Hermann Stegemann
Die Krafft von Illzach
Hermann Stegemann

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Als Konrad von Eggheim am späten Abend im Biwak von Schwabweiler von der Vernichtung der Brigade Michel hörte, bat er den Batteriechef um Urlaub, um nach Morsbronn zu reiten. Er war nicht ins Feuer gekommen.

Die Nacht stand mit hellen Sternen über dem welligen Land.

An der Bruchmühle, wo die französischen Jäger bis zuletzt stand gehalten hatten, qualmten Fackeln und rote Feuer. Das Schlachtfeld lag in Grauen erstarrt. Aus der Ferne, wo Elsaßhausen in Flammen stand und Fröschweiler rauchte, scholl aus vielen tausend Kehlen durch Nacht und Not der Choral der deutschen Sieger: ›Nun danket alle Gott‹.

Konrad von Eggheim fand sich bald zurecht auf dem blutigen Feld und klopfte im Forlenhof an. Sein Bursche hatte Licht im Giebel gesehen, bei dem dritten Anruf wurde ein Fenster geöffnet.

Bald darauf trat der Pächter mit einer Laterne heraus, um den Sohn des Gutsherrn suchen zu helfen.

Franz war schon in den Feldlazaretten gewesen, und Eggheim hatte bei gefangenen Kameraden Marcs nachgeforscht. Die zweite Eskadron der achten Kürassiere war in Morsbrunn eingedrungen und Marc noch im Sattel gewesen, als die dritte rechts ausbrach, um das feuerspeiende Dorf zu umreiten.

Als die Dämmerung im Osten rote Streifen zog, bemühten sich grobe Bauern- und Soldatenhände, die Barrikade in der Gasse von Morsbronn zu beseitigen und die Verwundeten von den Toten zu sondern. Schaurig 56 hallten Roß- und Rabenschreie über das Schlachtfeld, Stöhnen und Sterben überall. Tiefe Gruben füllten sich mit den Leibern der Tapfern, die hüben und drüben den Tod gefunden hatten.

Über der Brust Marcs von Illzach lag, von einem Granatsplitter aus dem Gelenk geschmettert, das Schwert noch krampfhaft in der erstarrten Faust, der Arm des Wachtmeisters Kestle. Der Wachtmeister wurde noch lebend gefunden neben seinem Leutnant und ins fliegende Lazarett geschafft.

In der Stube des Forlenhofes lag Marc Krafft von Illzach langgestreckt. Als Konrad das Taschenbuch aus dem Koller zog, hatte eine deutsche Kugel ihr Brandsiegel auf Louisens Brief gedrückt und Blut die Blätter verkrustet.

Konrad warf keinen Blick hinein. Er hatte keine Zeit mehr, lange zu überlegen, denn der Dienst rief. Den nach Straßburg versprengten Resten der geschlagenen Armee nach setzten sich die Badener in Bewegung. Schon flogen die Dragoner nach Brumath.

Zweimal setzte Eggheim an, dann schrieb er mit festen Zügen:

›Wenn diese Zeilen in Ihre Hände kommen, lieber Papa, dann hat die Nachricht von der Schlacht bei Wörth und Fröschweiler Sie gewiß schon erreicht. Nie hat sich ein Heer tapferer geschlagen als das französische. Unter den glorreich für ihr Vaterland Gefallenen ist auch unser teurer Marc. Man wird von dieser Attacke der Kürassiere noch erzählen, wenn wir alle längst nicht mehr sind. Ich habe Ihren Sohn ganz vorn unter den ersten gefunden, ein herrlicher Reitertod hat ihn im Sattel getroffen und steht mit stolzen Zügen in seinem jungen Gesicht geschrieben. Lieber Papa, es gibt hier keinen Trost, als den dieses heldenhaften Endes! Die Leiche ist im Forlenhof geborgen. Meine Truppe, die gestern nicht in Aktion trat, bricht soeben auf. Ich lege diesen Brief und Marcs Brieftasche in sichere Hände, damit Sie beides durch den Boten zugestellt bekommen.‹

57 Einen Augenblick hielt er zweifelnd inne, wollte noch von sich sprechen, und wie er Marcs Ende mitempfinde, wollte Claudinen grüßen und sie Papas Liebe und Fürsorge empfehlen, aber dann ließ er beides, unterdrückte alles, was die traurige Post mit andern Dingen belasten konnte, und brachte den Brief zu Ende.

Stumm betrachtete er noch einmal das Antlitz seines Schwagers, dann verließ er die Kammer und suchte seine Batterie, die sich schon in Marschkolonne gesetzt hatte, als er sich zurückmeldete. Im Trab rasselten die Feldgeschütze den Reitern nach in den klaren Tag hinein.

Aus dem Brumather Wald fielen einzelne Schüsse. Versprengte Turkos flohen durchs Unterholz. Pferdekadaver, Waffen, umgestürzte Troßwagen zeichneten die Landstraße.

Konrad von Eggheim fand erst das Gleichgewicht wieder, als sie im Quartier lagen. Er wollte seiner Frau schreiben, aber im Goldenen Löwen war keine Stube, kein Tisch frei. Da ging er in die Laube des Gartens, der an der Zorn entlang lief. Stechmücken summten um das Windlicht. Ein feuchter Hauch strich über die Wiesen. Und plötzlich kam es über ihn: nicht schreiben. Jedes Wort tut ihr jetzt weh. Sie weiß, daß er lebt, muß wissen, daß er sie liebt, daß er mit dem Gedanken an sie aufsteht und schlafen geht – aber nur jetzt nicht schreiben, da der Bruder gefallen ist, gefallen auf der andern Seite!

Zum ersten Mal überkam ihn eine schleichende, angstvolle Ahnung, als könnte der Krieg, den zwei Völker ausfochten und in dem er mit ganzem Herzen und gesammelter Kraft auf der Seite seines eigenen Volkes stand, tief, bis auf den Grund seiner Ehe und seines Lebens greifen und das Unterste zu oberst kehren, wenn ihn das Schicksal nicht zu Marc bettete.

Er hatte bis auf diesen Tag nie das Gefühl gehabt, daß Claudine nicht ganz frei sei, nicht ganz mit ihm fühle. Sie waren auch nicht in Konflikte verstrickt worden, die an allen Seelenfäden zerrten. Ihre Vorliebe 58 für französisches Wesen, ihre französische Erziehung und Bildung waren ihm immer als reizvolle Eigenschaften ihres anmutigen Wesens erschienen, das in seiner herben Verschlossenheit so wenig französisch und so ganz deutsch war. Er liebte seine Frau, seit er sie damals an der kleinen Roulette in Badenweiler kennen gelernt hatte, wo sie unschuldig ein paar Taler verspielte. Er sah noch ihr erstauntes Gesicht, das so ungläubig lächelte, als der Rechen des Croupiers ihren Einsatz blitzschnell einzog.

Mais ça va trop vite, papa, je ne peux pas suivre,‹ hatte sie über die Achsel gewendet gesprochen und die hohle rosige Hand gehoben, um neues Geld zu empfangen.

