Hermann Stegemann
Die Krafft von Illzach
Hermann Stegemann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

In Belfort war ein Transport von Liebesgaben angelangt. Es war totenstill seit dem Auszug der französischen Besatzung.

Philibert von Memmingen schob sich das Johanniterkreuz zurecht, ehe er schnaufend die Treppengasse zum Schloß hinaufstieg. Wenn er an einem Soldaten vorbeikam, der die nassen, kotigen Stufen herabstapfte, blieb er stehen und bot ihm ein paar Zigarren. Er hatte alle Taschen vollgesteckt.

»Da oben ist doch die Kommandantur, mein Sohn!«

»Zu Befehl, Herr – Herr Hauptmann!«

Einer nannte ihn sogar Exzellenz.

»Exzellenz von Podagra, mein Sohn,« antwortete er und griff noch einmal in die Tasche.

Dann zog er den schwarzen Rock straffer über den Bauch und kletterte weiter.

Aber so langsam er auch ging und so oft er immer wieder anhielt, Zigarren spendete und sich erkundigte, einmal kam er doch oben an.

Er wischte sich die perlende Stirn. In Gottes Namen!

Feuchte Stickluft witterte um die Zitadelle. Warme Dünste strichen vom Lomontberg über die Stadt. Wie mit Gold bestreut glänzte der regengeschwellte Lauf der Savoureuse in der Tiefe.

Als Memmingen im Vorzimmer zum letzten Mal nach Hauptmann von Eggheim fragte, saß ihm ein Kloß im Hals. Er schielte nach einem Spucknapf, aber es war keiner da. Da riß er das Fenster auf.

180 »Herr Hauptmann lassen bitten!« rief hinter ihm die Ordonnanz.

Es wirkte wie ein Befehl. Er straffte sich, gab sich einen Ruck und ging wuchtig ins Nebenzimmer.

»Onkel Bert, du selbst statt einer Antwort!«

»Guten Tag, Konrad, guten Tag, mein Lieber, ja, ich selbst. Liebesgaben . . . Extrafuhre . . . auch etwas tun fürs Vaterland, weißt du. Es wird ja nicht mehr scharf geschossen . . . haben endlich genug, die Sakramenter . . .!«

Er stotterte, hielt Konrads Hand mit beiden Fäusten und schüttelte sie immer wieder und starrte dabei an ihm vorüber aus dem Fenster, das als schmale Schießscharte auf die zerschossene Stadt hinunterblickte.

Konrad von Eggheims rasche Freude war schon beim ersten Anblick des alten Herrn verraucht. Ein Gefühl von Eiseskälte griff in seine Brust und zerdrückte ihm das Herz.

»Nimm Platz, Onkel!« sagte er leise und schob ihm den zerschlissenen Strohsessel hin.

»Machst du noch immer den Cicerone?« fragte Bert und fingerte unwillkürlich in den Zigarren, die er lose in der Tasche trug.

Da ging Eggheim zur Tür.

»Ich bleibe eine halbe Stunde ungestört, verstanden! Und wenn der Herr Oberst . . .«

»Der Oberst weiß, daß ich bei dir bin,« unterbrach ihn Memmingen.

»Also, ungestört, Ordonnanz!«

»Befehl, Herr Hauptmann!«

Die Tür fuhr hart ins Schloß.

»Also, was bringst du mir Onkel Bert?«

Sie wußten, daß es kein Zögern mehr gab.

Philibert von Memmingen stand wieder aus und begann:

»Du hast seit dem 15. Februar nichts mehr von uns gehört. Josephas letzter Brief ist am 12. Februar abgegangen.«

181 »Ja, ich habe ihn vor acht Tagen gleich nach der Übergabe erhalten. Claudine und das Kind befanden sich wohl. So schrieb Tante Seffi. Was bringst du heute, Onkel Bert?«

Hilflos blickte ihn der alte Herr an. Plötzlich stieg eine dunkle Röte in sein Gesicht.

»Gotts Donner, eine verdammte Mission. Also so schonend wie möglich, hat meine Alte gesagt, und deshalb rund und grob, Konrad: deine Frau ist mit dem Kind fort, ist nicht mehr in Heitersheim. Vor drei Tagen hat sie am Vormittag erklärt, sie verlasse unser Haus, danke für die Gastfreundschaft und Liebe, hat Seffi geküßt, rechts und links, wie sie's hierzulande machen, und ist zwei Stunden später in einer Freiburger Kutsche mit Kind und Jungfer in einem Sauwetter davongefahren. Wir wissen nicht wohin. Wir haben sie nicht halten können. Ich kann sie doch nicht in den Weinkeller sperren. ›Laß sie gehen, da ist nichts zu machen,‹ hat Josepha gesagt, und wir sind am Fenster gestanden und haben die Kutsche in Dreck und Regen verschwinden sehen. Sechs Wochen ist das Wurm!«

Er fuhr in die Tasche, riß mit dem Nastuch ein paar Zigarren hervor, die unbeachtet auf den Boden fielen, und schneuzte sich schallend.

Dabei schielte er in Konrads Gesicht.

Das stand erdfahl unter dem vollen blonden Bart. Dick liefen die Adern auf der weißen Stirn.

Nach einer Weile fragte er mit tonloser Stimme:

»Und meine Frau und das Kind befanden sich wohl, als –?«

»Sie war wie immer. Verschlossen, von einer innern Unruhe, die meiner Frau schon lange aufgefallen war – verdammte Geschichte – Ich war schon in St. Niklausen, Konrad, dort ist sie nicht. Man will auch nichts von ihrem Verbleiben wissen. Der Baron liegt in der Schweiz, in Bern im Spittel, hat Treue gehalten bis zuletzt, der Dickschädel, aber sie sagen, es sei unmöglich, daß 182 er etwas wisse. Sie ist fort. Mit dem Kind. Es ist ihr zu viel geworden. Tante Seffi hat mir darüber eine lange Rede gehalten. Aber ich kapier's nicht. So, nun weißt du's. Ich hab's dir beigebracht wie einem Krüppel das Tanzen!«

Er haschte nach Konrads Hand. Da er keine fand, drückte er ihn an sich und klopfte ihm mit beiden Händen auf den Rücken.

»Die Frauenzimmer, die Frauenzimmer! – Willst du 'ne Zigarre, Konradel? Ich hab eine Extrasorte für hohe Stabsoffiziere mit.«

Konrad machte sich sanft von ihm los und maß stumm und grübelnd die Stube.

Auf einmal blieb er stehen.

»Es hat getroffen, Onkel Bert! Aber die dumpfe Vorahnung war schon da. Ich habe keine Zeit, darüber Worte zu machen. Ich werde meine Frau suchen und finden. So leicht geb ich nicht preis, auf was ich doppeltes Anrecht habe. So leicht nicht! Ich brauche Urlaub vom Generalgouvernement in Straßburg. Das kann noch ein paar Tage dauern. Aber dann –« Er brach ab, trat ans Fenster, und Bert von Memmingen sah seine Schultern beben.

»Komm mit, Konrad, im ›Hotel du Tonneau d'or‹ gibt's einen köstlichen Bordeaux. Das hält ja kein Mensch aus ohne ein Glas Wein.«

Stumm folgte ihm Eggheim, und Memmingen legte der Ordonnanz und dem Schreiber eine Handvoll Zigarren auf den Tisch.

»Der Herr Hauptmann hat schlechte Nachrichten, pisackt ihn nicht,« brummte er dabei, während Konrad den Säbel umschnallte.

Am andern Tag fuhr der Johanniter heim. –

Die Märzsonne spannte goldene Fäden zwischen den zarten weißen Wolken aus, als Konrad von Eggheim durch das Elsaß ritt, um seine Frau zu suchen.

Er hatte den Urlaub erhalten, aber es waren doch 183 fünf Tage verstrichen, ehe er sich auf den Weg machen konnte. Fünf Tage, die ihm keine andere Nachricht gebracht hatten, als ein Telegramm von Klaus, daß weder er noch Kiener von Claudinens Aufenthalt wüßten.

Die Bahnen waren so überlastet mit Transporten, daß Konrad sich lieber seines Pferdes bediente und über Dammerkirch, Aspach, Sennheim und Bollweiler stracks nach St. Niklausen ritt. Franz war angewiesen, nach Heitersheim voranzueilen. Auf seine Treue und Verschwiegenheit konnte Konrad sich verlassen.

Der Sattel war Eggheim lieb. Flink und ruhig trabte der Gaul über die weichen Straßenborde. Im Altkircher Tal hing schon ein grüner Schimmer an den Büschen. Nur die Äcker, die schlecht oder gar nicht angesät worden waren, starrten nackt in der Sonne. Der Belchen lag noch tief herab verschneit.

Das Landvolk, das noch vor wenigen Wochen durch das dumpfe Tosen der vor Belfort spielenden Geschütze in Atem gehalten worden war, hatte sich wieder auf Pflug und Egge besonnen. Konrad sah sie wie ehedem auf den Feldern hacken und graben. Aber niemand hob den Rücken von der Arbeit, wenn er vorbeitrabte, und eine finstere Verhaltenheit lag über ihrem Tun.

Die Sennheimer Fabriken hatten Rauchfahnen aufgesteckt. Auf der Landstraße zwischen Bollweiler und Lutterbach überholte er ein Infanteriebataillon, das nach Kolmar ins Friedensquartier rückte. In der Märzsonne sahen die Kerle schäbig und abgerissen aus, aber wie sie mit dem gerollten Mantel über der Kriegsmontur, den Kuhfuß spielend von Schulter zu Schulter wechselnd, den angeschwitzten Helm wie angegossen über den braunen Gesichtern, den ersten Märzstaub aufwölkend, dahinzogen, lag eine so gesteigerte Kraft und Freudigkeit darin, daß Konrad von Eggheim daraus Mut und Nahrung sog.

»Was kraucht da in dem Busch herum?
Das war einmal Napolium«

184 sangen sie hinter ihm drein, als er seinem Fuchs die Eisen gab und über die dumpftönenden Matten nach vorn galoppierte.

