen und dann den Eid der Treue zu verweigern und eine Demonstration zu machen, die dem Lande nur 287 schadet. Aber laß das, Claudine, sag lieber, was ist aus deinem Kampf geworden?«

»Aus meinem Kampf!«

Höher richtete sie die schlanke, wieder mädchenhaft gewordene Gestalt. Abweisend schloß sich den schöngeschwungene Mund ihres schmalen Rassegesichtes.

»Ich weiß von keinem Kampf,« leugnete sie ruhig, während ihre Augen an den Umrissen der neuen Häuser an der Steinstraße hingen.

»Pardon,« murmelte Klaus unsicher.

In ihr aber schrie's: Er hat recht, es muß zu Ende kommen. Zu Ende kommen, denn sie wollte leben, frei sein, atmen können, und atmete die wärmeren Frühlingslüfte mit sehnsüchtigem, schwellendem Empfinden.

Rosig und blaugrün schillerte der Himmel über dem Helm des Münsterturms und dem rotgelb gleißenden, neuen Kupfer des Schiffes zwischen dem graufädigen Gewölk. Im Schein einer noch unsichtbaren Sonne wurde es hell über Straßburg und ging wie erstes scheues Lächeln über ein schlafendes, todesstarres Menschenantlitz.

In diesen Tagen fuhr Claudine mit Klaus nach Fünfhöfen an der Sauer. Im Rebgarten der Ferme Morimann an der Straße von Eberbach nach Morsbronn, dicht am Schnittpunkt der Dorfstraße, lag Marc von Illzachs Grab, auf dem jetzt ein Denkmal aufgestellt wurde. Die Fünfhöfler hatten dazu gesteuert, so schlecht es ihnen auch immer noch ging. Sie ackerten noch zur Tenne gestampften, wie für die Ewigkeit in Kruste gebackenen Boden, sie zerbrachen noch ihre Pflugeisen an verrosteten Waffen und hatten noch die Pestnot im Stall und den Typhus in den Stuben. Der Odem der Schlacht hing immer noch über dem Hügelland von Wörth.

Als sie hinfuhren, lief der Südwind hinter den Gäulen. Nur von den Schroffen des Breuschtales glänzte noch verharschter Schnee.

Noch ernster gestimmt, von Erinnerungen schmerzlich heimgesucht, kehrten sie zurück.

288 Am ersten schönen Tag gingen sie aufs Land.

An Klaus Kraffts Geburtstag sollte der erste Familientag der Krafft von Illzach gehalten werden, seit Marc gefallen, der Vater gestorben war und die kleine Josephine von Eggheim ihr flüchtiges Leben gelebt hatte. Auch Honoré Wurmser, ein Vetter großmütterlicherseits war tot. In Paris am Typhus gestorben, als die Mobilgarde von Champigny zurückgeflutet war.

Klaus Krafft stellte die Liste der Familienmitglieder zusammen.

»René Wurmser ist, als Major brevetiert, aus der Marine-Infanterie ausgeschieden, er wird die Wurmser-de Cernay repräsentieren, wenn er bis zum 19. März bei uns bleibt.«

Klaus stand, noch ausgeblasen von der Fahrt und von einem starken Nachhall des Krieges erfüllt, vor dem Schreibtisch und erbrach die Briefschaften.

Claudine blickte auf.

»Wer, René kommt?« fragte sie, und plötzlich war ihr das Gefühl für Raum und Zeit abhanden gekommen, sie nicht mehr Claudine von Eggheim, die Zeit still gestanden, vier, fünf Jahre, zehn Jahre nicht gewesen.

Auf der Reede von Cherbourg reitet in knatternder Brise die Panzerfregatte ›Conquérant‹ auf ihrem Anker. Der Schlepper knarrt und schnauft, die Radschaufeln peitschen die blaugrauen weißkämmigen Zackenwellen.

Claudine steht im Windschutz des Kamins und blickt durch das Fernglas.

Von der Jacht ›L'Abeille‹, auf der der kleine kaiserliche Prinz zum mexikanischen Geschwader hinausfährt, züngeln die Flaggen. Claudine sieht Papa deutlich mit dem Zweispitz winken.

René ist noch Offiziersaspirant, aber er benimmt sich schon wie ein Held von Puebla und stellt sich breit vor seine Cousine, um sie auch vor den Spritzern der Schlagseite zu schützen. An seinen weißen Beinkleidern ist schon kein Faden mehr trocken.

289 Damals hat Claudine von Illzach ihren ersten Kuß verschenkt.

Dann ging René Wurmser nach Indo-China, kurierte darauf ein halbes Jahr lang in Bajonne eine Opiumleidenschaft und trat in den Bureaudienst des Marineministeriums, kam auf zwei Familientage und drei Jagden nach St. Niklausen und fand bei seiner letzten Jagd Claudine mit Herrn von Eggheim verlobt.

›Sie haben nicht auf mich warten wollen, Claudine,‹ hatte er damals mit einem gezwungen-liebenswürdigen Lächeln gesagt und ihr mit trockenen Lippen die Hand geküßt.

Und: ›Ich bitte um einen Abschiedskuß, es geht ja in den Krieg,‹ hatte er ihr mit einem starren, leidenschaftlichen Lächeln zugeraunt, als die Kriegserklärung wie ein Blitz aus blauem Himmel in St. Niklausen einschlug und er nach Cherbourg zur Marine-Infanterie des Nordgeschwaders eilte. Aber in der grauen Nordsee verschwammen Weg und Ziel, und als René Wurmser zum ersten Mal Boden betrat, war's in Dünkirchen und nicht in Schleswig, und die Preußen standen vor Paris. Bei St. Quentin fiel er nach hartem Kampf in Gefangenschaft.

In Claudinens Gedächtnis war sein Name untergesunken wie ein weißer Stein im tiefen Wasser. Der letzte Schein, der letzte Wellenflimmer längst vorüber, aber jetzt stieg nach fünf Jahren eine schillernde Luftkugel aus dem dunklen Grund und schwebte langsam zur Oberfläche. –

In einer gewaltigen Regenflut wusch der Vorfrühling das dampfende Land, dann zog die Sonne ihre breite Bahn vom Schwarzwald zu den Vogesen, und aus dem fruchtbaren Boden stach stahlblaues Korn, die blühenden Kirschbaumalleen liefen als schimmernde Bänder ins Weite, an den Pappeln flirrten blaßgrüne Blättlein, und der Duft des Flieders stieg in trunkenen Nächten aus den Bürgergärten elsässischer Landhäuser. Schon klirrte 290 in den Rebbergen die Schere, hefteten die Rebleute die geschmeidigen fasernden Ranken im klassischen Bogenschwung an die grauen Pfähle.

Klaus Krafft von Illzach stand auf der Schloßterrasse von St. Niklausen. Mit Büscheln pelzröckiger Weidenkätzchen kam Claudine aus dem Park, die Kinder Amélies in den eng gerafften Röcken.

Aufatmend blieb sie neben ihrem Bruder stehen und schickte Louis und Jeanne mit den Blütenzweigen ins Haus.

Am Spalierobst bastelte Kestle mit seinem einzigen Arm, das krumme Rebenmesser im Ledergurt. Goldklare Märzsonne brannte ihm auf das verwetterte Gesicht.

»Fährst du mit nach Kolmar, den ersten Gast abzuholen?« fragte Klaus.

Sie blickte zerstreut, mit blicklos wandernden Augen, die nur Licht und Leben saugten, ohne am Gegenständlichen zu haften, über das ruhende Land.

»Wozu? – Aber wenn du nicht gern allein fährst, selbstverständlich.«

»Ja wozu? Ich könnte ja auch hier bleiben, den Wagen schicken! Aber man muß sich zu tun machen.«

Er strich sich langsam über das gealterte, von Gedankenarbeit gezeichnete Gesicht.

Als er am Nachmittag, René Wurmser mit einem Arsenal von Jagdflinten neben sich, zurückkehrte und der Wagen den Baumgang heraufkam, verließ Claudine ihren Platz am Fenster, um mit Amélie dem Gaste entgegen zu gehen.

Es war René Wurmser, wie er vor fünf Jahren gewesen war, der feingliedrige, dunkeläugige Mensch, dem von irgendwoher ein Tropfen Kreolenblut in die Adern gefallen war; nur an der linken Schläfe lief jetzt eine silberne Strähne im leichtgelockten Haar.

Er küßte Amélie, die ihm mit ihrer lässigen Anmut die Wangen bot, leicht und kaum den Puder streifend, auf die Wange und hielt dann Claudinen mit einer 291 bittenden Gebärde die Hand hin, um ihre zum Handkuß zu empfangen.

»Das ist alles, was ich wage, Cousine Claudine,« sagte er mit einem Lächeln, das Bescheidenheit heucheln sollte.

Sie sah die Augen, die beweglichen Brauen, den kleinen französischen Schnurrbart, der Lippen und Zähne frei ließ, und das feste, glatte Kinn. Wie jung er geblieben war trotz seines bewegten Lebens!

Mit einem Lächeln, das seinen Ausdruck aus alten Erinnerungen schöpfte, legte sie ihre Finger in seine Hand.

