Hermann Stegemann
Die Krafft von Illzach
Hermann Stegemann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Am 26. Juli traf die Freifrau Amélie Krafft von Illzach-d'Ellignies mit ihren Kindern Louis und Jeanne in St. Niklausen ein.

Die Kinder waren müde und wurden sogleich zu Bett gebracht, obwohl der Tag noch nicht zu Ende war und die Abendsonne noch Gold durch die Fenster schüttete.

Klaus Krafft ging von einem Bett zum andern.

Louis saß noch aufrecht. Sein rötliches, kunstvoll gelocktes, aber jetzt übel zerzaustes Haar flimmerte in der Sonne. Er hatte die weiße Haut der Mutter, einer trägen, schönen Belgierin aus dem Hennegau, aber die eng beieinanderstehenden, trotzigen Augen der Illzach. Jetzt verlangte er nach den drei jungen Hunden, die Diana geworfen haben sollte. Man hatte ihm dieses glückliche Ereignis unterwegs mitgeteilt, um den fünfjährigen Unband bei Laune zu erhalten.

»Alle drei, Großpapa, hörst du! Mademoiselle soll sie bringen, aber Diana muß dabei sein, sonst glaubt sie, ihre Kinder werden ihr weggenommen und geschlachtet!«

Er befahl wie ein Herr und heftete die Augen erwartungsvoll auf die Tür.

»Aber ich will auch drei kleine Hunde,« rief die vierjährige Jeanne und hielt den Zeigefinger des Großvaters fest.

Sie lag artig wie ein kleines Fräulein in ihren Spitzenkissen. Papilloten steckten in den braunen Haaren, und ein goldenes Kreuzchen blitzte an ihrem rosigen, von zwei niedlichen Speckwülstchen umgebenen Halse.

Das perlende Französisch seiner Enkelkinder entzückte 30 den Kammerherrn immer aufs neue. Er erzählte ihnen, daß Dianas langohrige Kinder schon schliefen, und daß sie nun auch schlafen müßten. Sein Gesicht leuchtete vor Freude, überglücklich stand er zwischen ihren Betten.

Da begehrte Louis plötzlich zu wissen, warum keine Soldaten da seien. Unterwegs hätte er sogar braune Husaren gesehen. Auf der Straße von St. Ludwig, als eben der Zug abgefahren war.

Der Großvater versprach, ihm morgen eine ganze Kommode voll schöner hölzerner Zuaven zu zeigen.

»Nein, die will ich nicht. Ich will lebendige, und die müssen schießen, alle Preußen totschießen müssen meine Soldaten. Papa hat seinen Säbel schon scharf geschliffen, Großpapa! Weil Krieg ist! Weißt du, daß Krieg ist, sag, Großpapa?«

Dem alten Herrn zitterte ein wenig die Stimme, als er antwortete:

»Ja, ich weiß. Aber jetzt müssen alle braven Soldaten schlafen, und die kleinen Kantinièren auch, nicht wahr, Jeannette! Gebt acht, ich blas jetzt die Retraite, und dann schlafen alle die kleinen tapferen Soldaten ein!«

»Aber du hast ja gar kein Clairon, Großpapa,« wandte Louis ein.

»Leg dich nur hin, du wirst schon hören,« beschwichtigte ihn Klaus Krafft und setzte die hohle rechte Hand an den Mund, reckte den Kopf, stemmte die Linke in die Hüfte, wie er es tausendmal gesehen hatte, als er noch als kleiner Souslieutenant mit seinen Chasseurs von Vincennes Laufschritt machte, und trällerte und fistelte mit seiner schönsten Stimme das lustige Signal.

Still lauschten die Kinder, und seltsam klang in dem großen Schlafzimmer zu St. Niklausen, wo die Illzach schon seit zweihundert Jahren geboren wurden, die kecke kriegerische Melodie.

Auf allgemeines Verlangen mußte der Bläser noch eine Zugabe spenden. Er tat es auf der Schwelle. Und diesmal war's das afrikanische Marschlied, der übermütige 31 Gruß der Tirailleurs und Zuaven, zu dem er auch die Worte nicht sparte.

»As-tu vu
As-tu vu la casquette
Du père Bugeaud?
«

sang Klaus Krafft von Illzach und ließ dann leise die Vorhänge fallen.

Im Vorzimmer aber preßte er einen Augenblick beide Fäuste gegen die brennenden Lider, atmete schwer, richtete sich dann mit einem Ruck wieder auf, schüttelte die Gedanken ab, die um den Krieg und den Ausgang dieses Krieges und um Marc kreisten, und ging an der knixenden Bonne vorüber hinaus.

In seinem Arbeitszimmer setzte er seine Unterschrift unter die Adresse, in der die Honoratioren des Arrondissements die Kaiserliche Regierung zu der Kraft beglückwünschten, mit der sie Frankreichs Ruhm und Ehre wahre, und ordnete alles zur Abreise.

Wenn die Frauen beisammen waren, bedurften sie keines anderen Schutzes. Pfarrer Dill war ihr bester Beistand, und eine Belegung mit Einquartierung war nicht zu fürchten. Dazu lag das Herrenhaus zu weit aus dem Wege. Der Feind aber kam überhaupt nicht bis hierher. Die Ruhe, das Dahocken und nicht wissen, was vorgeht, angewiesen auf phantastische Zeitungsberichte, das fraß ihn einfach auf.

Er hatte deshalb schon am Vormittag, als die Ankunft seiner Schwiegertochter und der Kinder für diesen Tag gemeldet wurde, von der Station aus nach Straßburg telegraphiert und den Pförtner des alten Familienhauses an der Kalbsgasse mobil gemacht. Von dort konnte er den Ereignissen besser folgen. So betrog er sich, um seinem Sohn Marc näher zu sein.

Als der Abend gekommen war und Amélie sich zurückgezogen hatte, ließ Klaus Krafft sich ein Pferd satteln und ritt noch einmal in die warme, helle Nacht hinaus. 32 Ritt bis ins Tal hinein, am brausenden Fechtbach hin, durch das Korn, das noch zum größten Teil auf dem Halm stand und schwefelgelb leuchtete im letzten Licht, an den Rüben- und Kartoffelfeldern entlang und durch die stillen Gassen von Beblingen und St. Niklausen. Die Dörfer waren wie ausgestorben, seit die Mobilgarden nach Kolmar eingezogen worden waren. Der Freiherr legte die Fersen an, um schneller hindurchzukommen, denn er wollte nicht angehalten sein. Doch auf einmal fiel ihm scharf ins Bewußtsein, daß hier ja Deutsch gesprochen wurde. Verlorene Laute waren an sein Ohr geschlagen. Es war nicht anders als dort drüben, wo die dunklen Waldberge über dem Rhein ihre schwarze Kette zogen. Tiefe Stille, nur das Dröhnen eines Eisenbahnzuges, der aus dem Hardtwald hervorrollte und in der schweigsamen Ebene wieder verschwand. – –

Frühmorgens brach der Baron auf. Er hatte die Rosette ins Knopfloch gesteckt und ging noch einmal ins Pfarrhaus und auf den Friedhof. Das Erbbegräbnis der Krafft von Illzach lag als tief eingeschachtete Krypta an der Kirchenmauer. Wie in einen Keller ging es von außen hinein. Grabplatten waren in die Wände eingelassen. Im roten Sandstein waren geharnischte Männer zu sehen, die Hände über den Schwertgriff gekreuzt, und Kuttenträger mit blanken Erzschuhen; auch der Illzach, der den Beinamen Krafft erworben und vererbt hatte, reckte sich als Hochrelief auf einer Steinplatte und maß sechs Fuß und zwei Zoll in voller Lebensgröße.