Das Herrenhaus von St. Niklausen lag in der Dämmerung des Frühlingsabends von zarten Dünsten verschleiert auf dem Walfischrücken des Rebhügels. Ein letztes Glanzlicht des hinter die Vogesen sinkenden Tagesgestirnes ließ die weißen Mauern und das barock geschwungene Dach auf dem rostbraunen Hintergrund der Bergwände scharf hervortreten. Die Läden waren geschlossen, das Tor mit Brettern zugeschlagen, nur die Pforte für die Fußgänger zugänglich und offen.

Konrad stieg ab und band das Pferd an. Sein linker Arm war doch nicht mehr ganz beweglich geworden. Er mußte sich bücken um den Säbel aufzunehmen.

Als habe man ihn erwartet, erschien Jérôme in Livreerock und Gamaschen auf der Freitreppe.

»Guten Tag, Jérôme. Wem können Sie mich melden?« begrüßte ihn Eggheim ruhig.

Der Diener ließ ein diskretes Bedauern durchblicken, indem er erwiderte:

»Leider niemandem, Herr von Eggheim, Madame Kiener ist schon vor drei Tagen abgereist.«

»Es ist gut, führen Sie mich in mein Zimmer. Ich bleibe bis morgen. Das Pferd müssen Sie im Dorf einstellen. Wie es scheint, ist ja das ganze Haus samt den Remisen geschlossen.«

»Ich bin mit meiner Frau allein zurückgeblieben,« sagte der Alte leise und ließ Konrad eintreten.

Konrad schnallte ab und ersuchte Jérôme um einen Imbiß, wartete, bis der Diener gegangen war, und schritt dann rasch, den Klang der Sporen auf den Teppichen erstickend, zu den Räumen, die Claudine bewohnt hatte. Die Flügeltüren waren verschlossen, aber die Tür, die ins Toilettenzimmer führte, gab nach. Er trat ein und durch das Kabinett in Claudinens Schlafgemach. Es war leer. Kaum noch ein unbestimmter Duft darin, der seine 185 Erklärung fand, als Konrad die Schränke öffnete und die Sommerkleider seiner Frau darin erblickte. Da packte ihn ein seltsam aus Zorn und Sehnsucht gemischtes Verlangen, die feinen geblumten Stoffe herabzureißen, die sich über den federnden Reifen spannten.

Er ging weiter. Das war das Zimmer, in dem sie das letzte Gespräch geführt hatten. Auf dem Boulemöbel stand noch das ziselierte Tintenfaß mit dem vergoldeten Hubertushirsch. Die Tinte war eingedickt, nichts verriet, daß dieser Raum seit den Septembertagen wieder bewohnt gewesen war.

Claudine war nicht hier gewesen, nicht hierher geflüchtet.

Er kehrte in sein Zimmer zurück, trank eine Schale Tee und aß, was ihm rasch und geschickt zubereitet worden war.

Schon schwamm die Dunkelheit in sanften violetten Samtfarben über der Ebene. Die Lichter von St. Niklausen sternten die Nacht.

Am Himmel lief dunkles Gewölk.

Konrad zog die Klingel.

»Setzen Sie die Lampe auf die Konsole und geben Sie mir klipp und klar Auskunft, Jérôme. Sie wissen, daß Frau von Eggheim nicht mehr in Heitersheim ist. Was wissen Sie sonst noch? Ich rate Ihnen, mir nichts zu verschweigen.«

In den Sessel zurückgelehnt, die Hände auf der Lehne geballt, blickte Eggheim den alten Diener streng an.

»Ich weiß nicht mehr, als Herr von Eggheim soeben gesagt hat.«

»Wo ist die Frau Baronin mit den Kindern?«

»Die Damen sind zusammen abgereist.«

»Nach Mülhausen?«

»Nach Mülhausen.«

»Es ist gut. Ich gehe noch einmal ins Dorf. Lassen Sie die Pforte offen.«

Konrad von Eggheim nahm Säbel und Mütze und 186 ging ins Dorf hinunter. In der Mairie lag ein Gendarmerieposten. Der Wachtmeister gab an, daß die Kutschen vor drei Tagen nach Mülhausen gefahren seien. Angekommen war in der letzten Woche niemand außer Herrn Kiener, der dann durch die Schweiz nach Bordeaux gereist sei. Konrad beschloß, am andern Tage nach Heitersheim zu reiten. Er mußte dort beginnen, nicht hier.

In der Schmiede wurde noch gearbeitet. Die Esse glühte und warf ihren hellen Schein auf die Gasse.

Als er vorbeiging und einen Augenblick in Gedanken stehen blieb, vom Fall des Hammers angezogen, mit dem der Schmied den neugeschweißten Radreifen zurechtschlug, erhob sich von einem zerbrochenen Pflug eine mächtige Gestalt.

»Un Prussien!«

Der Schmied ließ den Hammer ruhen und blickte mit den geblendeten Augen unsicher ins Dunkel.

Konrad trat ins Licht.

»Wer ist denn hier so auf dem qui vive?« fragte er ruhig.

»Ein alter Soldat zum Donner,« klang's grob zurück, und ein zerfurchtes, von der Lazarettluft gebleichtes Gesicht mit wallendem Knebelbart und dünnhaarigem Schädel tauchte ins Licht. Der rechte Ärmel war leer, auf der breiten Brust festgenestelt, auf der die Medaillen der Krim und aus Italien am blauen, der Epaulettes, Tressen und blanken Knöpfe beraubten Koller der französischen Kürassiere hingen.

Der Schmied schlug noch einmal zu, dann stieß er den Reif ins Wasserbad. Zischend wallte der Dampf.

»Ihr Bruder, Meister Kestle?« fragte Eggheim.

»Ja,« kam's einsilbig zurück.

Auf einmal wußte Eggheim, wen er vor sich hatte. Er erlebte die Schlacht von Wörth noch einmal, suchte noch einmal in den Gassen von Morsbronn unter den gestürzten Reisigen seinen Schwager Marc.

Wie weit das lag! Und war wie gestern! Stieg in 187 einem unvergeßlichen Bild vor ihm auf, füllte ihm die Brust mit einem unbeschreiblichen Gefühl der Erhebung und schwemmte einen Augenblick alles hinweg, was ihn beschäftigte und bedrängte. Wörth!

Der erste große Tag, die leuchtende Augustschlacht, in der Nord und Süd blutgetauft das Elsaß erobert hatten! In der die Glorie des kaiserlichen Frankreich und seiner tapfersten Armee vor dem heiligen Feuer erblaßt war, das deutschen Volkes Sehnsucht und Zorn in himmelstürmenden Bränden entzündet hatten!

Wie der Schmied hier die Bälge zog und das weißglühende Eisen mit dem Hammer traf, daß es Funken spritzte und sich zum Reifen bog, so hatte ein größerer Schmied in der Glut des deutschen Volkes die Kaiserkrone geschmiedet und sie statt in Wasser in Blut gehärtet und abgelöscht!

›Bismarck,‹ klang's im Schlag des Hammers.

Da reckte sich der alte Soldat und hob die Hand.

»Joseph Marie Kestlé, Maréchal des Logis au 8ième de Cuirassiers. 30 années de service, 5 campagnes, 4 blessures!«

Im harten elsässischen Französisch schwang noch einmal der tapfere, kriegerische Stolz vergangener Zeit, als der alte Troupier dem deutschen Offizier trotzig, aber respektvoll sein Nationale gab.

»Merci mon brave, ich habe Euch neben meinem Schwager Marc gefunden an der Barrikade von Morsbronn.«

Da flammte der Alte auf.

»Ihr seid's gewesen! Cré nom de nom, so sagt und erzählt: ist er nicht brav in den Tod, mein kleiner Leutnant! Ah, qu'il était crâne à voir le petit sur Bayard avec son air de conquérant, son casque d'or est ses mains gantées de blanc!«

Mit einer wilden Bewegung des linken Arms um sich fegend, als müßte er mit unsichtbarem Pallasch ein Moulinet schlagen, um sich Bahn zu brechen, stürzte 188 Wachtmeister Kestle an Konrad vorbei ins Dunkel der Gasse.

Einen Augenblick starrte der Schmied ihm nach, dann hob er, ohne weiter auf Eggheim zu achten, einen neuen Reif aus der Kohlenglut auf den Amboß und griff zum Hammer. Weiße Funken spritzten wie Regen unter dem kraftvollen Schlag, der das stille elsässische Dorf und die Frühlingsnacht durchhallte.

Lange noch hörte Konrad von Eggheim den Doppelschlag, erst dumpf auf das weiche, glühende Eisen, dann hell auf den klingenden Amboß fallen, während er durch die Gasse und die Allee hinauf ins einsame Herrenhaus zurückkehrte.

Er fühlte sich wieder von dem gewaltigen Schicksal des Vaterlandes ergriffen, fühlte sich als Deutscher, sehnte sich nach Mannesarbeit, vergaß Ehe, Frau und Kind und mußte sich erst wieder darauf besinnen, daß er auch damit noch zurechtkommen mußte. Es war nicht mehr Liebe, es war das empörte Rechtsbewußtsein, Pflicht und Stolz, die ihn trieben, Claudinens Flucht aufzuhellen. Er wollte seine Frau, sein Kind, er wollte, was sein gewesen war, wieder sein nennen!

Der Hammer des Schmiedes klang schwach und schwächer, wie ersterbendes Claironsignal tönte der Schrei eines Käuzchens in den Bäumen des Parkes.

Am andern Morgen ritt Konrad nach Heitersheim.

Als er den rötlichen Turm des Freiburger Münsters erblickte, überkam ihn ein rührsames Heimatgefühl, und er war dieser Stimmung noch nicht ganz Herr geworden bei der Ankunft im Memminger Hof.

Franz erwartete ihn mit Zivilkleidern, die er in Eggweiler geholt hatte.

»Tante Seffi wünscht dich nicht im Kriegsstaat an ihrem Bett zu sehen. Das ist ihr genierlicher, als wenn du in Zivil kommst. Respekt vor der Uniform. Zieh dich erst um, alter Junge,« empfing ihn der Memminger und fluchte über die Gicht.