»Ist man wirklich so bescheiden geworden?« fragte sie, und mit einem Schlage war's der alte, zierliche Ton, atmete sie die Luft französischer Galanterie, und unwillkürlich fiel ein zärtlicher Blick auf den gebräunten Nacken unter dem welligen, leicht und frei gekämmten Haar, während René die Lippen auf ihre Hand drückte.

Am Abend traf auch Madeleine Kiener ein, am Tag darauf der Domherr P. Collin d'Illzach von Orléans und mit Kutschpferden aus Markirch die Leberauer Illzach-Fiegenschuh, die ihre großen Kattundruckereien nach dem Kriege in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und die Söhne nach St. Cyr und auf die polytechnische Schule nach Paris geschickt hatten.

In St. Niklausen blühte, abgewandt von der Welt, ein Stück jener feinen elsässischen Geselligkeit auf, die der Krieg weggefegt hatte. Es war, als wollten alle die trübe, drückende Gegenwart vergessen.

Claudine lebte vergangene Tage neu. Wenn der Domherr seine hübschen kleinen Geschichten erzählte oder René mit glücklicher, sorgloser Hand am Piano aus der Schönen Helena und Mignon phantasierte, Madame Fiegenschuh ihre Patience legte, während um die schwerhörige alte Dame die Gespräche schwirrten, dann vergaß sie, wer sie war.

Und wenn sie in der Krypta Kränze ordnete und wieder ans Licht stieg, den jungen Laubwald schüchtern grünen und die Burgruinen auf den Kammhöhen der Vogesen 292 ihre wie mit Goldbronze belegten Zackenmauern und Türme in den milden, von sehnsüchtig ziehenden Wölklein belebten Frühlingshimmel strecken sah, dann mußte sie erst zu sich selbst sagen: Du bist ja nicht mehr Claudine, vergiß nicht, wer du bist!

René Wurmser war schon in der ersten Frühe auf den Füßen. Mit einem Gewehr am Riemen streifte er durch die sprossenden Felder. Er fabelte von Schnepfen.

»Früher verstand er mehr von der Jagd,« sagte Klaus trocken, aber er ließ ihn gewähren.

Bis ins Münstertal, wo die Münsterbahn gebaut wurde, die am Fuße der Schluchtstraße und des Passes nach Gérardmer endete, erstreckte er seine Streifen.

Zweimal fuhr er mit Claudine nach Kolmar. Auch hier wurde gebaut. Die Bahn von Kolmar nach Neubreisach und Freiburg war im Werk.

»Sie bauen, wie wenn's für die Ewigkeit wäre. Sie wollen uns Kosten ersparen,« sagte René Wurmser, und seine Augen waren überall.

Als sie bei der zweiten Rückfahrt am Marsfeld vorbeifuhren, war dort große Bewegung. Die Stadt war still und tot gewesen. Auf der alten Präfektur und dem Appellhof hingen ein paar schwarzweißrote Fahnen schlaff, wie verschämt an die Stangen gedrückt. Kein Lufthauch ging. Am blauen, silberzart auslaufenden Himmel stand eine heiße Sommersonne, obschon man erst den 22. März schrieb.

Claudine lenkte. René saß neben ihr und hatte den Jägerfilz tief in die Stirn gezogen, denn die Sonne blendete ihn. Aus dem Schatten saugten sich seine Blicke an Claudinens schlanker, leicht zurückgelehnter Gestalt fest. Wo die Sonne nicht hintraf, hatte die klare Rosenfarbe ihres Gesichtes einen feinen Elfenbeinton. Sie atmete mit lebhaft bewegter Brust. Er sah ihre Lippen von innerer Erregung zucken. Ihre Augen schienen über die Ohren der Pferde ins Weite zu zielen. Eine Gedankenfalte stand senkrecht zwischen ihren feinen Brauen.

293 Da zerschlug plötzlich ein schmetternder Tusch die Stille. Und noch einmal ein Tusch von Trompeten und Bombardons, Pauke und großer und kleiner Trommel, daß es wie ein wilder barbarischer Aufschrei in die sehnsüchtige Stille brach.

Seitwärts schleuderten die Gäule in jähem Schreck den Wagen, und quergestellt ratterten die hohen Räder über das spitzköpfige Pflaster.

Schon zuckten Renés Hände nach den Zügeln, während er noch, vom Stoß nach rechts geworfen, Leib an Leib gepreßt, mit Claudinen ums Gleichgewicht kämpfte.

»Lassen Sie nur, Vetter, ich halte sie!« stieß Claudine hastig hervor und rief den Gäulen, zugleich mit einem sanften, festen Zug in den Zügeln, beruhigend zu.

Sie hatte sie wieder in der Zucht. Nur die Ohren spielten aufgeregt, und das Handpferd drückte immer noch von der Seite weg, woher die schmetternde Musik klang.

»Ah, die Preußen!«

Starr geradeausblickend, mit keinem Blick nach links auf das Marsfeld und den Rappplatz schielend, wo es blau und rot flammte von Uniformen und Stahl und Eisen blitzte, fuhren sie die Rufacher Straße weiter. Claudine senkte die Peitsche, und die Gäule streckten sich im Lauf.

Aber Claudine hatte mit einem einzigen Blick alles gesehen: Die aufmarschierten blauen Dragonerschwadronen, die dunklen Bataillonskolonnen der Infanterie mit den gelben badischen Achselklappen, die Offiziersgruppe am Fuße des Rappdenkmals, dicht unter der kühnen, kriegerischen Silhouette des Kolmarer Bürgersohnes, der als General Graf Rapp ein Paladin des großen Napoleon geworden war. Und unter den alten Lindenbäumen der Anlagen die deutschen Beamten in ihren hohen Hüten, die schwarzen Röcke mit großen Orden besteckt, die Frauen nach Pariser Mode, nur ein wenig zu schwer aufgeputzt – aber niemand sonst. Fenster und Läden an der Rufacher Straße geschlossen. Kein Zuschauer auf der 294 Gasse. Der Pariser Einzugsmarsch klang herausfordernd in die Stille.

»Es ist der Geburtstag ihres Kaisers,« sagte sie mit tonloser Stimme, als sie schon weit ins freie Feld hinausgelangt waren und die Stadt hinter ihnen in ein Dächerhäuslein zusammenlief.

Wie eine Entschuldigung klang's.

Er vermied aus Taktgefühl, darauf zu antworten.

Als sie das Dorf Niklausen erreichten, sprang René ab. Sie dankte ihm mit einem halben Lächeln.

Nun fuhr sie allein die Allee hinauf, er ging neben dem Wagen her. Seine elastische Gestalt hielt Schritt mit den Pferden. Vor dem Tor half er ihr vom Bock. Wieder lag sie einen Herzschlag lang an ihn geworfen, denn die sonst so Behende hatte den Tritt verfehlt. Er nahm seinen Vorteil nicht wahr, aber Claudine sah, wie seine Augen sich vertieften. Und da überkam sie plötzlich ein inbrünstiges Verlangen, die Arme um seinen Nacken zu legen. Krampfhaft preßte sie die Lider zu und stemmte sich, um diesem tollen Wunsch nicht nachzugeben.

Man saß zum ersten Mal in diesem Jahre am Abend spät noch auf der Terrasse.

Das Gespräch kam auch auf die Fahrt nach Kolmar. Die französischen Emigranten wurden aufgezählt, von den schweren ökonomischen Bedrängnissen der Industriellen und der Winzer gesprochen, die von Frankreich durch die Zollgrenze abgeschnitten und ohne Verbindungen in Deutschland, keinen Absatz finden konnten.

René erwähnte die Kaiserparade mit keinem Wort.

Und wieder zog die Vergangenheit wie ein süßer, sehnsüchtiger Hauch über die Terrasse, und Claudine ging langsam, von Empfindungen übermannt, für die sie keinen Namen hatte, in den Park hinunter, wo sie allein sein konnte.

Da stand er auf einmal neben ihr und fragte leise:

»Wissen Sie noch, wie wir Paul und Virginie spielten unter diesen Bäumen, Claudine?«

295 »Als wir noch Kinder waren . . . . es war die schönste Zeit!«

Wie ein Aufschrei, der nur keine laute Stimme findet, stieg es aus ihrer Brust.

Leise ergriff er ihre Hand, legte sie auf seinen Arm und führte sie den Weg am Teich vorüber, der im Dunkel schlief.

»Und wie Sie mit Papa nach Contrexéville zur Kur reisten und ich Herrn von Illzach so erzürnte, weil ich Marc zum Hasardspielen verleitete. Der arme Junge!«

Sie blieb stehen. Die beiden Namen zerrten an ihrem Herzen.

»Schweigen Sie, René, ich bitte Sie – nichts von Papa!«

»Verzeihen Sie mir, Claudine, – ich wollte keine schmerzlichen Erinnerungen in Ihnen wecken, aber es ist schwer, in diesem Lande etwas zu berühren, das nicht schmerzt.«

Sie verstummten nach diesen Worten.

Claudine lenkte die Schritte wieder der Terrasse zu, auf der die Windlichter in den Glasstulpen brannten. Der Domherr las Victor Hugo. Seine schöne weiche Stimme sprach die wundervollen Verse, daß sie wie silberne Kaskaden überströmten von Glanz und Fülle.