Klaus setzte sich einen Augenblick auf den Steinsarg seiner Frau, der solange frei im Raum stand, bis die Doppelnische auch seinen eigenen aufnahm.

»Attendez-moi, Thérèse,« murmelte er, als er leise aufstand und noch einmal über den Sarkophag strich.

Es war ein abergläubischer Zwang gewesen. Er hatte sich angemeldet, damit der Tod nicht darauf denke, einen jüngeren Illzach zur Krypta zu laden.

Als der Jagdwagen den Freiherrn im raschen Trab 33 nach der Station trug, war die Stimmung des alten Herrn frisch und gesammelt.

Marc hatte nichts mehr hören lassen. Der Baron ging noch ins Postamt und klopfte den Beamten heraus. Er hatte gerade noch Zeit, den Figaro und einen Brief an sich zu nehmen, als der Zug einlief. Nichts von Marc. Der Brief kam aus Karlsruhe. Er war von Konrad und wieder an ihn gerichtet, kurz und knapp nur die Meldung enthaltend, daß der Schreiber jetzt in den aktiven Verband getreten sei und aus militärischen Gründen vorläufig keine weiteren Nachrichten mehr nach St. Niklausen gelangen lassen könne. Doch habe er Sorge getragen, daß die Familie von tödlicher Verwundung oder Tod alsbald unterrichtet werde. ›Ich lege Ihnen meine Frau ans Herz, lieber Papa, und wenn sich bestätigt, was Claudine mir vor ihrer Abreise ins Elsaß glaubte andeuten zu können, wenn sie Hoffnung hat auf ein Kind, so bitte ich Sie heute schon, auch an dieses zu denken. Ich habe meinen Onkel Memmingen in Heitersheim zu meinem Vertreter bestellt.‹

Nichts hatte Klaus Krafft so getroffen wie die Ankündigung der Möglichkeit, daß Claudine guter Hoffnung sei. Sie hatte nichts verlauten lassen, auch seine Schwester schien noch nichts davon zu wissen – es war ihr Geheimnis geblieben, und der Kammerherr erkannte daran die verschlossene, stolze Natur seiner Tochter. Am liebsten wäre er wieder umgekehrt, denn sie wurde ja heute in St. Niklausen zurückerwartet, aber dann riß ihn die Unruhe nach vorn, und der Zug fuhr ihm zu langsam durch das sommerliche Land.

Im Bahnhof von Kolmar war wilder Lärm. Trainfuhrwerke schienen ineinandergefahren, Güterzüge stopften die Ausfahrt, lange Reihen von Dragonerpferden standen aufgesattelt, mit hängenden Köpfen an den Schranken, und aus dem Café des Hotel de l'Europe und der Kegelbahn des Restaurant Malakoff schallten jauchzende, fluchende, tobende Stimmen. Nirgends Ordnung, 34 Offiziere, die sich behaglich ihrem Absinth hingaben, streckten auf dem Perron die Beine und mischten unbekümmert ihren grünen Trank auf den kleinen Tischen, während rings ein Chaos herrschte, daß Klaus sich vom Wagenfenster wegwandte, um dieses Tohuwabohu nicht mehr mitansehen zu müssen. Auch vor Schlettstadt mußte der Zug eine Viertelstunde liegen bleiben, ehe er einfahren konnte. Endlich näherte man sich Straßburg.

Klaus Krafft war aufgestanden, als die stillen Wiesengelände auftauchten, die die Festung im Süden umgaben. Sie lagen noch grün und friedlich. Die Schleusen der Gräben waren wie immer hoch aufgezogen, daß das Wasser rasch und lauter hindurchrann. Auch auf den Wällen noch alles still. Hohes Schilf in den Gräben, dickköpfige Weiden in silbergrauen Gruppen auf dem Glacis verstreut.

Klaus ist in seinem Coupé allein, aber nebenan streckt ein Oberst den Kopf aus dem Fenster, ein weißbärtiges, mattgelbes Gesicht, müde und gleichgültig.

Da hält es den Elsässer nicht mehr, und ungeduldig ruft der Freiherr, während der Zug vor dem Walltunnel stilliegt, zu seinem Nachbarn hinüber:

»Entschuldigen Sie, mein Oberst, aber können Sie mir vielleicht sagen, ob schon Truppen am Feind sind? Finde ich das erste Korps noch in Straßburg?«

Der Oberst wandte den Kopf und lüftete das Käppi. Er blickte nicht mehr gleichgültig, aber um so müder und verdrießlicher drein.

»Sie fragen mich zuviel, ich hab genug zu tun, meine Reservisten zu bekommen und meinem Regiment die Brotbeutel zu füllen. Die Reservisten hab ich mir schließlich selbst geholt in Schlettstadt, da sie den Weg nicht fanden. Von Grenoble werden einem vierhundert Mann nachgeschickt wie eine Hammelherde. Danken wir Gott, daß uns die Preußen Zeit lassen. Das ist eine Schweinerei, aber keine Mobilmachung.«

»Pah, das war immer so, und dann rief die Kanone und es war alles gut,« antwortete Klaus Krafft und tat 35 leichtsinnig und zuversichtlich wie ein Gascogner, um sich und dem andern Mut zu machen.

Da warf der Oberst einen Blick auf die Rosette in Illzachs Knopfloch, kniff das linke Auge ein und erwiderte lachend:

»Ah, ich sehe, daß Sie die Geschichte kennen – ja, die Kanone, Sie haben ganz recht, aber erst ein Dutzend Galgen für die Intendanten, dann mag der Tanz losgehen.«

Und sie wechselten die Namen.

Das Regiment des Obersten gehörte zur Division Abel Douay und hatte Befehl erhalten, sich nach Hagenau in Marsch zu setzen.

»Wir marschieren an der Spitze, der Marschall folgt mit dem ganzen Korps. Wenn Sie Ihren Sohn noch sehen wollen, so müssen Sie sich eilen. Die Brigade Michel kantoniert irgendwo im Norden der Festung Der Teufel kann die elsässischen Ortsnamen behalten.

Klaus nannte aufs Geratewohl ein paar Namen Schiltigheim, Rupprechtsau, Bischheim, aber Oberst Perrier schüttelte immer wieder den Kopf. Da bat ihn Klaus um die Generalstabskarte, falls er sie eingesteckt habe, dann werde sich der Ort leicht finden.