Aber Klaus Krafft war nicht mehr an seinem Platz, und als sie sich ungeduldig umdrehte und bettelte: ›Un seul Napoléon, papa, et je ne recommencerai plus,‹ da blickte sie in Konrads lächelnde Züge und eine feine Röte lief über ihr schmales Gesicht.

Konrad wollte den Freiherrn holen, aber die flüchtige Erregung des Spiels war schon von ihr gewichen. Sie dankte, stand auf, und er bat sie um die Erlaubnis, sie zu Herrn von Illzach führen zu dürfen, der sich in den Park geschlagen hatte.

Seinen Antrag machte Konrad von Eggheim in französischer Sprache, aber das Geständnis, daß er sie liebe, kam ihm deutsch über die Lippen, und als er es französisch wiederholen wollte, sagte Claudine:

»O, ich verstehe sehr gut deutsch, Herr von Eggheim.«

Da hatte er ihr die Hand und dann den Mund geküßt.

Und jetzt war Claudine Krafft von Illzach schon zwei Jahre seine Frau und war vor sechs Wochen nach St. Niklausen zu Besuch gefahren. Sie hatte ihm die süßeste aller Hoffnungen ins Ohr geraunt, als er sie verließ. Heute aber war es ihm, als lägen Jahre zwischen diesem Abschied und dem gewaltigen Heute, das ihn wie eine Sturmflut von ihr ins weite offene Meer hinausgetrieben hatte.

Nein, er konnte, er durfte ihr nicht schreiben . . . er 59 hatte dem Schwiegervater das Gefühl heiliger Begeisterung verbergen können, das ihn durchbebte und erfüllte, seit sie die Maxauer Schiffbrücke überschritten und den Fuß auf elsässischen Boden gesetzt hatten, er hätte für den tapferen Jungen, der wie ein Ritter in Helm und Harnisch von der Gloriole soldatischen Opfermutes umstrahlt, in den Tod geritten war, jeden Gedanken aufsparen können, aber seiner Frau konnte er heute nicht mehr verbergen, was ihm das Herz so hart, so mächtig an die Rippen hämmern ließ, daß die Feder in der Hand davon erzitterte.

Und da erhellte sich plötzlich um ihn her die dunkle Nacht, schlug die Lohe flackernder Feuer über die dunklen Spiegel der Zorn, füllte sich das Städtchen, das Haus mit Stimmen und Lärm, riefen sie nach ihm, kam der Freiwillige Mezner gestürzt und: »Sieg bei Spichern, die Franzosen auf Metz geworfen, Zabern besetzt, Mac Mahon aus dem Elsaß hinausgeschlagen« – vergessen alles andere, alles Persönliche, nur das Unfaßliche, nein das gewaltig Packende noch lebendig – das Erwachen, die Auferstehung der deutschen Nation! Und plötzlich schallte aus der Brumather Gasse von badischen Kanonieren, Musketieren und Dragonern gesungen rauh und inbrünstig die ›Wacht am Rhein‹ . . . Selbstvergessen sang Konrad von Eggheim mit.

Doch als sie am grauen Morgen ausrückten, klang's sehnsüchtig, lockend aus ihren Reihen:

»O Straßburg, o Straßburg, du wunderschöne Stadt.«

Am blaßblauen Horizont erschien der schmale feine Schattenstrich des Straßburger Münsters. Wie ein Stein gewordener Traum war er aus dem grünen fruchtbaren, wonnevollen Land zum Himmel aufgestiegen.

Die Dämmerung des zweiten Tages kroch um die kantigen Bastionen und färbte das Wasser bleiern, das in den tiefen Gräben stand und im Süden weithin das Gelände überschwemmte, als die badischen Vortruppen sich der Stadt näherten.

60 Die Tore waren geschlossen, die Brücken aufgezogen, durch die sich gestern der Strom der Flüchtenden ergossen hatte. Ausgestorben die letzten Dörfer. Das dumpfe Grollen des Schlachtgewitters von Wörth war am 6. August von morgens früh bis gen Abend zu hören gewesen. Dann waren die ersten Versprengten erschienen, ein endloser Eisenbahnzug keuchte von Hagenau heran, gepfropft mit Verwundeten, und die Nacht hindurch strömte es herein durch das Zaberner Tor, Bauern, Soldaten, Soldaten und Bauern. In die engen dunklen Gassen quirlte die Flucht. Der Generalmarsch rasselte, und die Fenster flackerten von unruhigen Lichtern.

Klaus Krafft von Illzach war schon am Morgen des 6. August, als die unsichtbaren Wetter grollten, von einer seltsamen Unruhe erfaßt worden. Um die Mittagszeit ging er in der Kalbsgasse nervös die lange Flucht der Räume, die auf den Schiffleutstaden blickten, auf und nieder. Der Himmel stand blau über den schwarzen, von übereinandergeschachtelten Fensterluken durchbrochenen Dächern. Traumhaft leise floß unten das Wasser und funkelte von der irisierenden Seifenlauge der Waschhäuser grün und blau in der hellen Sonne.

Vor den Bildnissen im Gobelinzimmer blieb Klaus Krafft stehen. Sah er sie denn zum ersten Mal, die schmalbackigen Gesichter mit den scharfen Nasenrücken, die immer wiederkehrten, ob auch hie und da einmal von der Kunkelseite ein anderer Typus eingesprengt erschien? Der Marc Honoré Krafft von Illzach, der Anno 1712 das Regiment d'Alsace in Flandern befehligt hatte, zeigte trotz der Allongeperücke in seiner schimmernden Brustplatte und der stolzen sieghaften Haltung Ähnlichkeit mit Marc.

Wieder grollte es in der Ferne. Ein Gewitter donnerte am blauen Himmel. Und dann klopfte es, und Meister Jungholz verkündete mit zuckender Miene, es sei richtig, eine große Bataille sei im Gang zwischen Gunstedt und Reichshofen.

61 Klaus Krafft von Illzach wollte auf die Straße gehen, aber als er drüben den Staden öde liegen sah, kaum ein paar Frauen, die von Haustür zu Haustür huschten, während von der Zitadelle herüber kein Schuß fiel und kein Horn rief, da versagte ihm plötzlich der Wille. Er fühlte sich ohnmächtig, fühlte die Zwecklosigkeit seines Beginnens, seines Hierseins, wo niemand ihn suchte, niemand nach ihm verlangte. ›Je me recommande à vous!‹ . . . Das hatte ein Sterbender ihm geschrieben . . . Das Schicksal ging seinen Gang.

Und Marc . . . Er sah ihn vor sich in Helm und Panzer, tief verschattet das helle Gesicht, fremd, einen harten, herrischen Ausdruck in den gespannten Zügen, und auf einmal spürte Klaus Krafft die Feuchte eines Luftzuges auf der kahlen Stirn, als striche etwas mit Geisterflügeln an ihm vorüber.