189 »Die Gicht habe ich, aber Josepha das Reißen. Geh nur zu ihr, ich finde mich in der verdammten Geschichte immer noch nicht zurecht. Aber das sag ich dir. Einmal und nicht wieder! Lieber will ich einen Sack Flöhe hüten als ein einziges Frauenzimmer!«

Er schalt und suchte seine Verlegenheit, seinen Zorn und sein Mitgefühl dahinter zu verstecken.

Zu seiner Frau hatte er gesagt: ›Die Heirat mit den verwelschten Illzach hat mir nie gefallen: es gibt zwischen Kinzig und Wutach und auf dem Schwarzwald Mädchen wie Äpfel, warum muß der Konrad sich da drüben einen Spalierpfirsich holen, bei dem das Fleisch doch nicht vom Stein geht.‹

›Warum? Weil er sich in sie verliebt hat. Hast du dich nicht auch erst verliebt und dann geheiratet?‹ wies ihn Josepha zurecht.

›Ja, aber ich bin im Land geblieben, und ich hab dich geheiratet,‹ gab er zurück, und sie schickte ihn fort, ›damit er nicht noch dümmer daherrede.‹

Konrad von Eggheim stand sich selbst fremd gegenüber, als er die Zivilkleider angezogen hatte. Aber Tante Josepha schien keine Augen dafür zu haben. Sie saß hoch gestützt im Bett, das heiße Kirschkernsäcklein im Kreuz und streckte ihm die kräftige Hand entgegen.

»Grüß dich Gott, du hast deine Sache recht gemacht vom ersten bis zum letzten. Da draußen meine ich. Nun mußt du dein Hauskreuz auf dich nehmen. Setz dich her, Konradel, und laß dir erzählen. Erst red ich und dann du. Ist's recht?«

»Es ist recht,« versetzte er und setzte sich in Onkel Berts Sessel an ihre Seite.

»Also nicht drum herum wie die Katz um den Brei: deine Frau hat gehen müssen. Fahr nicht auf – ich sag, sie war inwendig so weit, daß man sie gehen lassen mußte, oder es hätte ein Malheur gegeben. Ihr habt euch verliebt, geheiratet und seid so zwischen Verliebtsein und Aufeinanderstolzsein dahingefahren. Nichts Schweres, 190 nichts von Sorgen, von Einanderwehtun – wie es halt so geht. Da kam der Krieg. Und da hat es euch einen Stoß gegeben, ist etwas in euch zuunterst zuoberst gekehrt worden. Ich lege die Hand ins Feuer, daß du erst damals, wie du als Strohwitwer den Einrückungsbefehl bekommen hast, auf einmal die große Sehnsucht, das Miteinandereinsseinwollen, also daß ich's recht sag, einfach die tiefe Liebe von Mann zu Frau gespürt hast. Gerade weil du zum ersten Mal Gefahren und Konflikte gewittert hast: Nicht nur das Insfeldziehen und vielleicht den Tod in der Schlacht oder im Lazarett, sondern noch viel mehr die andere Gefahr, Claudine verlieren zu müssen. Hab ich recht, Konrad?«

»Vielleicht, Tante Seffi, zuerst dachte ich freilich nur daran, Claudine könnte mich verlieren.«

»So sind die Männer. Und dann hast du ihr natürlich geschrieben, daß du sie immer lieben wirst. Ich mache mich nicht lustig darüber, Gott, Konradel, das ist doch so echt menschlich und so echt männlich, das gehört sich ja so! Aber siehst du, eine Frau, die hat damit nicht genug. So eine wie Claudine nicht. Die hat sicher nur den einen Gedanken gehabt: Warum kommt er nicht?«

»Ich konnte doch nicht.«

»Weiß ich eh! Aber Claudine ist da drüben im Elsaß gewesen und hat sich den Konrad nicht mehr recht vorstellen können. Auf einmal war der Rhein, der Krieg und eine ganze Welt zwischen ihr und dem Konrad. Hat sich nach ihrem Mann gesehnt und ihn nicht gehabt. Er war noch nicht so ihr Mann, daß sie mit ihm hätte denken und fühlen können. Und der Vater, die Brüder, alles war stärker. Und dazu noch das Kind. Ein Kind, das ihr im Schoß gewachsen ist und ihr jetzt halb Furcht, halb Hoffnung eingegeben hat. Wie wenn sie des Vaters dieses Kindes nicht ganz sicher gewesen wäre. Als ob es von einem herkäme, von dem sie nicht recht wußte, ob der auch ihr Mann war. So ist ihr ganzes Leben in Bewegung geraten, wie ein Wasser, das plötzlich einen 191 andern Lauf findet. Und dann kam das, was für sie und ihr Land ein Unglück war, die Schlachten, der Tod Marcs, Straßburg und der Tod des prächtigen alten Herrn. Das war zu viel. Sie hat vielleicht an einen Konrad geschrieben, den sie noch nie in Uniform gesehen hatte, ihr seid euch auf die Entfernung vielleicht sogar näher gekommen als je –«

»Ja, das sind wir,« unterbrach er sie und faßte ihre Hand fester. »Und seit diesen Briefen weiß ich erst, daß Claudine mich liebt. Du glaubst nicht, wie süß und reif diese Briefe waren! Und jetzt!«

Mit einem Kopfschütteln, das seine Ratlosigkeit verriet, brach er ab.

Ein kluges Lächeln erschien in den derb gewordenen Zügen der Josepha von Memmingen und gab ihr etwas von dem freien Geist zurück, der sich früher darin gespiegelt hatte.

»Sitz nicht aufs Klagestängele, Konrad, es ist noch Zeit dazu, wenn ihr eingesehen habt, daß die Verhältnisse stärker sind und ihr von einander geschieden seid.«

»Scheiden. So weit sind wir noch lange nicht!« flammte er auf. »Ist sie denn nicht freiwillig mitgegangen zu euch? Ich versteh's nicht, Tante Seffi, und das macht mich stier und sturm! Aber ich sitz, weiß Gott, nicht auf das Stängele wie ein Uhu und laß mich vom Gelichter zerzausen. Weiß Gott nicht! Eher schlag ich die Welt in Scherben!«

Er war aufgesprungen und lief im Zimmer auf und ab, um die breiten Betten herum, die aus einer einzigen Lade geschnitten, untrennbar verwachsen in die Stube hineinragten.

»Setz dich her, Konrad, jetzt sind wir an der wunden Stelle.«

Er blieb vor ihr stehen.

»Meine Frau ist hier wieder an sich irre geworden. Der Konflikt hat sie in ihren schweren Tagen aus dem Gleichgewicht geworfen. Sie ist vor mir geflohen. Vor 192 euch, vor mir, vor allem, was auf sie eindrang! Ohne eine Zeile, ohne einen Gruß, ohne Erklärung ist sie mit dem Kinde in – nach – ja wohin – wohin ist Claudine?«

Josepha von Memmingen hörte den Schmerzensschrei, der aus seiner Frage rief, und mußte sich zusammennehmen, um nicht weich zu werden.

»Als deine Frau uns ankündigte, daß sie Heitersheim verlassen wolle, war ich nicht im geringsten überrascht. Ich hatte es kommen sehen, ohne es verhindern zu können. Sie hat den Entschluß schon lange, vielleicht schon gleich nach deiner Abreise mit sich herumgetragen. Dann kamen schlimme Tage, Tage ohne Nachrichten von dir und von ihrem Bruder Klaus, Tage, an denen wir ihr die Zeitungsmeldungen über die vielen blutigen Schlachten nicht verhehlen konnten, und sie ist mit einer unnatürlichen Fassung und einer unheimlichen Ruhe herumgegangen, aber inwendig ruhelos wie ein Uhrwerk. Als sie sich ins Kindbett legte, war ihr Entschluß gefaßt. Aber in einem hast du unrecht, Konrad. Es ist ein Brief da für dich!«

»Ein Brief! Ein Brief für mich!«

»Ja, er ist gestern eingetroffen. Aber du mußt ihn gleich hier lesen. Ich bin eine alte Frau, und du hast ein Stück von einer Mutter gehabt an mir, Konrad, lies mir die Epistel der Claudine vor. Es wird wohl französisch sein, aber wir werden schon kein Lexikon brauchen, wir zwei.«

Sie blickte ihn mit einem halben Lächeln, aber ernsten, gütigen Augen an, und eine energische Falte erschien zwischen ihren Brauen.

»Bitte, gib mir den Brief,« antwortete Konrad tonlos.

Sie zögerte noch einen Augenblick, doch als er sich abwendete, um ans Fenster zu gehen und nur noch die Hand ausstreckte, den Brief in Empfang zu nehmen, da zog sie ihn unter dem Kissen hervor und sagte:

»So lies ihn am Fenster erst einmal allein. Er ist 193 in einem doppelten Umschlag gekommen, und in dem größern lagen auch ein paar Zeilen an mich.«

Und plötzlich mit einer feinen Bosheit ins Französische fallend, das sie früher fließend und rein gesprochen: »des lignes pleines de gratitude et de bonnes paroles pour moi et ce gros, bon lourdaud de gentilhomme campagnard que j'appelle Monsieur mon mari.«

Konrad von Eggheim trat mit dem Brief seiner Frau ans Fenster.

Josepha hatte sich wieder in ihre Kissen sinken lassen, aber sie beobachtete seine Haltung und sein Gesicht, von dem sie freilich nur wenig erhaschen konnte, da er sich abgewandt hatte.

Das Zucken der Brauen, die ausschießende Farbe und das krampfhafte Spiel der Kiefermuskeln ist ihr trotzdem nicht entgangen.

Schweigend reichte ihr Konrad den Brief.

Als sie ihn gelesen hatte, war sie sehr ernst geworden.

»Konrad, komm her, schau nicht in den Tag wie einer, der in ein offenes Grab sieht!«

Er setzte sich neben sie, ohne zu antworten.

Sie ergriff seine Hand. Der Brief lag auf der Decke.

»Willst du sie noch suchen gehen?«

Ein Zug erschreckender Wildheit zuckte über sein Gesicht.