»Karte? Mein Himmel, wozu! Wir sind ja noch nicht über den Rhein,« entgegnete der Oberst und bot dem Freiherrn statt der Karte seine Zigarettentasche.

Während Klaus Krafft mechanisch danach langte, setzte sich der Zug wieder in Bewegung und rollte in die Finsternis des Festungstunnels hinein.

In dem engen Bahnhof war ein fürchterliches Gedränge. Vom Güterbahnhof her schallte wütender Lärm abrückender Truppen. Klaus Krafft kämpfte sich ins Freie.

Die Sonne spielte im Schleiergewölk. Noch glänzte ein Nachtregen im Laub der Bäume an den Staden. Die Wolken liefen so hurtig, daß den Freiherrn schwindelte, als er zum Münsterturm hinaufschaute und das zierliche steinerne Gebilde auf dem bewegten Hintergrunde dieses zerrissenen Himmels erblickte.

36 Ein Bataillon Turkos kam im Geschwindschritt über die Brücken. Die blauen Jacken und die weißen Pumphosen leuchteten hell. In den braunen Gesichtern glänzten Augen und Gebiß. Wie Kinder zeigten sie im Lachen die Zähne und trabten fröhlich des Wegs. Sie hatten noch kein Blut geleckt, die Bestie schlief noch. Am Hohen Steg staute sich die Menge. Vom Broglie her kam Artillerie.

Als die Batterien vorüberrasselten, ging Klaus Krafft das Herz auf. Ernst, wie aus Erz gegossen, Fahrer und Kanoniere in den dunklen, rotverbrämten Uniformen, die Pferde blank und rund, die Geschütze wie aus dem Schmuckkästchen einer schönen Frau, die Offiziere straff und ruhig, so rasselte die Artillerie Ducrots vorüber.

Dem alten Offizier zittert das Herz vor Stolz und Rührung, und zum ersten Mal seit vierzehn Tagen spürt er, wie die Woge des Blutes rauscht und schwillt und ihn alles Sehnen und Sorgen vergessen läßt.

Er steht dicht an das alte Café zur Meise gedrängt. Soweit er blicken kann, vom Broglieplatz, über dem der blankgefegte blaue Himmel schwimmt, bis zur Aubette, deren stattlicher Bau vom Kleberplatz herübergrüßt, sind alle Fenster der hohen schmalbrüstigen Giebelhäuser mit Menschen besetzt. Am Balkon des Stadthauses hängt die Trikolore.

Ein Pastetenbäcker erzählt dem Freiherrn, daß der Marschall noch im Rohanschlosse weile. Von den Kürassieren weiß er nichts.

Auf dem Kleberplatz spielt die Musikbande des siebenundachtzigsten Linienregiments. Unter den Gewerbslauben scharmuzieren rotblaue Lanziers mit den Bürgertöchtern. Ein schwarzbärtiger Zuavenkorporal trägt galant einem schönen Landkind den Marktkorb mit Gelbrüben und grünen Bohnen. Aus den Tavernen schallt Gröhlen und Fluchen.

Klaus Krafft geht aufrecht, stolz, ein heißes Feuer in der Brust, durch das Gedränge.

»Allons enfants de la patrie,« klingt's hell und 37 mitreißend aus einem Trupp grauröckiger Jäger, der vom Judentor herkommt.

»Ah mes enfants!« ruft Klaus Krafft von Illzach und vertritt dem jungen Leutnant den Weg, um ihm die Hand zu schütteln.

Hastige Worte der Erklärung, dann hebt der frische Milchbart, der vor vierzehn Tagen aus der Offiziersschule in die Truppe eingereiht worden ist, den unschuldigen kleinen Degen und ruft:

»Un ancien chasseur de Vincennes! Portez armes, présentez armes!« und klirrend, nicht wie aus einem Guß, aber flink und leicht fliegen die Chassepots in den kräftigen Händen.

Den Hut in der Hand, den Wind im geschorenen weißen Haar und die Sonne, die spitz in die schmale Gasse fällt, im hageren gebräunten Gesicht, steht Freiherr Krafft von Illzach und läßt sich die ritterliche Huldigung gefallen.

Von der Zitadelle kracht ein Schuß aus schwerem Kaliber und kündet den Mittag. Die Münsterglocken beginnen zu läuten.

Sie läuten in langzitternden Schwingungen aus, als Klaus an das Fenster des Pförtners in der Kalbsgasse klopft und Einlaß begehrt ins Hotel d'Illzach.

Meister Jungholz ließ das Prägeeisen fahren, mit dem er soeben die Goldfilets auf den Rücken des zweiten Bandes der großen Corneilleausgabe gedrückt hatte, und zog den Türdraht.

Das Käppchen in der Hand, erschien er auf der Schwelle seiner Wohnung, um den Baron zu begrüßen. Seine Frau stand schon im Vestibül des Herrenhauses und wartete mit den Schlüsseln vor den gelüfteten Zimmern.

Klaus blieb einen Augenblick in der Kutschhalle stehen. Der Springbrunnen plätscherte im Hofgarten, Sperlinge lärmten in den Stallungen und in den hohen gewölbten Scheiben des palastartigen französischen Prunkbaus brannte die Sonne.

38 Als er dem alten Jungholz, der schon vierzig Jahre das Haus hütete, die Hand gab, blieb von dem Schaumgold des Buchbinders ein Rest an seinen Fingern hängen.

»Ich bin allein gekommen, André folgt morgen mit dem Gepäck. Bis dahin müßt ihr mich allein versorgen. Ist Post da?«

Die Frage war eine mechanische gewesen – eine törichte; er war verblüfft, als Jungholz antwortete:

»Ja, es ist ein Brief da, aber ich weiß nicht –«

Verlegen brach der Pförtner ab und fingerte an der Kappe.

»So gib mir doch den Brief, wenn einer da ist,« rief Klaus ungeduldig.

»Er ist nicht für den Herrn Baron, er ist für Herrn Marc,« platzte Jungholz endlich heraus und atmete auf, als er seine Frau über den Hof kommen sah. »Ah, da kommt Üschenie, die kann dem Herrn Baron erzählen.«

»Was soll ich erzählen? Erzählen kann mancher, ich babbel nicht, was so ein alter Faselhans nicht bei sich behalten kann,« rief die Frau schon von weitem, schob das Band der weißen, gestärkten Haube mit einem kräftigen Ruck unter das doppelte Kinn, machte dann einen tiefen Knix vor Klaus und schloß mit einer köstlichen Mischung von Straßburger Deutsch und elsässischem Französisch: »Excusez, Monsieur le baron, awer er kann halt 's Mül net halte. Dreimal isch die Mamsell do gsin, elle était bien gentille und mer hät ihr's angemerkt, daß sie große chagrin hät – mais nous n'avions pourtant pas l'adresse de Monsieur Marc, und so hät sie's denn ufgeschriwe – ich hab ihr sälwer 's Tintenfässel und 's papier à lettres serviert.«

Während seine Frau die Geschichte erzählte, die ihr beinahe entgangen wäre, holte Jungholz den Brief und übergab ihn dem Baron.