Die Münsterglocke schlug eins. Und eins schlug mit seinem silbernen Hämmerlein die Alabasteruhr auf dem Boulemöbel. Er hatte sie gestern aufgezogen. Sie schlug, ließ ein Klirren hören und schwieg mit einem verzitternden Seufzer.

Der Diener erschien auf der Schwelle, um zu melden, daß das Dejeuner aufgetragen sei. Er fand den Freiherrn im Sessel, den Kopf in den Händen vergraben, den hagern Leib vornübergebrochen, als könnte er ihn nie mehr gerade recken. Der leise Anruf des Dieners rüttelte ihn auf. Die Hände sanken herab.

»Es ist gut, später.«

»Ein Brief, Herr Baron!«

»Gib!«

Der Brief kam von Kiener und forderte ihn auf, nach St. Niklausen zurückzukehren. Kiener mußte in Mülhausen bleiben. Dort lagerte das siebente Armeekorps, und über dem Rhein blinkten zahlreiche Wachtfeuer vom Istein bis ins Wiesental.

›Ich gebe nichts auf den Sieg von Saarbrücken. Der Lärm ist zu groß für diese Omelette. Von einem 62 Bündnis mit Österreich hört man überhaupt nichts mehr. Die Engländer haben noch an den Geheimakten über die Aufteilung Belgiens zu verdauen, die dieses leichtherzige kaiserliche Kabinett in Bismarcks Händen gelassen hat und die dieser furchtbare Spieler jetzt den ›Times‹ in die Manschette gesteckt hat. Ich sehe täglich mehr, wie recht ich hatte, gegen den Krieg zu stimmen. Man hätte die Sache nicht ungeschickter anfassen können. Aber mag das Kaiserreich darüber zugrunde gehen – Frankreich wird unbesiegt bleiben. Es lebe die Republik!

›Komm zurück, Klaus, Dienste, die man anträgt, sind selten begehrt. Und von Marc wirst du in Straßburg weniger sehen und hören als in St. Niklausen. Mac Mahon muß ja schon an der Grenze stehen. Amélie sorgt sich um Dich und Marc, und Claudine, die Mann und Bruder im Felde hat, (ich kann mir immer noch nicht vorstellen, daß sie gegeneinander manövrieren) hat doppelte Aussprache nötig.‹

Klaus Krafft las mechanisch die Zeilen des nüchtern denkenden Schwagers.

Der Diener erschien noch einmal und reichte ihm zwei Blätter. Ein gedrucktes, das lautete in druckfeuchten Buchstaben, auf grobem Papier: ›La bataille engagée près Reichshofen s'annonce comme une grande victoire. Prussiens et Bavarois repoussés se retirent sur Wissembourg. Brillantes charges de cavallerie.

Mit einem Ruck schnellt der Freiherr empor. Das Blut steigt ihm ins Herz und ergießt sich von dort in brausendem Strom durch die Adern.

Auf dem Schiffleutstaden entstand Bewegung. Volk brach aus den Gassen, im Eilschritt kam eine Kompagnie Marinekanoniere vom Metzgertor her über die Brücke. Irgendwo jauchzten die feurigen Worte der Marseillaise.

Noch einmal, diesmal langsam und suchend, las Klaus Krafft die Siegesbotschaft. Jetzt las er zwischen den Zeilen, daß die Schlacht noch nicht zu Ende war, daß die Kavallerie blutige Attacken geritten; und wer anders ritt 63 in geschlossenen Geschwadern als Schlachtenreiterei in den Feind als die Gepanzerten von Borodino und Waterloo! Wie ein überwältigendes Gesicht sah er plötzlich die funkelnde, blau und rot leuchtende Brigade Michel auf den mächtigen Gäulen im Schritt, eine langsam wandernde Wetterwolke, am Brumather Wald entlang ziehen. Nein, Marc war nicht gefallen, Marc stand noch in Stiefel und Bügel! Aber der gedruckte Zettel trug keinen amtlichen Vermerk – es war ein Bulletin des ›Courrier du Bas-Rhin‹ wie jenes, das den großen Sieg und die Einnahme von Saarbrücken gemeldet hatte.

Als Klaus diese Betrachtung anstellte, verdickte sich das Blut wieder in seinen Adern, und eine schleichende Unruhe ergriff ihn.

Er wollte zum Präfekten gehen. Baron Pron würde einem alten Freunde die Auskunft nicht verweigern.

Da wurde er auf das zweite Blatt aufmerksam, das noch unbeachtet auf dem Teller lag. Er brach das gefaltete Papier auf, las, strich sich Haar und Bart und fragte:

»Ist die Dame im Salon?«

Der Diener trat zur Seite, und Freiherr Klaus Krafft von Illzach ging in den gelben Salon, wo Louise Grandidier ihn erwartete.

Die Sonne hatte weiße Schleierdünste um sich gezogen und warf ein milchiges Licht in den gelbdekorierten Raum. Zu den geöffneten Fenstern herein schlug der Lärm der Sperlinge und das Murmeln im Gartenhof.

Den Kapotthut an den zusammengeknöpften Seidenbändern über den Arm gehängt, stand Louise Grandidier mit verschlungenen Händen am Kamin. Ihre blauen, von Tränen glänzenden Augen leuchteten fieberisch aus dem weißen Gesicht. Das schwarze Haar lag tief und wellig auf der Stirn und an den Schläfen.

Einen Augenblick stutzte Klaus Krafft. Die schwarze Kleidung, das blasse, müde Gesicht, aus dem mehr Reife und Frauenleid sprachen, als er von einem Liebchen seines Sohnes erwartet hatte, machten ihn betroffen.

64 Er vermied die Anrede und sagte schlicht:

»Ich bitte Sie, mir zu sagen, womit ich Ihnen dienen kann. Ich werde tun, was mir die Umstände erlauben.«

Zugleich ergriff er ihre Hand und führte sie zu einem Stuhl.

Sie wollte antworten, aber ihre Lippen zitterten zu stark und konnten die Worte nicht bilden. Ein gequältes Lächeln bat den Freiherrn um Entschuldigung.

Da fuhr er mit ruhiger, sanfter Stimme fort:

»Ich habe meinen Sohn vorgestern im Biwak von Brumath gesehen. Er hat Ihren Brief erhalten.«

Ihr Gesicht erglühte, um sofort wieder zu Perlmutter zu erblassen.

»Gesehen, vorgestern?« stammelte sie.

Klaus Krafft hörte die Freude, die im ersten Wort zitterte und hörte auch die Bedeutung, die sie dem zweiten mit schwererer Betonung und einem seufzenden Ausklang beilegte.

»Ja, vorgestern,« wiederholte er, und sie blickten sich angstvoll an und verstummten.

Endlich ermannte sich Klaus.

»Sind Sie schon länger in Straßburg?« fragte er, um das Gespräch fortzuführen. Dabei blickte er auf ihre schöngerundeten Schultern und den köstlichen Ansatz des Halses, der aus den schwarzen Chiffons stieg.

