Hermann Stegemann
Die Krafft von Illzach
Hermann Stegemann

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Der Sommermorgen stieg aus verblassendem Dunkel empor. Schon füllte sich die weite Mulde der Rheinebene zwischen dem Schwarzwald und den Vogesen mit einem perlmutterfarbenen Glanz. Streifen von Krokusgelb schossen am wolkenlosen Himmel hin, und der Kamm des Waldgebirges stand in harter Schwärze auf dem glasklaren Hintergrund, der langsam von frischer Blutwärme zu erröten begann.

Jetzt traf der erste Widerschein der Helle die dunkle Masse der Vogesen. Ein grüngoldner Schimmer hob ihre Umrisse ins Licht. Sie rundeten sich, bekamen Gestalt und Leben. Zackentürme mächtiger Ruinen, Dörfer, von elfenbeinernen Dünsten umflort, dunkler Laubwald, smaragdgrüne Wiesen und schwärzlich glänzender Nadelforst wuchsen ins erste Morgenrot. Gold troff vom Himmel auf das elsässische Land.

Im reifenden Korn rief eine Wachtel. Am Gehölz, das seine krausen Linien in die gestreckten Felder malte, spritzten die wilden Kaninchen auseinander und flüchteten ins Gebüsch.

»Laß sie, genug von der Landplage für heute,« sagte Klaus Krafft von Illzach und blieb auf den Jägerstock gestützt stehen, um den farbigen Morgen zu grüßen. Er hatte den abgebleichten Hut tief auf die Hakennase heruntergezogen. Im Schnurrbart und Kinnhaar, das noch ungefärbt, grau und borstig herabhing, glitzerte die erste Sonne.

»Kaninchen schießen, wenn man dicht vor dem Kriege steht, ist allerdings nicht das Richtige für Hand und 2 Auge. Die Preußen werden sich wohl nicht so leicht die Haare aus dem Pelz blasen lassen!«

René Wurmser sicherte die Flinte und hängte sie an die Schulter. Dabei gähnte er verstohlen und warf einen suchenden Blick nach dem Herrenhaus, um das die letzten Düfte zogen.

Sie waren eine halbe Stunde von dem Hügel entfernt, auf dem es, breit hingelagert, seine Fenster der aufflammenden Sonne zukehrte. Hinter dem Hügel stieg das Gebirge in kühnem Schwung. Blaugrün schimmerten die Rebhalden im ersten Sonnenschein.

Schon wolkte der Rauch der Fabriken von Logelbach in kugeligen Massen aus den roten Kaminen und verschleierte das Bild.

Jetzt erschien über einer Gipfelkuppe des Schwarzwaldes der Sonnenball in ganzer Größe, schien einen Augenblick still zu stehen und zerfloß dann als Strahlenquelle am Firmament.

Da wandte Baron Klaus sich ab und antwortete:

»Zwischen Mobil und Krieg liegt noch ein schwerer Entschluß. Der Kaiser ist krank. Ein kranker Mann, kränker als man weiß. Und was will man denn mehr als die Zurückziehung der spanischen Kandidatur? Ich glaube nicht an den Krieg.«

Er wollte sich selbst betrügen, als er das sagte.

Aus dem mattgetönten Gesicht Renés, in dem noch die Spuren seines Aufenthaltes auf der westindischen Station sichtbar waren, war die Müdigkeit verschwunden.

»Pardon, Onkel Klaus, wenn ich widerspreche, aber wir können die Anmaßung dieses kleinen Preußen nicht mehr dulden. Man rechnet nicht mehr mit Frankreich, und das ist unerträglich.«

Sie gingen langsam weiter. Auf den Feldern begann es sich zu regen. Sensen schnarrten im Sommerklee. Hoch im Blau zogen die Störche ihre großen Kreise.

