Hermann Stegemann
Die Krafft von Illzach
Hermann Stegemann

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Als Konrad von Eggheim die Mitteilung seiner Frau vom Tode des Vaters erhielt, war Straßburg gefallen. Eine Zeitlang überlegte Konrad, ob er Urlaub erbitten sollte, um nach St. Niklausen zu eilen. Ein Gefühl der Rücksicht gegenüber den Verwandten hielt ihn ab, ein stärkeres zog ihn hin. Er entschied sich zu gehen. Zwar bewegte er sich wieder frei, aber der Arm hing noch befestigt in einem Schutzverband und gestattete ihm nicht, zu Pferde zu steigen. Da Schlettstadt noch stand hielt, nahm er den Weg im Wagen über die Rheindörfer und erreichte so über Kolmar St. Niklausen.

Eine weiße Sonne kündete Regen.

Fliegende Kolonnen waren bis Mülhausen vorgeschoben worden und hatten das obere Elsaß vom Feinde geräumt gefunden. Nur hie und da knatterten noch ein paar Flinten. In Wittelsheim stand ein Ulanenpikett.

Konrad hatte seine Ordonnanz in Livree gesteckt. Er selbst trug die Uniform, den schweren Säbel doppelt eingehakt, da er den linken Arm nicht gebrauchen konnte. Der Krümperwagen stieß auf der zerweichten Straße so heftig, daß Konrad beschloß, die letzte Viertelstunde zu Fuß zu gehen. Es war schwül, und die hohen Stiefel hingen sich schwer an seine Füße. Aus den Rebbergen, in denen der Blattfall goldgelbe Teppiche häufte, wuchs das weiße Herrenhaus wie ein gewaltiges Mausoleum auf. Konrad stieg den Richtweg hinan, der durch die Reben zum Nebeneingang des Parkes führte, während der Wagen auf der Straße weiterfuhr. Er wollte nicht 116 unangemeldet kommen und ging daher langsam, um Franz Zeit zu lassen, seine Ankunft zu melden.

Große Bütten standen schon zwischen den Reben und warteten auf die Lese, aber es war totenstill, die Berge lagen in der weißen strahlenlosen Sonne wie erstarrt. Drüben der Schwarzwald war von einer stumpfen, harten Schwärze unter dem opalisierenden Himmel. In langzitternden, dumpfen Schlägen rollte die Beschießung von Schlettstadt ihren Widerhall über das erschauernde Land.

Der Eingang zum Tor war offen.

Konrad ging mit raschen Schritten hindurch. Er hatte keine Zeit, Erinnerungen nachzuhängen, er ging aufs Ziel und sparte alle Reflexionen. Nur ein Gedanke war ihm einen Augenblick scharf ins Bewußtsein gefallen: Jetzt seh ich meine Frau. Alles andere war Nebensache, Umstand, Zufall und Geschick. Er kam, um Klaus Krafft zu begraben, ja, aber er wollte seine Frau wiedersehen und sie aus allen Wirbeln heraus an sich ziehen, ehe er wieder ging. Dazu war er gekommen.

In der Vorhalle empfing ihn der alte Jérôme mit scheuer Zurückhaltung.

Konrad ließ sich von Franz den Säbel aus den Haken lösen, aber es widerstrebte ihm, die Waffe beiseitezustellen, ehe er den Damen seine Aufwartung gemacht hatte. Er biß vor Schmerz die Zähne zusammen, als er die Finger der linken Hand um den Korb schloß und, den Helm in der Rechten, die Treppe hinaufstieg. In diesem Augenblick hatte er das Gefühl, als wären Jahre vergangen, seit er zum letzten Male hier gewesen war.

Der Diener öffnete ihm den kleinen Salon, und Konrad wartete nun wie ein Fremder, daß man ihn begrüße.

Auf einmal blickte er scharf nach der verhängten Türe, die ins Wohnzimmer führte.

»Claudine!«

Sie hatte schon eine Weile dort gestanden. Tante Madeleine, die nicht wußte, wie sie ihm entgegentreten sollte, hatte sie hergeschickt.

117 Das Licht fiel so abgetönt auf ihr Gesicht, daß er nur die weiße Fläche ihrer Wangen gewahr wurde. Sie hielt noch die Vorhänge mit beiden Händen, als müßte sie sie schützend um sich ziehen. Und noch einmal, diesmal nicht im Tone der Überraschung, sondern mit leiser, verhaltener Zärtlichkeit:

»Claudine!«

Sie zitterte ein wenig wie von einem Nervenfrost befallen, aber sie regte sich nicht. Sie hatte ihn schon eine Zeitlang betrachtet: war das Konrad? das fremdgewordene bärtige Gesicht, die straffe, durch die gepreßte Armhaltung steif erscheinende Figur: vor dem hellern Hintergrund der verhängten Fenster nichts weiter sichtbar als Umrisse, der kreidige Fleck des Bandeliers, gelbblitzendes Metall und die weiße, vom Helmdach vor Wetter und Wind behütete Stirn?

Jetzt hatte er sich zusammengerissen. Er ging auf sie zu und ergriff die Hand, die sich halb wie zur Abwehr ihm entgegenstreckte.

Einen Augenblick standen sie und blickten sich forschend an, beide mit dem fiebernden Verlangen, in ihren Zügen zu lesen, jedes erschreckt über die Blässe des andern. Dann bückte sich der Mann und preßte die Lippen wortlos auf die zartgeäderte, langsam erwarmende Hand.

Claudine wäre ihm gern über das kurze braune Haar gefahren, aber sie stand wie gelähmt. Jetzt sah sie auch den schwarz eingebundenen, fest an die Brust gehefteten Arm.

Er richtete sich auf und zog sie mit sanftem Zwang von der Schwelle ins Zimmer.

»Wie es scheint, hast du mich nicht erwartet,« sagte er, um endlich dieses geheimnisvolle Schweigen zu brechen, in dem doch so viele unruhige Fragen lauerten. Ein ernstes Lächeln ging dabei über sein Gesicht, und Claudine fand, daß er seinem Vater, dem Professor Eckbrecht von Eggheim in diesem Augenblick ähnlicher sah als je. Trotz der Uniform. Auf einmal wußte sie auch warum: der Bart 118 und der Zug der Reife – dieses merkwürdige Gealtertsein, das doch nur kraftvollere Männlichkeit war, das hatte ihr die Ähnlichkeit mit dem Vater vorgetäuscht, den sie nur noch aus den Familienbildnissen kannte.

Aber er wartete auf eine Antwort.

Da raffte sie sich zusammen, und mit dem Willen kehrte ihr auch die Stärke wieder.

»Ich habe wohl gewußt, daß du diesmal kommen würdest,« antwortete sie.

Sie setzten sich auf das Sofa. Der plumpe Säbel fuhr klirrend zwischen ihnen nieder. Konrad merkte, daß sie dadurch erschreckt und in die ganze ungeheure Verwirrung zurückgestürzt wurde, über die sie sich im Augenblicke dieses Wiedersehens emporgehoben hatte.

Den Konflikt nicht weglügen, rief es in ihm, und er sagte, indem er mit der freien Hand ihre beiden Hände umschloß:

»Ja, Claudine, ich will Papa die Ehre erweisen und die Anhänglichkeit bezeugen, die er so sehr verdient. Ich will aber auch den Platz nicht leer lassen, den ich hier einnehme, und noch eins – ich wollte dich wiedersehen, Claudine!«

»Dein Arm,« war alles, was sie antwortete, indem sie ihre Hände befreite und mit zaghaften Fingern in vorsichtiger Berührung den Verband entlangtastete.

Dicht aneinandergelehnt verharrten sie in einem seltsamen Schweigen. Eine Scheu, die ihnen ganz neu war, hielt sie ab, sich zu küssen und von ihrer Ehe und ihrem Zusammenleben zu sprechen. In Briefen waren sie beredt gewesen, aber nun, da sie sich wiedersahen, blieb ihr Mund verschlossen, so viele Fragen und Dinge beiden, und vor allem Claudinen, auch auf dem Herzen lasteten.

Endlich fragte Konrad nach den letzten Tagen Klaus Kraffts.