»Seit acht Tagen, Herr Baron. Ich wohne bei meiner Schwester, die hier an einen Zollbeamten verheiratet ist.«

Ihre Hände flochten sich wieder ineinander, und plötzlich faßte sie Mut und fragte:

»Hat Marc meinen Brief gelesen? Ach, ich wollte ja nichts für mich, als ihn noch einmal sehen. Aber man sagt, es sei eine große Schlacht heute.«

Nun stiegen zwei Tropfen aus der Bläue ihrer Augen und liefen langsam die Wangen hinunter.

Klaus Krafft hatte noch nie eine Frau weinen sehen können, ohne ein Gefühl der Mitschuld zu empfinden.

»Marc hat den Brief gelesen und beantwortet, mein 65 Kind. Aber so lange er nichts anderes für Sie tun kann, müssen Sie mir erlauben, für ihn zu handeln. Befehlen Sie!«

Er streckte ihr die Hand entgegen.

Sie preßte ihre Finger noch enger ineinander und stand plötzlich mit sicherm Entschluß auf.

»Ich hätte nicht zu Ihnen kommen sollen. Verzeihen Sie mir! Marc ist mir nichts schuldig. Es war nur die Angst, und weil ich ihn noch einmal sehen wollte. Und dann mußte ich auch daran denken, daß Marc –«

Sie brach ab, als dürfte sie das Wort nicht laut werden lassen.

Da richtete Klaus Krafft sich auf und vollendete den Satz, an dem sie gescheitert war.

»Sie mußten Ordnung machen und alles zu Ende denken: wenn er fallen sollte, das wollten Sie sagen, Louise, nicht wahr?«

Sie nickte, und er sah ihre Lippen krampfhaft zittern.

»Und Sie haben seine Antwort nicht erhalten?«

»Nein – noch nicht,« erwiderte sie leise.

Klaus Krafft zog die Stirn zusammen. Marc hatte ihm doch sein Wort gegeben – aber Feldpost, und der Wirrwarr, der ohnehin schon herrschte – und er sagte:

»Sie erhalten ganz sicher noch Nachricht. Ich gebe Ihnen mein Wort darauf.«

»Aber man kämpft ja heute schon! Wenn er nur lebt, wenn er nur leben bleibt! Ich will ja nichts. Ach, dieser schreckliche, wahnsinnige Krieg!«

Wiederum lauschte der Freiherr noch auf ihre Worte, als sie schon verklungen waren. Aber er wagte nicht, in sie zu dringen, war ganz Kavalier, und ein klein wenig Vater, so viel gerade, als er der Frau gegenüber sein durfte, die Marcs Liebe genossen hatte und seinen Sohn immer noch liebte. Er heuchelte plötzlich Sorglosigkeit und Unbefangenheit und bat Louise Grandidier, mit ihm zu speisen.

Ja, beinahe hätte er wirklich alles andere vergessen. 66 Er führte sie am Arm ins Speisezimmer, befahl noch ein Gedeck und füllte ihr Teller und Glas mit einer altmodischen, ein wenig pedantisch genauen Galanterie, die seinen Haaren vortrefflich stand.

Sie wollten vergessen, wollten unbefangen scheinen und plauderten, vom Chambertin angeregt, den Klaus Krafft statt des Bordeaux befohlen hatte, wie alte Freunde.

Louise erzählte, wie sie Marc kennen gelernt hatte. Das war vor drei Jahren in Besançon gewesen. Er glaubte zu verstehen, daß das Verhältnis gelöst war und Louise Grandidier trotzdem das kleine Modegeschäft, das sie seit zwei Jahren in Besançon betrieb, in Stich gelassen hatte, um nach Straßburg zu eilen und Marc vor dem Ausrücken noch einmal zu sehen. Diesen Widerspruch fand er heraus.

»Ich habe Marc alles gegeben. Ich wollte ihn noch einmal sehen,« murmelte sie.

Es war drei Uhr geworden. Sie saßen wie erschöpft von ihren Gedanken, ohne zu sprechen.

Aber dann wurden sie auf einmal sorglos und heiter.

Klaus Krafft von Illzach, von der Aufregung und der Müdigkeit der letzten Tage angegriffen und vom Wein erregt, war der Gegenwart der hübschen Frau froh geworden. Auch Louise spürte die Wirkung des ungewohnten Weines und war nicht mehr so scheu, hing nicht mehr so ängstlich an dem einen Gedanken, von dem sie erfüllt gewesen war, als sie von Besançon nach Straßburg geeilt war.

Der süße Reiz einer Stunde, die sie über die Schwere des Tages und die furchtbare Ungewißheit des heute waltenden Schicksals hinwegtrug, ergriff und bestrickte die beiden Menschen, die sich in dem kleinen, dunkel möblierten Speisezimmer gegenübersaßen.

Louise Grandidier wußte taktvoll von Marc zu plaudern. Ihr Gesicht war zart gerötet, die kleine Hand trotz 67 der ein wenig zerstochenen Finger schön gebildet und wohl gepflegt.

Und es geschah, daß Baron Krafft von Illzach seine Lippen auf diese weiße niedliche Hand drückte und lächelnd sagte:

»Welch ein glücklicher Junge – wer doch an seiner Stelle gewesen wäre!«

Dabei hielt er ihre Finger fest und blickte ihr lange in die Augen.

»Ich habe nie einen andern geliebt,« erwiderte sie leise.

Sie ließ ihm die Hand, zärtlich strich er mit seinen mageren, hart gewordenen Fingern über das runde Gelenk und den mattglänzenden Handrücken, in dem die kleinen Grübchen saßen.

Sie hörten das ferne, zuweilen ebbende, dann wieder anschwellende Murren nicht mehr, das sie am Vormittag so erschreckt hatte und das der Kanonendonner einer blutigen Schlacht sein sollte. Auf den Staden war es wieder ganz still geworden. Die Sonne zerfloß im Dunst, der sich immer deutlicher zu geschlossenen Geschwadern kleiner, malvenfarbener Wolken ausbildete und den Himmel auf die Erde herabzuziehen schien.

Vier Uhr schlug's schwach vom Turm des Münsters.

Der Diener klopfte.

Klaus fuhr auf.

»Schlechte Nachrichten, Herr Baron, man sagt, die Schlacht gehe verloren,« sprach der Diener mit heiserer Stimme.

Louise flog empor. Sie war schon an der Tür.

Aber im Vorzimmer stand Klaus Krafft plötzlich neben ihr und sagte:

»Wir gehen zusammen.«

Er zog ihre Hand auf seinen rechten Arm und stieg mit ihr die breiten glänzenden Treppen hinab.

Zwischen den hohen Häusern wuchsen schon die Schatten ineinander, daß die Gasse feucht und dämmerig im 68 Schweigen verschwamm, das die alte verträumte Stadt seit dem Abmarsch der Armee wieder gefangen hielt. Von dem Judentor her klang die Axt. Uhrich ließ die Wälle mit Palisaden versehen. Aber der Lärm erstickte beinahe in der dunstigen Luft des sinkenden Tages.

»Ich bringe Sie nach Hause,« sagte der Freiherr. Dann schwiegen sie.

Louisens Schwester wohnte in der Brandgasse.