Baron Klaus hatte die Augen eingekniffen. Jetzt erzählte er in seinem hübschesten Plauderton:

3 »Das habe ich schon vor vielen Jahren hören müssen, und zuletzt hatten sie doch alle mit Frankreich gerechnet. Du bist jung, René, Soldat, Marineoffizier, liebst lange Fahrten und kurze Freuden, hast auch noch ein wenig Grognonblut von deinem Großvater in den Adern, der in der alten Garde gestanden hat. Ich kann mich deines Großvaters noch gut erinnern, weiß, wie er als Oberst auf Halbsold die Cafés in Kolmar belagert hatte, um den jungen Milchbärten, die die Bourbonen in die Armee gebracht hatten, solange mit Sottisen zuzusetzen, bis sie mit ihm hinter die Kasernenmauer gingen und die Sache mit dem Degenspieß austrugen. Als Küferlehrling war der Baptist Wurmser seinen Eltern entlaufen, als der Konvent das Vaterland in Gefahr erklärt hatte und die Sansculotten zu den Waffen gerufen wurden. Na, das Ausschwefeln und Keltern hat der alte Wurmser auch als Oberst noch gründlich besorgt. Trag du die Nase nur hoch im Wind, mein kleiner Neffe! Napoleonischer Schwertadel ist so gut wie alter Grundadel. Und wenn auch Waterloo zu früh kam, um aus Baptist Wurmser einen General und Baron des Kaiserreichs zu machen, eine Freiin Krafft von Illzach hat der Küfersohn von Kolmar vorher doch noch erobert.«

Ein ganz klein wenig Ironie schimmerte durch die liebenswürdige Schilderung der Laufbahn Baptist Wurmsers.

René errötete, und abermals strich sein suchender Blick über die Felder nach St. Niklausen. Dann nahm er das Gespräch wieder auf.

»Sobald der Familientag gehalten ist, reise ich. Auch ohne Befehl des Marineministeriums. Eine verrückte Anordnung war es ohnehin schon, mich nach Straßburg zur Besatzung von ein paar Rheinkähnen zu kommandieren. Als ob wir mit Rheinkanonenbooten Schlachten schlagen könnten! Und dann der Gegenbefehl, mich bis auf weiteres zur Verfügung des Ministeriums zu halten! Wäre mir das Kommando nicht gelegen gekommen, 4 um dem Familientag beiwohnen zu können, so hätte ich Ordre und Contreordre verflucht.«

»Junge, du räsonierst zuviel. Das habt ihr euch in der Offiziersmesse und in Mexiko angewöhnt.«

Der alte Herr stieß die Zwinge des Stockes in den Boden und blieb stehen.

Das metallene Summen eines Eisenbahnzuges tönte über die Felder.

Hinter dem Buschwald, der den Ausblick auf Kolmar verschleierte, stieg der silberglänzende Dampf schwerarbeitender Lokomotiven in die Höhe.

»Das beste Mittel gegen das Räsonieren ist eben der Krieg,« entgegnete René lachend.

Der Baron spähte nach dem weißen Rauch und sagte mehr für sich: »Marc hat am 8. Juli von Vesoul aus geschrieben. Er muß jetzt schon bei Straßburg stehen. Die achten und neunten Kürassiere sind zum ersten Korps getreten. Er hat den Weg nach St. Niklausen nicht gefunden und wird morgen nicht bei uns sein können. Und sein Bruder Klaus hat sogar schon geschrieben, daß wir ihn schwerlich erwarten dürfen. Meine Söhne werden mir fehlen.«

Jetzt saß unverkennbare Sorge in Klaus Kraffts verschatteten Zügen.

»Aber Claudine ist da, Onkel Klaus,« erwiderte René leise.

Da erhellte sich das schmale, hagere Gesicht des Freiherrn von Illzach einen Augenblick.

»Ja, meine Tochter ist da. Ein Glück, daß Eggheim sie schon vor den letzten Alarmnachrichten beurlaubt hat.«

Seine Freude ging wieder in Sorgen unter.