»Suchen? Zweifelst du daran? Soll ich mich mit einem Brief abspeisen lassen, in dem nicht einmal der Ort genannt ist, wo sie sich verbirgt?«

Er lachte hart auf.

»Aber er ist von einer Frau geschrieben, die jetzt auf nichts hört, Konrad! Sie will dich nicht wiedersehen, will nicht noch einmal einen Fremden, fremdgewordenen Menschen in dir finden. Wenn du Claudinen liebst und noch hoffest, daß sich diese Krise zum Guten wendet, dann darfst du jetzt nicht versuchen, sie zu finden. Oder du verlierst sie ganz.«

194 »Das liesest du in diesen Brief mehr hinein als es herauszulesen. In den Zeilen selbst steht nichts davon.«

»Nein, in den Zeilen nicht. Sie schreibt, daß sie zur Erkenntnis gekommen sei, eure Ehe sei etwas Unnatürliches. Sie sei heute noch Claudine von Illzach mit allen Anschauungen und Gefühlen ihrer Mädchenzeit und sei wie eine Fremde hier herumgegangen, wo du doch daheim seist. Sie sei auch in Eggweiler immer fremd und verloren gewesen. In St. Niklausen habest du mehr ihr gehört, aber hier wäre sie nicht dein. Sie spricht von Marc, von ihrem Vater, von Frankreich, von der Lisaine, wo sie euch, dich und Klaus, im Feuer wußte. Vergiß nicht, daß sie Französin ist, ja Französin, Konrad! Daß wir mit ihnen abgerechnet haben von der Napoleonszeit und noch länger her, daß wir so furchtbare Niederlagen über sie gebracht und sie klein gemacht, das Elsaß zurückgenommen haben, das ist auch deiner Frau, wie wenn ihr all das persönlich angetan worden wäre.«

»Claudine ist eine Frau. Du schiebst ihr Männerkonflikte unter, weil du selbst so ein männliches Empfinden hast von jeher.«

»Sag doch gleich, ich sei ein Mannweib, ein politisches Frauenzimmer, wie sie Achtundvierzig mit dem Hecker ausgezogen sind! Nein, Konrad, das ist's nicht. Aber siehst du, das steht nun in dem Briefe deutlich genug. Das ist nicht hineinspintisiert. Wir sind halt noch keine Nation wie die Franzosen, noch nicht so stolz, eine große Nation zu sein, wie sie es sind, das müssen wir erst lernen. Deshalb unterschätzen wir auch solche Einwirkungen. Glaub mir, Claudine leidet darunter tiefer, als du denkst und als wir uns vielleicht vorstellen können.«

»Sie hat jedenfalls einen guten Advokaten an dir, Tante Seffi,« versetzte er bitter.

»Sie braucht ihn auch.«

»Mir scheint, sie braucht überhaupt niemand. Aber eins weiß ich gewiß: Wenn dieser Brief auch eine Wand zwischen mich und sie gestellt hat, das Kind bleibt mein.«

195 »Liebst du Claudine nicht mehr?« fragte Josepha leise, um ihren Schrecken nicht zu verraten.

Konrad fuhr sich über das blasse, schmerzgespannte Gesicht.

Als die Hand herabsank, brannten die Augen in hartem Glanz. Die Energie, die bei ihm sonst in ruhiger, sicherer Deckung lag, trat in dieser Stunde in heftigem Drang hervor.

»Dieser Brief hat etwas in mir um und um gekehrt. Ich weiß nicht mehr, ob ich sie geliebt habe. Ob ich nicht vielleicht nur das Bild geliebt habe, das ich mir von ihr gemacht hatte. Über eins kannst du ruhig sein: ich werde nicht daran zugrunde gehen.«

»So ist's recht, Konradel! Aber nun leer nicht nach der andern Seite um! Sag mir, was willst du tun?«

»Ich will die Sache nicht liegen lassen wie weggeworfenes Gepäck. Wenn ich richtig empfinde, so hat sich Claudine in der Zwischenzeit ihr Leben eingerichtet. Sie handelt vielleicht unter fremdem Einfluß, kaum aber ohne fremden Rat. Sie verschweigt ihren Aufenthalt, weist mich auf Umwege. Das ist's, was ich mir nicht bieten lasse. Ich werde sie suchen, und ich werde sie finden!«

»Und dann?«

Er stutzte. Diese einfache, natürliche, aber so klug warnende Frage machte ihn stutzen. Weiter hatte er noch gar nicht gedacht. Nur suchen, finden wollte er seine Frau, wissen, wo sie war, nicht länger der Betrogene sein, dem nichts übrig bleibt als den Resignierten zu spielen!

Endlich sagte er:

»Das wird sich finden.«

»Du, Konrad, das ist keine Antwort für einen Kriegsmann. Komm, hör mich an! Wenn du Claudinen findest, so wirst du ihr entweder schreiben oder mit ihr reden müssen, oder aber du begnügst dich mit dem Bewußtsein zu wissen, wo sie ist. Bei allem, Konrad, denk daran, daß sie viel durchgemacht hat.«

196 »Wenn sie frei sein will, so leg ich ihr nichts in den Weg. Aber sie ist selbst unfrei, ohne es zu wissen, und deshalb kann sie keine klaren bindenden oder lösenden Entschlüsse fassen. Ich halte sie an dem Kind.«

Josepha wollte wieder Einwendungen erheben, aber Philibert, dem die Aussprache erst so peinlich gewesen war, der aber schließlich doch das Gefühl hatte, daß er nicht den toten Mann spielen dürfe, trat würdig, nach kräftigem Pochen in die Stube und machte so dem Kampf ein Ende.

»Die Frau ist fort, wirf ihr die Haube nach,« sagte er zornig, »jetzt kommt große Zeit, jetzt sind Frauenzimmergeschichten und Seelenkämpfe Futter für die Hunde. Und das Kind? Wär's ein Junge, so sagt ich, her damit, daß sie keinen Französling daraus machen, der Anno neunzig die Revancheflinte schultert. Aber wegen einem Zopfbändel tät ich keinen Prozeß anstrengen.«

Josepha verwies ihm seine herzlosen Reden, die nur seine Verlegenheit und sein Herz maskieren sollten.

»Laßt es gut sein, Onkel Bert und Tante Seffi, ich trag's!« entgegnete Eggheim und riß den Kopf in den Nacken.

Er machte sich daran, Claudinens Spuren nachzuforschen.

Vierzehn Tage waren vergangen, seit sie Heitersheim verlassen hatte. In ihren Zimmern war nichts zurückgeblieben, was einen Anhalt bot. Eine Menge Papierasche, die er aus dem Ofen zog, deutete auf verbrannte Briefschaften. Ein Bruchstück, das nicht vollständig verkohlt war, zeigte Tante Madeleinens flüchtige Züge. Désastre - pauvre Fr... l'enfant... Es war nichts daraus zu entnehmen. Die Stelle handelte vom Kriege und von einem Kind. Von seinem Mädele! Die Augen bissen ihn. Ob auch seine eigenen Briefe hier in Asche lagen?

Auch der Brief, den Claudine an Tante Seffi gerichtet 197 hatte, half nicht weiter. Es war ihr eigenes Briefpapier, die Abstempelung in Basel erfolgt.

Konrad wollte nicht den Kriminalbeamten spielen. Er schämte sich, die Abreise seiner Frau als Flucht erscheinen zu lassen. Er schickte Franz nach Eggweiler voraus, verschmähte das Aushorchen des Gesindes, erfragte nur im ›Löwen‹ die Lohnkutscherei, die damals den Wagen gestellt hatte, und fuhr dann nach Freiburg.

»Laß von dir hören, bist heil heimgekommen, nun geh mir nicht an dieser Affäre kaputt,« sagte der Memminger beim Abschied.

Tante Seffi bat:

»Du hast deinen Kopf aufgesetzt. Ich kenn dich, Konradel. Aber geh nicht durch die Wand, es wäre das Schlimmste für alle Teile. Sie ist eine stolze Natur, wenn du die zerbrichst, so hast du Flurschaden im Gottesgarten angerichtet.«

Der Freiburger Kutscher erinnerte sich in diesen schlechten Zeiten der Dame sehr gut, die er vor vierzehn Tagen von Heitersheim an den Bahnhof in Freiburg gefahren hatte.

»Die Kindspflegerin haben wir schon am ›Heiligen Geist‹ abgesetzt. Die ist mit einem guten Lohn heimgegangen. Die Madame und die Jungfer hab ich dann um ein Uhr an die Eisenbahn gefahren. Das Kröttle, das die Madame selber getragen hat, ist still gewesen wie ein Muttergöttesle.«

Mehr war nicht von dem alten, verschlafenen Kutscher zu erlangen. Er wußte nicht, wohin die Reise gegangen war, hatte keinen Namen, weder Zug noch Richtung nennen hören. Im Gasthof ›Zum Heiligen Geist‹ hatte Claudine mit der Jungfer gefrühstückt. Sie hatten Französisch gesprochen.

Nach dem Fahrplan verkehrten zwischen ein und zwei Uhr nur zwei Züge, der eine kam von Basel und ging nach Mannheim, der andere kam von Karlsruhe und fuhr nach Basel.

198 Konrad begab sich zum Vorstand des Bahnhofs und zog ihn ins Vertrauen, indem er angab, Claudine habe unter dem Zwange einer nervösen Störung eine Reise angetreten, ohne die Angehörigen über Zweck und Ziel der Fahrt zu unterrichten. Der Schalterbeamte entsann sich der Frauen, aber nur sehr unbestimmt, und gab an, daß gerade seit vierzehn Tagen der Verkehr wieder anschwelle, so daß er nicht mit Bestimmtheit sagen könne, ob er damals Fahrkarten nach dem Unterland oder nach dem Oberland verkauft habe.

Nun fuhr Konrad nach Basel. Im Getriebe des Grenzverkehrs am Badischen Bahnhofe war keine Auskunft zu erhalten. Er begab sich zu Stöcklin und Co., die Kieners Agenten waren. Nichts! Kiener war vier Tage nach Claudinens Flucht zum letzten Mal in Basel gewesen und von dort über Bern und Genf nach Bordeaux gereist.