Es war fünf Uhr, als Klaus Krafft und Louise Grandidier in die Gasse einbogen.

Da rasselte plötzlich drüben auf dem Broglie die Trommel, und vom Kleberplatz rief gellend mit Horn und Trommel der Generalmarsch zu den Waffen. Ein Lancierspikett klapperte im Galopp über das Spitzpflaster und hätte Klaus und Louise beinahe überritten. Und dann wälzte sich dumpfer Lärm, in immer helleren Noten, von der Blauwolkengasse her, geriet mit einem Schlag die Stadt in Aufruhr, ergriff ein wilder Wirbel Klaus und riß ihn von Louise fort, dem Zaberner Tor zu. Das war, als das Landvolk in die Stadt stürzte und gleich darauf die ersten Versprengten und Verwundeten von Elsaßhausen her anlangten.

Am Kellermannstaden holte Louise den Freiherrn wieder ein.

»Ich flehe Sie an, nehmen Sie mich mit,« rief sie und umfaßte seinen Arm mit beiden Händen. Verbleichende Sonne malte goldklare Blässe auf ihre Wangen.

»Mac Mahon ist geschlagen – wir sind geschlagen,« antwortete Klaus Krafft, als hätte sie ihn danach gefragt, und nun gingen sie, irrten sie mit vielen andern unstet von Staden zu Staden, vom Bahnhof zum Zaberner Tor, und der Abend brach mit dunkelschleppenden Wolkenschatten herein und erstickte das letzte Tageslicht.

Um elf Uhr nachts, als die Tore geschlossen wurden, die erst in der ersten Morgenfrühe wieder geöffnet werden sollten, geleitete Klaus Krafft Louise Grandidier nach Hause. Stumm, müde schleppten sie sich hin.

69 »Es waren ihrer zu viele, ihre Artillerie zerschmettert alles, was sich bewegt,« hatte ein alter Troupier zu Klaus gesagt und den zerschossenen Arm finster durch das rettende Tor getragen.

»Kommen Sie mit hinauf,« bat Louise, als der Freiherr sie vor die Tür gebracht hatte.

Unwillkürlich war es ihr über die Lippen getreten. Im Unglück, das sie ahnend empfanden, ahnend herankriechen sahen, schlossen sie sich aneinander, um gemeinsam seinen Schlag zu erwarten.

Nun saß Klaus Krafft Freiherr von Illzach in der engen, niedrigen Bürgerstube.

Sie hatten die Kerzen gelöscht und kauerten im Finstern. Zuweilen wirbelten in der Ferne die Trommeln, und dann wurde die Stille wieder um so schwerer und drückender. Von Fackeln und Windlichtern, die im Hofe des Stadthauses flackerten, irrte ein gelber Widerschein an der Stubendecke hin, um wieder zu verschwinden. Im Nebenzimmer, wo die Schwester Louisens und ihr Mann schliefen, war unruhige Bewegung, Flüstern und Gehen.

Endlich klopfte es, und nun saßen sie zusammen in der Wohnstube, der Freiherr im Ledersessel, der Zollaufseher auf der Kante eines Stuhles und zuweilen nach dem Bajonett tastend, das er umgeschnallt hatte, die Frauen eng aneinander geschmiegt auf dem kleinen Sofa.

Wenn Klaus Krafft einen Augenblick einnickte und schlummerte, dann hielten alle den Atem an, um ihn nicht zu wecken. Um vier Uhr rasselte wieder die Trommel auf dem Broglieplatz.

Grau stand der Tag in den Scheiben.

Louise bot Klaus Krafft eine Tasse Kaffee.

Sein blasses Lächeln trieb ihr die Tränen in die Augen.

Er hatte vergessen, daß in der Kalbsgasse das ganze Haus auf ihn wartete.

Noch einmal bückte er sich über ihre Hand, dann 70 richtete er den schmerzenden Rücken wieder gerade und verließ mit dem Mann das Haus.

Die Garnison stand unter den Waffen.

Durch zwei Tore strömte es herein. Geflüchtetes Fußvolk ohne Waffen, Rothosen und Jäger, Artilleristen ohne Geschütze, halb verhungert, einen eigentümlichen, aus erstarrtem Grauen und wildem Lebensdurst gemischten Ausdruck in den ausgemergelten Gesichtern. Ein Trupp Turkos, mit zerrissenen Pluderhosen, schmutzbespritzt, klebend von Schweiß und Pulver, kam im Geschwindschritt, die Chassepots im Arm, ihrer sechzig um einen Adler geballt, der Rest des zweiten Turkoregiments, das bei Fröschweiler vernichtet worden war.

Schon waren einzelne Reiter im Gewühl aufgetaucht, ein paar hellblaue Lanciers, braune Husaren, Artilleristen, zwei Zuaven auf schweren Gäulen – Kürassierpferden – Klaus Krafft hatte Typus und Packung erkannt – und endlich, als schon die Sonne in den Staub schien und Blitze aus den Bajonetten schlug, ein kleiner Trupp Kürassiere.

Klaus Krafft hatte sich durch das Tor gedrängt. Der Wachthabende hatte ihn vorüber gelassen. Er lehnte an der Mauer des Helenenfriedhofes, dessen dunkle Zypressen und alte Pappeln wie erstarrt standen in der silbernen Morgenstimmung.

Und elf Mann kamen geritten, fest aufgeschlossen, mit hohläugigen Gesichtern, die Blicke starr geradeaus gerichtet, die Fäuste hochgestemmt, damit die ausgepumpten Gäule die Zügel spürten. Ein Maréchal des logis mit drei Litzen voraus. Die Panzer gleißten, die Roßschweife nickten, die Pallasche klirrten und die Sättel knarrten, aber die starre Ruhe dieser Versprengten hatte etwas Grauenvolles. Wie Taggespenster trabten sie, von ihrer Seele verlassen, in den steigenden Tag.

Stauung am Tore sperrte ihnen den Durchpaß. Mechanisch hob der Veteran den galonierten Arm und die Gäule standen. Still, immer noch über die Köpfe der 71 Pferde blickend, hielten die Kürassiere. Keiner sprach. Um sie her strudelte der Wirrwarr der Flucht.

Da trat der Freiherr von Illzach heran, legte die Hand auf das leere Pistolenhalfter des alten Troupiers und fragte:

»Vom achten Regiment, mein Braver?«

»Vom achten und neunten, sieben und vier Mann.«

Die Stimme klang hohl, kein Muskel zuckte im verwüsteten Gesicht.

»Also hat die ganze Brigade chargiert?«

»Die ganze Brigade.«

»Mein Sohn, Leutnant Marc d'Illzach steht bei der zweiten Eskadron des Achten.«

Wie die Stimme zitterte!

Als Klaus Krafft die Worte gesprochen hatte, lief ein fieberisches Zucken, ein wildes, verzweifeltes Grinsen über das Gesicht des alten Soldaten, und seine Augen bohrten sich in die des Freiherrn, ohne daß er des Krampfes hätte Herr werden und Antwort geben können.