»Seit Claudine geheiratet hat,« fuhr er fort, »sind die Jungen wie fremde Vögel, die zufällig in dasselbe Nest geflogen sind und nicht schnell genug wieder davonstreichen können. Die Mutter ist zu früh gestorben, oder Claudine hätte noch nicht heiraten sollen.«

5 »Wenigstens nicht dort hinüber,« stieß René unwillkürlich hervor. Seine Eifersucht hatte ihn verraten, als er mit einer schroffen Bewegung über den Rhein zu den blauen Schwarzwaldhöhen hinüber deutete.

Doch Illzach war zu sehr von seinen Gedanken in Anspruch genommen, um das Unziemliche der Bemerkung zu beachten.

»Was ist das für ein Train?« fragte er und hob das Glas an die Augen.

Der Eisenbahnzug war am Waldrand erschienen und lief auf sie zu. Erst klein und unansehnlich, wuchs er im Näherkommen, bis er, von zwei Lokomotiven gezogen, dröhnend und stoßend, viele Achsen lang, als endloser Eisenwurm dicht an ihnen vorüberzog.

Gedeckte Güterwagen, aus denen Pferdeköpfe mit erschreckten, verstörten Lichtern ins Freie starrten; offene Plattformen, von denen Protzen und Geschütze blickten; dazwischen Personenwagen, überfüllt von Soldaten. Und dabei ein heiserer Gesang, wildes Geschrei, das aus allen Poren dieses stöhnend herankeuchenden Zuges zu brechen schien.

Auf der ersten Maschine wehte eine rußige Trikolore.

Als die Soldaten die beiden Jäger gewahr wurden, schrieen sie ihnen zu, schwenkten Feldflaschen und leere Hände. Verzerrte Gesichter grüßten übernächtig aus den Fenstern. Dann verschwand der Zug wie ein Spuk in der Sommerlandschaft, und die Grillen zirpten wieder wie zuvor in der Erntestille.

In Renés Gesicht war helle Farbe getreten.

»Das ist Artillerie vom siebenten Korps, sie werfen alles nach Straßburg.«

Unruhig fingerte er am Flintenriemen. Der Boden brannte ihm plötzlich unter den Füßen. Er roch die Seebrise und vergaß alles andere.

Da sagte der Kammerherr Klaus Krafft Baron von Illzach, indem er die immer noch elegante Gestalt hoch aufrichtete, mit vibrierender Stimme:

6 »Das ist der Krieg!«

Seit zwei Wochen rückten die Truppen an die Grenze, wurden Verschiebungen vorgenommen, die einer Mobilmachung und einem Aufmarsch verzweifelt ähnlich sahen. Die Zeitungen hatten den Krieg schon lange prophezeit. Marc hatte geschrieben, daß er ins Feld rücke, – aber Klaus Krafft hatte immer noch am Ernst der Lage gezweifelt. Er kannte den Kaiser, wußte, daß der Zauderer lieber dem diplomatischen Spiel und geheimen Unterhandlungen vertraute als dem Schwert seiner Marschälle, die er seit seinem körperlichen Niedergang nicht mehr anzutreiben, viel weniger noch zu zügeln verstand.

Aber jetzt hatte es Klaus Krafft plötzlich wie eine Ahnung, wie unzweifelhafte Gewißheit gepackt: der Krieg war beschlossen, der Krieg war da!

Längst war der Zug verschwunden. Kein Echo schwamm mehr in der Sommerstille. Die Grillen zirpten, die Schwalben flogen. In zarter Bläue wölbte sich der Himmel über dem gesegneten Land.

»Komm, laß uns eilen!«

Der Freiherr schulterte die Flinte und ging rascher. Die Landstraße rollte ihr weißes Band vor ihnen auf. Näher winkte das ruheatmende Haus mit dem schöngeschwungenen Barockdach vom Rebhügel zu St. Niklausen.

Mit langen Schritten ging der alte Freiherr über die abgemähten Kleeäcker, um die Landstraße zu gewinnen.

Auf der Straße machte er Halt. Vor ihnen lag das Dorf.