Klaus Krafft drehte ihn unschlüssig in den Händen.

»O prenez toujours« redete ihm Eugenie Jungholz zu, »die Kürassier' sind ja schon lang über alle Berge. 39 Die sind gewiß schon bald in Berlin. Und vielleicht kommt die Mamsell noch einmal.«

Da befahl Klaus, man solle der Dame sagen, daß Marcs Vater da sei, und ihr freistellen, ob sie ihn zu sprechen wünsche.

Den Brief behielt er und hoffte nun doppelt, den Sohn noch einmal zu sehen, ehe die erste Schlacht geschlagen wurde.

Der Tag verging ihm mit Besuchen. Überall traf er auf Siegeszuversicht. Man verstand ihn gar nicht, als er auf die Schwere dieses Krieges hinwies. Bis einer seiner Freunde mit einer diskreten Anspielung an die Heirat Claudinens erinnerte, um dadurch Illzachs Sorgen zu erklären.

Da schwieg Klaus Krafft. Er beschloß, sich in das Hauptquartier des Marschalls zu begeben. Dort würde er wohl erfahren, wo die Brigade Michel zu finden war.

Das Rohanschloß lag in der wundervollen Schönheit seiner stolzen Fassade, vom Abendschatten umschmeichelt, an den stillen Staden. Der breite Wasserspiegel war schon von dem silbernen Widerschein der Laternen erhellt, denn dichter ziehendes Gewölk hatte den Abend zur Nacht gemacht. Hinter den schmiedeeisernen Portalen des Ehrenhofes stampften die Pferde der Eskorte.

Klaus Krafft ging ruhig durch die Posten und an den Leibgendarmen vorbei ins Vestibül. Er trug unter dem zurückgeschlagenen Überzieher den goldgestickten Frack und hatte seine Orden angesteckt. Dazu der schmalbackige Rassekopf mit der kantigen Stirn und den kühlen Augen – ohne angehalten zu werden, gelangte er ins Vorzimmer.

Hier stieß ihm ein bekanntes Gesicht auf.

General Raoult, dessen weißer Kopf unter der Portiere des Salons erschien.

»Teufel, Baron, was bringen Sie uns! Hoffentlich keine neuen Kreuz- und Querbefehle von Le Boeuf. Meine Division ist schon unterwegs nach Hagenau. Oder kommen Sie am Ende gar mit irgend einem Handbillett vom Kaiser! Dann wäre der Salat fertig!«

40 Klaus kannte den alten Murrkopf und beruhigte ihn lächelnd.

»Nichts von allem. Ich habe zwar ein Billett des Kaisers, aber es befiehlt mir nur, mich zur Verfügung zu halten. Und dann – ich wüßte gern, wo die Brigade Michel liegt.«

Er bekam keine Antwort, denn neue Ordonnanzen drängten herein, und plötzlich wurden die Vorhänge aufgerissen, und der Herzog von Magenta erschien im Rahmen der Tür.

Sein struppiges weißes Haar glitzerte im Licht des Kronleuchters. Das karminrote Band des Großkreuzes flammte auf seiner goldgestickten Uniform. Unter der buschigen Bürste des grauen Schnurrbartes bebten die Lippen in freudiger Erregung.

»Die Divisionäre! Wir marschieren!«

Da fielen seine Augen auf den Zivilisten. Er stutzte.

Auf einmal erschien ein freundliches Lächeln in seinen grobgeschnittenen Zügen. Er hatte Klaus Krafft erkannt.

Einige Minuten später stand der Freiherr in Mac Mahons Kabinett und hörte, wie nebenan die neuen Bestimmungen für die Armee bekanntgegeben wurden.

Dem Marschall war außer dem afrikanischen Korps mit seinen vier Divisionen auch noch die Division Conseil-Dumesnil des siebenten Armeekorps Felix Douay unterstellt und der Vormarsch nach Hagenau und Weißenburg an die Pfälzer Grenze freigegeben worden.

Klaus hörte mit fieberndem Ohr, daß der Kriegsminister und Generalstabschef Le Boeuf diese Direktiven erteilt hatte und der Kaiser von Paris zur Rheinarmee nach Metz abgegangen war.

Und auf einmal hörte er klar und deutlich die barsche Stimme des Marschalls:

»Die Dispositionen, Colson!«

Und die seines Stabschefs setzte ein. Aber als der Kürassierbrigade Michel Brumath als Ziel angegeben wurde, hörte Klaus nichts mehr anderes.

41 Nach einer Viertelstunde trat der Herzog ins Kabinett.

Ein Hauch frischer Farbe saß noch auf seinen Backenknochen. Die blauen Augen blickten hell. Er schob mit soldatischem Zugreifen die Hand unter Kraffts Arm und sagte:

»Zu Tisch, Baron, endlich kommt die Armee in Fluß. Mit oder ohne Reservisten, mit oder ohne Bagage – wenn wir nur einmal Biwakrauch und Pulver riechen, dann wird die Maschinerie schon klappen.«

»Sie suchen den Feind im Norden, Monseigneur? Ist der Rheinübergang aufgegeben?« fragte Klaus.

»Ich marschiere – aber heute sind Sie noch mein Gast,« erwiderte Mac Mahon ausweichend und zog ihn mit fort.

Klaus Krafft sah die silbergedeckte Tafel, geöffnete Waffenröcke, erhitzte Gesichter, der Champagner floß, und die hohen erleuchteten Fenster warfen Feuersäulen in die metallschwarzen Wasser der Ill, während von den dunklen Kanten des Judentors und der Fischerschanze Retraite geblasen wurde.

Aber der Champagner schleuderte keine Perlen in Illzachs Hirn, sondern schlich ihm wie Blei durch die Adern.

General Abel Douay, der morgen nach Weißenburg aufbrach, neckte ihn und fragte ihn, ob er die Rolle des Comthur aus dem Don Juan spiele.

Klaus Krafft besaß noch Liebenswürdigkeit und Witz genug, auf die hübschen Dämchen zu deuten, die durch den Nebensalon huschten, wo die Liköre und der Kaffee bereitstanden, und zu erwidern, daß es wenigstens an Don Juans Freundinnen nicht fehle, dann stahl er sich ohne Abschied aus dem Schloß.

Am andern Tag fuhr er mit zwei Pferden nach Brumath. Aber er fand alle Straßen verstopft. Schon drängte sich Landvolk zwischen die vorwärts marschierenden Truppen und suchte rückwärtsstrebend die Festung zu gewinnen, als stünde der Feind nicht mehr weit.

Klaus Krafft kutschierte selbst. Er hat dem Kutscher Zügel und Peitsche aus der Hand genommen und hofft 42 durch seine Erscheinung bereitwilliger freie Bahn zu erhalten. Schon geht's auf Feldwegen und über Äcker, denn auf der Heerstraße wälzt sich Raoults Fußvolk nach Hagenau, ziehen Husaren und Lanziers im wölkenden Staub, zu vieren in Reihen gesetzt, gemächlich in Marschkolonne, traben schweigende Batterien, alle Kanoniere auf den Protzen, dem Feind entgegen, als wartete der ruhig irgendwo, bis ihm Schlacht geboten würde.