Sie erzählte kurz und stockend.

»Wann warst du in Kolmar?« unterbrach er sie. »Ja, dann bist du ja mitten durch das Gefecht gefahren! 119 Dann warst du's, du warst es, von der Gemmingen fabelte!«

Seine Stimme klang heftig erregt, und jählings schlug er den Arm um sie und suchte ihren Mund mit bebenden Lippen. Aber plötzlich murmelte er: »Verzeih,« und lockerte die Umschlingung, ohne ihre Wange gestreift zu haben. Er hatte einen geheimen, instinktiven Widerstand in ihr gespürt und sich sofort wieder gefaßt.

Nun saßen sie wieder in schwerem, drückendem Schweigen, unfähig das Gespräch fortzuführen, und doch nicht imstande es zu beenden.

Wie schlaftrunken fuhren sie auf, als Madeleine Kiener hereintrat, um die so lang hinausgeschobene Begrüßung wie eine feierliche Staatshandlung vorzunehmen.

Es war ein kurzer, frostiger Empfang. Von beiden Seiten fielen die Worte kalt und höflich. Claudine stand mit starrem, blassem Antlitz dabei. Als Konrad mit der Rechten den Säbel aufnahm und ihn der linken Hand wie einer fremden Maschine in die Finger drückte, damit er die rechte freibehielt, um den Helm zu ergreifen, machte sie eine unwillkürliche Bewegung zu ihm hin. Aber der Eintritt Jacques Kieners bannte sie fest.

»Komm, Claudine, lassen wir die Herren,« sagte Madeleine, die heute von angelernter, ihrem raschen Wesen sonst so fremder Zurückhaltung war, und legte den Arm um die Hüften der jungen Frau.

Claudine zögerte. Aber ihr Mann verbeugte sich auf dem Fleck, wo er stand, vor den beiden Frauen, ohne ihr zu Hilfe zu kommen.

Da biß sie die Zähne aufeinander und ging.

Kiener wartete, bis die Tür hinter den Vorhängen geschlossen wurde.

Dann begann er:

»Wir haben Sie nicht erwartet, Herr von Eggheim, aber ich respektiere Ihre Anwesenheit. Wann gedenken Sie wieder abzureisen?«

Eggheim stieg das Blut zu Kopf. Er blickte den 120 Fabrikanten fest an. Ihre Augen wurzelten mit unverhohlener Gegnerschaft ineinander.

»Da Sie mich nach der Abreise fragen, nehme ich an, daß Sie das Recht des Hausherrn in St. Niklausen inne haben, Herr Kiener, und wenn es auch sonst nicht Sitte ist, die Gäste zu fragen, wann sie gehen, so will ich Ihnen doch antworten: Ich reise ab, sobald ich meinem Schwiegervater die letzte Ehre erwiesen habe und sobald meine Frau reisefähig ist. Mein Urlaub läuft übermorgen ab.«

»Claudine reisefähig? Sie wollen Claudine mitnehmen? Sie vergessen, daß Claudine von Illzach hier zu Hause ist und daß wir Franzosen nicht über den Willen einer Frau disponieren; Claudine ist ihre eigene Herrin!«

»Claudine von Illzach ist meine Frau! Und Frau von Eggheim wird ihren Mann nicht allein aus dem Hause gehen lassen, wenn sie hört, daß man ihn gefragt hat, wann er gehen wird, ehe er noch einen Bissen Brot darin genossen hat.«

Kiener schwieg einen Augenblick.

Eggheim war schon an der Türe, als er ihm nachging und ihn nochmals anredete:

»Wir müssen ins klare kommen, ehe Sie sich an unsern Tisch setzen, Herr von Eggheim. Und Sie wissen ganz gut, daß Ihr Stuhl und Ihr Gedeck bereit stehen. Aber ich kann Ihnen nicht verhehlen, daß die Anwesenheit eines preußischen, eines deutschen Offiziers in diesem Hause und in dieser Stunde uns das Bitterste ist von der Welt. Auch Klaus Krafft ist an diesem Krieg gestorben. Der Tod Marcs unter preußischen Kugeln, das Unglück Frankreichs, das Ende des Kaiserreichs, das alles hat ihn dreimal getötet. Und glauben Sie nicht auch, daß noch ein Viertes dabei war, der Gedanke an Claudine, an ihre Heirat mit einem Deutschen? Und nun stehen Sie hier, Herr von Eggheim, und Ihr Hiersein ist nur möglich, weil Straßburg gefallen und unser Land von Ihren Truppen besetzt ist. Behalten, sogar behalten, annektieren wollen Sie dieses Land! Ihr Herr von 121 Bismarck hat es unserm Delegierten vor den Kopf gesagt. Wir Elsässer sollen uns auf die andere Seite kehren, wir sollen wie tote Ware, wie meisterloses Gut unter eine kräftige Faust fallen, die das Recht des Stärkeren übt – Herr von Eggheim, ich an Ihrer Stelle wäre nicht gekommen!«

Der sonst so Ruhige, Gemessene, klar Überlegende war in Brand und Glut geraten. Im langsam sich verdunkelnden Zimmer hatte seine Stimme einen trotzigen, leidenschaftlichen Klang.

Mit hartem Schritt wandte Konrad von Eggheim sich um und antwortete, jedes Wort voll und schwer ausmünzend:

»Und wenn ich noch den geringsten Zweifel gehabt hätte, ob ich kommen durfte, kommen mußte, so ist er jetzt gehoben. Ich begreife, ja, ich ehre den Schmerz und alle Gewissensskrupel, die Sie da hinausgeschrieen haben, aber Claudine ist meine Frau, war meine Frau, ehe der Krieg ausgebrochen ist und wird meine Frau, vielleicht auch meine Witwe sein, wenn er zu Ende ist. Nun wohl – ob so oder anders: Claudine kann nicht mehr hier bleiben, ohne in fürchterliche Kämpfe gestürzt zu werden. Es ist Zeit, daß ich sie hole.«

Er hatte ruhig gesprochen, aber innerlich war er voller Unruhe.

Und wie wenn Kiener ihn erraten hätte, entgegnete der, nun auch wieder kalt und gemessen:

»Es ist nur die Frage, ob Claudine will. Und ich zweifle, daß Sie versuchen werden, Gewalt zu üben.«

Im ersten Augenblick wollte Konrad auffahren, dann bezwang er sich und entgegnete kurz:

»Darüber diskutieren wir nicht, denn das hieße, meine Frau beleidigen.«

Jacques Kiener erwiderte artig:

»Claudine findet hier keine Beleidiger.«

»Damit ist unser Gespräch wohl zu Ende, Herr Kiener.«

122 Eggheim wandte sich wieder zum Ausgang.

»Es ist zu Ende, das Haus steht zu Ihrer Verfügung, Herr von Eggheim.«

Als Konrad die Tür öffnete, stand Kiener noch in seiner kalten Artigkeit, das Gesicht von trotziger Aufrichtigkeit leuchtend, mitten im Zimmer.

Eggheim stieg langsam die Treppe hinauf. Jérôme wies ihn mit den leichten Andeutungen des geschulten Dieners zurecht. Es war totenstill. Dämmerung schlich aus den Winkeln, ein Duft von Weihrauch und welkenden Blumen strich durch die Gänge.

Im Gastzimmer, das ihn schon so oft beherbergt hatte, wenn er als Verlobter und später allein als Jagdgast nach St. Niklausen gekommen war, ließ Konrad sich müde in den Sessel gleiten. Franz zog ihm die hohen Stiefel aus und half ihm den Arm aus der Binde lösen. Der Rock war auf der Schulter aufgeschnitten und nur mit Haken geschlossen.

Als Konrad sich vorsichtig herausschälte, war ihm gar nicht, als wohnte er mit seiner Frau unter einem Dach. Er entbehrte ihre Hilfe, ihre Gegenwart nicht einmal in diesem Augenblick, so sehr war er schon an dieses Biwakleben gewöhnt, und so heftig war er von den Konflikten ergriffen, die er jetzt erst über sich hereinbrechen fühlte. Er fragte Franz noch, wann die Leichenfeier stattfinde, erfuhr, daß sie auf morgen früh neun Uhr angesetzt sei, hörte, daß Jérôme den Tee zurechtstellte und auf acht Uhr zum Abendtisch bat, und blieb dann allein.