Am andern Morgen reiste Konrad von Eggheim nach Bern. Als der Zug langsam die Hänge des Hauensteins erstieg und auf den Blößen verharschter Schnee sichtbar wurde, die schwarzen Tannenforste ihre strengen, finsteren Schattenrisse an den Himmel hefteten, da wuchs die Erinnerung an den Winterfeldzug zu den Fenstern des Zuges herein. Er sah sich wieder in dem verschneiten, frostklirrenden Bergland des Ognon, und alle Sehnen, alle Fibern spannten sich in heiligem Trotz. Als ständen sie noch, marschierten, schlügen sie noch einer gegen drei bei Vesoul, bei Villersexel und an den eisigen Ufern der Lisaine, Belfort im Rücken, um mit ihren Leibern die Trouée de Belfort zu stopfen. Und in die übermenschliche Spannung dieser Tage hinein hatte am 18. Januar, als sie den dritten Tag von Chenebier bis Montbéliard die Springflut der Bourbaki-Armee gebrochen hatten, die Kunde von der Kaiserkrönung zu Versailles geschlagen!

Die Maschine schlich in den niedern Tunnel, Wagen um Wagen tauchte hinein, und ein Dröhnen, wie aus Orgelklang und Glockenton, Kanonendonner und dunklem Hurraruf gemischt, erfüllte das Ohr des einsamen 199 Mannes, der mit hager und straff gewordenen Zügen und hartgeschmiedetem Herzen ausging, sein Weib zu suchen.

Aber unter der Eisenhaut quoll das Blut nur mächtiger und köstlicher, doch in diesem Augenblick wälzte es keine Gedanken an Claudine. Das gewaltige Bewußtsein, ein großes, mächtiges Vaterland zu besitzen, überströmte ihn mit erschauernden Gefühlen. ›Was schert mich Weib, was schert mich Kind!‹

Weiter paßte das Zitat nicht hierher, aber etwas von diesem Preisgeben eigenen Schicksals war auch in ihm, als die Erinnerung an die Lisaine und Versailles ihn überfiel.

In den Tälern des Berngebietes wich der Winter erst zögernd von den Schattenhalden. Der Himmel wölbte sich blau, wie aus Stahl gefügt, über den Bergen. Eggheim sah den stumpfen Turm des Berner Münsters vor den rosigen Firnen stehen – er war angekommen.

Klaus Krafft von Illzach war aus dem Spital in Privatpflege übergesiedelt und rüstete auf die Heimkehr. Er saß im Sessel, als Konrad eintrat.

»Verzeihen Sie, wenn ich sitzen bleibe, ich habe noch keine Kraft zu stehen.« So empfing er den Besucher.

Konrad fand ihn verändert. Er trug Haar und Bart noch wie früher, aber ein grauer Schimmer warf einen seltsamen, harten Schein auf seinen eckigen Schädel. Die Nase der Illzach stand scharf und schmal in dem blassen Gesicht.

Nach den ersten Worten, den Fragen nach dem Befinden ging Konrad zur Sache.

»Sie haben meinen Brief erhalten, und ich danke für den telegraphischen Bescheid, den Sie mir schickten. Ich bin heute gekommen, um zu erfahren, ob Sie seither etwas von Claudine gehört haben.«

»Ich habe gestern einen Brief von meiner Schwester erhalten.«

Sie blickten sich an. Kalt und feindselig, aber beide in beherrschter Haltung.

200 »Und was haben Sie mir daraus oder daraufhin zu sagen, Herr Schwager?« fragte Konrad nach einer Weile.

»Der Brief ist nicht sehr kurz. Es ist kein Schreiben für deutsche Augen, Herr von Eggheim. Ich bitte mich recht zu verstehen, ein Brief, der nicht nur in französischer Sprache gehalten, sondern auch mit französischer Empfindung, mit dem starken Sentiment unserer Frauen angefüllt ist. Ich setze hinzu, daß Claudine in diesem Briefe keine Anklagen erhebt, auch keine Klagen. Ihr Stolz ist größer als ihr zerrissenes Gefühl. Wir können in diesem Augenblick nichts tun, als den Willen Claudinens respektieren. Sie stören oder zu etwas zwingen, heißt sie zu verzweifelten Entschlüssen treiben.«

Er wog jedes Wort, aber er konnte ihre Wirkung trotzdem nicht ermessen.

Mit einem Ruck stand Konrad von Eggheim vom Stuhl auf.

»Sie sprachen von französischer Empfindung, Herr von Illzach, ich habe früher in den Briefen meiner Frau zwar stets französische Bildung, nie aber eine besonders geartete französische Empfindung gefunden. Wollen Sie Empfindungen nationalisieren, wo es sich um menschliche, um die höchsten menschlichen Gefühle handelt? Sentiments ja, aber was Sie Sentiments nennen, ist nicht elementares Gefühl, sondern ein gewisses gesellschaftliches Empfinden, das an der Oberfläche sitzt. Claudinens wahres Gefühl ist in diesem Augenblick herren- und heimatlos. Beantworten Sie mir zwei Fragen? Wissen Sie, wo Claudine ist und was wissen Sie darüber, wie sie sich die Zukunft und das Verhältnis unserer Ehe denkt?«

Illzach richtete sich langsam auf. Auch in seinem Ton klang eine stählerne Feder:

»Ich kenne den Aufenthaltsort meiner Schwester nicht, und ich bin nicht einmal in der Lage ihren Brief direkt zu beantworten. Die Beantwortung der zweiten Frage muß ich ablehnen.«

201 Konrad von Eggheim verbeugte sich kurz.

»Damit ist der Zweck meines Besuches erledigt. Ich setze aber voraus, daß nun Sie die eine oder die andere Frage an mich zu richten wünschen.«

Klaus betrachtete einen Augenblick seine schmalen, mageren Finger, dann hob er die Lider.

»Sie haben recht. Ich wünsche Sie zu fragen, ob Sie das unbekannte, selbstgewählte Asyl meiner Schwester und ihre und des Kindes Person respektieren werden.«

»Es gibt für Claudine von Eggheim nur ein Asyl, das Haus ihres Mannes! So lange wenigstens, wie die Ehe, die wir geschlossen haben, nicht nur zu Recht, sondern auch dem Wesen nach besteht.«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage, Herr von Eggheim!«

»Es ist die einzige Antwort, die ich geben kann, denn zwischen meiner Frau und mir erkenne ich keinen Vermittler an.«

Die Augen Klaus Kraffts standen hell und hart unter den gewölbten Lidern.

»Das sagten Sie schon früher einmal, Herr Schwager. Ich glaube nicht, daß es heute noch etwas zu vermitteln gibt,« antwortete er langsam.

In Konrads braunes Gesicht stieg eine rote Wolke.

»Der Code Napoléon handelt im sechsten Titel des Zivilgesetzbuches von der Ehescheidung, Baron von Illzach. Wir sind beide Juristen, und ich brauche Ihnen die klassischen Gründe, die bei einer Scheidung geltend gemacht werden können, nicht aufzuzählen. Aber es steht bei mir, ob ich den Rechtsweg betreten will, um meine Frau zu mir zurückzuzwingen.«

»Das heißt, Sie werden also Claudinens Willen und Asyl nicht respektieren?«

Der Deutsche flammte auf.

»Respektieren! Himmel und Erde, Klaus Krafft, habt Ihr denn kein anderes, kein blutwärmeres Wort als diesen zeremoniösen Respekt, hinter dem sich nichts verbirgt 202 als die blasse Konvention? Respekt, Respekt! – Liebe, Treue – Sich-in-einander-schicken, das sind andere Worte! Ich respektiere in Claudine das Weib, aber meine Frau, die habe ich geliebt. Weiß es vielleicht erst jetzt, hab's vielleicht erst gelernt, gefühlt, seit ich damals an ihren Vater schrieb, ehe ich eingerückt bin! – Und ihren Willen! Ihr Asyl! Um Claudinens Liebe handelt es sich hier, nicht um ihren Willen!«

»So spricht ein Barbar, ein Wickinger, Herr von Eggheim, der das Weib als Beute heimträgt. Sie haben den Code angerufen. Nun wohl, ich erinnere mich, daß dort auch von einer Trennung gesprochen wird, wenn das Zusammenleben unerträglich geworden ist. Sie haben acht Monate gegen uns im Feld gestanden, zweifeln Sie noch daran, daß zwischen Claudine von Illzach und Ihnen das Zusammenleben unerträglich ist?«

Konrad hatte sich wieder gefaßt. Er sah Klaus Kraffts Kniee von Schwäche zittern, wenn sich der Kopf auch energisch aus den Schultern reckte.

»Ich werde das alles mit Claudine selbst bereden und bitte Sie das zugleich als Antwort auf die Frage zu betrachten, ob ich ihr Asyl respektieren werde.«

Da drückte Klaus Krafft von Illzach die Kniee durch und erwiderte:

»So werden Sie mich an der Seite meiner Schwester finden.«

»Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung, aber nur unter uns Männern.«

»Ich nehme auch diese Formel an, Herr von Eggheim.«

Diesmal wechselten sie keinen Handschlag mehr.

Unter der Tür wandte sich Eggheim um. Es war auf einmal ein anderer Ausdruck in seinen Zügen.

»Klaus Krafft,« sagte er mit feierlichem Ernst, »zu einer Herausforderung werden Sie mich nie bewegen. Ich nehme von Ihnen auch keine an. Wir haben an der Lisaine, am Mougnot gegeneinander im Feld gestanden.«

»Sie? Ah!«

203 Einen Augenblick trafen sich ihre Augen, dann neigten sie in gegenseitigem Verstehen das Haupt.

Klaus Krafft schrieb noch an demselben Tag an die Brüsseler Deckadresse, die ihm Claudine angegeben hatte, um ihr zu sagen, daß er ihren Entschluß, sich von ihrem Manne zu trennen, zwar begreife und billige, aber die Art der Lösung für unrichtig und gefährlich halte. Es gebe nur eins, die Rückkehr unter das Dach der Familie. Sobald Paris wieder einen sichern und freundlicheren Aufenthalt biete, könne man ja dorthin übersiedeln und die nötige Entfernung schaffen. Danach müßten freilich Schritte unternommen werden, um eine gesetzliche Trennung zu erzielen. Das sei peinlich, aber unvermeidlich, wenn nicht Eggheim aus freien Stücken in dieses getrennte Leben willige. Nur dann könne man alles andere der Zukunft anheimstellen. Er verschwieg Claudinen auch nicht, daß Konrad sie suche, und bat sie dringend, aus ihrem Versteck hervorzutreten, das ja doch nicht geheim bleiben könne.