Da ließ sich Claudine auf die unterste Stufe der Treppe nieder und lauschte.

Kein Hauch in den Bäumen, selige Stille überall; schmelzende Müdigkeit des Frühlings und erwartungsvolles Sehnen drückten die junge Frau in die Kniee.

Und dann war's geschehen. Er hatte die Arme um sie geschlungen, sie geküßt, und sie hatte sich nicht gewehrt und hatte seine Küsse mit geschlossenen Augen gelitten, bis sie plötzlich die Kraft fand, den Zauber zu brechen, der sie wehrlos gemacht hatte.

Da schnellte sie auf, einen kalten Frost im Nacken, würgende Scham in der Kehle, und stieg mit schweren 296 Knieen die Treppe hinauf. Stumm, keines Wortes, keines klaren Gedankens fähig.

Der neue Tag kam herauf.

Frühlingsregen fuhr in breiten Schwaden von den Vogesen über die Ebene. Gegen Mittag brach die Sonne Bahn, und ein funkelnder Glanz lag über dem sprossenden Land.

Am Kienholz waren die ersten Schnepfen gesichtet worden.

Da war auch Klaus Kraffts Jagdsinn erwacht. Er ließ die Berechnungen im Stich, die er zur Wiedererrichtung der im Krieg eingegangenen Fohlenweiden angelegt hatte, vergaß das unsichere, von heute auf morgen sorgende Dasitzen und griff zur Flinte.

Sie gingen noch vor Sonnenuntergang über die alte Brücke, unter der die Fecht ihre regenschweren Strudel wälzte, und kamen zur rechten Dämmerstunde am Rande des feuchten Holzes an.

Claudine hatte nicht nein sagen wollen, als Klaus sie aufgefordert hatte, sich anzuschließen. Sie flüchtete sich vor ihren Gedanken, vor Wünschen, die zu ihr in die Einsamkeit kamen, und sie wollte auch sich selbst beweisen, daß sie ihm ins Auge sehen könne.

Das leichte Rohr hing ihr schwer über der Schulter. Ihr Mädchenkleid spannte über der Brust.

»Du bist gewachsen seit dem Krieg,« sagte Tante Madeleine, die am Mittag von Belfort eingetroffen war und versucht hatte, ihr den kurzen Jagdrock über den Hüften glattzustreifen.

In Renés Blicken las sie feurigste Bewunderung, und unwillkürlich wandte sie sich ab, wie von einem heftigen Blendstrahl getroffen.

Als lichtes Gittergerank hoben sich die Bäume des Waldsaumes vom opalfarbenen Himmel ab. Rosenrote und blau schillernde Streifen liefen in Wellenlinien am westlichen Horizont, und violette Schatten lagen in den 297 Tälern. Kein Windhauch ging, der Geruch frischer Erde und keimenden Laubes erfüllte die Luft.

Der Jagdhüter wies ihnen den Standort.

Claudine blieb zuerst stehen. Sie sah die drei Männer sich entfernen. Perlfarben glänzte der Himmel im Zenith. An den gewaltigen Weidenbäumen liefen goldflimmernde Lichter entlang.

Claudinens Herz schlug hart und schmerzhaft. Nun war sie ganz allein. Tante Madeleine war scheu und flüchtig ins Land gekommen, wie eine Verbrecherin. Sie zitterte vor den Gendarmen, die unversehens auftauchen und sie als Bannbrüchige des Landes verweisen konnten. In drei Jahren kamen die Franzosen wieder. René hatte gelächelt, als die kleine grauhaarige Frau das mit voller Bestimmtheit versicherte.

»Vielleicht schon in drei Jahren,« hatte er geantwortet, »und wenn wir zehn brauchen, um uns zu retablieren, wir werden hier nichts verändert finden.«

Und sein Blick war zu Claudinen gegangen, die plötzlich einen Geist des Widerspruchs erwachen fühlte, der ihr selbst fremd war.

»Nichts verändert?« fragte sie zurück. »Nichts ist unveränderlich, Vetter!«

Ihre Ruhe war äußerlich gewesen, innerlich war alles Unruhe, Unsicherheit, flutendes Gefühl.

»Das zu sagen, hat hier niemand das Recht außer Claudine,« sprach der Domherr sanft, und alle schwiegen.

Da hatte sie mit Gewalt an sich halten müssen. ›Ihr wisset ja gar nicht, wie ich's meine,‹ hätte sie ihnen zurufen sollen, aber sie wußte ja selbst nicht, wie sie es gemeint hatte. Nur eins wußte sie, daß ihr Schicksal jetzt auf die Entscheidung gestellt war.

Sie bebte am ganzen Leib von unterdrückter Leidenschaft und hatte keinen klaren Gedanken mehr.

Und wie sie jetzt zwischen den kahlen Brombeerhecken im Weidenschlag stand, das Erlengehölz vor sich, aus dem die schmalen, glanzumwitterten Pappeln aufschossen, da 298 kam sie sich so fremd und unnütz vor, daß sie am liebsten davongelaufen wäre.

Ein pfeifender Laut, ein Schattenstrich am blanken Himmel, tief tauchend verschwand's im Dunkel des Gehölzes.

Und dann in der Ferne der harte Schlag einer Schrotpatrone aus langem Rohr.

Sie schrak auf. Ein leidenschaftlicher Zorn ergoß sich in ihre Adern. Blind hielt sie das Gewehr gegen den perlgrauen, rosagetönten Himmel und sandte die Geschoßgarbe ins Leere. Vom Schlag zuckte ihr der Arm, beizender Pulvergeruch strich in einer Schwade um sie her.

Langsam wandte sie sich und ging nach Hause. Sie war schon auf dem Weinbergsweg, scharlachfarbene Wolkendraperien säumten die Vogesenkämme. Dunkel füllte die Täler und deckte das Dorf. In weißem Glanz stach das Herrenhaus vom Hügel. Ihre Pulse schlugen.

Kurz darauf holte René sie ein.

Sie hörte und erkannte seinen Schritt. Ohne sich umzublicken, ohne sich zu beeilen, ging sie weiter.

»Sie sind desertiert, Cousine!« begann er mit gespieltem Scherz.

»Was nennen Sie desertieren?«

»Desertieren heißt die Fahne verlassen, Claudine. Sie wissen das so gut wie ich.«

Sie blieb stehen. Weiß war ihr Gesicht im Zwielicht, das von den Bergen floß.

»Und welche Fahne soll ich verlassen haben, Vetter?«

Ihr war's kein Spiel mit Worten, sondern schweres Kämpfen um innere Klarheit, das aus diesen Fragen schrie.

René aber brach das Geplänkel ab, das für ihn nur Vorwand war, und erwiderte:

»Seit gestern weiß ich, daß Sie die Vergangenheit nicht vergessen haben. Und ich, ich bete dich an, Claudine, ich liebe dich wie –«

Mit einer freien, stolzen Bewegung legte sie die Hand 299 auf seinen Arm. Er wollte danach greifen, die Lippen darauf pressen, aber sie hielt seinen Arm fest umspannt.

»Was gestern war, ist kein Erinnern gewesen, René. Ich habe dich vielleicht einmal gern gehabt, wie ein junges Mädchen einen jungen Menschen gern sieht, der in seinem Leben durch Geburt und Zufall einen Platz bekommen hat. Ich hätte dich auch vielleicht geheiratet –«

»Ja, das hättest du, wenn ich nicht weit von dir weggewesen wäre und nicht dieser Deutsche Zeit gefunden hätte, dich zu erobern!«

»Erobern, was weißt du, was erobern heißt, Vetter René!« flammte sie auf.

Da stachelte ihn die Leidenschaft, die Eifersucht, und er fragte mit spröder Stimme:

»So liebst du ihn also, liebst ihn, der das Erobern im großen Stil gelernt hat, das Erobern mit der Faust! Statt mit dem Herzen, mit den Ideen! Und gestern, gestern – ach, es ist ja alles nicht wahr – du belügst dich selbst – gestern, das war die Erinnerung, die Hoffnung, die Liebe!«

Diesmal gelang es ihm, ihre Hand zu lösen und an die Lippen zu ziehen.

»Was gestern gewesen ist, war keine Erinnerung für dich, René, auch keine Hoffnung. Es war eine Schwäche, und ich schäme mich, daß ich ihr nachgegeben habe. Sprich nicht von meinem Mann, René, jede Anspielung auf ihn treibt mir die Scham ins Gesicht. Du weißt ja nicht, was dieses gestern war!«

»Nun denn, so sag mir doch, ob du ihn liebst. Liebst trotz allem! Ich weiß, daß es nur an ihm lag, daß diese Ehe nicht aufgelöst wurde. Wie eine Gefangene hat er dich gehalten. Liebst du ihn trotzdem?«

Es war dunkel geworden. Aus der Ferne klangen die Stimmen des Freiherrn und des Jagdhüters.

Claudine schritt langsam weiter.

»Meine Heirat ist noch keine Ehe gewesen, als dieser Krieg begann. Ich bin auch nie Konrads Gefangene 300 gewesen. Du irrst dich, Vetter. Wir haben uns erst kennen lernen müssen, und man geht nicht auseinander, ehe man sich gemessen hat.«

»Ich will nur eins wissen, ob du ihn liebst!« trotzte er.