Doch aus dem zweiten Glied kam eine Stimme und sprach in der kräftigen oberelsässischen Mundart:

»Von der zweiten kommt keiner heim. Die liegt erschlagen in dem verfluchten Morsbronn.«

Und da fand auch ein anderer die Sprache und schrie:

»Die ganze Brigade liegt wie gemäht, Offiziere und Kürassiere!«

Totenblässe überzog das Gesicht des Freiherrn von Illzach.

Morsbronn! Zum ersten Mal grinste ihn aus dem Namen des Dorfes, in dessen Weichbild er begütert war, der Tod an. Und es war ihm, als hätte er das vorauswissen können, als wäre dieses Schicksal schon lange, schon von Anbeginn bestimmt gewesen: Morsbronn! Brunnen des Todes!

Er trat zurück, die Stauung löste sich, die Kürassiere reckten sich in den Bügeln und trabten an. Unter der Wölbung des Steintors verschwanden sie, als hätte die 72 Finsternis des Todes auch diese Versprengten von Morsbronn verschluckt.

»Kommen Sie, Herr Baron!«

Klaus Krafft folgte der respektvollen Aufforderung des Zöllners und kehrte in die Festung zurück, die aus ihrem dämmernden geruhigen Leben geschreckt, von wilden Gluten bebte.

In der Brandgasse empfing die Männer das blasse Leid.

Louise Grandidier weinte nicht, sie hatte schon lange an einen lieben Toten gedacht, wenn sie an Marc von Illzach dachte.

»Ich hätte ihn so gern noch einmal gesehen,« murmelte sie.

Und der Freiherr antwortete, indem er ihr über den Scheitel strich:

»Er weiß es – ich hab ihm ja selbst deinen Brief gebracht.«

Er sprach, wie man zu einem Kinde spricht.

Aber dann kam mit einem Schlage wieder Ruhe und Klarheit über ihn.

Er ersuchte Louise, sich bereit zu halten, Straßburg morgen zu verlassen.

»Morgen fallen die Tore zu, die Preußen werden Straßburg nicht links liegen lassen, und ich wünsche Sie nicht in der belagerten Stadt zu wissen.«

Er wollte die Frau, die sein Sohn geliebt hatte, in Sicherheit bringen.

Als er in der Kalbsgasse ankam, half ihm der Diener die Treppen steigen. Klaus befahl ihm, Erkundigungen einzuziehen, ob die Züge noch verkehrten und im Notfalle eine gute Kutsche mit zwei Pferden bereitzuhalten.

Dann legte er sich nieder. Er wollte schlafen, und so mächtig wirkte der angesichts des vollendeten Unglücks wieder erstarkte Geist, daß ihn alsbald ein tiefer Schlaf befiel.

Am Nachmittag bestellte er das Haus, ging auf die 73 Kommandantur und fand einen Stabsoffizier Lartigues, der beim letzten Vorstoß der Franzosen gegen Albrechtshausen mit nach vorn gerissen und dann mit den Versprengten weggeschwemmt worden war. Sein Sohn war tot, tot oder verwundet in Gefangenschaft gefallen. Aus der Hölle von Morsbronn gab es kein anderes Entrinnen.

Wo sollte er ihn suchen? Gleichviel – er ging ihn holen!

Er wollte Louise zu Pfarrer Dill nach St. Niklausen schicken, bis Klarheit geschaffen war. Er selbst ging nach Morsbronn, seinen Sohn zu suchen. Vielleicht fand er den Toten schneller, als er den Lebenden gefunden hatte.

Der Tag verging, die Nacht brach an. Klaus Krafft ging stundenlang in den leeren Räumen seines Hauses auf und ab. Marc war gefallen, gefallen wie schon mancher Illzach, seit sie den Ruhm der französischen Waffen über den Erdball hatten tragen helfen. Und eine Ahnung beschlich ihn, die mehr aus der Erkenntnis als aus dem Gefühl floß, daß eine neue Zeit angebrochen war.

»Marc, Marc!«

Plötzlich dachte er an Claudine. Es überlief ihn – er erzitterte für sie in seinem Schmerz um den Jungen!

Am Montag früh, zwei Tage nach der Schlacht von Wörth, verließ Klaus Krafft von Illzach Straßburg. Der Diener hatte nur mit Mühe eine Reisekutsche auftreiben können, und Klaus beschloß, Louise bis Erstein oder Benfeld zu bringen, wo man noch auf die Eisenbahn rechnen konnte.

In Straßburg war Ruhe und Ordnung eingekehrt, aber noch standen die Vororte, schmückte sich das Vorgelände mit schönen alten Baumgruppen, schimmerten Villen und Landhäuser in sattem Grün dicht vor den malerischen Bastionen, die wie zu Vaubans Zeit die Festung eng umgürteten. Nur im Süden verbot jetzt die Überschwemmung der Wiesen dem Belagerer, sich sofort auf wirksamste Schußweite heranzulegen.

74 Der blaue, mit weißen Wolken bestreute Himmel spiegelte sich in den meilenweiten stillen Gewässern, aus denen silbergraue Weidengruppen tauchten. Hinter den grünen Wällen versank das Giebelgewirr der Stadt, bis nur noch das violettschimmernde Dach des Münsters und endlich nur noch der schlanke durchleuchtete Turm sichtbar war.

Louise Grandidier hatte sich alle Anordnungen Illzachs gefallen lassen.

In Benfeld bestieg sie, mit einem Brief an Pfarrer Dill versehen, den Zug.

»Sobald ich die sichere Todesnachricht habe, reise ich nach Hause,« sagte sie ruhig.

Klaus Krafft schloß die Türe, trat zurück und zog den Hut. Der kleine schwarze Zug keuchte davon.

Nach kurzem Ausspann fuhr der Wagen wieder nordwärts. Still lag das Land. Ein feuchter Wind strich über die Wiesen und flirrte durch die Stangen und Drähte der Hopfenpflanzungen. Die Fernsicht war so klar, wie an einem schönen Herbsttag. Die blauen Berge schwammen wie hingehaucht auf dem zarten Hintergrund des entwölkten Horizontes. Langsam wuchs die feine Nadel des Münsters, hob sich, wurde zum Turm, setzte den Unterbau an, umgab sich mit dem riesigen sargähnlichen Dach, zog die Giebeldächer der Häuser nach sich und stand endlich wieder in der ganzen schwebend getragenen Majestät steingewordener Herrlichkeit über der grün umwallten, wunderschönen Stadt.

Der Wagen fuhr langsam. Auf der großen Straße wälzte sich Landvolk, das die Dörfer vor der Umwallung jetzt verloren sah und ins Weite floh.

Auf den Werken wehte die Trikolore.

Als die Kutsche sich auf den Feldwegen weiter quälte, um die Hagenauer Landstraße zu erreichen, geriet die Fahrt beinahe ganz ins Stocken. Die Tore waren geschlossen, die Brücken aufgezogen, die Geschütze bemannt – durch die Festung war also kein Durchkommen mehr, 75 und es wurde Abend, bis Klaus Krafft in weiten Bogen die Brumather Straße gewann.