Baumwipfel standen buntbelaubt, von Schatten durchdunkelt, vor dem Fenster, an dem er saß. Eine Kante des Gebirgs ragte darüber hinweg in den verblassenden Himmel.

So saß er eine Stunde zwischen Schlaf und Wachen, von tausend verworrenen Gedanken heimgesucht. Aber immer hielt er sich eins fest und unverrückbar vor Augen: Claudine ist meine Frau, und ich hol sie heim!

Es war Zeit zu Tisch zu gehen. Er ließ sich ankleiden.

123 Franz berichtete, daß das Dorf fast ganz ausgestorben sei. Die Mobilgardisten waren nach Belfort abgerückt, die Franktireurs vor den Truppen auseinandergespritzt, und nun hatten sich die Dörfer in unbegründeter Panik entleert. In St. Niklausen lag ein Halbzug vom badischen vierten Infanterieregiment. Der Vizefeldwebel, der ihn führte, trat zur Meldung an. Eggheim winkte ab und ließ sagen, daß er selbst ins Dorf kommen werde.

Im Überrocke, den Arm so leicht in die Binde gelegt, als das Zusammenwachsen der Narbe auf den Schulterknochen es irgend zuließ, stieg er die Treppe hinab.

»Wenn Herr von Eggheim wünschen –« empfing ihn Jérôme im Erdgeschoß und deutete auf die Flügeltür, hinter der Konrad den Sarg des Schloßherrn vermutete.

Er hatte sich nicht getäuscht. Der Duft des Weihrauchs und das glänzende Spiel der Wachskerzen schlug ihm entgegen, als sich die Flügel öffneten. Der geschlossene Sarg stand auf silbernen Füßen, mit einem schmalen, goldbestickten Bahrtuch bedeckt, mitten im Zimmer. Zweimaster und Degen und die blutrote Krawatte der Ehrenlegion lagen darauf.

Zwei alte Mannen mit verwetterten Gesichtern, in der Tracht der Illzachschen Förster, hielten die Totenwache.

Konrad kannte beide, aber sie schienen ihn nicht zu kennen; sie standen stockgerade, die Augen, die sich ans Flackern der Kerzen schon gewöhnt hatten, geradeaus ins Leere gerichtet, und blickten ihn nicht an.

Wieder erfaßte ihn das Gefühl des Fremdseins in diesem Hause und in diesen Bräuchen, aber er hielt sich straff, trat an den Sarg, schlug die rechte Hand über die Finger der Linken und betete.

An der Türe fragte er den weißköpfigen Jérôme:

»Wird die Bestattung öffentlich sein?«

»Die Familie wird allein sein, Herr von Eggheim,« antwortete der Diener leise.

Konrad dankte und ging in das Vorzimmer hinüber.

Kiener kam ihm entgegen, und sie wechselten ein paar 124 höfliche Worte, ohne einen brennenden Gegenstand zu berühren. Dann kam Pfarrer Dill; und sofort hatte Konrad das deutliche Gefühl, daß der Pfarrer zu Tisch geladen war, um die Traulichkeit des Familienkreises zu unterbrechen. Eine Falte erschien zwischen seinen Brauen und setzte sich dort fest, aber er ließ sich nicht aus seiner Ruhe schrecken.

Kurz darauf traten die Damen ein. Die Trauerkleider hoben die Blässe ihrer Züge, aber während Madeleine Kieners Lippen zuckten, war das Antlitz der Baronin von Illzach von der ruhigen Glätte der Perlmutter, und Konrad sah bei der Begrüßung den feinen goldblonden Flaum an der Rundung ihrer Wangen im Kerzenlicht flimmern. Sie reichte ihm schweigend, mit einem leeren Lächeln, die Hand zum Kusse.

Danach bot Konrad von Eggheim seiner Frau den Arm und trat mit ihr zur Seite. Die andern taten, als achteten sie nicht darauf, und unterhielten ein gedämpftes Gespräch.

Claudine war ihrem Manne ohne Zögern gefolgt. Er führte sie zu einem Sessel am andern Ende des Zimmers.

Als sie saß, beugte er sich zu ihr nieder. Und nun sagte er leise:

»Du hast mir noch gar nicht gesagt, wie es dir geht, Claudine.«

Sie antwortete nicht.

»Willst du mir nicht sagen, wie es dir geht? Wie du es trägst?«

Es war die erste Anspielung. Sie ließ sie erröten. So sehr hatte auch sie sich auf sich selbst zurückgezogen in diesen Monaten des Entferntseins von ihrem Manne. Da sie an ihn schrieb, war er viel näher gewesen als jetzt. Fast war es das Gefühl einer unzarten Berührung, was sie bei seinen Worten empfand.

Konrad grub die Zähne in die Lippe. Es war ihm, als wäre etwas ins Wanken gekommen, als müßte er sich stemmen, um nicht selbst das Gleichgewicht zu verlieren.

125 Die Türen gingen auf. Das Essen war angerichtet.

Konrad bot seiner Frau wiederum den Arm. Sie saßen zu sechs um den Tisch. Es war ein einsilbiges Mahl.

Unmittelbar darauf zogen sich die Damen zurück.

Solange der Sarg über der Erde stand, konnte Konrad keine Aussprache mit Claudine herbeiführen. Er ließ sich Mütze und Säbel geben und ging ins Dorf.

Die Musketiere hatten sich mit den Bauern angefreundet, und die Angst vor den ›Barbaren‹ war längst gewichen. An der Mairie, an der Kirche und an den beiden Enden der Dorfstraße, an der die Häuser wie an der Schnur gereiht lagen, waren Posten aufgestellt, denn noch strichen Franktireurs von den Bergen. Konrad wechselte ein paar Worte mit dem Zugführer und kehrte dann wieder um.

Als er die Allee zum Herrenhaus hinaufging, fiel aus den Rebgärten ein Schuß. Der schwere platzende Knall einer Tabatièreflinte. Die Kugel fegte dicht über dem Offizier durchs gelichtete Geäst. Er blieb stehen, tastete unwillkürlich nach dem Revolver und faßte, als er das Futteral nicht vorfand, nach dem Säbel.

Schon war im Dorf alles auf den Füßen, und schwere Schritte kamen marsch-marsch durch das silbergraue Dunkel der Herbstnacht.

Im Herrenhaus bewegten sich aufflackernde Lichter.

Rauschen im Laubfall, Knacken von Rebstöcken und wilde Flucht in die Finsternis verrieten, daß ein einzelner im Anschlag gelegen hatte und nun das Weite suchte.

Konrad schickte die Patrouille zurück und ging weiter. Es waren nur noch hundert Schritte bis zum Tor, und dort erschien Franz mit der Laterne.

»Sind Sie's, Herr Leutnant?« schrie er seinem Herrn ganz unmilitärisch zu und trug ihm den vergessenen Revolver entgegen.

»Ruhig, Kerl, fuchtel nicht so mit der Knarre, ich bin's,« entgegnete Konrad mit gemachter Grobheit. 126 Seine Stimme klang voll über den Hof und an den Fenstern hinauf.

Da stürzte hinter der Scheibe, wo er Claudine wußte, ein Kerzenhalter samt Licht und Stock, wie eine Sternschnuppe zur Erde und erlosch.

Claudine!

Nun erst kam Konrad das Bewußtsein, einer Gefahr entronnen zu sein.

Er mußte seine Frau heute noch sehen! Die fehlgegangene Kugel hatte ihn eines Bessern belehrt.

Kiener trat ihm hastig entgegen:

»Sie hätten sich diesem Schuß nicht aussetzen sollen, Herr von Eggheim. Sie sind ja nicht im Dienst hier, und es darf nicht geschehen, daß der Schwiegersohn des Freiherrn von Illzach auf Illzachschem Grund und Boden von einem Franktireur erschossen wird.«

Konrad lächelte.