»Ach ja, das ist alles! Ob ich ihn liebe! Ob ich verheiratet bin, kümmert dich nicht. Und wenn ich ihn nicht liebe, so werde ich das Recht auf dich und deine Liebe haben, nicht wahr?« entgegnete sie mit schmerzlichem Lächeln.

Er konnte den Ausdruck ihres Gesichtes nicht mehr erkennen, doch ihre Stimme hatte einen so vollen, über allen kleinen Menschlichkeiten schwebenden Ton, daß er den Sinn erriet.

»Claudine,« murmelte er bittend.

Mit einer Handbewegung befahl sie Schweigen.

»Es ist zu Ende, Vetter René. Frag nicht weiter. Wir verstehen uns nicht mehr.«

»Trotz gestern?«

»Nein, wegen gestern.«

Er schwieg.

Langsam gingen sie die letzten Schritte. Aus dem Dorf klang ein wildes, gellendes Jauchzen und zerriß die Stille. Die Burschen waren zur Musterung in der Stadt gewesen und lärmten jetzt in den Gassen.

Im Klausenhof war an diesem Abend schon das große Silbergerät aufgelegt, denn der Familientag hatte bereits ein Dutzend Gäste herbeigeführt.

Morgen kam Konrad.

Ein kurzer Brief an Klaus benachrichtigte diesen, daß er nur wenige Stunden in St. Niklausen verbringen könne, da die Frühjahrsmusterung seine Anwesenheit in Dornkirch erfordere.

Bei Tisch wurde von diesen Musterungen gesprochen und die Aushebung der elsässischen Söhne zum preußischen Heer verdammt. In einer Kreiszeitung waren hunderteinundsiebzig Namen von Militärpflichtigen aufgeführt, die sich ihrer Dienstpflicht durch die Flucht ins Ausland entzogen hatten.

301 Claudine hatte ein Billett erhalten, in dem Konrad ihr seine Ankunft besonders anzeigte und sie fragte, ob sie ihn auf der Rückreise zu begleiten gedenke.

Sie wußte, was in dieser Frage verborgen lag.

Sagte sie ja, so gab sie damit den letzten Widerstand preis. Dann mußte sie ihm alles geben, die Kapitulation unterzeichnen, dann war sie auch dem Wesen nach und für immer seine Frau. Denn länger durfte und konnte dieser Zwischenzustand nicht währen. Sie ging als seine Frau mit ihm zurück, oder sie blieb als Claudine von Illzach in St. Niklausen.

Sie sah Renés Blicke auf sich gerichtet.

Klaus erhob sich und teilte den Gästen mit, daß morgen der eigentliche Familientag gehalten werden solle.

»Ich habe noch fünf Zusagen bekommen, liebe Verwandte, Monsieur und Madame Hinzelin von Illzach von Gebweiler mit ihrer Tochter und die Herren Jacques Kiener-d'Illzach, Mitglied des Generalrats von Belfort und Konrad von Eggheim-d'Illzach in Dornkirch.«

Ein peinliches Schweigen senkte sich herab. Im Schein des kerzenbesteckten Kronleuchters schienen die Gesichter blaß und von zuckenden Schatten erfüllt.

Klaus Krafft griff mit einer schwerfälligen Bewegung ans Glas:

»Wir trinken auf das Wohl der Familie.«

Sein breitstirniges Gesicht mit der scharfen Nase und den müden Augen war von zwingender Energie. Schweigend tat man ihm Bescheid.

Als sich die Gesellschaft auflöste, um zu Bett zu gehen, bat Klaus Claudinen um eine Unterredung.

Sie fand in Claudinens Zimmer statt.

»Ich habe Konrad von Eggheim zu diesem Tage eingeladen, wie es meine Pflicht war. Ob er annehmen würde, wußte ich nicht.«

»Ich wußte, daß er kommt, wenn ihn nicht sein Amt festhält.«

302 Er hörte einen feinen Stolz, beinahe etwas wie eine Solidaritätserklärung mit ihrem Manne aus ihrer Antwort heraus.

»Du kennst ihn am besten,« versetzte er ruhig. »Aber ich habe eine Bitte an dich: Entscheide dich nun, ob du mit Konrad von Eggheim in allen Stücken gemeinsame Sache machen willst oder sag mir, ob dir dieses konventionelle Verhältnis einer Ehe vor der Welt genügt, ob die Gewöhnung stark genug ist, dich an seiner Seite festzuhalten. Ich habe von Anfang an deinen Willen respektiert. Du hast es mir schwer gemacht, für dich einzutreten, weil ich deine Handlungen mit deiner Gesinnung nicht recht habe in Einklang bringen können. Mit einem Worte, weil ich dich nicht recht verstanden habe. Aber nun spreche ich als Chef der Familie. Ich bin mir bewußt, daß ich morgen zum ersten Mal Papas Platz einnehme. Zum ersten Mal wird man auf diesem Boden seit dem unsäglich schrecklichen Unglück des Jahres 1870 die Familie zusammensehen. Zum ersten Mal wird auf diesem Boden, der nicht mehr französisch sein soll, die Familie der Krafft von Illzach zusammenkommen, und die Grenze wird zwischen den Verwandten hindurchlaufen, die von Besançon und Orléans, von Belfort und Gebweiler, Kolmar und Dornkirch gekommen sind und hier an einem Tische sitzen. Abgerissene Adern, die kaum unterbunden sind, werden zu bluten anfangen. Von schweren Vermögensverlusten, von Ausweisungen, von unseren Toten wird die Rede sein – Claudine, ich bitte dich, deinem Mann zu sagen, daß er unsere Gefühle respektiere.«

Er war von dem eigentlichen Thema abgekommen. Er hatte zuerst Claudinens Verhältnis zu Konrad klarstellen und auf seine Frage nach ihren Entschlüssen eine Antwort haben wollen, aber der ganze Komplex von Sorgen, von Kämpfen und Nöten hatte ihn fortgerissen, und so war ihm zuletzt die Bitte um Claudinens Vermittlung über die Lippen getreten. Eine Bitte, die er nur 303 dann an sie richten durfte, wenn Claudine im Herzen zu Konrad hielt.

Claudine erfaßte diesen Konflikt, diese Verwirrung sofort.

»Du forderst etwas von mir, was ich nur dann tun kann, wenn ich zugestehe, daß ich mich mit dem Gedanken an eine Dauer dieser Ehe abgefunden habe.«

»Mehr, Claudine, wenn du gestehst, daß du Eggheim liebst.«

Diesmal hatte Klaus schärfer und richtiger gefolgert.

Claudine senkte den Kopf und schwieg.

Und Klaus Krafft fuhr fort:

»Du kennst Kieners Trotzkopf. Weißt, wie tief ihn der Zwang getroffen hat, nach der Option auszuwandern, so rücksichtsvoll Eggheim ihn auch behandelt hat. Er wird morgen kommen, obwohl er besser die Grenze vermiede. Man kann ihm den Prozeß machen. Er kommt doch. Er will sein Menschenrecht geltend machen, und ich habe nur eine Pflicht: ihn willkommen zu heißen, ihm beizustehen, – komme was da wolle! Und dann: René Wurmser. Er ist nicht mehr Offizier. Es stand im offiziellen Journal der Republik zu lesen, daß er seinen Abschied genommen hat. Aber wer kann sagen, ob er nicht in einer Mission hier ist! Er interessiert sich zuviel für Eisenbahnbauten und Garnisonen und zu wenig für die Jagd. Oder weißt du einen andern Grund?«

Sie errötete in heißer Scham, aber sie senkte die Augen nicht.

Und er fuhr fort:

»Ich respektiere auch in ihm den Verwandten, ich löse auch ihm gegenüber meine Unterschrift ein. Ich habe ihn zum Familientag eingeladen, er ist gekommen. Man mache mir den Prozeß. Und dein Gatte? Nun wohl, er hat den ersten Rechtstitel auf diese Einladung, denn du trägst seinen Namen. Aber du sollst wissen, daß er keinen anderen Anspruch auf Rücksichtnahme hat, als diesen.«

304 Jetzt stand sie auf, und sofort erhob sich der Freiherr, um ihre Antwort stehend zu erwarten.

Ihr Gesicht zeigte den Illzachschen Zug, die senkrechte Falte zwischen den tief gezogenen Brauen.

»Konrad von Eggheim ist mein Gatte. Ob ich ihn liebe, das ist eine Frage, die ich auch meinem Bruder, auch dir nicht beantworte. Sie hat auch gar nichts damit zu tun, ob ich diese Ehe fortsetzen oder ganz lösen will. Für euch wenigstens existiert kein Recht auf die Beantwortung dieser Frage, nicht einmal auf die Frage selbst. Konrad von Eggheim um Schonung unserer Gefühle bitten, das kann ich nicht. Er wird tun, was ihn sein eigenes Gefühl tun und lassen heißt. Und – mir genügt diese Bürgschaft.«

»Da ich weiß, daß du ihn am besten kennst, muß auch mir dieses Vertrauen in ihn genügen.«

»Es genügt.«

Bei diesen Worten schlug ihr das Blut in den Schläfen, und eine neue klare Röte stieg langsam in die schmalen Wangen.