Fächerförmig ging die Sonne unter. Ihre Strahlen wurden an diesem Abend durch unbekannte Eigenschaften der Atmosphäre gebrochen und ergossen sich in breiten Flammengarben über Himmel und Erde.

In dieser goldenen, rosig erglühenden Abendstimmung lag das fruchtbare Land wie ausgestorben. Nur die Grillen zirpten. Von eilfertig geernteten Feldern stiegen seine Dünste und verschleierten die Ferne.

Klaus Kraffts Kutsche rollte jetzt auf dem verlassenen Heerweg, der immer noch mit Tornistern, Lagergerät und Waffen bestreut war. Zuweilen ein zusammengebrochener Wagen, eine verlassene Protze und der steife, zu einem plumpen dunklen Klumpen gewordene Kadaver eines Pferdes.

Da zog der Kutscher plötzlich die Zügel an.

Der Diener kletterte vom Bock und meldete, daß sie in der Ferne das Blitzen von Waffen und schattenhaften Gestalten bemerkt hätten.

»Was tut das? Weiter!«

»Es sind Preußen, Herr Baron!«

»Und ich wiederhole: Was tut das? Weiter!«

Weiter rollte die geschlossene Kutsche.

Die Dragoner kamen im schlanken Trabe geritten. Die Spitze weit voraus, auf der Straße, rechts und links Seitendeckungen, die durch die üppigen Rübenfelder und zu früh geschorene Stoppel trabten. Weiter zurück geschlossene Schwadronen, rasselnde Geschütze, mit Infanteristen vollgepackte Leiterwagen.

Der Unteroffizier, der an der Spitze ritt, hatte den Wagen schon durch Zuruf zum Stillstand gebracht und wies ihn jetzt herrisch aus dem Weg. In hartem Stoß fuhr die Kutsche über den Erdaufwurf auf den Acker und hielt.

»Woher, wohin?«

»Von Straßburg nach Morsbronn.«

76 Klaus Krafft, Freiherr von Illzach stand barhaupt auf dem Trittbrett, die Linke um den Laternenhals geklammert.

Ein Offizier sprengte heran. Klaus kannte die Uniform der badischen Dragoner.

Frage und Antwort wurden wiederholt.

Als der Freiherr den Namen nannte, griff der Rittmeister an den Helm. Als er angab, er suche seinen Sohn, der bei der Kürassierattacke gefallen sei, gab der deutsche Offizier den Weg frei.

Aber ein Major setzte noch einmal über den Grabenrand, wo die Kutsche wartete, bis die Truppen vorbeigezogen waren, und fragte:

»Wie steht's mit Straßburg? Ist die Festung im Verteidigungszustand?«

Die Frage war mehr an die Leute auf dem Kutschbock gerichtet, aber Klaus Krafft, der sich schon ins Innere zurückgezogen hatte, beugte sich aus dem Fensterrahmen und antwortete höflich in deutscher Sprache, so gezwungen er sie auch sprach:

»Straßburg, Herr Major, ist zu Ihrem Empfang bereit!«

Ein blasses Lächeln zuckte dabei um seine Lippen.

Einen Augenblick schoß dem Major das Blut ins Gesicht, dann lachte er gutlaunig und entgegnete mit pfälzischem Tonfall:

»Das haben Sie gut gesagt,« grüßte und warf den Gaul herum.

Zurückgelehnt in der Kutsche sah Klaus Krafft die ersten deutschen Truppen vorbeiziehen. Wie der Stoßvogel auf die Beute, so strebten sie zum Ziel. Dragoner in blauen Röcken, reitende Artillerie, Leiterwagen, auf denen die Musketiere gedrängt saßen, noch einmal Artillerie mit schwereren Geschützen, Fouragewagen, Ambulanz, ein paar Wagen mit Schanzzeug und endlich wieder Dragoner. Keine Unordnung, keine Nachzügler, 77 nichts, das fehlte; wie an der Schnur gezogen haspelte sich das militärische Schauspiel ab.

Klaus Krafft vergaß seine zurückgelehnte Haltung, sein Nichtsehenwollen und Nichtgesehnseinwollen und folgte mit fiebernder Aufmerksamkeit und einem geheimen Bangen dem Vorbeizug dieser rastlos und zielbewußt durch den sinkenden Abend auf die alte Rheinstadt vorstoßenden Truppen.

Sein todblasses Gesicht, in das die letzten Tage und Ereignisse tiefe Furchen gegraben hatten, erschien im Fensterrahmen der schwarzen Kutsche wie ein Bild auf dunklem Hintergrund, vom geisternden Tagesschein voll ins Licht gesetzt.

Die Offiziere warfen im Vorbeitraben einen raschen Blick auf den rassigen Kopf. Als Konrad von Eggheim desgleichen tat, fiel auch ihm im ersten Augenblick nur der rassige, vornehme, vom Leben tief eingegrabene Ausdruck dieses weißhaarigen Kopfes ins Bewußtsein. Dann erst – schon war er mit seinen Geschützen an der einsamen Kutsche vorbei – traf es ihn wie ein Schlag: Das Gesicht kennst du ja, das war, das ist ja Claudinens Vater!

Und noch ein paar Pferdelängen weiter im schüttelnden Trab, und er zog die Zügel an, suchte seinen Vorgesetzten mit Augen, die plötzlich brannten vom scharfen Ritt und beißenden Staub, und jagte zu ihm hin. Zehn Minuten, mehr konnte ihm der nicht gewähren, denn sie näherten sich der Festung. Aber er konnte nicht so an dem alten Mann vorbeireiten, der seinen Brief gewiß noch gar nicht erhalten hatte und, weiß Gott wie, auf dem Wege zum Schlachtfelde war! Ihm graute vor diesen zehn Minuten, aber er biß die Zähne zusammen, riß die Uhr heraus, behielt sie in der geballten Faust und schwenkte Kehrt.

Die Kutsche hatte sich in Bewegung gesetzt und schob sich langsam an dem Wäldchen hin, in dem der plötzlich aufspringende Nordostwind alle Blätter strich. Weinrote 78 Glut verblutete auf den steilen Felsenbergen des Breuschtales und färbte die Gipfel des Donon rot.

Als Eggheim herangaloppierte, hielt der Kutscher die Pferde an. Der Diener erkannte ihn nicht und rief in den Wagen:

»Herr Baron, wir werden noch einmal angehalten! Ein Offizier!«

»Steigen Sie vom Bock und nehmen Sie die Pferde am Kopf,« befahl Eggheim und ritt dann an den Schlag.

»Verzeihung, Papa, ich durfte Sie nicht weiterfahren lassen, ohne Sie gesprochen zu haben. Sehen Sie in mir nur den Gatten Ihrer Tochter, Ihren Schwiegersohn und« – seine Stimme wurde noch wärmer, noch herzlicher und blieb doch respektvoll verhalten – »den Schwager Marcs.«

Auch Klaus Krafft hatte im ersten Augenblick den Reiter in der dunklen straffen Uniform nicht erkannt.