»René, du weißt, daß ich alle Meinungen toleriere. Wir sind das gewöhnt, Meinungen der Politik und des Glaubens, aber wenn es zum Krieg kommt, gibt es nur eine Kokarde, das versprichst du mir!«

»Das versteht sich von selbst, Onkel. Frankreich zuerst!«

In der Ferne klang Hufgetrappel. Wie 7 Trommelwirbel knatternd kam es um die Waldecke auf das Dorf zu.

»Eine Estafette,« rief René.

Da hob der Kammerherr den Arm, und der Reiter brachte den Gaul zum Stehen.

»Ihr seid's, Franz! Zum Teufel, wo kommt Ihr her?«

Es war kein Gendarm, sondern der Bediente Konrad von Eggheims, der die Jockeimütze gezogen hatte und dem Baron vom dampfenden Halbblut herab einen Brief reichte.

Während der alte Herr das Schreiben las, fragte René den Diener noch einmal, woher er denn komme.

Von Eggweiler und über die Neuenburger Schiffbrücke, aber die wäre im Abbruch begriffen, und die Zollwächter hätten schon die Bajonette auf die alten Tabatiereflinten gesteckt, antwortete der Bursche.

Klaus Krafft von Illzach faltete den Brief seines Schwiegersohnes wieder zusammen. Keine Falte zuckte in seinem hageren Gesicht.

»Es ist gut, Franz, aber laßt Euch nicht sehen vor Eurer Herrschaft, bis ich selbst mit meiner Tochter gesprochen habe. Gebt dem Gaul den Strohwisch. Er ist naß wie eine Katze.«

»Zu Befehl, Herr Baron!«

Der Gaul trabte an und zog vor ihnen her ins Dorf. Dann las Klaus den Brief noch einmal.

›Lieber Schwiegerpapa!

Wenn Franz noch über die Brücke kommt, ehe sie ausgefahren wird, hoffe ich Ihnen noch rechtzeitig mitteilen zu können, daß ich dem Familientag auf St. Niklausen fern bleiben muß. Die Mobilmachungsordre liegt auf dem Draht, und ich habe Befehl erhalten, einzurücken. Es trifft sich gut, daß Claudine schon bei Ihnen ist. Sie könnte an keinem bessern Orte sein. Sagen Sie meiner Frau, daß ich nicht aufhören werde, sie zu lieben und daß im Kriege nicht jede Kugel trifft. Ich trete bei meinem 8 alten Regiment in Rastatt als Premierleutnant ein und hoffe den Krautjunker und Stubenhocker bald vergessen zu machen.

Indem ich der Familie meine verwandtschaftlichen Grüße auszurichten bitte, verbleibe ich, lieber Papa,

Ihr respektvoller und dankbarer Sohn Konrad.‹

In der großen Stille der Sommerlandschaft erhob sich ein dumpfer Trommelwirbel. Aus dem Dorf drang er zu ihnen herüber. An der Mairie hing die Trikolore. Der Feldhüter stand vor dem Wirtshaus ›Zum Sternen‹ und schlug mit steifen Armen auf das Kalbfell der mächtigen, bunten Trommel. Das Pferd eines Gendarmen war an der Treppe angebunden und spitzte bei dem Klang nervös die Ohren.

Aber das Dorf blieb leer. Nur ein paar alte Frauen und eine Schar Kinder sammelten sich langsam um den Trommler. Alles war draußen im Feld und in den Rebbergen.

Nun hallte die Stimme des Weibels über die Gasse und verkündete den Krieg. Doch es klang, als könnte es nicht wahr sein, leer und ausdruckslos, schallte und verlor sich in der Weite, während nach wie vor der Brunnen mit kräftigem Strahl ins dunkle Becken sprang, die Schwalben flogen und auf dem Bänklein vor dem Gemeindehaus der alte, taube, vom Gliederreißen gekrümmte Gemeindeschreiber in den strahlenden Erntetag duselte.

Als die Herren vorübergingen, kam der Bürgermeister rasch aus der Mairie auf sie zu.