Als einige Tage später Jacques Kiener von Versailles kommend in Bern eintraf, war Klaus Krafft reisefähig. Sie kehrten ins Elsaß zurück.

»Wir sind geopfert worden, um Frankreich zu retten,« sagte Kiener. »Ich habe gegen die Abtretung der beiden Provinzen protestiert, weil ich Elsässer bin, aber nur deshalb. Als Franzose mußte ich den Frieden wünschen. Wir sind mit Tränen aus dem Saal gegangen, während die Abstimmung stattfand.«

Da antwortete Klaus mit einer Klarheit, die zu verstehen gab, daß er diesem Problem schon länger nachgesonnen hatte:

»Ich begreife das. Und empfinde es wie Sie. Aber der Gegensatz und Widerspruch, in dem wir uns mit diesem Votum als Elsässer und Franzosen befinden, der ist doch zugleich etwas Neues und das einzig Hoffnungsvolle: Wir haben uns dabei, obwohl Franzosen, zum ersten Mal wieder als Elsässer gefühlt.«

204 »Elsässer, ja, wenn wir's bleiben könnten auf unsere Art,« versetzte Kiener. »Aber wir werden ungefragt heimgeführt und ins deutsche Bett gezwungen. Claudine hat wenigstens die Möglichkeit, ihre Ehe zu lösen, aber wir!«

Er brach ab und starrte finster vor sich hin.

Als sie in Mülhausen eintrafen, fanden sie die ersten Nachrichten von dem Ausbruch der Revolution in Paris vor. Mülhausen lag noch still und tot, und es war ihnen auch noch nie so schmutzig und verwahrlost erschienen mit seinen ungepflasterten Straßen, den schlechtgehaltenen Häusern und dem Modergeruch, der aus den Kanälen und Flußläufen aufstieg. Ein schwerer, dunkler Himmel hing über der Stadt. Schwül und stickig stand die Luft in der dunstigen Ebene. In der Cité, wo die Reihenhäuschen der Arbeiterschaft mit ihren gleichförmigen Dächern lange Zeilen bildeten, war unruhiges Leben. Die Arbeiter bekämpften den Hunger mit Schnaps, und eine dumpfe Wut fraß an ihnen. Auch Kieners Fabrik stand noch still. Die Schlote ragten wie tote, erstarrte Fabelwesen in der zerfließenden, trüben Atmosphäre.

Klaus Krafft nahm sich kaum Zeit, festzustellen, daß man auch in Kieners Villa am Rebberg nichts von Claudine wußte, dann reiste er nach Versailles. Er ging, seine Entlassung zu fordern. Er wollte eine regelrechte Urkunde darüber haben, daß er seine Schuldigkeit bis zum bittern Ende getan hatte. Jetzt hatte er keine Lust mehr den Degen zu tragen und die Kommunarden bekämpfen zu helfen. Franzosen gegen Franzosen – das war nicht mehr seines Amtes!

Er erfuhr noch, daß Konrad von Eggheim dagewesen war und nach Claudine geforscht hatte. Da schrieb er ihm ein Billett nach Heitersheim, in dem er ihm seine Reise anzeigte und beifügte, er kehre, sobald sein Gesuch erledigt sei, nach Mülhausen und St. Niklausen zurück. Von Claudine war keine Nachricht mehr gekommen, auch sein eigener Brief an die Brüsseler Deckadresse war bis jetzt ohne Antwort geblieben. Aber er hatte jetzt keine 205 Zeit, zu warten oder selbst nach Claudine zu forschen. Zuerst mußte er sich selbst frei machen, die Vergangenheit lösen, dann kam alles andere.

»Wissen Sie, ob unser Haus an der Kalbsgasse Schaden genommen hat?« fragte er Kiener noch und war zufrieden zu hören, daß Jungholz schon im Oktober geschrieben habe, außer einem abgeschlagenen Kamin und der Zertrümmerung des Springbrunnens durch Sprengschüsse, habe die Beschießung dem Hause nichts getan.

»Aber Jungholzens Frau hat Schaden gelitten, das schreibt er freilich in einem Postskriptum,« versetzte Kiener, »die Granate, die den Brunnenstein zerfetzte, hat ihr ein Bein zerschlagen.«

»Tausend Donner, die arme Frau!« rief Klaus Krafft wild und fuhr nach einer Weile mit schwerer Stimme fort:

»Aber was will das sagen – das ist der Krieg!«

Und er reckte seine gebückte Gestalt, als müßte er eine Traglast höher wuchten und ging, um Madeleine Kiener und seiner Frau Lebewohl zu sagen.

Von Amélie nahm er Abschied, wie er sie begrüßt hatte, artig, mit vollkommener Ritterlichkeit und Wärme, aber ohne im Innern davon berührt zu werden. Und auch sie blieb in ihrer kalten, blonden Schönheit unbewegt. Der Krieg und seine Schrecken, Klaus Kraffts Verwundung und Krankheit, nichts hatte sie einander näher gebracht. Ihre Ehe blieb kühle, selbstverständliche Gewohnheit.

Aber in herzlicher Liebe bückte sich Klaus über seine Kinder.

Kiener begleitete ihn zum Bahnhof. Preußische Patrouillen kamen von der Stadt her und streuten Posten an dem Hang des Rebberges aus. Die abgelegenen Villen der Fabrikanten, die hier, weit von der Stadt und den Fabriken entfernt, jedes Schutzes entbehrten, mußten in dieser unheilbrütenden Zeit bewacht werden. Kiener empfand es als bittere Demütigung und blickte finster zur Seite. Die Demütigungen, der Verlust seiner 206 Nationalität und seiner Würde als französischer Bürger trafen ihn tiefer als die schweren finanziellen Nackenschläge, die der Krieg und die Annexion der elsässischen Industrie versetzt hatten.

»Schreiben auch Sie noch einmal an Claudine,« sagte Klaus zu ihm, ehe der Zug sich in Bewegung setzte.

»Grüßen Sie mir Frankreich und die Republik,« stieß der Fabrikant als Antwort hervor.

Ein schwermütiges und zugleich ein wenig ironisches Lächeln erschien unter dem Schnurrbart des Freiherrn, während er ihm noch einmal zunickte.

Die letzten Basler Zeitungen hatten von den ersten Feuersbrünsten berichtet, die in Paris von der Kommune gelegt worden waren.

Jacques Kiener schrieb gewissenhaft noch in der Nacht nach der Besprechung, in der man beschlossen hatte, eine Anzahl Webstühle wieder in Gang zu setzen, um Arbeit und Verdienst zu schaffen, an Claudine von Eggheim und forderte sie auf, sich unter seinen Schutz zu stellen. Auch dieser Brief ging an die Brüsseler Deckadresse ab.

Claudine erhielt die Briefe ihres Mannes, ihres Bruders und Jacques Kieners, auch ein fassungslos und aufgeregt durcheinandergequirltes Schreiben ihrer Tante Madeleine zugestellt.

Der Brief ihres Mannes lief erst nach dem Brief Klaus Kraffts ein, denn er war von Basel nach Brüssel geschickt und dann erst von der Agentur weiterbefördert worden.

Tiefe, erschreckend tiefe Stille wohnte in dem großen, einsamen Hause. Wenn das Kind schrie, verlor sich sein quäkendes Stimmchen in den hohen, mit alten kostbaren Stoffen bespannten und geschmückten Räumen. Claudine hatte eine Amme gemietet und eine Köchin gedungen. Die Jungfer, die ihr von St. Niklausen nach Heitersheim gefolgt war und dort die Vorbereitungen zur Abreise geleitet hatte, war jetzt wieder in ein schattenhafteres Dienstverhältnis zurückgetreten.

207 Die junge Frau war sich selbst genug. Sie wollte ihren Konflikt allein durchkämpfen, ganz allein. Niemand sehen, sich von niemand raten lassen, denn es konnte ihr niemand raten.

Seit sie am hellen Tage ihre offene, vorher angekündigte Flucht aus dem Memminger Hof angetreten hatte, war ihr die Welt abhanden gekommen. Sie lebte nur noch für sich, wußte nur so viel, daß der Krieg zu Ende war, daß Konrad jede Stunde hatte zurückkehren können, und war deshalb geflohen. Sie wollte, sie konnte ihn nicht wiedersehen.

Als sie in ihrer Trauerkleidung, das Kind unter den schwarzen Schleiern, gereist war, war ihr unterwegs alles mit einer scheuen, achtungsvollen Teilnahme begegnet. Man hatte sie wohl für eine Witwe gehalten, eine jener vielen, die die Kinder im Krieg gefallener Väter durchs Leben trugen. Und sie hatte sich auf dem furchtbaren Gedanken ertappt, der beinahe zum Wunsch geworden wäre, daß es doch so sein möchte, daß sie doch wirklich Konrad von Eggheims Witwe und so beinahe wieder Claudine von Illzach wäre mit ihrem Kind!

Sie versenkte, verlor sich in diesen Wachträumen und glaubte ihren Mann dann wieder lieben zu dürfen.

Als die ersten Tage vergangen waren, dachte sie mit festem Entschluß an ihn als an einen Toten.

Da kam der Brief Klaus Kraffts und rief ihr zu, daß Konrad von Eggheim sie suche. Er werde sie zurückbringen in sein Haus und habe auch das Recht dazu. Sie wußte, daß er sie finden würde. Sie hatte ja keine heimliche, mit Geheimnissen und Finten umgebene Flucht ausgeführt, sie war frei und frank ihres Weges gegangen. Sie beschloß die Flucht nicht fortzusetzen, auch nicht in den Schoß der Familie zurückzukehren. Auch dort war sie nicht mehr daheim. Sie hatte schon lange klar erkannt, daß sie dort nicht mehr daheim war! Sie war auf sich gestellt, losgelöst von allem, ohne Vergangenheit, 208 ohne Zukunft. Sie blieb, wo sie war. Mochte er kommen!