Ein Blick Konrads scheuchte nun auch den Kutscher vom Bock und zu dem Diener.

Fern verklang in dumpfem Rollen der Marschlärm der Kolonne. Tiefes Schweigen war um sie her.

Da antwortete der Freiherr mit schwerer, wie gelähmter Zunge:

»Ich will versuchen, in Ihnen nicht den Feind meines Landes zu sehen, Herr von Eggheim.«

»Sie nannten mich sonst Konrad, Papa,« entgegnete Eggheim fest, »und ich kann nicht glauben, daß Sie Claudinen jetzt Frau von Eggheim nennen, wenn sie auch meine Frau bleibt.«

»Claudine ist eine Krafft von Illzach. Können Sie mir nicht nachfühlen, Konrad von Eggheim, was zwischen uns getreten ist?«

»Der Krieg zweier Nationen ist zwischen uns getreten, aber er wirbelt uns mit, und ich bin trotzdem Ihr Sohn geblieben, Papa. Ich habe nur wenige Minuten Zeit. Erlauben Sie mir daher, Sie zu fragen, wohin Sie fahren?«

Tief herabgebeugt sprach er in den Wagen hinein.

79 »Ich fahre, meinen Sohn Marc zu suchen. Vielleicht können Sie mir sagen, wo die achten Kürassiere geblutet haben.«

Einen Augenblick zögerte Konrad mit der Antwort, aber die Zeit drängte, und sein Zaudern machte nichts besser.

»Ihr Sohn Marc, unser Marc, ist an der Spitze der zweiten Eskadron in heldenhafter Attacke bei Morsbronn gefallen.«

Die Rechte des Reiters langte in den Schlag und umfaßte die hagere, aderstrotzende Hand, die der Freiherr von Illzach unwillkürlich wie zur Abwehr der bestimmten endgültigen Todesbotschaft erhoben hatte, mit festem Druck.

Ein rauhes Schluchzen verkroch sich in der dunklen Kutsche.

In kurzen, knappen Worten berichtete Konrad von Eggheim, wie Michels Kürassiere sich geopfert hatten, wie er seinen Schwager gesucht, gefunden und gebettet hatte und getan hatte, was noch zu tun übrig blieb.

»Ich will Sie nicht bitten, umzukehren, Papa, denn es ist möglich, daß die Leiche noch nicht eingesargt ist. Aber Marcs Brieftasche ist mit einem Schreiben von meiner Hand schon gestern nach St. Niklausen abgegangen.«

Eine Weile war es still. In Konrads Zügelfaust hämmerte mahnend die Uhr.

Endlich kam Antwort aus dem Wagen.

Klaus Kraffts Augen zeigten die erste Spur von Tränen, als er sich aus der Kutsche beugte. Aber der alte französische Stolz klang in seiner Stimme.

»Ich danke Ihnen, Konrad. Aber mein Weg geht nach Morsbronn. Und wenn mein Sohn dort mit seinen Kürassieren gefallen ist, so soll er auch dort bei ihnen Ruhe finden. Es liegen noch mehr Illzach auf Frankreichs Schlachtfeldern begraben.«

»Sie haben recht, Papa,« erwiderte Eggheim, »doch wenn dies geschehen ist, so bitte ich Sie, an sich, an 80 Claudine zu denken. Es muß ja jemand in St. Niklausen sein, der Mitteilungen öffnen kann, die vom Schauplatz des Krieges dorthin gelangen.«

Es war die einzige Anspielung auf seine eigene Zukunft und auf Claudinens Schicksal, die er sich erlaubte. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß die Zeit um war.

»Leben Sie wohl, lieber Papa! Ich weiß, was Sie leiden. Grüßen Sie Claudine, sagen Sie meiner Frau, daß ich sie liebe. Sagen Sie ihr –«

Er brach ab, bückte sich, küßte die krampfhaft zuckende Hand des alten Mannes, der seine Tränen in der Finsternis des Wagens verbarg, und gab dem Gaul die Eisen zu kosten, daß er Volte schlagend über den Graben auf die Grasnarbe setzte und ihn kanternd der dunklen Kolonne nachtrug, über der die Dämmerung schon ihre grauen Flügel schwang.

Weiter rollte die Kutsche in die dichter fallende Nacht. In Walburg nächtigte Klaus Krafft. Am frühen Morgen fuhr der Wagen in den ausgefahrenen Geleisen gen Dürrenbach. Noch dampfte die Verwesung vom Schlachtfeld, noch klangen die Grabscheite, noch lagen alle Orte voll von Verwundeten. Elsaßhausen stieß noch dunkle Rauchkegel aus, und über Fröschweiler hing eine Wolke von nie gelöschten Bränden.

Im Forlenhof fand Klaus Krafft von Illzach seinen Sohn Marc noch ohne Sarg. Aus der Scheune tönte die Säge, dort schnitt der Bauer selbst die Bretter.

Lange saß Klaus Krafft an dem Todbett und hielt die kalte starre Hand seines jüngsten Sohnes. Gewaltig streckte sich der schöne Wuchs des Leichnams in der Uniform. Das Gesicht war noch unversehrt, aber Klaus kannte diese strengen, starren, einer andern Welt angehörenden Züge nicht. Wachholderrauch, den die Bäuerin aus glühenden Beeren erzeugt hatte, vertrieb den Geruch der Verwesung.

Wolken jagten am Himmel, der wieder mit 81 Regenschauern drohte, und die Sonne schlug nur hie und da wie tröstend durch die Trübe.

»Bleib du hier, Garçon, laß mir den Platz neben der Mutter. Wenn sie noch lebte, nähm ich dich heim. Aber ich weiß, daß du lieber auf dem Feld der Ehre bei deinen Reitern liegst! Ich bringe dir die letzten Grüße, Marc Krafft, hörst du, von allen, von Claudine, von Klaus und Jacques Kiener und Madeleine. Und auch Grüße von deinem Mädchen, mein Junge, auch von dem! Der Mann soll aufhören mit Sägen und Hobeln! Du sollst in der frischen Erde liegen, mein Sohn, fest eingebettet in die Erde der Heimat. Und wenn die große Reveille geblasen wird, dann sehen wir uns wieder, Marc Krafft von Illzach, und ich erkenn dich wieder, mein Junge, mein lieber, mein tapferer, mein liebster Sohn!«

Und Klaus Krafft legte die Hände des Toten wieder ineinander und weinte bitterlich, mit schweren, atembeklemmenden Seufzern, wie alte Leute weinen, die in Tränen keine Erleichterung mehr finden.

Aber er hielt sich und dem Toten Wort, und am Abend wurde Marc Krafft von Illzach bei Morsbronn im Rebgarten seines Pachtgutes Morimann tief in die Erde gelegt.

Die Sonne stand in Gewitterwolken und funkelte auf dem Berg von Harnischen, die man den gefallenen Kürassieren abgezogen und auf der Straße am Wegkreuz zusammengetragen hatte. 82

 


 


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