»Und du wirst dich morgen entscheiden, Claudine?«

»Entscheiden?« fragte sie.

»Ja, verzeih, wenn ich darauf zurückkomme, ich meine entscheiden, ob du Frau von Eggheim bleiben willst.«

»Entscheiden, ob ich Frau von Eggheim bleiben will! Kann man das? Ist es nicht vielleicht schon entschieden? Und morgen! Die Frage, ob ich Konrad liebe, wäre leichter zu beantworten, Klaus, denn man kann einen Menschen lieben und doch nicht mit ihm leben.«

»Du hast den Bruder verloren durch diesen Krieg, in dem dein Mann auf der andern Seite stand!«

»Ja, das hab ich.«

»Marc ist gefallen an dem Tag, da dein Mann zuerst seine Geschütze ins Feuer geführt hat. Reichshofen und Morsbronn, Claudine, vergiß das nicht!«

»Ich habe den 6. August nicht vergessen, Marc nicht 305 vergessen, Papas Sterben nicht vergessen, Klaus. Ich war die einzige, die bei ihm war, als er starb.«

Ihre Stimme bebte von ungeweinten Tränen.

»Wir haben uns gegenübergestanden bei Villersexel, bei Héricourt. Gehetzt sind wir worden von der Lisaine bis Pontarlier und La Cluse, zu Grund gerichtet haben sie uns, Claudine!«

»Ich habe ein Kind unter dem Herzen getragen in jenen Tagen, das war mehr, Klaus Krafft!«

»Und hast es verloren und bist frei geworden und hast nichts vergessen, auch alles nicht, was danach kam! Weißt du, daß sie dich eine Renegatin nennen, daß kein Platz mehr ist für dich, Claudine von Eggheim, in unserer Welt?«

Die Tränen stiegen aus ihren Augen, hoben sich langsam aus der Tiefe und liefen noch langsamer, schwer und voll über ihre Wangen. Aber ihr Antlitz trug keinen weinerlichen Ausdruck, ihre Stimme verlor den Klang nicht.

»Ich habe mein Kind verloren. Arme kleine Seele! Im Exil liegt's, der Friedhofsgärtner pflegt statt der Mutter das Grab in Kassel. Freigeworden? Eine Mutter wird niemals frei durch den Tod ihres Kindes, niemals, Klaus, das versteht ihr Männer nicht. Und eine Renegatin! Ich hab's erfahren! Aber das zählt ja gar nicht – das tut ja nicht weh, wo es so viel anderes zu verschmerzen gibt: Marcs Tod, Papas Sterben, die kleine Josephine, das Hin- und Hergerissenwerden zwischen euch und ihm, die Sehnsucht, das Verlangen, selbst noch einmal das Leben in die Hände nehmen zu dürfen, und nicht willenlos dahinzutreiben, durstig, hungrig, ohne Halt, ohne Aufgabe, ohne Ziel, entwurzelt und heimatlos!«

Laut hinausgerufen hatte sie die letzten Worte in den leeren Raum.

»Ohne Aufgabe, ohne Ziel, entwurzelt und heimatlos!« wiederholte der Mann und atmete schwer. »Du 306 hast recht, ach, wie sehr hast du recht: entwurzelt, ohne Aufgabe, ohne Ziel.«

Unwillkürlich trat sie dicht zu ihm hin, und er schlang die Arme um sie und hielt sie fest. Ihre Herzen schlugen schwer aneinander in gleichem Takt und gleichem Leid.

Als sie sich gute Nacht wünschten, ging ihr Schicksal mit ihnen.

Klaus Krafft von Illzach saß noch lange an seinem Schreibtisch. Dann wanderte er, eine Zigarette nach der andern drehend, auf dem Teppich auf und ab. Warum war er im Lande geblieben, wo er bracher lag, als die Ödfelder bei Morsbronn, die es immer noch nicht gelernt hatten, volle Frucht zu tragen?

Was wollte er hier? Im französischen Staatsdienst winkte ihm jede Zukunft, selbst mit der Waffe hätte er dort noch als Stabsoffizier eine neue Laufbahn beginnen können. Kiener war heute schon in den Generalrat gewählt worden. Morgen kandidierte er für die Kammer. Und wenn eines Tages die republikanische Mehrheit regierungsfähig geworden war, dann nahm Jacques Kiener einen Ministersessel ein. Und er, Klaus Krafft, Baron von Illzach, verzehrte sich hier, verdämmerte ein Leben, das seinen Wurzelgrund verloren hatte. Und die Kinder, Louis, Jeanne? Die Schule rief.

In der ersten Zeit konnte er sie noch in Privatschulen senden, aber dann mußten sie in deutsche Schulen eintreten, oder er war gezwungen, sie nach Nancy zu schicken, wie so viele andere elsässische und lothringische Familien taten. Und diese Kinder würden dem Elternhause entfremdet werden. Das war der Preis, der gezahlt werden mußte, wenn man ihnen die französische Bildung, das Beharren in dem französischen Kulturkreis ermöglichen wollte. War dieser Preis nicht zu hoch?

Und was wurde aus einem Lande, das seine Kinder nicht mehr in jenem Alter bei sich sah, in dem das Gemüt empfänglich ist, der Mensch sich bildet, das Herz sich öffnet? Waren das noch Elsässer?

307 Wohl den Kinderlosen! Nein, wehe ihnen, sie lebten und starben ein Leben, das ihnen nichts mehr bot, nicht einmal mehr die Volksgemeinschaft, in der jeder wirkt und atmet.

Er hatte doch wenigstens noch die Kinder. Nur die Kinder! Amélie? Ein resigniertes Lächeln ging über seine Züge. Aber dann kam doch etwas wie Dankbarkeit und Verständnis zum Durchbruch in seinen bitteren, resignierten Überlegungen. Wäre dieses Leben überhaupt noch erträglich gewesen, wenn seine Frau mehr Feuer und Leidenschaft gehabt hätte, wenn sie ihren Einfluß in diesem oder jenem Sinn geltend gemacht hätte, um ihn zu einem Entschluß zu treiben?

Er war langsam in seinen Entschlüssen. Das war eine Erbanlage jener Illzach, die diesen Charakterzug des alten Geschlechts weitergeerbt hatten, ohne an dem französischen Einschlag lebhafteren Blutes und rascherer Impulse teilzuhaben, der von der Kunkelseite zu kommen pflegte. Auch Claudine war eine echte Illzach, eine Krafft von Illzach. Ohne Aufgabe, ohne Ziel hatte sie gesagt . . .

Wo war seine eigene Aufgabe? Wo winkte ihm ein Ziel?

Die Nacht stand, von zartem Grau erhellt, vor den Fenstern, über dem fernen Schwarzwald schwebte ein resedengrüner Schein empor, während die Vogesen noch als schwarzblaue Masse dicht hinter dem Hügel von St. Niklausen schliefen.

Baron Klaus Krafft nahm den ersten farbigen Dämmerschein mit in die Ruhe, als er sich zu kurzem Schlaf legte.

Mild und strahlenlos, in jener sanften, fließenden Weichheit, die dem elsässischen Frühling eigen ist, erstand der Tag. Kein Nebel, aber zarte Dünste spannten sich wie Schleier von den Bergen ins Tal. Die Umrisse der Gegenstände wurden unbestimmt, die Entfernungen verloren ihre Bedeutung. Alles zerfloß in milchweißen Glanz. Der Kuckuck rief im leeren Wald, und aus der 308 stahlblau keimenden Wintersaat huschten die Haubenlerchen ins frisch gepflügte Land.

Als Jacques Kiener ankam, war die Familie schon zum zweiten Frühstück versammelt. Siebzehn Mitglieder der Familie von Illzach hatten sich eingefunden. Konrad von Eggheim wurde erst zum Diner erwartet, das auf fünf Uhr angesetzt war.

Claudine bemeisterte die heftige Unruhe, die sie mehr und mehr ergriffen hatte, mit Aufgebot äußerster Selbstbeherrschung. Sie fühlte, wie sie umworben wurde, als müßte sie im Lager der Familie festgehalten, den alten Beziehungen neu gewonnen werden. Nie waren die Männer höflicher und achtungsvoller gewesen. Die Frauen mischten ein wenig Mitleid hinein und schienen eine Märtyrerin in ihr zu erblicken.

René Wurmser bemühte sich um Mademoiselle Eugénie Hinzelin, die noch das angelernte Lächeln der Erziehung bei den Schwestern vom Bon pasteur in Nancy zur Schau trug, in ihren dunklen Augen aber einen schmelzenden jungfräulichen Ausdruck hatte, wenn René ihr seine besten Schmeicheleien sagte.

»Familientag – Verlobungstag,« flüsterte Madeleine ihren Nichten Claudine und Amélie hinter dem Fächer zu und deutete mit den Augen auf das junge Mädchen, das von René in einer Ecke des Salons festgehalten wurde.

Claudine sah, daß René zu ihnen herüberblickte.

Ein schweres, wie in Stein gegrabenes Lächeln zog um ihren Mund, und ein kalter Hauch ging über ihr Gesicht, als müßte er die letzte Erinnerung an eine Stunde ertöten, in der sie sich vergessen hatte und ihre Sehnsucht in die Irre gegangen war.