Und Klaus war sich ganz klar bewußt, daß er sich von seiner blinden, unermeßlichen Liebe zu seinem jüngsten Sohn fortreißen ließ, daß er ihn mit unmännlicher Hartnäckigkeit noch einmal zu erreichen suchte, ehe er in den Sattel stieg. Als Marc leichtsinnig die Truppe verlassen hatte, um am Familientag in St. Niklausen ein Glas Champagner hinunter zu stürzen und wieder davonzujagen, da war ja keine Zeit gewesen, Abschied zu nehmen. Und dann der Brief! Richtig, Klaus trug ja einen Brief in der Tasche, der noch in Marcs Hände gelangen mußte. Er freute sich über diesen wunderbaren Zufall, der nicht Zufall, sondern Hilfe des Schicksals und der Vorsehung war und ihm als treffliche Entschuldigung diente, wenn er jetzt den Sohn suchen ging. Ein Liebesbrief, irgend eine Amourette, ein Nichts von einem gebrochenen Herzchen, das morgen wieder in neuen Säften schlug – aber die Ritterlichkeit gebot, den Liebesgruß in Marcs Hand zu legen! Und deshalb, nur deshalb trieb Klaus Krafft die hartmäuligen Mietsgäule rücksichtslos über die stäubenden Äcker.

Als er am späten Nachmittag das Städtchen erreichte, war von der Brigade nichts zu sehen. Die neunhundert Kürassiere waren samt ihren Rossen im Wirrwarr der Armee untergetaucht wie eine Nadel in einem Heuschober.

Im ›goldenen Löwen‹ nächtigte Klaus Krafft und schlief einen todähnlichen Schlaf.

Mittags war's, da erschien in der Ferne eine Staubwolke, und es blitzte darin von Stahl und Eisen.

Die Kürassiere!

43 Da schämte sich der Freiherr plötzlich seiner sentimentalen Anwandlung und ging in den Garten, hinter dem die Zorn floß. Er wollte nicht gesehen sein. Aber durch die hohen Flachsstauden und die Reblaube hindurch erblickte er die langsam heranziehenden Regimenter. Im Schritt, die Stabsoffiziere auf den mächtigen Rappen vor der Front, kamen sie vorüber. Die Pallasche klirrten, die Sättel knirschten, die schwarzen Roßschweife wehten um die braunen Gesichter, Sonne flammte in den hohen Kammhelmen und glänzte in den blanken Kürassen, die roten Epaulettes und gleichfarbenen Reithosen durchströmten die Kolonnen mit Purpurborden, so kamen sie ruhig und schweigend, in gelassener Furchtbarkeit zwischen den grünen Feldern am Saume des Brumatherwaldes entlanggezogen.

Und in der zweiten Eskadron des Spitzenregiments erkannte Klaus Krafft von Illzach seinen Sohn. Er ritt den Bayard, seinen schweren Rappen, der den geharnischten Reiter spielend trug. Neben Marcs hellerem Gesicht erblickte Klaus die gefurchten, vom welligen grauen Knebelbart bedeckten Züge des Wachtmeisters Kestle.

Ein kurzer Befehl, die Eskadronchefs hoben den Arm, und das Regiment stand. Auf der andern Seite des großen Wiesenplans marschierten die neunten Kürassiere auf. Und das vollzog sich mit so gelassener Ruhe, ohne Trompete und Lärm, ohne daß ein Gaul stieg oder ein Reiter drängelte, daß Klaus mit einem Male die unerschütterliche Überzeugung gewann: Wenn alles versagt, die versagen nicht, die retten Schlacht und Sieg. Auf der Hagenauer Straße wälzte sich Infanterie, rollten Geschütze und Kugelspritzen in wirrem Knäuel. Irgendwo bei Metz sammelte sich die große Rheinarmee. Reservistentransporte fuhren kreuz und quer von Depot zu Depot durch ganz Frankreich, ohne den Anschluß an ihre Regimenter zu erreichen, Ordres und Contreordres, Desordre überall, aber was tat's – hier auf den Brumather Wiesen hielten die Eisenreiter vom Chaos 44 losgelöst, eine blitzschwangere Donnerwolke, und hüteten den Sieg.

Als Marc eine Stunde später vor seinem Vater stand, begriff er die weiche Stimmung des alten Herrn gar nicht recht. Aber der abenteuerliche Einfall, der Armee mit einem Break zu folgen, nur um ihm einen Brief zu bringen, der in der Portierloge in der Kalbsgasse abgegeben worden war, der nötigte Marc doch eine gewisse Hochachtung ab vor der ritterlichen Gesinnung des alten Edelmanns.

»Es ist der Brief einer Frau, Marc,« hatte Klaus Krafft zart gesagt und legte das Schreiben in die Hand des Sohnes.

Dann wandte er sich ab und sah dem Wasser zu, das stille Kreise drehend zwischen den eingefaßten Ufern dahintrieb. Sie waren im Garten geblieben, wo sie ungestört waren. Marc Krafft von Illzach hatte Helm und Panzer abgelegt. In seinem kurzgeschorenen blonden Haar, mit der hohen, kräftigen Gestalt, die Augen fest auf den Brief geheftet, hatte er etwas Ernstes und Gesammeltes, das Klaus nicht an ihm kannte. Er beobachtete ihn verstohlen, bis Marc plötzlich aufschauend den Blick des Vaters auffing.

»Wenn du einen Auftrag hast, mein Garçon, so steh ich dir zur Verfügung.«

Marc zögerte. Aber als er den besorgten, fragenden Blick bemerkte, ließ er ein Lächeln sehen und steckte den Brief in den wattierten Koller, auf dem er den Harnisch getragen.

»Ich werde ihr schreiben, Papa – es ist ein liebes Mädchen und sie hat ja recht – ich – aber du machst ja Augen wie Pfarrer Dill im Beichtstuhl, Papa – meine Parole, ich schreibe ihr – sie verlangt nicht mehr als recht ist.«

»Nimm keine Herzensschuld mit ins Feld, mein Junge,« erwiderte ernst der Vater, und einen Augenblick lang sahen sie sich tief in die trotzigen Illzachschen Augen.

Marc ließ den Vater an diesem Abend nicht mehr nach Straßburg zurückkehren. An der Offizierstafel tranken 45 sie auf den Sieg. Erst am andern Morgen brach der Freiherr auf. Weithin leuchteten die Zeltgassen des Kavallerielagers im trüben Schein eines windigen, regendrohenden Tages.

»Kestle, hier meine Blase,« rief der Baron vom Break herab und reichte dem herantretenden Wachtmeister den gefüllten Lederbeutel, aus dem er seine Morgenpfeife zu stopfen pflegte. »Und gib mir acht auf den Jungen, laß ihn nach vorn, aber deck ihm den Rücken,« raunte er dem alten Troupier deutsch ins Ohr, und Kestle ergriff mit der Linken den Tabak, hob die Rechte zum Gruß an die Logismütze, stand in seiner mächtigen Größe wie ein Fels und antwortete: »Wird alles besorgt, mein Kapitän.«

Als Klaus Krafft sich noch einmal im Wagen erhob und zurückblickte, ehe der Waldsaum erreicht war, winkte ihm Marc mit der Hand einen letzten Gruß.