Sein Brief lag kalt und leblos in ihrer Hand. Er forderte sie auf, zurückzukehren: Nach Heitersheim oder nach Eggweiler, wohin sie lieber ginge. Es war seine Schrift, waren auch Worte, die sie von ihm kannte, aber es reckte sich auch eine herrische Hand aus diesen Zeilen, die sie noch nie gespürt hatte. Diesem Griff entzog sie sich. Sie antwortete nicht.

Die Briefe waren längst gelesen. Der März trüb und feucht zu Ende gegangen, Aprilschauer jagten vorüber, und die Sonne erschien an einem unendlich hohen, im Blauen sich verlierenden Himmel.

Aus den Gartenbeeten stiegen die Krokus wie bunte Kerzen ans Licht, die Amsel rief vom Dach des Nachbarhauses, und die Amme saß mit dem Kind auf der Veranda, wo die Wärme unter den gelbsprossenden Glyzinien gefangen lag.

Madeleine Josephine Elisabeth von Eggheim hieß das rosige Ding mit den blauen leeren Augen und dem dunklen Flaum auf dem pulsierenden Köpfchen. Die Namen waren schon vor langer Zeit zwischen ihnen verabredet worden, aber mit einem Anflug von Trotz ließ Claudine es geschehen, daß die Amme es Phinele nannte statt Elisabeth, wie Konrads Mutter geheißen hatte. Phinele wie ein rechtes Elsässerkind, nicht Joséphine, auch nicht Josepha, sondern ganz gewöhnlich Phinele.

Am 17. April erhielt Claudine abermals einen Brief ihres Bruders. Er schrieb, daß er in den nächsten Tagen ins Elsaß zurückkehre und immer noch in Ungewißheit sei, wo sie sich befände. Er fordere sie aber hiermit als Haupt der Familie auf, sich nach St. Niklausen zu begeben, nachdem sie ihren Entschluß, nicht zu ihrem Manne zurückzukehren, bis jetzt aufrecht erhalten habe. Sofort nach seiner Heimkehr werde er dann Konrad von Eggheim benachrichtigen und in offener Aussprache eine Ordnung ihrer Zukunft zu erreichen suchen.

209 ›Nur unter dem Dach unseres Hauses bist Du vor Nachrede und Gefahren sicher, nur hier kann ich für Dich eintreten,‹ schrieb Klaus.

Ein stolzes Lächeln ging über ihr schmalwangiges, ernstes Gesicht. Sie legte den Brief beiseite, zog ihre Schreibmappe hervor und schrieb an Klaus, sie habe ihren Schritt nicht zu bereuen, denn sie wisse sich nirgends sicherer und mehr am Platze, als dort, wo sie seit der Abreise von Heitersheim weile, und sie datierte den Brief von Straßburg.

Drei Tage später rührte Konrad von Eggheim den Torklopfer, der in Gestalt einer Bronzefaust im Ritterhandschuh auf eine Metallplatte schlug. Der Hall lief durch die Torwölbung und klang an den Fenstern des Hauses hinauf.

Erst ging ein Schieber auf, dann öffnete Jungholz dem Besucher die Tür. Aus der stillen Kalbsgasse, wo nur ein Kanarienhähnchen an einem Fenster in die Kirchhofsstille sang, trat Konrad mit einem leisen Nervenschauer in den Hof des Illzach'schen Besitzes..

Hier lebte seit mehr als zwei Monaten seine Frau.

Er wußte, daß er sie gefunden hatte. Gefunden, ohne länger nach ihr gesucht zu haben.

Als sein Urlaub abgelaufen war, hatte er noch ein paar Tage Dienst tun müssen, dann war er auf seinen eigenen Antrag dem Generalgouvernement von Elsaß-Lothringen als Zivilbeamter zugeteilt worden. Die Zivilverwaltung war zwar noch nicht eingerichtet, aber in Vorbereitung. Eggheim war dem Platzkommando von Kolmar beigegeben.

Er hatte wochenlang keine Zeit gehabt, Claudinen mehr als die Gedanken der späten Abendstunden zu widmen, wenn er todmüde in sein verwahrlostes Hotelzimmer heimkehrte. Aber in diesen müden, einsamen Stunden hatte er sie gesucht. Lang ausgestreckt im Bett oder auf der knarrenden Diele auf- und abschreitend. Und als er sie in Gedanken gefunden hatte, bestieg er am Samstag 210 Mittag den Zug und fuhr nach Straßburg. Sie konnte nirgends anders sein, als in dem Barockhause an der Kalbsgasse. Nirgends sonst auf der Welt – oder sie war nicht Claudine! Er hatte alle Möglichkeiten erwogen, alle Unmöglichkeiten ausgeschieden, bedacht, daß er in St. Niklausen und am Rebberg gewesen war, ehe er noch methodisch und in Claudinens Seele sich versetzend, das Problem ergründet hatte, und war so zu dem Schluß gekommen, daß er sie hier finden würde.

Der alte Jungholz, der aus trübe gewordenen, gedunsenen Augen zu ihm aufblickte, erkannte ihn nicht in dem vollbärtigen Herrn im Besuchsanzug und hohem Hut und schien ihn im Halbdunkel für einen Arzt zu halten, denn er empfing ihn mit den Worten:

»Bonjour, Herr Doktor. Es ist gentil, daß Ihr noch einmal kommt. Sie hat sich schon ganz gewöhnt an die béquille, und wir müssen zufrieden sein.«

Da rief die Stimme seiner Frau aus dem Hintergrund der Loge:

»Das ist ja gar nicht der Doktor Disser, das ist ja ein fremder Monsieur. Pour sûr qu'il se trompe de la porte!«

Auf eine Krücke gestützt, kam sie schwerfällig gehumpelt, im Hinken noch Entschuldigungen keuchend; blieb plötzlich stehen und schwieg, starrte den Besucher mit entsetzten Blicken an und begann am ganzen Leibe zu zittern.

»Es ist – der Herr ist's – ein Prussien, ein Prussien!«

Und mit einer fahrigen Bewegung stampfte sie, die Röcke schwenkend, in die Loge zurück. Es war ein grotesker Anblick, aber er tat weh.

Konrad preßte die Lippen und sagte dann:

»Es ist gut, Meister Jungholz, ich weiß Bescheid.«

Aber er blieb noch einmal stehen und fragte den Pförtner mit einer merkwürdig hart klingenden Stimme:

»Ihre Frau hat einen Schaden?«

211 Da lachte der Alte hohl und antwortete, indem er auf den Springbrunnen deutete, der noch zersprengt und aufgewühlt im Schutt lag:

»Ihr habt bei uns angeklopft, ehe Ihr ans Tor gekommen seid! Tenez, voilà votre bonjour! Und die Frau, die hat ein Stück von dem boulet ins Bein erwischt. Das ist alles.«

Mit furchtbarer Ironie stieß der alte Mann seine Erklärung hervor, lüftete seine Schirmmütze noch einmal und schloß in verändertem Ton: »Monsieur connait le chemin - Mademoiselle le conduira.«

Dabei zeigte er auf die Jungfer, die soeben auf der Schwelle des Herrenhauses erschien.

Konrad von Eggheim ging an dem zertrümmerten Sandsteinbecken vorbei auf das Haus zu. Die Flora, die hier zwischen den Taxushecken auf ihrem Sockel gestanden hatte, war eine Kopie der Statue aus dem Park von St. Niklausen. In Stücke zerbrochen lag sie im Becken, und der Anblick der nackten verstümmelten Steinglieder bereitete ihm größere Pein als die Erinnerung an die verkrüppelte Pförtnersfrau.

Die Jungfer bat ihn einzutreten, nahm mit einem Knix seinen Hut und ging. Keine Überraschung, weder Schreck noch Unsicherheit war in ihrem Wesen sichtbar geworden. Das Haus lag so still und tot wie die Gasse, wie die ganze Stadt.

Claudine erhob sich und gab dem Mädchen einen Wink, den Besucher hereinzuführen. Die Amme war ausgegangen. Der Wiegenkorb stand draußen in der warmen Sonne. Die Verandatüre war geschlossen, aber Claudine konnte jede Bewegung des kleinen Geschöpfes von ihrem Platz aus überwachen. Sie stand regungslos auf die Lehne des Sessels gestützt. Ein rahmfarbenes Spitzenfichu um die Schultern, und von vielen Falten ihres bauschigen schwarzen Seidenkleides umwallt. Ihre Wangen waren kühl und von dem matten, farblosen Glanze weißer Perlen.

212 Auf Konrads Stirn flimmerte es feucht, aber er ließ sich die Erregung nicht merken.

Im ersten Augenblick versagte beiden die Sprache.

Es war so still, daß die Rokkokouhr, die im Nebenzimmer stand, das Schweigen deutlich skandierte.

Und es war die Frau, die zuerst diesem Schweigen ein Ende machte und in einem merkwürdig ruhigen, beinahe oberflächlich klingenden Ton sagte:

»Ich habe erwartet, dich eines Tages hier zu sehen wenn du nicht –«

Aber der Ton hatte sich und ihn täuschen sollen, sie merkte es, schämte sich und sprach die letzten Worte mit einem harten Ausdruck, um dann abzubrechen.

»Wenn ich nicht –?« wiederholte er fragend, ohne einen Schein von Erregung.

Da verfinsterte sich ihr Gesicht, die feinen Brauen wuchsen zusammen, die Flügel der Nase bebten, und mit einem Ausdruck grenzenloser, leidenschaftlicher Wildheit vollendete sie:

»Wenn du nicht gefallen warst!«

Wie einen Dolch stieß sie ihm das Wort in die Brust.

Er stand ihr fremd und kalt gegenüber, aber wieder rann ihm ein Schauer den Nacken hinab. Zum ersten Mal hatte auch er das Gefühl, einer Fremden gegenüberzustehen, einer Frau. die er nicht kannte, nicht gekannt, nie besessen hatte.