»Sie vergessen, daß ich Offizier bin. Auch wenn ich nicht gerade Dienst tue. Ich kann den Kugeln nicht aus dem Wege gehen.«

»Ich wollte Sie warnen, es ist meine Pflicht,« entgegnete Kiener kalt und zog sich zurück.

Und dann ließ Eggheim fragen, ob Claudine ihn noch einmal empfange.

Als er eintrat, erhob sie sich von der Stickerei, an der sie zum Schein gestichelt hatte. Er stand in ihrem Boudoir. Durch die Nebentür konnte er in das Schlafzimmer sehen, das sie während ihrer gemeinsamen Besuche auf St. Niklausen stets zusammen bewohnt hatten. Die Kerzen auf dem Kaminsims verdoppelten ihr Licht im Kristall des Spiegels und warfen einen weißen, von scharfen Schlagschatten begleiteten Schein in die Stube und auf Claudinens Züge. Er sah, wie sehr sie sich verändert hatte.

»Verzeih, daß ich dich noch einmal störe, aber ich wollte dir selbst sagen, daß der Knall nichts zu bedeuten hatte.«

127 Er sprach es ruhig, warm und dennoch mir fühlbarer Zurückhaltung.

»Ja, man hat auf dich geschossen,« antwortete sie leise und blickte an ihm vorbei ins Leere.

Er ergriff ihre Hand.

»Du hast dich geängstigt, aber du siehst, daß der Schuß mir nichts tat.«

Rasch flog ihr Blick über ihn hin. Sie nickte. Sie war verstört. Ihre stolze Klarheit in Nichts zerstoben, ihr ganzes Empfinden durcheinander gerüttelt. Sie wußte nicht mehr, in welchem Verhältnis sie eigentlich zu dem Mann stand, für den sie eben in ausbrechender Angst gezittert hatte. Das Gefühl, eins zu sein mit ihm, war in eine unbegreifliche Verwirrung geraten. Fast hätte sie ihre Hand wie von einer unerlaubten Zärtlichkeit zurückgezogen, als er sie mit warmem Druck erfaßte.

»Hast du dich wirklich geängstigt?« fragte er jetzt.

Sie schwieg.

»Wenn ich's nicht gesehen hätte, die Flecken da nicht sähe« – er wies auf die Kerzenreste, die sie beim Fallenlassen des Leuchters auf den Teppich gestreut hatte – »so würde ich jetzt beinahe daran zweifeln,« fuhr er fort, und seine Stimme behielt den weichen, ruhigen Klang.

Doch als er ihr immer noch kein Zeichen der Teilnahme entlocken konnte, zog er plötzlich ihren Arm an sich, daß er ihre Finger mit beiden Händen fassen und festhalten konnte, und seine Rede bekam einen herrischen Ton.

»Claudine, hör mich an! Ich fürchte, daß wir einen schweren Fehler begangen haben. Ich hätte dich nicht hier lassen sollen, als der Krieg ausbrach. Aber ich konnte dich nicht mehr holen, denn ich war nicht mehr mein eigener Herr, sondern Soldat, und vielleicht wärst du auf einen Ruf nicht gekommen. Es war aber noch ein anderer Fehler in der Rechnung, und den habe ich selbst hineingebracht. Ich glaubte, du wärst nirgends besser aufgehoben, nirgends mehr zu Hause als hier. Das war ein Irrtum.«

128 »Ich bin hier zu Hause,« fiel sie ihm in die Rede, und weggewischt war der zerfahrene Ausdruck ihres Gesichtes, ihre Augen blickten ihn klar und fest, fast trotzig, ja feindselig an.

Er ließ ihre Hand los und reckte sich in den Schultern. Die Falte zwischen seinen Brauen vertiefte sich.

»Du glaubst es zu sein,« entgegnete er, »aber wir haben die Veränderungen der Verhältnisse und Gefühle unterschätzt, die der Krieg und besonders ein für Deutschland siegreicher Krieg mit sich bringen mußte. Ich getraue mir damit fertig zu werden, und eins ist gewiß, Claudine: Ich werde um dich kämpfen wie Deutschland um dieses Land kämpfen wird! Aber ich darf dich nicht hier lassen, in dieser Umgebung, wo du nicht zu dir selbst kommst, wo Erinnerungen und Gefühle auf dich einstürmen, die dich nicht zur Ruhe kommen lassen.«

»Du willst mich von St. Niklausen wegholen? Aus meinem Elternhaus? Jetzt, da ich keine andere Heimat mehr habe, als dieses Haus hier mit seinen Erinnerungen? Und das sagst du mir, während dort drüben Papas Sarg noch in der Kapelle steht!«

Hochaufgerichtet, den Leib im lose gegürteten Kleid verbergend, die Zeichen der Mutterschaft im farblosen Gesicht, in dem die Augen feucht und dunkel blickten, die Flügel der gebogenen Nase leidenschaftlich bebten und selbst die Lippen erblaßt waren, so blickte Claudine von Eggheim ihren Mann unverwandt an. Eine heftige Abneigung schlug plötzlich in ihr empor und verzehrte alle weichern Gefühle.

Eggheim war erblaßt. Unter der Narbe klopfte schmerzhaft das Blut, so stark ging sein Herzstoß. Doch er hielt sich mit Gewalt in Zucht.

»Ja, Claudine, gerade weil Papa nur noch als Abgeschiedener unter uns weilt, sage ich dir das. Muß ich dir das sagen. Du hast hier keine Heimat mehr, kannst, darfst keine mehr haben, so lange ich dich darum verlieren könnte!«

129 »Hier ist meine Heimat, hier bin ich zu Hause,« erwiderte sie heftig, und eine Handbewegung umfing das Gemach, das Haus, den Park und alles ringsumher. Und Claudine von Illzach, über die in der Nacht, da ihr Vater gestorben war, mit einem schneidenden Weh die Erkenntnis gekommen war, daß sie hier nicht mehr zu Hause sei, dieselbe Claudine verleugnete jetzt dieses Gefühl, wollte es nicht wahr haben, klammerte sich an den Sarg, an das Haus, an alles um sie her und in ihr, was zu dieser Vergangenheit gehörte, und trat ihrem Manne fremd und feindlich gegenüber.

Da tat Konrad etwas Ungeschicktes. Er wollte sie nicht verlieren, und er tat es doch, als er begann:

»Ich könnte dich an deine Pflicht erinnern, du bist meine Frau, Claudine, und –«

Weiter gelangte er nicht.

»Pflicht! Welch ein Wort, Herr von Eggheim! Man nimmt es nicht vor einer Frau in den Mund, die –«

Sie brach ab, aber wie sie dastand in ihrer Erregung, von einem roten Schein übergossen, der plötzlich ihr ganzes Antlitz verklärte, da vollendete ihre Erscheinung den Satz deutlicher und ergreifender, als Worte gekonnt hätten.

Sie hatten sich mißverstanden. Deutsches und französisches Empfinden war aufeinandergestoßen.

Drückendes Schweigen füllte das Gemach.

Konrad faßte sich zuerst. Er war einen Schatten blasser, als er mit belegter, klangloser Stimme fortfuhr:

»Verzeih, Claudine, es war anders gemeint. Ich hätte dich vielleicht besser an deine Liebe erinnern sollen.«

»Ja, vielleicht,« murmelte sie und wandte sich ab.

Wiederum entstand eine schwere Stockung in ihrem Gespräch, das Kerzenspiel warf unruhige Schatten an die Wand.

Endlich raffte Konrad sich zusammen.

»Ich will dich nicht mehr länger quälen, Claudine. Obgleich es gewiß nicht ein Quälen sein sollte, sondern 130 nur ein Ins-klare-kommen. Aber laß mich noch eins sagen: Kehre übermorgen mit mir nach Baden zurück. Tante Josepha wird dich in Heitersheim mit offenen Armen empfangen, und du wirst dich ganz zu dir selber zurückfinden und – zu mir.«

Er war ihr nicht näher getreten. Von seinem Platz aus sprach er. Ohne Emphase, nicht sonderlich weich, nur mit verhaltener, fast zu tief zurückgedrängter Wärme. Und da sie schwieg und ihm halb den Rücken zuwandte, so daß er nur das Lichterspiel in ihrem Haar und einen Schein der zarten Nackenlinie wahrnehmen konnte, fuhr er fort:

»Dort wirst du auch von diesem Krieg nichts mehr sehen und hören, es wäre denn, daß Tante Josepha Charpie zupft.«

Das klang beinahe heiter. Daß er selbst dann wieder im Felde stehen würde, hatte er ganz vergessen.