Gleich darauf rief eine Ordonnanz den Leutnant zum Divisionär. General Duhesme hatte Befehl erhalten nach Gunstedt und Dürrenbach vorzurücken und dort Lager zu schlagen. Bei Tisch war erwähnt worden, daß die Illzach dort begütert seien, Oberst de la Rochère vom Achten hatte einmal dort Rebhühner geschossen. Daher ließ Duhesme den Leutnant holen, um Auskunft einzuziehen.

Aber mitten hinein in dieses Gespräch platzte das Gerücht von einem Treffen bei Weißenburg.

»Weißenburg? Wo das?« rief der General. »Und unglücklich sagen Sie? Douay tot! Von einer ganzen Armee erdrückt!«

Marc sah sich plötzlich auf dem Gaisberg. Er kannte die Gegend. Und der Gaisberg erstürmt! Wenn französische Infanterie ihn hielt! Er war wie vor den Kopf geschlagen. Und dann erst kam ihm zum Bewußtsein, daß der Feind ja schon auf dem Boden seiner Heimat stand. »Preußen und Bayern, hören Sie, Michel, sie sind alle da und haben uns ein Auge eingeschlagen,« schrie der fieberkranke Divisionär und lief aufgeregt auf und ab in der niedrigen Gaststube.

46 Da mußte Marc an seinen Schwager Eggheim denken. Wenn die Bayern da waren, waren Badener und Württemberger nicht weit. Er biß die Zähne zusammen.

An diesem Abend las Marc Louisens Brief noch einmal, aber er schob ihn mit dem Quartierzettel wieder ins Kollett. Es war ja noch lange Zeit ihr zu antworten. Er hatte doch für sie gesorgt, und sehen konnte er sie ja doch nicht mehr – den Vater, ja, obwohl auch das schon ein wenig peinlich gewesen war, aber gar noch eine Geliebte, mit der er sich schon seit zwei Jahren rangiert hatte, im Biwak spazieren führen! Was das Mädchen für Einfälle hatte!

Schreiben – natürlich würde er ihr schreiben, morgen von Gunstedt aus – er ging zu den Kameraden, und sie plünderten den Keller des Goldenen Löwen, denn morgen rief die Trompete!

Grauer Regen rieselte sänftiglich im Buchenwald und staute das stille Wasser der Zorn. Rauher Wind strich die Fruchtäcker und sang in den Drähten der Hopfenstangen, als die Brigade nach Gunstedt abrückte. Einsam, wie ein Eisberg, der glitzernd in südlicheren Meeren treibt, zog der stählerne Harst des Weges. Fieberkrank saß der Kommandeur der Division, General Duhesme im Sattel. Von seiner Division war ihm nichts geblieben außer den Kürassieren; Lanciers, Jäger und Husaren waren ihm aus der Hand genommen und den Infanteriedivisionen zugeteilt worden. Er wußte nicht einmal, ob bei Weißenburg auch welche von seinen Reitern geblutet hatten.

»Herrgott, ist das langweilig,« murmelte Marc, der lieber Trab geritten wäre, um den Kopf auszulüften. Am schweren Stahlhelm schlug der regennasse Roßschweif, von der Brustplatte spritzten die Tropfen.

»Das ist immer so, jetzt hat's die leichte Kavallerie besser, sogar die Infanterie kommt rascher ins Quartier und an den Feind – aber wenn's ans Beinhacken geht, dann brauchen sie uns doch,« antwortete Kestle und zog 47 den duftenden Knaster des Freiherrn behaglich in die Lunge. Es kam Befehl die Mäntel anzuziehen, denn nun peitschte der Regensturm plötzlich Gesichter und Mähnen.

»Das gibt schlechten Attackenboden,« brummte Kestle.

Marc gähnte. Weiter ging's im Schritt, im Trab, im Schritt durch den trüben Tag.

Und auf einmal schwamm die Brigade wieder im Strom der Armee. Artillerie, Zuaven, Turkos, Linie, Marschsäulen und Biwaks überall. Schlachtenodem wittert über den Mulden und Hängen, die Dörfer glänzen frisch gewaschen im verdampfenden Regen.

Das Wetter hat sich aufgeklärt. Nur die Bäche laufen noch mit geschwelltem Eifer. Vom Niederwald herab bläst es frisch. Die Kürassiere schlagen ihre Pfähle bei Eberbach in den weichen Grund.

Es ist Nacht geworden. Marc weiß nichts, als was um ihn her vorgeht. Auf der Höhe vor ihnen schanzt lässig müdes Fußvolk. Morgen ist Ruhetag. Und übermorgen, wenn die Fama recht behält, Schlachttag. Von Elsaßhausen her streifen Zuaven und räuten die Kartoffelfelder aus, denn die Intendanz hat nicht einmal die Brotfuhren von Hagenau herübergebracht.

Nun hat de Costa, der Frechdachs von der dritten, doch noch sein Schätzchen nachkommen lassen. Weiß der Teufel, wie ihm das geglückt ist. Er lügt, wenn er Marc aufbinden will, er habe sie als die Nichte des Marschalls ausgegeben. Der Marschall knöpft ihm die Ohren ab, wenn er's erfährt. Hat freilich jetzt anderes zu tun.

Heute empfindet Marc zum ersten Mal, daß er von den Seinen abgeschnitten ist, abgelöst und auf sich gestellt, nein, zum Teil einer andern Gemeinschaft geworden, aufgegangen in dem Meer von Männern und Rossen, das hier schläft. Und er findet sich nicht zurecht. Irgend etwas in ihm bleibt fremd und unaufgelöst, will sich dieser neuen Gemeinschaft nicht fügen. Er hat dem Maire von Eberbach die Wünsche seines Obersten ins Deutsche übersetzen müssen, als sie absattelten. Und da hat de la 48 Rochère ärgerlich zu ihm gesagt: »Wenn ihr Elsässer nur Deutsch versteht, können sich die Preußen gratulieren.«

Der Bürgermeister hatte aber auf sein französisches Bürgerrecht trotzend erklärt, sie ließen sich nicht schinden und plagen und das Vieh von der Kette und das Huhn von der Stange holen, wie es seit gestern Mode sei, wo die Bataillone Lartigues vom Walde herabkamen, um Proviant zu suchen.

»Die armen Teufel haben Hunger,« antwortete der General achselzuckend auf den Vorhalt des Bürgermeisters. »A la guerre comme à la guerre.«

Spät in der Nacht wurde Leutnant von Illzach geweckt, um der mühsam von Hagenau herankeuchenden Artillerie der Division Conseil-Dumesnil den Weg zu zeigen.

»Verdammt schofle Arbeit für einen Kürassier,« schimpfte er und stieg mit Kestle und zwei Mann, Elsässern wie er, zu Pferd.