Draußen in der Frühlingssonne, die einen schwelgerischen, schmeichelnden Schein hatte, schlief das Kind.

Ein hartes Lächeln ging wie mit dem Meißel nachgezogen über sein Gesicht.

»Du hättest vielleicht richtiger gesagt, du erwartetest mich, wenn ich nicht aufgehört hatte, dich zu lieben.«

Einen Augenblick starrte sie ihn mit weitgeöffneten Augen an.

Ihre Hände liefen in einer bebenden, alle Finger bewegenden Gebärde an den Falten ihres Kleides entlang, und es plötzlich an sich reißend, wie um sich vor einer 213 Berührung zu schützen, rief sie mit tonloser Stimme, in der ihr Herzschlag zitterte:

»Geh, verlaß mich, ich seh dich nicht mehr, wie du warst! Ich habe dich nie geliebt, nie!«

»Du belügst dich selbst, und du willst mich belügen. Wenn du gesagt hättest, du hättest mich geliebt, aber du liebtest mich nicht mehr, könntest mich heute nicht mehr lieben, so hätte ich dir vielleicht eher geglaubt.«

Der harte Klang seiner Stimme füllte das Gemach.

Sie preßte die Hände an die Ohren.

»Geh, wir haben nichts mehr gemein. Es war ein Irrtum, Sentimentalität der Jugend, eine Lüge, nenn's wie du willst, und geh!«

»Ich könnte dir den Willen tun, um dich morgen besser gefaßt und vernünftiger zu finden, Claudine. Aber es ist besser, wir kommen heut zu Ende.«

Er schob ihr den Sessel näher, aber sie blieb aufrecht stehen und stützte nur den Arm, der weiß und fest aus dem schwarzen Ärmel trat, auf die Lehne.

Ihre Stimme klang ruhiger, nur ein wenig siegesbewußter, als sie antwortete:

»Wenn wir heute noch zu Ende kommen können, so bestehe ich nicht darauf, daß du gehst.«

Ein freieres Lächeln flog über seine Züge.

»O, ich wäre auch ohnedies nicht gegangen, denn du bist noch meine Frau, und ich hätte dich höchstens bitten müssen, mich zu begleiten.«

Sie erblaßte noch tiefer. Seine lächelnde Gelassenheit erregte sie noch stärker als seine harte Kälte.

»Dazu hättest du, hätten Sie Gewalt anwenden müssen, Herr von Eggheim.«

Mit einem Schritt war er neben ihr und ergriff ihre Hand.

»Wir sind hier nicht in der Comédie Française, Claudine. Komm mir nicht mit Sie und Herr von Eggheim, das ist unnatürlich und Phrase, auch wenn du alles leugnest, was geschehen ist und uns verbindet!«

214 Sie löste ihre Hand, ohne daß er den Versuch machte, sie festzuhalten.

»Gewalttätigkeiten sind wir gewohnt,« sprach sie hochmütig. »Und daß du's weißt, ich leugne alles, alles leugne ich, denn damals waren wir uns des Abgrundes nicht bewußt, der uns trennt. Heute gibt's keine Brücke, keine Verbindung mehr zwischen uns. Ich habe mir dieses Haus als Zuflucht gesucht und will allein sein darin, nichts hören, nichts sehen von den Veränderungen da draußen, ich komme nie mehr in deine Arme. Nie mehr!«

In fiebernder Qual hatte sie die letzten Worte herausgeschleudert.

Konrad grub die Fingernägel in die Handflächen und hielt mit Gewalt an sich. Er spürte, daß er sie diesmal verloren hatte.

In St. Niklausen war sie noch einmal zu ihm zurückgekehrt, heute stand sie spröd und trotzig und zugleich bebend vor Leidenschaft vor ihm, und er konnte keine weiche Regung mehr an ihr erspähen. Und auch er besaß nicht mehr die zarte Rücksicht von damals. Er fühlte, daß er nicht gehen durfte, ohne ihr seinen Willen aufgezwungen zu haben. Er fragte sich gar nicht mehr, ob er sie noch liebte, ob er sie je wirklich, aus der Tiefe gemeinsamen Erlebens heraus besessen hatte, er hörte kaum das Kind weinen, das erwacht war und mit den Ärmchen in die leere Luft tastete, er war ganz Wille und Energie, als er erwiderte:

»Ich habe dich gesucht, und ich habe dich gefunden. Es gab keinen andern Ort, wo ich dich hätte suchen und finden mögen. Das danke ich dir. Aber wenn ich auch alles begreife, selbst dieses Flüchten mit dem Würmchen, das ich heut zum ersten Mal höre und noch nicht einmal recht gesehen habe, so laß ich mir doch mein Recht nicht nehmen. Glaubst du, es genüge, daß ein Krieg ausbricht, um zwei Menschen auseinander zu reißen? Und wenn ich tausendmal auf dieser Seite stehe und deine Brüder 215 drüben und Marc den schönsten Soldatentod gefunden hat und dein Vater, den ich immer als einen prächtigen Menschen verehrt habe, an all dem vor der Zeit gestorben ist – glaubst du, das genüge? Tausende hat's getroffen, Claudine, hüben und drüben, was sag ich, hunderttausende, aber es ist kein Sinn darin, daß uns das auseinander bringen soll! Du sagst, du hast mich nie geliebt. So lern mich lieben! Du hast dich mir freiwillig, mit einem Lächeln, mit einer schönen, gelassenen Selbstverständlichkeit zu eigen gegeben und nimmst jetzt das alles, dich selbst zurück? Hast ein Kind geboren und leugnest alles? Gut, so sei's, so schlag die Türe zu, die in diese Vergangenheit führt, bild dir ein, die Vergangenheit selbst damit zu erschlagen, ich kann dich nicht zwingen, anders zu fühlen, als du fühlst! Aber ich laß mir das Recht nicht nehmen, dich meine Frau zu heißen. Du bist's, du bleibst's. Ich gebe dich nicht frei!«

Als er schwieg, hörte man das Kind deutlich und kläglich weinen.

Claudine war bis in die Lippen erblaßt. Sie ging hinaus, und er sah, wie sie das Kind mit anmutigen Bewegungen, aber starr blickenden Gesichts aus den Kissen hob und zu ihm zurückkehrte.

Es schwieg, lag mit großen offenen Augen, in denen das Licht wie blaues Wasser stand.

Er wagte nicht heranzutreten. In einer dumpfen Schwere schlug sein Herz, daß er die Erschütterung in allen Adern spürte.

Claudine blickte ihn an.

»Du gibst mich nicht frei? Pochst auf dein Recht? Das Recht des ehemaligen Besitzers, der besaß, was sich noch nicht selbst gefunden hatte? Ist das ein Recht, Konrad? Versuch es, mich mit Gewalt zu halten! Du rechnest darauf, daß wir Illzach den Skandal fürchten, rechnest auch auf deine untadelhafte Haltung, die uns keine Waffe gibt gegen dich. Rechnest auch auf das Kind hier, das ich nie hergeben werde. Hörst du, nie! Denn es ist 216 mein Kind, ganz allein mein Kind, das bei mir, in mir war, als ich all das Furchtbare erlebt habe und alles in mir habe erwachen und fühlen und aufschreien hören! Ich habe geweint darüber, daß ich es gebären mußte, gezittert, ich könnte einem Sohn das Leben geben, geweint vor Freude, vor Freude geweint, daß es nur ein Mädchen war. Nur ein Mädchen, das zum Leiden da ist, nicht zum Töten! Du kannst auf dein Recht pochen, mich unter dein Dach zurückführen. Hier stehe ich. Ich bin bereit. Du brauchst nur zu sagen: komm! Aber du wirst die Claudine von früher damit nicht mehr lebendig machen. Ich folge dir in dein Haus, folge, weil ich muß, nein, weil ich will, weil ich dir zeigen will, wie weit wir von einander getrennt sind, ob wir auch vor der Welt verheiratet bleiben. Du hast die Gewalt für dich, das Recht des Stärkern, das hast du, aber meine Liebe hast du nicht!«

Sie stand hoch und stolz vor ihm. Das weißgekleidete Kind lag mit rosigen, runden Bäcklein und dicken Fäustchen, die lichtgefüllten Augen ernst zu dem Mund aufgeschlagen, der so schwere Worte sprach, an ihrer tiefatmenden Brust. Übergossen vom Glanz des Himmels und des breiten Wasserspiegels, der in den hohen Fenstern schwamm, schien Claudinens Gestalt in ihren schwarzen Gewändern zu wachsen. Ihre Stimme war ernst und feierlich geworden.

Konrad blickte von dem Kinde zu ihr und entgegnete, indem er in ihren Ton einfiel:

»Ich hab das Recht des Stärkern, sagst du, aber ich hab's von dir. Das vergiß nicht, Claudine. Und wie ich das Recht habe, so habe ich auch die Pflicht. Das Kind ist dein, weil du es von mir hast. Ich will kein anderes Recht daran haben. Du sagst, ich rechnete auf dieses und jenes, um dich zurückzuholen. Du irrst dich. Ich will nur wiederhaben, was ich vielleicht nicht fest genug gehalten habe, aber jetzt nie mehr aufgeben werde. Und deine Liebe? Claudine, wir haben das Wort zu leicht 217 genommen, und du hast vielleicht doch recht gehabt, als du gesagt hast, du hast mich nie geliebt. Und ungeliebt sollst du mich nicht ertragen müssen. Wir wollen versuchen, uns damit abzufinden. Erst an dem Tage, wo du mich liebst, bist du wieder mein!«

Er ließ ihr keine Zeit mehr zu antworten, trat rasch auf sie zu, bückte sich, küßte das Kind, daß es erschreckt zu weinen anfing, streifte dabei Claudinens zuckende Hand mit dem Barthaar und ging.

Nach einer Weile schlug unten das Tor.

Claudine war mit ihrem Kind wieder allein.

Da preßte sie es an sich und drückte die spröden, geschlossenen Lippen auf seine geäderte, klopfende Schläfe.

Nie würde er sie wiedergewinnen, nie! 218

 


 


 << zurück weiter >>