Sie antwortete nicht. Diesmal war er so klug, keine Antwort zu erzwingen.

.,Gute Nacht, Claudine!«

»Gute Nacht,« gab sie leise zurück, aber sie wandte sich immer noch nicht um.

»Willst du mir nicht die Hand geben?« fragte er ruhig.

Er sah, daß ihre Hand zu ihm hinzuckte, aber wieder herabsank, ehe die Bewegung vollendet war.

»Dann erlaub mir, sie –«

Er bückte sich und nahm die widerstandslosen Finger, um sie zu küssen.

Einen Augenblick schienen sie sich um seine Hand zu krampfen, doch es war nur eine unwillkürliche Reflexbewegung; er ließ sie sanft wieder gleiten.

Ohne sich umzuwenden ging er aus dem Zimmer.

Die Augen bissen ihn im Dunkel des Treppenhauses. Jérôme trat mit allen Anzeichen der Bestürzung auf ihn zu und bat ihn, in den Hof zu kommen, ein Unteroffizier mit einem Trupp Soldaten sei soeben einmarschiert.

131 Vor der Einfahrt glitzerten wirklich die Bajonette einer kleinen Streifwache.

Der Unteroffizier meldete, daß er vom Vizefeldwebel entsandt sei, um das Herrenhaus zu besetzen, wenn der Herr Premierleutnant nicht anders befehle.

»Führen Sie Ihre sieben Schwaben nur wieder ins Dorf hinunter und sagen Sie dem Vizefeldwebel, ich riete ihm, seine paar Spieße nicht zu verzetteln. Hier oben passiert nichts.«

Dann begab er sich in sein Zimmer.

Eine Weile stand er noch am offenen Fenster, hörte den Marschschritt der abziehenden Musketiere und sah aus den Rebbergen die feinen elfenbeinernen Dünste aufsteigen, die von einem unsichtbaren Mond beleuchtet, ihre stillen Kreise um das Herrenhaus von St. Niklausen schlangen. Seit langer Zeit zum ersten Mal wieder hatte er das Gefühl der Taubheit in den Ohren, das ihn bei dem Artilleriekampf vor Straßburg befallen hatte. Aber der Krieg lag weit weg, er mußte sich erst darauf besinnen, daß Krieg war. Doch als er sich dessen wieder bewußt wurde, da fuhr der Schwall einer ungeheuren Erhebung durch seine Adern, und er hörte weit in der Ferne, dumpf und getragen, dunkle Soldatenchöre die Hymne singen, für die sie jetzt alle, Nord- und Süddeutsche, zur Walstatt schritten: ›Heil dir im Siegerkranz, Herrscher des Vaterlands, heil Kaiser dir!‹

So lange Konrads Schatten, von dem Kerzenlicht mit dem Fensterausschnitt ins Freie geworfen, unten auf dem Rasenfleck sichtbar war, lehnte Claudine hinter den Vorhängen ihres Schlafzimmers und starrte darauf hin.

In ihrem Schoß bewegte sich das Kind.

Als die Morgennebel wie aufbäumende Fabelwesen aus den Reben stiegen und sich mit seltsamen, weichen Bewegungen und hundert ausgebreiteten Armen der Sonne entgegenschwangen, verließ Konrad von Eggheim leise das Haus und machte einen Spaziergang durch den Park. Im Teich schwamm das welke Laub. Die Nymphe war 132 von Tauperlen übersprüht. Ein rosiger Duft säumte den Horizont. Das Haus schlief noch.

Konrad begab sich ins Bibliothekzimmer. Die schönen alten Einbände wiesen ihm wie absichtlich in der Morgenhelle die goldbedruckten Rückenschilder: Corneille, Racine, Lafontaine, Montesquieu und Larochefoucauld, Lesage, Voltaire und Chateaubriand, Lamartine und Victor Hugo, Vigny und Delavigne, Balzac, Mérimée, Dumas und George Sand, Thiers' Geschichte des Kaiserreichs, die zahllosen Bände der Revue des deux Mondes – alles schien heute dem deutschen Besucher französische Kultur und Bildung predigen zu wollen.

Konrad von Eggheim durchlief die Büchertitel und ertappte sich dabei über den unruhigen Gedanken, die er im Schlafe vergessen zu haben glaubte. Aber er wollte nicht seinen eigenen Gedanken zum Opfer fallen. Er wollte warten und handeln.

Aufs Geratewohl griff er einen Band heraus, der den geheimnisvollen Titel ›Isis‹ trug und blätterte darin. Er hatte von dem Grafen Villiers de l'Isle Adam noch nichts gehört.

»Ah, si vous saviez, comme une parole, en apparence banale contient de puissances terribles et marche vite!« las er auf einer dieser seltsamen Seiten und erschrak. Dann legte er das Buch entschlossen beiseite.

Er liebte Claudine. Aber es war mehr noch als Liebe, es war das unveräußerliche Gefühl der Zusammengehörigkeit, das Verwachsensein zweier Leben, das ihn trieb, seine Frau nicht in diesem Haus zu lassen, wo sie zwischen Sympathien und Antipathien hin und hergezerrt wurde und von hundert Einflüssen umspült, nicht zur Ruhe kommen konnte.

Um zehn Uhr teilte Jacques Kiener Eggheim mit, daß die Beisetzung erst um ein Uhr stattfinden werde. Baron Klaus Krafft habe soeben durch einen Eilboten seine Ankunft angezeigt. Konrad nahm die knappe Mitteilung entgegen ohne Fragen zu stellen. Er wußte aus 133 einem Brief Claudinens, daß ihr ältester Bruder in einer Mission bei der Kaiserin Eugenie gewesen war und jetzt in Brüssel weilte.

Um elf Uhr sah er Claudine selbst. Sie war erschreckend blaß und konnte die Fortschritte ihrer Schwangerschaft nicht mehr verbergen.

Sie gingen auf der sonnigen Terrasse auf und ab, wo die Kinder spielten. Ein seelisches Unbehagen bedrückte sie, von dem sie sich wohl Rechenschaft gaben, das sie aber nicht zu verscheuchen vermochten.

Um halb ein Uhr kam Klaus Krafft von Illzach an. Die Familie war im großen Saale versammelt, um ihn zu empfangen.

Er war jetzt das Haupt des Hauses.

Klaus Krafft, Freiherr von Illzach hatte sich zuerst, nach rascher Begrüßung durch Kiener, umgekleidet. Er war im schwarzen Rock; die Kriegsdenkmünze von Solferino, wo er als blutjunger Offiziersaspirant von St. Cyr mitgefochten, und das Ritterkreuz der Ehrenlegion schmückten seine breite Brust. Leicht vornübergeneigt, wie nach vorn gezogen von der Wucht der mächtigen Schultern, mit schweren Lidern, die seinen Augen etwas Müdes und Gleichgültiges andichteten, kam er die Treppen herab. Er schien älter als er war. Kraftvolle Ruhe und Gelassenheit ließ alle seine Bewegungen wie vorbedacht erscheinen.

Die rosige Hautfarbe des Blonden war von den Anstrengungen der letzten Wochen kaum angegriffen. Die Illzachsche Nase stand mit kräftigem Rücken in dem breitflächigen Gesicht, das nicht die schmale Form der Illzach, sondern den allemannischen Typus der Illzach-Glanzberg hatte. Der kurze rostbraune Henriquatre stach von der gepflegten Haut und dem starken Kinn kräftig ab.

Als er in den Salon trat, erhoben sich die Damen. Er umarmte sie nach französischer Sitte und küßte seiner Tante, die in Schluchzen ausgebrochen war, noch besonders die Hand.