Zweimal hin und her geschoben von Kolmar nach Mülhausen zum siebenten Korps und von diesem wieder zurückgeholt, ist die Division endlich an der Sauer angekommen. Nur ihre Artillerie, im Hagenauer Bahnhof festgeklemmt, hat jetzt erst den Weg aufs Schlachtfeld gefunden.

Ein neuer Regensturm fegt über die Höhen und Hänge bei Wörth, pfeift um den Turmhelm von Fröschweiler und prasselt im Niederwald.

Marc hat die Batterien über den Albrechtshäuserhof ins Eberbachertal hinuntergebracht. Auf der Höhe des Galgenhügels waren die Silhouetten nächtlicher Reiter erschienen, General Lartigue beritt die Stellung.

»So, da sind wir wieder!«

Der Tag graute, helle Streifen ließen auf freundlicheres Wetter raten, gottlob war heute Ruhetag. Und Marc streckte sich in der Scheune von Eberbach auf das zerwühlte Heu.

Weiße Morgendünste kräuseln sich im Tal der Sauer und ziehen sich durch Wiesen und Hopfenpflanzungen bergan. Die Sonne wirft ihren ersten Strahl auf das grüne Land.

49 Da fährt Marc Krafft von Illzach aus dem Schlaf. Er hat geträumt, daß er mit seiner Schwester Claudine ausfahren wollte. Der Wagen stand schon angespannt in der Kutschhalle an der Kalbsgasse, Marc trieb eben die Pferde an, als das Portal, das weit geöffnet gewesen war, mit einem dumpfen Krach ins Schloß fiel. Beide Flügel, und als er auffuhr, hallte es noch rollend nach.

›Die Kanone!‹

Sieben Uhr, Kanonenschläge rollen über die Hänge von Wörth und Fröschweiler, der 6. August sollte kein Ruhetag werden.

Und Marc hört die entfesselte Schlacht aufbrüllen, und die Sonne steigt, die letzten Nachtschwaden ziehen mit dem Pulverdampf vermengt in breiten Strähnen über die Höhen.

Die Kürassierbrigade hält abgesessen, Zügel im Arm, in einer Talmulde bei Eberbach. Die Schlacht steht. Aber es wird einsam um die Reiterei, Reserven werden vorgezogen, oben im Niederwald rast der Schlachtenorkan, zwei Eskadrons der sechsten Lanciers kommen angetrabt und rasseln aus den Sätteln.

Marc raucht Zigaretten.

Da schlägt eine Granate in die erste Eskadron, eine zweite schleudert hinter den Neunten ihre Eisensplitter, Gäule steigen und stürzen, ein Helm kollert – die Brigade steht und wartet.

Wie Stroh schmecken die Papyros. Marc sucht nach der Zigarrentasche.

Er hat sie durch den Achselschlitz vorn in den Harnisch geschoben. Den Stulpenhandschuh abstreifend, zieht er sie hervor. Ein Brief fällt heraus.

Im ersten Augenblick weiß er nichts damit anzufangen, dann steigt ihm die Scham in die Backen. Beinahe hätte er die Parole im Stiche gelassen, die er seinem Vater gegeben hatte.

Wieder schmettert ein Blitzschlag in die Glieder. Der Todesschrei der Gäule jagt einem Schauer über den Leib.

50 Die Brigade zieht sich hundert Schritte nach rechts.

Marc fragt nach einem Bleistift. Der ›Maréchal de logis‹ reicht ihm den klobigen Stift, und da zu anderem nicht Zeit ist, setzt er unter Luisens Brief nur die Worte: Me souviendrai toujours et reconnais tout. Marc Krafft d'Illzach, au champ de bataille près Reichshofen 6 Août 1870.

Es war elf Uhr vormittags.

Verwundete fluteten an den Kürassieren vorbei. Das Gefecht kam näher. Der Pulverrauch krönte schon die Firstlinien der Höhen, und von Südosten her wälzte sich das Rasseln des Chassepotfeuers die Hänge herauf.

Batterien erschienen wie schwarze Silhouetten am Horizont und jagten ins Feuer. Jetzt flammten nach vorn stürzende Zuavenbataillone blau und rot im Strahl der Augustsonne und verschwanden im Niederwald.

»Vive l'empereur,« flog das Echo ihres Kampfgeschreis zu den Reisigen im Talgrund herab.

Man wechselte noch einmal den Standort, denn jetzt kamen die riesigen Hornissen in Schwärmen und pflügten den Talgrund, als vermuteten sie hier unverbrauchte Reserven.

Mittag!

Marc hatte Brief und Zigarettentasche wieder ins Kollett geschoben. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Ein nervöses Zucken lief durch die Reihen, von Morsbrunn her wogten geschlossene Bataillone und spritzten am Abhang auseinander. Dann leerte sich die Talmulde wieder, und die Kürassiere standen allein.

Die Offiziere waren aufgesessen, die Mannschaften standen noch neben den Pferden.

Schweigend trat Kestle heran und zog dem Bayard noch einmal den Sattelgurt an.

»Merci, Alter!« sprach Marc mit einem gezwungenen Lächeln.

Als er sich im Sattel hob, erblickte er hinter sich Elsaßhausen in Flammen. Seltsam standen die schwarzen Rauchwolken am hellen Himmel. Und nun hörte er 51 auch wieder das donnernde Krachen, das heisere Rollen, das winselnde Knattern von großem und kleinem Gewehr, für das sein Ohr schon taub geworden war.

Der Oberst reitet im Schritt an der Front entlang.

»Bitte, Herr Leutnant, ist hier denn überhaupt Attackenfeld,« fragt er Marc und zeigt mit einer unbestimmten Handbewegung nach Südosten, wo das Gelände sich kurz aufbäumt, um dann nach Morsbrunn abzufallen.

Aber Marc wurde der Antwort überhoben.

Auf der Kuppe am Eberbacher Kreuz ist ein Reiter erschienen und jagt auf die Brigade zu.

General Michel reitet ihm entgegen und hält.

Marc sieht, wie der Stabsoffizier das Käppi lüftet und den Gaul dreht.

Und dann hebt Michel den Arm. Aufsitzen! Die Kürassiere rasseln in die Sättel. Senkrecht niederbrennende Sonne entzündet ein Feuermeer in Helmen und Harnischen, und wie Stichflammen zucken die langen Pallasche aus den Scheiden.

In mächtig ausgreifenden Sätzen sprengt General Michel die Front entlang.

»Waterloo!«

Marcs Ohr hat das herausgeschleuderte Wort deutlich gehört. Trotz des rasenden Gewehrfeuers, das oben in den Hopfengärten knattert, hat er halb ahnend, halb verstehend das Wort aufgefangen.