Jérôme öffnete die Tür, trippelte zum Baron hin und machte seine Meldung. Und Klaus sagte laut:

»Monsieur von Eggheim,« und dann zu Claudinen gewandt: »Ihren Arm, liebe Schwester.«

309 Claudine erhob sich. Es war still geworden, das letzte Gespräch verstummt.

In ihrem schwarzen, nach der Mode gerafften Kleid stand Claudine von Eggheim schlank, mit weißem Nacken, an dem das Perlenhalsband aus dem Familienschmuck der Illzach glänzte, neben der hohen, schweren Gestalt des Bruders. Er trug Offiziersrosette der Ehrenlegion und das päpstliche Kreuz im Knopfloch.

Sie gingen langsam auf die Tür zu. Der weitgespannte Saal war künstlich verdunkelt. Die Kerzenbündel auf den Kandelabern des Kaminaufsatzes und des Kronleuchters sandten ihr strahliges, netzförmig verteiltes Licht durch den Raum.

Claudinens Herz klopfte so stark, daß Klaus Krafft den Schlag an seinem Arm zu spüren glaubte.

»Mut!« murmelte er leise.

»Den hab ich,« gab sie noch leiser zurück, und ihre Brust hob und senkte die mattglänzenden, an der Wärme ihres Blutes neues Leben saugenden Perlenkugeln.

Als wäre sie viele Jahre von Konrad getrennt gewesen, so erschien ihr dieses Wiedersehen. Viele Jahre, aber plötzlich hatte sie die Empfindung, draußen habe sein Säbel geklirrt! Als wäre der Krieg noch im Land, als würgten sie ihr noch den Bruder, stürbe der Vater noch einmal, läge ihr Mann noch vor Lingolsheim in der Batterie, trüge sie ihr Kind, sein Kind noch unter dem Herzen!

Sie wankte. Fester stützte sie Klaus Kraffts hilfreicher Arm.

Als Konrad von Eggheim im schwarzen Rock, das winzige grüne Bändchen seines badischen Ordens im Aufschlag, auf der Schwelle erschien und nach einem schnellen Rundblick nur noch Claudinens Gestalt, nur noch ihr Antlitz sah, da traf ihn der schmerzerfüllte, von zuckendem Stolz bemeisterte Ausdruck im Gesicht seiner Frau ins Herz.

Er begrüßte seinen Schwager mit einem Händedruck, 310 hörte die Worte der Begrüßung, erwiderte sie und hielt dann Claudinens Hand.

Klaus Krafft war zurückgetreten.

»Claudine!«

Mehr konnte er nicht sagen, er bückte sich über die kalten, zuckenden Finger.

»Ich wußte, daß du kommst,« versetzte sie unwillkürlich mit hastigen hervorgestoßenen Worten.

Er wollte antworten: ›Und kommst du nun mit mir?‹ aber statt dessen sagte er zu Klaus und ihr zugleich:

»Ich bin, wie ich schrieb, genötigt, schon heute abend wieder abzureisen und bitte, um sieben Uhr aufbrechen zu dürfen.«

Da er ziemlich laut gesprochen hatte, waren die Worte auch von anderen gehört worden.

Darauf begann wieder das allgemeine Gespräch.

Konrad hatte seiner Frau den Arm reichen wollen. Aber es hätte nach einer Absicht ausgesehen. So unterließ er es.

Die Begrüßung mit den Mitgliedern der Familie verlief höflich, aber frostig.

Als Konrad auf Kiener traf, drückte der Fabrikant das Kinn fest in den hohen Kragen und blickte ihn mit unverhohlener Feindschaft an.

»Ich freue mich, Sie zu sehen, Herr Kiener,« sagte Eggheim schlicht.

»Ich teile diese Freude nicht, Herr von Eggheim, aber wir werden uns drei Stunden ertragen müssen,« erwiderte Kiener schroff.

»Ich werde es Ihnen so leicht als möglich machen,« entgegnete Konrad ruhig.

Claudinens Hand stahl sich in seinen Arm, als ihn Kieners Ausfall traf, und lag dort mit deutlichem Druck, während er den Stoß abwehrte.

Doch gleich darauf zuckte ihre Hand wieder zurück, und sie ließ sich von dem Domherrn in ein Gespräch ziehen, 311 blaß, mit Gewalt ihre Fassung wahrend, denn nun stand ihr Mann vor René Wurmser.

Sie schienen sich mit sichtlicher Kälte zu begrüßen.

Seit Eggheims Eintritt lag ein peinlicher Zwang über der Gesellschaft. Er fühlte das, er hatte voraus gewußt, daß er ihnen als Fremder, als gehaßter Eindringling, als Eroberer erscheinen würde. Aber es wäre feig gewesen, an diesem Tage zu fehlen, eine Konzession, die er niemals machen durfte. Um der Sache willen, auch um Claudinen!

Er hatte keine falschen Geschäfte vorgeschützt, als er seine Abreise schon für die siebente Abendstunde ankündigte. Er mußte morgen in aller Frühe in Dornkirch sein, wo die Frühlingsmusterung stattfand und erregter Zusammenlauf der hitzigen Jugend zu erwarten war. Daß ihm diese Eile willkommen war, verhehlte er sich freilich nicht.

Gewitternde Stimmung lag über der Gesellschaft, als man zu Tische ging.

Vergeblich war das Bemühen aller, politische Gespräche zu vermeiden.

Zu tief hatte das Schicksal des Krieges und der Annexion alle getroffen. Zu heftig waren sie durch die schwere Zeit des ersten Übergangs in Mitleidenschaft gezogen. Was man auch angriff, jede Familiennachricht, jede Neuigkeit, alles war bedingt oder beeinflußt von dem großen Kriege und seinen Folgen. Und dazu kam, daß man sich seit dem Jahre 1869 nicht mehr gesehen hatte, daß auch auf dem hohen Stuhl mit dem Wappen der Krafft von Illzach zum ersten Male nicht mehr der weiße Kopf des Kammerherrn Baron Klaus Krafft von Illzach, sondern das jüngere, aber früh gealterte Gesicht seines Sohnes sichtbar war.

Claudine saß neben ihrem Bruder, Konrad hatte Tante Madeleine zu Tisch geführt. Er bewahrte seine Haltung, sprach sich selbst Geduld zu, wußte, wie weh ihnen sein Anblick tun mußte.

312 Klaus Krafft sprach den Willkommengruß. Seine Rede war nicht pathetisch, die ritterliche Galanterie und der frohe Stolz, die in den Ansprachen des Kammerherrn zum Ausdruck gekommen waren, welche den Glanz französischer Anmut und Weltgewandtheit atmeten, waren mit der Epoche erloschen, die mit Klaus Krafft, Baron von Illzach, zu Grabe gegangen war.

»Liebe Anverwandte und teure Freunde!

»Ich heiße Sie noch einmal alle insgesamt willkommen. Wir sind zu sehr mit der Zeit, mit dem Geschick unseres Landes und mit seiner Geschichte verwachsen, um den Familientag heute als ein Familienfest begehen zu können, in das kein Echo von draußen tönt. Aber wir haben die Pflicht, uns auf unsere Geschlechtsgemeinschaft zu besinnen. Wir leiden alle, wenn der Tod Lücken reißt in unsere Tafel und die Plätze anders besetzt.

»Ich stehe auf dem Platze meines Vaters, des Chefs der Familie, den wir so lange ritterlich und gütig unter uns gesehen haben. Klaus Krafft, Freiherr von Illzach, Kammerherr Seiner Majestät des Kaisers Louis Napoléon, ist am 11. Oktober 1870 zu St. Niklausen im Alter von siebenundsechzig Jahren drei Monaten gestorben. Noch vor ihm wurde Marc Honoré Krafft von Illzach abgerufen. Er ist als Leutnant im achten französischen Kürassierregiment am 6. August 1870 in der Schlacht von Reichshofen bei der großen Attacke der Brigade Michel gefallen und liegt im Rebgarten der Ferme Morimann bestattet. Mit sechsundzwanzig Jahren acht Monaten und sieben Tagen hat er den Tod auf dem Felde der Ehre gefunden. In Paris erlag am 21. Mai 1871 unser Anverwandter und Vetter Honoré Wurmser, Kapitän im zweiundachtzigsten Mobilregiment, im Alter von vierunddreißig Jahren einem typhösen Fieber. Hochbetagt starb am 8. November 1871 zu Kolmar unsere Großtante Charlotte von Illzach-Peyrinhoff, die gute Freundin von George Sand und Ehrendame der Königin Marie Amélie, und am 8. März vertauschte das jüngste 313 Kind aus unserm Blut, Josephine Elisabeth von Eggheim kaum fünfzehn Monate alt, die Welt wieder mit dem Himmel.

»Wir haben heute morgen in der Kirche auch der Toten gedacht. Wir denken ihrer hier mit starkem Mute und ruhiger Ergebung noch einmal. Von den Lebenden hat die Chronik nichts zu berichten. Wir warten alle besserer Tage. Sie werden nicht von mir verlangen, daß ich die letzten Jahre male. Ich habe Sie willkommen geheißen und bitte Sie, dem Geschlecht, aus dem Sie geboren sind und in das Sie hineingeheiratet haben, die Kraft zu erhalten, die in diesen Zeiten nötiger ist als je. Das alte Elsaß ist Kulturland und Schlachtenboden. Vergessen wir nie, daß wir seine Kinder sind.