134 Konrad von Eggheim sah seine breiten Lider nicht des leisesten zucken, als er auch ihm die Hand reichte.

Klaus Krafft hatte nur die Sprache gewechselt und begrüßte ihn deutsch mit den Worten:

»Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, lieber Schwager.«

Mit der ruhigsten Höflichkeit waren die Worte gefallen. Mit der eigentümlichen, die Vor- und Endsilben mit betonenden Aussprache, die ihm eigen war.

Kurz darauf erschien Pfarrer Dill im Ornat, und die Feier begann. Man hörte das Glöckchen von St. Niklausen läuten, und wenn es einen Augenblick aussetzte, so hörte man deutlich das dumpfe Murren der Beschießung von Schlettstadt, die heute mit verstärktem Widerhall eingesetzt hatte.

Klaus Krafft führte das Geleite.

So lange der Sarg im Hause war, erschien er mächtig groß, draußen, in der satten, weitflächigen Landschaft, unter den schwellenden, in Gold und Scharlach brennenden Bergen, wurde er zu einem winzigen, von sechs Männern leicht und schwebend getragenen Totenbaum, hinter dem ein kleiner Leichenzug ging. Auf dem Kirchhof standen die St. Niklausener und die von Beblenheim, aus Wittelsheim und Hageneck, so viele zurückgeblieben waren, dicht gereiht und ließen den Zug vorüber.

Konrad fühlte, daß aller Blicke auf ihn, auf seine Uniform, und dann von ihm weggleitend auf seine Frau gerichtet waren. Fester zog er ihren Arm an sich, der leicht und doch wie leblos in seiner Ellbeuge lag.

Als die Beisetzung vorüber war, stiegen die Damen in die Kutsche und fuhren zum Herrenhaus zurück. Die Herren gingen zu Fuß.

Klaus Krafft blieb noch eine Weile bei dem Bürgermeister von St. Niklausen stehen, um mit ihm dringende Fragen zu besprechen.

Kiener und Konrad gingen Seite an Seite, über zwischen ihnen war ein Abstand, der jedes Wort erstarren 135 ließ. Der deutsche Offizier und der französische Deputierte hatten sich nichts mehr zu sagen.

Im Gobelinzimmer trafen Klaus Krafft von Illzach und Konrad von Eggheim nach dem Mittagsmahl, das sich in den Tag hineingezogen hatte, zur Aussprache zusammen.

Teppiche und Wandstickereien dämpften jedes Wort. In den alten Bronzen der Louis-quinze-Möbel saßen dunkle Lichter.

Einige Minuten verstrichen im Schweigen. Beide fühlten und erkannten die Bedeutung des Augenblicks. Sie maßen und wogen ihre Worte im voraus.

Klaus Krafft begann mit einer sachlichen Auseinandersetzung der materiellen Verhältnisse, die nach dem Tode seines Vaters und Bruders eine neue Regelung nötig machten. Er verlor kein Wort über die Tragik der beiden Todesfälle. In seinen Augen, die jetzt voll unter den emporgezogenen Lidern hervorblickten, stand keine Trübe.

Konrad sah sich der klaren, kühlen und unbewegten Miene gegenüber, die das Wesen Klaus Kraffts stets spiegelte und noch besser verbarg.

Er verbeugte sich zustimmend, als Klaus vorschlug, die Erbangelegenheiten bis auf gelegenere Zeit zu verschieben.

Klaus hatte kaltblütig gesagt, mitten in den Kriegswirren Ordnung zu schaffen, wäre schwierig, und zudem wüßte man ja nicht, ob der Krieg selbst nicht noch Veränderungen herbeiführe, die dann eine nochmalige Erbteilung erheischen würden.

Nun fuhr er fort:

»Wie mir Onkel Kiener sagt, werden Sie uns morgen verlassen, Eggheim.«

Konrad blickte ihm in die kühlen grauen Augen.

»Mein Urlaub ist morgen abend zu Ende. Ich bin zum Stab des Generals kommandiert und werde mit ihm ins Feld rücken.«

»Ich freue mich zu hören, daß Sie wieder dienstfähig sind,« antwortete Klaus Krafft.

136 Da nahm Eggheim das Wort, und nun folgte Rede und Gegenrede Schlag auf Schlag. Alles in dem ruhigsten, gehaltensten Tone von der Welt.

»Ich gedenke, Claudine noch vorher nach Heitersheim zu bringen.«

»Ich bitte Sie, Claudine hier zu lassen, wenn ich auch Ihren Wunsch selbstverständlich respektieren würde.«

»Ich begreife diese Bitte, Schwager Klaus, aber es ist für Claudine, für Sie alle und für mich das Beste, sie kehrt in deutsche Verhältnisse zurück.«

»Claudine wird hier ganz ihre eigene Herrin sein. Ihre Gefühle werden durch nichts verletzt werden. Kiener ist ein Ehrenmann. Er hat den Schutz der Frauen übernommen.«

»Gewiß, aber die Verhältnisse sind stärker. Und ich habe noch einen andern Grund: Das zu erwartende Kind.«

»Ganz recht, das Kind, Claudinens Kind. Dieses Kind gibt Claudinen das Recht der Entscheidung.«

»Verzeihung, Klaus, hier entscheidet das Schicksal dieses Kindes selbst. Unsere Ehe ist kein konventioneller Kontrakt, soll keiner sein, sondern ein Zusammenleben und Füreinanderleben zweier Menschen, denen nationale Konflikte aufgebürdet worden sind. Wir werden damit fertig werden. Um des Kindes willen und weil wir uns lieben. Es muß sein, Klaus, weil ich unsere Ehe nicht zerbrechen lassen will an diesem Krieg und an dem, was ihm folgt. Aber um vorzubeugen, nehme ich Claudine nach Hause. Wir wissen beide nicht, was der Krieg uns noch bringt, und wie lange er noch währt. Jetzt, nachdem Ihre Regierung den Krieg bis zum bittern Ende proklamiert hat, kann er noch so lange dauern, daß Claudine das Kind in die Wiege legt, ehe ich zurückkehre. Ich bitte Sie daher, nicht darauf zu bestehen, daß Claudine hier bleibt.«

Klaus Krafft hatte aufmerksam zugehört.

»Und wenn Sie nicht zurückkehren, Eggheim? Es 137 wäre wohl möglich, daß Sie noch einmal in die Front treten müssen und daß wir uns gegenüberstehen.«

Der ruhige, sachliche Ton Klaus Kraffts wirkte auf Konrad zurück, der sich etwas in Erregung gesprochen hatte. Er entgegnete mit hartem Mund:

»Wenn ich nicht zurückkehre, erst recht. Dann gehört Claudine von Eggheim erst recht dorthin gepflanzt, wo das Kind wachsen und wurzeln soll.«

Noch einen Augenblick überlegte und wartete Klaus, dann beugte er sich vor, und zum ersten Mal stieg ihm die Farbe ins Gesicht.

»Eggheim, meine Schwester wünscht in St. Niklausen zu bleiben.«

In Konrads Augen erschien ein schärferer Blick. Seine rechte Hand schloß sich langsam zur Faust und grub die Nägel ins Innere der Fläche.

»Hat meine Frau Sie davon unterrichtet?« fragte er kurz.

»Und gebeten, Ihnen davon Mitteilung zu machen,« versetzte Klaus und erhob sich langsam, als Eggheim mit einem Ruck aufstand.

»Sie haben die Mission übernommen, mir das zu sagen. Ich bedaure jedoch, in dieser Frage keinen Vermittler, auch Sie nicht, Klaus, annehmen zu können.«

»Ich habe diese Antwort erwartet, aber ich darf sie nicht gelten lassen, solange meine Schwester mich zu ihrem Mandatar macht.«

»Ich kann diese Feinheiten der Ausfassung nicht recht auseinanderhalten, Schwager Illzach, ich höre immer nur, daß Claudine einen Vermittler braucht. Darauf habe ich nur eine Antwort: Claudine ist meine Frau.«

»Das ist eine Verpflichtung für Sie, Eggheim, nicht nur ein Recht.«

Zum ersten Mal griff Klaus Krafft zu so starker Gegenrede.

»Das gilt für beide Teile,« klang's scharf zurück.