Und da zerbricht der eigentümliche, infame Zwang, der ihm die Brust zusammengepreßt hat, wie Glas. Da schreit er, hört er sich schreien, mit hochgereckter Plempe, in den Bügeln stehend: »Waterloo! Tut, wie bei Waterloo!« und von tausend grimmigen Stimmen rollt es die stählerne Front entlang: »Wie bei Waterloo.«

Es ist Mittag. Seit sieben Uhr brüllt die Schlacht. Zerfetzte Bataillone verbluten im Wald, zerschmetterte Batterien liegen am Hang. Im beißenden Pulverrauch, im rasenden Feuer schwankt der Kampf. Marc weiß nichts, aber er ahnt die Not. Tut wie bei Waterloo!

52 Dann raffen sie schweigend die Zügel, und in Eskadronkolonne, die achten Kürassiere vorauf, zieht, trabt die Brigade, von den Lanciers gefolgt, die Bodenschwelle hinan zur Attacke.

»Sentez la botte!« rufen die Flügeloffiziere, und enger drängen sich die Reiter, dampfender, stechender Pferdeschweiß umwölkt die dröhnenden Geschwader.

Jetzt erscheinen sie auf der Hügelwelle, und Marc erblickt die verlorene Schlacht. Links am Niederwald die Hänge wie mit rotem, in breiten Schwaden gemähtem Mohn bedeckt, die vernichteten Zuaven. Weiter vorn speit der Albrechtshäuserhof feindliches Feuer, dunkle Schwärme vorgehender Preußen, alles schwarz vom Feind, lange, unaufhaltsam vorbrandende Linien, und hinter den Tornisterverschanzungen verblutende französische Infanterie.

Aufgelöst, zerkrümelt, zerschlagen der ganze rechte Flügel, und drüben im Zentrum brennt schon Elsaßhausen!

Wie Bienen, die zum Stock ziehen, summt es Marc um den Helm, der dritte Mann im Glied stürzt schwerfällig aus dem Sattel, vier, fünf Pferde brechen dröhnend zur Erde, sie sind in die Zone des Gewehrfeuers getreten.

Einen Augenblick hält der stählerne Harst. Rechts debordiert das neunte Regiment, und dann wälzt sich die gleißende Lawine von Rossen und Männern mit dumpfem Dröhnen, rauch- und staubumwölkt in den Feind.

Vive l'empereur!‹ wollten sie rufen, aber als sie die grause Ernte des Tages, ihr zerschmettertes Fußvolk vor sich sahen und die Vernichtung ihnen mit Feueratem ins Antlitz schlug, da war es nicht mehr das Phantom des zweiten Kaisers, das ihnen den Schlachtruf auf die Zunge legte.

»Vive la France!« schrie Marc, und es rollte die Reihen hinab, und im Trab ritten sie Schulter an Schulter, Stiefel an Stiefel in den Tod.

»Gott verdamm!« hatte Kestle geknirscht, als er das zerhackte, von Gräben gefurchte, mit kropfigen Weiden 53 und knorrigen Apfelbäumen überstreute und von Rüben- und Hopfenpflanzungen umzäunte Gelände vor sich sah.

Marc spürte nichts mehr als die Ekstase der Attacke. Und jetzt begann endlich das Feld sich zu strecken, katzbuckelten die schweren Rosse nicht mehr über die Wiesengräben, sondern klang und bebte der Grund vom Galopp, klirrte und krachte die furchtbare Wucht der Panzerreiter blitzesprühend im Sonnenglast den Hang hinab in die rauchende, flammenspeiende Hölle des feindlichen Feuers.

Die weißen Mauern von Albrechtshausen kamen näher, aber schwarzröckige deutsche Infanterie schleuderte wütende Salven. Überall ballten sich Knäuel, sprangen Schützen aus der Knielage und überschütteten auf hundert Schritte Entfernung die Todgeweihten mit mörderischem Schnellfeuer.

Im regenfeuchten Gras glitschten die Gäule. An den Ästen der Apfelbäume fingen sich Helm und Haarbusch. In Löchern und Gräben knickten die Fesseln, und auf den Harnischen hämmerte das Blei.

Aber vorwärts wiesen die langgestreckten Pallasche. Tief auf den Kopf der schweren Rosse gebeugt, das Auge auf den Feind geheftet, des Schlachtenopfers sich bewußt, attackierten, vom Feuer zerrissen und wie die Blätter im Winde wirbelnd, aber immer wieder in Reihen zusammenschließend, die Kürassiere.

Vom steinernen Mauerwerk des Albrechtshäuserhofes nach rechts abgelenkt, von den Staketen der Weingärten abprallend, stießen sie auf Morsbronn, wo die Thüringer schon Herren waren im Dorf.

Marc riß den Hengst in die Höhe, als dicht vor ihm zwei Kameraden krachend in den Tod fielen. Über zuckende Leiber und schlagende Hufe geht's weiter, hindurch zwischen Schützenschwärmen, von denen kaum da und dort ein paar über den Helm gesegnet oder durch den Hals gestochen ins Gras beißen.

Der Rausch des Todesrittes, die Hingabe jeder Lebensfaser, die Glorie dieses Reitersturms heben Marc Krafft 54 von Illzach wie mit Flügeln im versilberten Bügel und strahlen vom goldenen Kamm seines Helms.

Morsbronn! Er kennt's! Fünf Höfe der Illzach! Er jauchzt in den Tod!

Längst sind die Glieder durcheinandergewirbelt. Zwei Eskadrons zu einer geschmolzen, aber Kestle spornt noch den riesigen Normannen neben seinem jungen Offizier.

Morsbronn aber ist die Hölle! Aus den Gärten sprüht Schnellfeuer, wie Schloßen peitschen die Kugeln die Luft. Flankierende Artillerie schmettert von Gunstedt her in die letzten Geschwader. In die Dorfgasse donnern die Panzerreiter, fegen zu Boden, was noch nicht Unterstand gewann, aber aus den Fenstern ergießen sich die Kugeln der Füsiliere wie Wasser aus der Brause.

Tak, tak klopft's sanft an Marcs Brustplatte – er merkt es kaum. Noch einmal tak – tak – er lehnt sich zurück – der Arm sinkt, weiter donnert der Huf.

Und nun vorn in der Gasse ein wildes Krachen, hochauf bäumen sich die gespornten Rosse an der Barrikade aus Wagen und Fässern, die die Hauptstraße sperrt. Wie Eisgang, der sturmgepeitscht an Felsenküsten aufbrandet und zerschellt, schäumen die Schwadronen daran empor, und dann bricht Mann und Roß erschossen, erschlagen, erstickt und zertreten, im Tode zusammen.

Und wie es Abend wird und auch drüben bei Fröschweiler die Schlacht entschieden, da starrt immer noch diese Hekatombe von Mann und Roß. Im Dächergewinkel von Morsbronn blitzt die sterbende Sonne in durchschossenen Harnischen und malt die starren trotzigen Gesichter mit dem täuschenden Schein des Lebens.

Dort liegt auch Marc Krafft von Illzach, der Herr von fünf Höfen mit fünf Kugeln in der gepanzerten Brust. Unter dem geschweiften Helm erscheint sein blasses Gesicht wie verklärt. Ein stolzes Lächeln ist stehen geblieben in den Winkeln des entfärbten Mundes. 55

 


 


 << zurück weiter >>