»›Tiens ferme‹ ist die Devise der Krafft von Illzach. Sie ist für jeden von uns gut. Wir gedenken der Toten, wir grüßen die Lebenden! Seid mir noch einmal willkommen.«

Das Kerzenlicht rieselte und spiegelte im Saal. In der tiefen Stille war nur das unterdrückte Schluchzen Madeleine Kieners zu vernehmen.

Claudine blickte stumm in das buntschimmernde Kristall des Kerzenträgers vor ihr.

Konrads Augen suchten seine Frau.

Kiener wollte sich erheben und antworten. Seine Lippen bebten schon von leidenschaftlichen Worten. Aber Klaus Krafft hatte die Gebärde erraten.

Mit einer befehlenden Bewegung legte er ihm die Hand auf den Arm.

»Keine Erwiderung, ich bitte darum!«

Es war ganz leise gesprochen, doch so deutlich, daß es in der tiefen Stille jedes Ohr erreichte.

Einen Augenblick blieb alles in Schweigen gebannt, dann löste sich die Stille in Murmeln durcheinandersprechender Stimmen.

Als die Tafel nach sechs Uhr aufgehoben wurde, schien die Gefahr eines Zusammenstoßes beschworen.

314 Die Damen begaben sich in den Salon, die Herren in das große Spielzimmer, aus dem das Billard entfernt war.

Konrad war auf seine Frau zugetreten.

»Kann ich dich einen Augenblick sprechen, Claudine?«

Sie war erblaßt, aber ruhig erwiderte sie:

»In einer Viertelstunde in meinem Zimmer. Jetzt würde es zu sehr auffallen.«

»Wie du wünschest, es ist noch reichlich Zeit.«

Sie senkte leicht den Kopf und ging langsam zu den Damen hinüber.

Er blieb unwillkürlich stehen und sah ihr nach.

Da schlug scharf und laut geführtes Gespräch an sein Ohr.

Keine Silbe ging ihm verloren. Er hatte nur die Wahl, sich taub zu stellen oder Stellung zu nehmen zu Kieners und Wurmsers Worten.

Als er sich umwandte, sah er Kieners Augen auf sich gerichtet.

»Verzeihung, meine Herren, wenn ich die Antwort selbst übernehme. Es wäre feig, ihr auszuweichen. Herr Kiener, Sie haben gefragt, ob ein Deutscher mit Ihnen an einem Tische sitzen kann, ohne daß in Ihnen die ganze Not und das tief verwundete Gefühl Ihrer Losgerissenheit und Entwurzelung lebendig werden? Ob dieser Deutsche nicht eher ausgewiesen gehört, als Sie aus Ihrer eigenen Heimat ausgewiesen wurden?«

»Nun ja, das hab ich gesagt. Und diese Frage ist schon Antwort. Ihre Anwesenheit, Herr von Eggheim ändert daran nichts.«

»Meine Anwesenheit gründet sich auf menschliches Recht, Herr Kiener. Ich wäre nicht gekommen, wenn ich es nicht meiner Frau schuldig wäre. Ihre Frage bedarf aber einer Antwort, die nur von einem Deutschen gegeben werden kann, denn es gibt keine Fragen, die sich selbst beantworten, außer jenen rhetorischen Phrasen, die kein Fragezeichen wert sind.«

315 Man war aufmerksam geworden. Klaus Krafft trat auf die Gruppe zu. »Ich bitte Sie dieses Gespräch nicht fortzusetzen,« wandte er sich erst an Eggheim.

»Es ist zu spät, lieber Schwager, eine Auseinandersetzung zu meiden, die doch einmal kommen mußte. Die Herren fragen, ob ein Deutscher sich zu ihnen setzen, mit ihnen leben darf. Ja, glauben Sie denn, wir Deutsche litten weniger unter seelischer Bedrängnis als ihr! Beamte, die in dieses Land kommen, Kinder von Deutschen, die hier aufwachsen, die haben noch weniger Heimatboden hier als ihr! Die haben statt gewachsener Erde nur die Vaterlandsidee unter den Füßen. Eroberer? Meine Herren, wenn unter hundert Eingewanderten sich zehn als Konquistadoren fühlen, so sind es zehn zu viel.

»Aber fühlen Sie sich nicht fast alle als Annektierte! Kehren Sie nicht bewußt die französischen Elemente ihrer Natur nach außen, um sich französischer zu geben, als Sie sind? Darauf gibt es auch nur eine Antwort. Ich verstehe diese Abwehrstellung, ich mache Ihnen keinen Vorwurf daraus. Aber sehen Sie, so kommt's, daß wir einander feindlicher gegenüberstehen, Deutsche und Elsässer, als wir innerlich uns sein sollten, als wir in Wirklichkeit es sind!«

»Deutsche und Franzosen heißt es,« entgegnete Wurmser scharf.

»Ja, Sie sind Franzosen, weil Sie als Staatsbürger, als Citoyens eines aus Revolutionen geborenen Nationalstaates zu demokratischeren Lebensanschauungen gekommen und von der glänzenden Kulturerscheinung dieses früh zur Einheit gelangten Frankreichs angezogen worden sind. Aber Ihr innerstes Wesen ist nicht französisch. Wir haben über dem Rhein da drüben dieselben Köpfe wie ihr und wir haben sie aneinander erprobt.«

»Und wer hat das Mandat übernommen, hier den Büttel zu machen? Wer hat mich und meine Frau von Amts wegen aufgefordert, dieses Land zu verlassen, wenn 316 ich nicht trotz der Option für Frankreich als Deutscher behandelt werden wollte?«

Jacques Kiener trat hart vor Eggheim hin.

Konrad sah ihm voll ins flammende Gesicht.

»Ich bin in dieses Land gekommen, Herr Kiener, weil ich mich ihm verwandt fühle, weil ich glaubte, hier eine Aufgabe zu haben. Mehr als das, weil ich mich verpflichtet und berufen fühle, gerade ich, mich hier einzusetzen. Daß ich dadurch in Konflikte gestürzt würde, habe ich vorausgesehen. Aber ich durfte ihnen nicht ausweichen. Gewiß, ich hätte eine schöne Geste machen und die Übermittlung der Aufforderung an Sie, Herr Kiener, den gesetzlichen Bestimmungen nachzuleben, verweigern, am Ende gar den Abschied nehmen können. Vielleicht wäre es auch von Ihnen rücksichtsvoller gewesen, nicht in meinem Kreise die Zustellung zu ertrotzen, aber Sie haben recht – aus falschen Rücksichten fließt kein Segen. Wir müssen der Sache ins Gesicht sehen. Ich bin hier als Ihr Verwandter erschienen. Sie können nicht von mir verlangen, daß ich den Deutschen wie einen Rock ausziehe, ehe ich ins Zimmer trete.«

»Das ist's,« fiel Klaus schwer ein, »und deshalb hat nach diesem Krieg in diesem Lande erst der wahre Kampf begonnen.«

»Bis wir uns auf dem Schlachtfeld wieder treffen,« rief Wurmser ungestüm.

»Auch darauf sind wir gefaßt,« antwortete Eggheim ernst.

Als sein Blick langsam die Runde machte, erblickte er unter den Vorhängen der Flügeltür, die aus dem Damensalon führte, seine Frau. Madame Hinzelin hatte den Arm um ihre Hüften gelegt, als bedürfte sie der Stütze, obwohl sie aufrecht, wenn auch statuenhaft starr und blaß unter den Frauen stand.

»Und deshalb gibt es keine Gemeinschaft zwischen uns und euch,« sagte Kiener hart.

317 »Sie vergessen, daß Sie zu dem Manne Ihrer Nichte sprechen, Jacques Kiener,« erwiderte Konrad fest.

»Wenn ich das vergessen hätte, wären wir nicht zusammen unter diesem Dach,« entgegnete Kiener schroff.

Einen Augenblick war es still, dann lief's wie murmelnde Zustimmung durch die Gruppe der Männer.

Da wandte sich Eggheim an Klaus.

»Sie wissen, daß meine Zeit gemessen ist, Schwager Klaus. Es könnte fast wie eine Flucht aussehen, wenn ich mich jetzt zurückziehe. Ich schulde Ihnen aber nach diesen Worten Kieners die Erklärung, daß ich meine Pflicht erfüllen und mein Recht wahrnehmen wollte, als ich Ihre Einladung annahm. Aber damit ist alles geschehen, was ich tun darf, ohne den Frieden Ihres Hauses zu verletzen. Ich bitte Sie daher, uns von heute an von den Familientagen zu dispensieren.«

Er vermied es, Claudinens Blicken zu begegnen, und streckte Klaus die Hand hin.

Und nach einem kurzen Überlegen ergriff Klaus Krafft von Illzach die Hand seines Schwagers mit festem Druck, hielt sie fest und sagte:

»Es ist das Beste. Wir müssen alle, jeder für sich, mit diesem Konflikt fertig werden. Ich sage Ihnen Lebewohl, Konrad.«

Eggheim erkannte sofort die ganze Bedeutung dieses Lebewohls. Es war der Abschied, die Trennung von seiner Frau. Sie stand drüben auf der andern Seite. Er hatte sie verloren.