Ein schneller Lidaufschlag, und Illzach entgegnete:

138 »Es ist gefährlich, Zwang zu üben, Sie zwingen vielleicht Ihre Frau äußerlich, aber Sie entfremden sie sich innerlich.«

Eggheim preßte die Lippen. Das war's, das war's, was ihn schon seit gestern unruhig gemacht hatte und was er doch nicht klar hatte erkennen können! Aber daß ihm ein anderer das sagen mußte, das machte ihn störrisch und wild.

»Ich werde Claudine noch einmal die Sache darstellen, und sie wird mir in allen Stücken recht geben. Ich fühl's mit jeder Minute mehr, daß sie hier nicht bleiben darf. Bei aller Diskretion und Rücksicht nicht! Sie wird alles von der andern Seite sehen und mitempfinden, und wenn ich wiederkäme, wäre ein Abgrund zwischen uns. Das wäre eine Entfremdung, bitterer als die, von der Sie gesprochen haben, Klaus Krafft!«

»Sprechen Sie mit Claudine,« antwortete Illzach und schloß damit die Auseinandersetzung.

Sie zögerten einen Augenblick, dann streckten sie zu gleicher Zeit die Hände aus und legten sie ineinander.

Es war schon dämmergrau, als Konrad von Eggheim seine Frau aufsuchte. Der Himmel hing tief herab. Kein Lufthauch ging. Zwischen Tag und Dämmerung war die Kunde eingelaufen, daß Schlettstadt kapituliert hatte. Totenstille rings.

Claudine wußte, daß Konrad kommen würde. Klaus hatte es ihr vorhergesagt.

Nun war er da. Mechanisch hatte sie Herein gerufen. Die graue Stunde wob ihre Fäden um sie her, als er nach kurzem Zögern zu ihr trat und sich über sie bückte.

»Claudine,« begann er weich, »da bin ich wieder. Ich habe gehört, daß du einen Fürsprecher brauchst gegen mich. Das kann nicht aus deinem innersten Herzen kommen. Wir müssen zusammenhalten, Frau, niemand kann uns als Vermittler dienen. Siehst du, wir können nichts dafür, daß wir mit unserem bißchen Leben in diesen Sturm hineingerissen worden sind, aber du mußt 139 doch auch spüren, daß wir unsern Platz festhalten müssen. Daß ich hergeben muß, was ich hab, daß ich so gut zahlen muß, wie Marc, wie Papa gezahlt haben! Und bedenk, wir von drüben haben erst alles vor uns, wir wollen doch erst ans Licht, ins Freie, ins Sehnsuchtsland hinein! Da reißt es einen so mächtig fort, daß alles mitgewirbelt wird, was einem lieb ist. Und du, Claudine, du bist ja mein! Bist meine Frau, wirst es jetzt erst ganz! Ich weiß jetzt, was du an Konflikten, an Heimsuchungen trägst. Aber ich weiß auch, daß du zu mir halten mußt. Denk an das Kind, denk daran, daß wir einander lieb haben. Um deinetwillen, Claudine, um des Kindes willen, und daß wir uns nicht zu Schanden machen dürfen an diesem Konflikt! Komm mit nach Hause!«

»Ich kann nicht,« erwiderte sie eintönig.

»Claudine, dort drüben bin ich dir näher!« drängte er sanft.

»Ich kann nicht,« wiederholte sie noch einmal, aber diesmal klang's wie in Kämpfen erpreßt, wie ein Schrei, der in der Brust erstickt.

Er atmete tief auf, daß es wie ein Seufzer klang, und ging ein paar Mal im Zimmer auf und nieder. Seine dunkle Gestalt kam und schwand in der Dämmerung.

Und mehr für sich als für sie sprach er ins Dunkel hinein:

»Man muß sich überwinden können. Es gibt etwas Stärkeres als dieses Gefühl des Nichtkönnens, das ist das Müssen. Aus sich heraus und in Freiheit müssen!«

Danach wurde es still. Der Teppich erstickte seine Schritte. Eintöniger Regen schlug durchs Laub und erfüllte das Gemach mit sanftem Rauschen.

Claudine preßte die Handflächen gegeneinander und bohrte die Augen ins verschwimmende Dunkel.

Auf einmal hatte sie die Empfindung, als hätte sie das alles schon früher erlebt. Und dabei wußte sie doch ganz genau, daß ihre Ehe mit Eggheim ihr noch keine 140 Konflikte, nicht einmal kleinere Zerwürfnisse und tiefer greifende Erlebnisse gebracht hatte.

Konrad hörte ihren erregten Atem gehen.

War das seine Frau? Kräfte und Widerstände, die er nie in ihr gesucht hätte, waren in diesen Monaten in ihr emporgewachsen! Hatten sie jemals schon so schwere Worte gewechselt? Er kannte sie, er kannte sich nicht wieder. Das Leben war ihnen aufgegangen mit allen seinen Schmerzen und Kämpfen und forderte mehr von ihnen, als das wohlige Dasein, das hinter ihnen lag, je hatte ahnen lassen.

Er merkte erst jetzt, daß er bisher allein gesprochen und gedrängt hatte, daß Claudine sich ihm nur mit Schweigen oder mit kargen, dem Schweigen gleichkommenden Worten entzog.

Da übermannte ihn das zurückgedrängte Gefühl. Er sehnte sich auf einmal danach, wieder Frauenatem zu spüren, Frauenhände zu fassen und den Kopf an eine Frauenbrust zu legen.

»Claudine, ich will ja nichts von dir. Dein Vater war dir hier alles. Das weiß ich, und du weißt es noch besser. Laß mich nur noch eins sagen: Du bist auch hier nicht frei. Wirst hier nie mit dir selbst fertig werden. Ich schleppe dich nicht in die Verbannung. Komm nur zu dir selbst! Dort drüben magst du erproben und erwarten, was werden soll. Hier läßt die Vergangenheit dich niemals los und verzehrt dir alle Kraft. Dort drüben bist du frei!«

Er hatte ihr eigentlich von seiner Liebe sprechen wollen, aber die Worte nicht mehr gefunden. Sie klangen alle so leer und schal, die Worte, mit denen er ihr früher Zärtlichkeiten gesagt hatte!

Sie schwieg immer noch.

Da tastete er sich zu ihr hin.

Sie wollte sich erheben, wehrte sich einen Augenblick gegen seine Hände und ließ es dann geschehen, daß er den Arm um ihre Hüften legte und vor ihr kniete.

141 »Halt still, Claudine, es ist kein Liebhaber, der einen Kniefall tut. Nur einen Augenblick laß mich ganz nahe bei dir sein. Wir sind ja meilenweit von einander getrennt.«

Nun hörte er ihr Herz klopfen. Sein Ohr lag dicht an ihrer Brust. Ihr Atem hauchte warme Düfte in sein Haar. In ihrem Schoße lagen ihre Hände und litten es, daß er die Finger der gesunden Rechten zwischen ihre bebenden Pulse schob.

Und als sie eine kurze Weile so verharrt hatten in einer engen Berührung, die keine Küsse, keine Zärtlichkeiten kannte, da begann Claudine leise zu sprechen:

»Ich gehe nach Heitersheim. Aber ich gehe nicht, weil du es wünschest, sondern weil ich spüre, daß du recht hast. Ich bin hier nicht mehr zu Hause. Ich bin's aber dort noch weniger, und es ist kein Heimatsgefühl in mir, gar keines. Ich bin wie der Vogel in der Luft, unter dem alles Land versunken ist. Ja, jetzt hältst du mich fest, aber glaub mir, auch du kannst mir das Heimatgefühl nicht wiedergeben. Bist du's überhaupt noch, bin ich noch die Claudine, die du geheiratet hast?«

»Denk an das Kind,« raunte er beschwörend und von ihren Worten erschüttert.

»Das Kind schläft noch, Konrad. Im Augenblick, da ich's in den Armen halte, bin ich vielleicht mutiger als jetzt.«

»Was willst du damit sagen?«

Er hatte gespürt, wie sich ihr Wesen straffte, ihr Herz voller schlug, ihr Atem tiefer ging, als sie diese Worte sprach. Ihre Stimme hatte einen stählernen Klang gehabt, der ihm noch deutlich im Ohr nachzitterte.