Er war noch in Hemdärmeln, hatte aber die dreifarbige Schärpe umgeknüpft und die Feder hinter dem Ohr.

In seinem runden, festen Gesicht lag kein Zug anders als sonst. Der bartlose Mund war geschlossen, die Augen hell und kalt.

»Guten Tag, Herr Maire,« rief ihm der Kammerherr laut entgegen und rückte den Hut.

9 »Guten Tag, Herr Baron! Sie haben den Krieg erklärt zu Paris,« antwortete der Bauer.

»Ah, endlich! Wir haben uns lang genug schikanieren und malträtieren lassen von den Preußen,« entgegnete der Freiherr und schlug einen stolzen, kräftigen Ton an.

»Wir haben seit Anno fünfzehn keinen Feind im Land gehabt, Herr Klaus,« versetzte ruhig der Bauer.

»Im Land! Im Elsaß! Die Preußen bei uns! Aber Joseph, was sind das für Bêtisen!«

»Wenn nur der Krieg keine größere Bêtise ist,« gab der Bürgermeister Bescheid.

In diesem Augenblick kam der erste Trupp vom Felde zurück. Die Männer mit funkelnden Sensen, die Mädchen in aufgesteckten roten Röcken, schweißbedeckt und atemlos, von der Trommel geschreckt, von der Neugier getrieben.

Und plötzlich schrie's in der Gasse: »'s ist Krieg, die Buben müssen ausrücken, die Preußen kommen!«

Da klang auf einmal der ›Sternen‹ von lauten Reden, war alles Bewegung und Lärm, bis der Trommelwirbel am andern Ende des Dorfes klang und plötzlich wieder Schweigen ward, in dem die Bekanntmachung des Präfekten und der Gestellungsbefehl des Generalkommandos, der die Mobilgarden unter die Waffen rief, eintönig widerhallten.

In dem Baumgang, der zur Klausenburg führte, begegnete den Herren der Dorfpfarrer.

Er kam in seiner langen schwarzen Sutane, die er an der Seite ein wenig aufgerafft hatte, eilig des Wegs.

»Ein heiliger Krieg,« rief er ihnen mit glänzenden Augen entgegen. »Endlich bietet Frankreich diesen Feinden der Kirche Halt.«

Als er Renés unwirsches Lächeln sah, wurde er rot. Das vollwangige Gesicht, in dem die Augen freundlich und gütig blickten, errötete dunkel unter dem weißen Haar.

»Ja, ich weiß, die Jugend hört nicht mehr gut auf 10 diesem Ohr,« zürnte er und fuhr dann mit veränderter Stimme fort: »Und Krieg ist Krieg! Es ist schrecklich: Menschen, die sich bekriegen, töten, einander ausrotten wie Unkraut – ah, welches Unglück, welch ungeheures Unglück!«

»Auf diesem Ohr höre ich besser, Herr Pfarrer!« sagte der Freiherr ernst und ging weiter.

Als er das Herrenhaus vor sich sah, war ihm der Brief seines Schwiegersohnes aufs Herz gefallen. Er nahm sich keine Zeit, den Anzug zu wechseln, was er sonst nie versäumte, stellte nur das Gewehr ab, fuhr sich über den Knebelbart und ließ sich bei Frau von Eggheim melden und fragen, ob sie ihn schon empfangen könne.

Sie kam ihm im Schlafrock entgegen.

»Aber Kind, so war es nicht gemeint. Du wirst mich doch noch zu deinem Bett zulassen. Komm, leg dich wieder nieder!«

Er führte sie in ihr Schlafzimmer zurück und trat ans offene Fenster, bis sie sich gelegt hatte. Über die Rosenbeete und Taxushecken ging der Blick in die Ebene. Golden und grün glänzte sie, in Äcker und Matten geteilt, von krausem Buschwald belebt und langsam ziehenden hellen Gewässern durchzogen und bevölkert von blanken Dörfern. An den Reben schimmerten die laubbeperlten Blätter, und der zarte Duft der letzten spätesten Weinblüte schwängerte den Sommermorgen mit süßen Gerüchen.