Aber er wollte Klarheit haben, so schmerzlich sie ihm schon in die Augen brannte.

»Sie haben recht, Klaus Krafft. Leben Sie wohl! Wir müssen damit fertig werden, so gut wir können. Es kostet eine, zwei, vielleicht auch drei Generationen, die hier leben und sterben, ohne Wurzel zu fassen, ihr und wir werden dabei Opfer bringen, es werden Konflikte mitgeschleppt werden, von denen wir kaum die ersten ahnen, aber die Völker rechnen mit Jahrzehnten, 318 wie wir einzelne Menschen mit Jahren rechnen. Die Völker haben länger Zeit als wir.«

Noch einmal drückten sie sich die Hand, dann trat Konrad zurück.

»Ich begleite Sie, Eggheim,« sagte der Freiherr laut.

Konrad hatte sich von der offenen Verbindungstür abgewandt, vor den Herren leicht verneigt, die Erwiderung dieses Grußes abgewartet und ging jetzt auf die Ausgangstür zu. Er wollte sich draußen durch Klaus bei den Damen entschuldigen lassen.

Da rauschte es neben ihm, und eine Hand legte sich leicht auf seinen Arm.

»Konrad, nimm mich mit!«

In vollen Schwingungen klang Claudinens Stimme durch den Raum.

Der Mann zitterte, faßte sich und antwortete:

»Weißt du, wohin ich gehe? Weißt du, daß ich den Fuß wohl nie mehr über diese Schwelle setzen werde? Weißt du, daß ich kein Opfer will, das aus falschen Konvenienzen fließt? Ich bin ein Deutscher, Claudine. Du hast es gehört, wie das klingt. Wir sind einander nichts mehr schuldig geblieben, du bist frei!«

Seine Stimme war leiser und leiser geworden, doch voller, immer voller schlug darin sein Herz.

Soweit standen sie von den Gruppen der andern entfernt, daß seine letzten Worte nur noch in Claudinens Ohr mündeten.

»Ich gehe mit, Konrad,« entgegnete sie laut.

»Claudine, bleib bei uns. Du hast genug gelitten, kehr zurück, kehr zu uns zurück!«

Das war Madeleinens Stimme gewesen.

Eine Weile stand sie stumm und blickte ihren Mann mit stillen Augen an. Langsam belebte sich die Blässe ihrer Wangen, stieg ein feuchter Glanz in die kühlen Sterne unter den dunklen Wimperbogen, und nun wandte sie sich, flüsterte: »Gedulde dich noch einen Augenblick,« und ging langsam zu den Frauen.

319 Alle hielten unwillkürlich den Atem an. René sprang hinzu, um den Vorhang zu heben, unter dem die Damen halb verdeckt standen.

Konrad von Eggheim preßte die Lippen und wartete. Jetzt wußte er, daß die Frau, die von ihm ging, sein Leben mit sich nahm. Nicht das äußerliche Dasein, auch nicht das Leben, das im Tun und Lassen, im pflichtgemäßen Handeln besteht, wohl aber jenes Leben, das im gleichen Schlag des Herzens und im Gefühl der Gemeinschaft besteht, die zwischen Mann und Weib die ewige Brücke über unergründliche Tiefen schlägt.

Sie ging. Sie trat zu ihrer Tante, küßte sie auf die Wangen, hielt sie umfaßt, und Madeleine Kiener warf die Arme um sie wie um eine Heimgekehrte. Nun drängten sich die anderen um sie her.

Claudine hatte Tränen in den Augen. Warm lief's ihr durch die Adern. Das Gefühl der Blutsverwandtschaft, gemeinsam getragener Schmerzen erfaßte sie mit seiner ganzen Stärke.

Als Jacques Kiener ihr die Hände küßte, ging ein hilflos rührendes Lächeln über ihr Gesicht.

»Nicht doch, Onkel Jacques,« und sie bot ihm den Mund.

Dann streckte sie René Wurmser mit einer verzeihenden und zugleich bittenden Gebärde die Hand hin.

»Es ist ein Abschied, laßt euch nicht betrügen!« sprach sie laut, und das Lächeln wich einem großen Ernst in ihren Zügen.

Und noch einmal zu René:

»Ein Abschied für immer!«

Klaus, der beiseite gestanden, fuhr mit lauter Stimme in das plötzlich aufbrandende Murmeln und Flüstern und rief:

»Ein Abschied? Weißt du, daß du eine Wahl triffst, die du nie rückgängig machen kannst? Bedenk es wohl, Claudine, es geht um dein ganzes Lebensglück!«

»Ich habe gewählt!«

320 Hochaufgerichtet, mitten im Zimmer stehend, sprach sie das entscheidende Wort.

Da kam Konrad von Eggheim langsam, ernst, ohne den Schein einer Erregung auf sie zu.

Als er vor ihr stand, raffte sie mit der Rechten die Schleppe, legte die Linke in seinen Arm und sagte mit klarer Stimme:

»Ich gehöre zu meinem Mann!«

Arm in Arm, Seite an Seite, so eng, daß ihr Blut sich von Leib zu Leib in plötzlich untrennbar verbundene Adern zu ergießen schien, schritten sie hinaus.

»Mein Weib,« kam's wie leiser Glockenton aus Konrads Mund.

»Dein,« klang's zitternd vor Sehnsucht zurück.

Hinter ihnen fielen die Türen.

Bei der Abfahrt der Kutsche stand Klaus Krafft, Freiherr von Illzach, barhaupt am Schlag und verbeugte sich ritterlich. Als der Wagen in der Frühlingsnacht verschwunden war, kehrte er ins Haus zurück.

Er vermied es, Kiener Vorwürfe zu machen.

Mit den Abendzügen reisten die meisten Gäste ab.

Es wurde still im Herrenhaus zu Niklausen.

Der Domherr nahm zuletzt Abschied, und da sagte er mit seiner wohllautenden Stimme im Augenblick des Scheidens:

»Nehmen Sie in Frankreich Dienst, Klaus! Die Republik kann morgen schon zu Ende sein. Man stickt bereits Lilien auf weiße Seide in unseren Klöstern. Und wenn Sie Orléanist oder Bonapartist sind – du mein Himmel – Sie wissen ja, daß alle Wege nach Rom führen. Hier verkümmern Sie. Lassen Sie das Elsaß! Erobern Sie es in Frankreich neu!«

Klaus lächelte schwerfällig.

Mit einer Handbewegung wies er auf die Bilder französischer Meister, die französischen Bücher an den Wänden.

»Ich habe hier alles, was ich von Frankreich noch 321 besitzen will. Meine Schuld habe ich bezahlt. Ich bleibe hier.«

»Und Ihre Kinder, Klaus?«

»Bleiben hier.«

»Das heißt?«

»Ich habe nicht für Frankreich optiert.«

»Sie machen Deutsche aus Ihren Kindern? Die Enkel der Illzach von Jemappes, von Eylau und Waterloo?«

»O, vergessen wir den Krafft von Illzach nicht, der Feldmarschalleutnant der Kaiserin Theresia war – übrigens, ich mache nichts Besonderes aus den Kindern. Sie sind, was sie sind, Elsässer. Für uns gibt's nur einen Weg: Zuerst die Heimat – später dann das Vaterland!«

»Ich verstehe Sie nicht, Klaus, aber das sehe ich klar: Herr von Eggheim hat einen guten Freund auf St. Niklausen. Leben Sie wohl, Klaus Krafft. Sie entgleiten uns – ich fühle es, aber hüten Sie sich: Sie werden Ihren Landsleuten entfremdet werden, ohne mit den Deutschen eins zu werden. Sie sind ein Mann, keine Frau wie Claudine.«

»Sie sagen mir nichts Neues. Ich will standhalten, ich muß eine Aufgabe haben, weiter nichts. Reisen Sie glücklich, Vetter, und grüßen Sie mir Frankreich!«

Der Wagen des Domherrn verlor sich im Dunkel.

Klaus war allein. Der glühende Punkt seiner Zigarette wanderte auf der Terrasse auf und ab.

In dieser Nacht entschloß sich Klaus Krafft von Illzach, den Sitz im Bezirksrat anzunehmen und dem Kaiser den Treueid zu leisten.

»Ich werde allein sein, man wird auch mich einen Renegaten schelten . . . und ich will doch nichts anderes, als dem Lande dienen . . . dem Elsaß, der Heimat . . . Was soll denn werden, wenn wir, seine eigenen Söhne, ihm den Rücken kehren oder die Hände in den Schoß legen?«

Ein tiefer Atemzug weitete die Brust des einsamen Mannes.

322 Er trat an das Geländer und hob die Hand wie zum Gruß in der Richtung, wo in weiter Ferne, über Felder, Weingärten, Dörfer und Städte weg hinter blauen Bergen Dornkirch im grünen Tale lag, und murmelte:

»Man erobert uns nicht. Aber du bist ihm doch gefolgt, denn du bist reif geworden und hast ihn lieben gelernt. Nun hast du deine Aufgabe und ich die meine. Auf Wiedersehen, Claudine!«

Wolkenwebende Frühlingsnacht deckte das elsässische Land.

 


 


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