Unwillkürlich erhob er sich von den Knieen.

Er hielt ihre Hand fest und zog sie ans Fenster. Aber auch dort lag das Dunkel in undurchdringlichen Massen. Von ihrem Gesicht blieb nichts übrig, als ein blasserer Schein in der gestaltlosen Finsternis. Er konnte den Ausdruck ihrer Züge nicht erkennen.

142 Sie hatte sich bereit erklärt, ihm nach Heitersheim zu folgen. Doch nun wäre ihm lieber gewesen, er hätte sie an Händen und Füßen gebunden dorthin bringen müssen, als frei und aus eigenem Entschluß. Ein Gefühl der Unsicherheit ergriff von ihm Besitz.

»Gehst du gern nach Heitersheim?« fragte er nach einer Weile ernst.

»Ja, ich gehe gern.«

Wieder klang's wie anders gemeint.

»Ich will wissen, ob du aus freien Stücken gehst, nicht nur mir zuliebe.«

»Ich gehe gern von hier fort. Du sagst, ich soll zu Frau von Memmingen gehen, und ich sehe ein, daß es keinen bessern Aufenthalt für mich gibt. Aber sie müssen Geduld mit mir haben. Ich bin das Unterkriechen nicht gewohnt.«

Ihre Hand zuckte, wie Tränen, die krampfhaft unterdrückt werden, zitterte es in ihrer Stimme. Stolz warf sie den Kopf auf.

Er wagte es nicht, tiefer in sie zu dringen. Leise zog er sie an sich.

»Liebst du mich noch, Claudine?«

Sie antwortete nicht, aber sie setzte ihm auch keinen Widerstand entgegen.

Er empfand einen starken Schmerz in der vernarbenden Wunde, als sie den Kopf an seine Schulter sinken ließ. Trotzdem hielt er still.

Die Frage, die er an sie gerichtet hatte, blieb ohne Antwort. Und es war gut so, denn das Wort Liebe hatte jetzt einen andern, tiefern, gewaltigeren Sinn für sie, und sie mußten erst Zeit haben, es zu fassen, ehe sie damit zu Ende kamen.

Der Duft ihres Haars berauschte ihn, das Blut verlangte sein Recht, das lang nicht mehr geübte! Er vergaß Zeit und Stunde, wußte nur noch, daß er sein Weib in den Armen hielt, das er so lange entbehrt hatte! In einem einzigen Atemzug zusammengepreßt erlebte er den 143 Krieg und das Lagerleben noch einmal, schwoll der Dunst vom Blut und Schweiß kämpfender Männer, von beizendem Pulverrauch, süßlichen Chloroform und widerlichen Karbolgasen um ihn her, dann atmete er den feinen Duft ihres Haars, spürte er die kräftige Süße ihrer Nähe und suchte er im Kusse ihren Mund.

Aber hintenüber warf Claudine wehrend, zurückschaudernd das Haupt, und ihn von sich stoßend floh, tastete, schleppte sie sich schweren Leibes durch das verfinsterte Zimmer und verbarg sich im dunkelsten Winkel.

»Claudine!« rief er und noch einmal herrischer: »Claudine!«

»Geh, ich bitte dich, geh!« kam's abgebrochen, befehlend zurück.

Da spürten beide, daß etwas zwischen ihnen stand, ihnen Schwerter in die Hände drückte und sie gegeneinander waffnete.

Ein Schauder überlief ihren Nacken.

Doch noch war die Zeit nicht gekommen, den Kampf auszutragen.

Nach einer Weile fragte Konrad mir erzwungener Ruhe:

»Bist du bereit, morgen zu reisen?«

»Ja.«

Und wieder beschlich ihn eine Ahnung, als hätte er damit nichts gewonnen. Er fühlte, daß sie ihm zu entgleiten drohte, daß er keinen sichern Besitz zurückließ, wenn er morgen wieder ins Feld rückte.

Und doch war nichts anderes zu tun.

Als er die Tür gefunden hatte und mit einem gepreßt klingenden Gutenachtgruß das Zimmer verließ, blieb ein einsames Weib darin zurück, das sein Antlitz in die Kissen drückte, um das Schluchzen zu ersticken, das ihr die Brust zerriß.

Aus dem Dorf, von der Kirche her, wo Klaus Krafft Freiherr von Illzach heute neben seiner Frau beigesetzt worden war und eine Marmorplatte den Namen und 144 Geburts- und Todestag seines Sohnes Marc trug, klang der Ruf der Posten.

Am andern Morgen trat Claudine die Fahrt ins Badische an. Sie mußten einen weiten Umweg machen, denn nun sprühten vor Breisach die Feuermäuler der Geschütze, und eine Rauchwolke drehte sich wie ein Lindwurm über der kleinen Festung. Regen peitschte die Felder, grauschollig kam der Rhein im wilden Drang des Hochwassers gezogen und ersäufte das Uferland.

Claudine überstand die Fahrt gut. Der Abschied von ihren Angehörigen war ihr leichter geworden, als sie gefürchtet hatte. Es war ein starrer, wortkarger Abschied gewesen.

In Freiburg ruhten sie eine Stunde. Ein Gefangenentransport marschierte abgezehrt, von Bajonetten flankiert, an ihnen vorüber. Konrad verdeckte seiner Frau den Anblick mit seinem Körper, so gut er konnte. Gegen Abend kamen sie in Heitersheim an.

Konrad sah noch, wie Tante Josepha seine Frau ohne ein Wort in die Arme schloß und ihm über die Achsel aus ihren gütigen Augen den strengsten Blick zuwarf, um ihn von der Schwelle zurückzuscheuchen, dann schlossen sich die Türen zwischen ihm und Claudine.

»Ja, das ist ein unerschütterlicher Befehl meiner Alten. Du kriegst deine Frau nicht mehr zu sehen. Hier gäb's kein Adieusagen, nur Wiedersehen, hat sie befohlen. Wenn du ihr das ausreden willst, so versuch's. Aber du weißt, wie sie ist: die Güte selbst, aber wenn sie einmal ein Kröttle gefressen hat, gibt sie's nicht mehr her. Nun mach nur, daß du gesund heimkommst. Sie werden wohl bald genug haben, die Sakermenter, aus Metz kommen sie doch nicht mehr heraus.«

Philibert von Memmingen wiegte sein schweres Haupt bei jedem Schritt und führte seinen Neffen unter diesen Reden ins Dorf zurück.

»Laß meinen Arm nur los, Onkel Bert, ich lauf dir nicht davon und ich brauch ihn noch, ehe du ihn zu Mus 145 quetschest,« erwiderte Konrad mit einem Versuch zu scherzen.

Memmingen blieb stehen.

»Halt! Jetzt kannst du gerade über die Apfelbäume weg Claudinens Fenster sehen.«

Über der Mauer des Gutes standen die schwarzen, leeren Kronen der alten Apfelbäume und darüber die Fenster des Hauses. Eggheim blickte hin. Es war nichts zu sehen.

Da hob er den Arm, beide Arme und breitete sie aus zum Abschied ohne Worte, kehrte sich ab, ließ Onkel Memmingen stehen, wo er stand, und blickte sich nicht mehr um.

»Laß ihn laufen,« ermahnte der Heitersheimer sich selbst und wandte sich mit zwinkernden Lidern zum Rückweg. Der feine Regen war's, der ihn wie Pulver in die Augen biß, nichts anderes.

Und Konrad von Eggheim sah seine Frau nicht mehr, fuhr nach Straßburg zurück und schloß sich dem Hauptquartier des Generals von Werder an, um sein Kommando anzutreten. Der Krieg, der Dienst hatte ihn wieder. Hinter ihm blieb sein kleines Geschick. Vor ihm lag, vom Rauch dieses gewaltigen Völkerkriegs umwölkt, was die Zukunft ihm und Claudinen von Illzach aufgespart hatte.

In den Rebbergen des Elsasses und an den Hängen des Kaiserstuhls fielen die Trauben schwer und süß in die Bütten, und der Most rann wie Blut aus den Keltern.

Wie Most lief das Blut an den Ufern der Loire . . . 146

 


 


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