»Papa!« rief Claudine.

Er fuhr zusammen.

Nun saß er an ihrem Bett und hielt ihre Hand. Er fühlte, daß sie noch nichts wußte. Und auf einmal kam ihm die ganze Furchtbarkeit dieses Krieges zum Bewußtsein. Er sah seine Tochter als das Weib des deutschen Offiziers und narrte sich vergebens mit der Hoffnung, daß der Krieg ja nur Preußen gelte, und die Süddeutschen sich nie auf die Seite dieses hungrigen, ehrgeizigen Preußen schlagen würden. Er dachte an Marc, 11 der morgen mit seinen Kürassieren ins Feld rückte, wie schon so mancher Krafft von Illzach unter den stolzen französischen Fahnen ausgezogen war.

Seine Hand schloß sich mit krampfhaftem Druck um die schlanken Finger der jungen Frau, die sich wohlig in die Kissen gewühlt hatte und gar nicht auf seine Neuigkeiten zu brennen schien.

Bis sie auf einmal sagte:

»Morgen muß ich früher aufstehen, Papa. Konrad kommt, und wir sind vierundzwanzig Personen zu Tisch. Ich mach dir noch einmal die Hausfrau, Papa!«

Da bückte sich der elsässische Edelmann und küßte die weißen, kühlen Finger seiner Tochter mit zuckendem Mund.

»Konrad ist verhindert, Claudine – nein, beruhige dich, nicht krank, nichts der Art, nur verhindert.«

Er sah im Geiste das hübsche Paar vor sich. Das Leben hatte ihnen noch keine Dornen gebunden. Claudinens stolze, ein wenig kühle Art und Eggheims ruhiger, zu leicht zur Beschaulichkeit neigender Ernst paßten gut zu einander.

Claudine richtete sich auf. Es waren die klugen Augen des Vaters, die aus ihrem schmalen Gesicht leuchteten.

»Nur verhindert? Am Ende der Krieg!« fragte sie mit einem ungläubigen Lächeln.

Er bildete sich wahrhaftig ein, er säße an einem Krankenbett und wollte zu einer beschwichtigenden Lüge greifen.

Aber Claudine von Eggheim unterbrach seine ersten Worte:

»Natürlich ist es der Krieg! Weil es Baden ist und Konrad kein Preuße, meinst du, ginge uns der Krieg nichts an? Mich geht er nichts an, Papa, du hast recht, so recht hast du ja, denn es ist Konrads Krieg und nicht mein Krieg! Aber die dort drüben marschieren heute mit den Preußen! Und Konrad – ja, Konrad – Konrad –«

12 Sie brach ab, wollte lächeln, den Kopf in einer Aufwallung des Stolzes höher recken, verlor die Haltung und sank plötzlich weinend an die Schulter des Vaters.

Krafft von Illzach wußte nichts zu sagen. Er konnte sie nur festhalten. Seine Gedanken bissen und wühlten sich immer tiefer in das ungeheuerliche Ereignis dieses Krieges ein, während er seine Tochter stumm in den Armen hielt. Sie hatte offenbar die ganze Tragweite des Ereignisses noch gar nicht begriffen, aber sie weinte.

Durch das Fenster kam die Sonne, strichen Blumendüfte, und Krafft von Illzach erfaßte in diesem Schweigen, das nur von dem versiegenden Schluchzen Claudinens unterbrochen wurde, die volle Schwere des Augenblicks.

Claudine hatte den Amtmann von Eggheim in Badenweiler kennen gelernt, als sie vor drei Jahren bei ihrem Onkel Kiener zu Besuch weilte. Kiener war gegen die Heirat, und auch Krafft gab erst dann seine Einwilligung, als er hörte, daß Eggheim den Staatsdienst ohnehin aufgeben und sich nach Eggweiler zur Bewirtschaftung des Besitzes und zur Pflege staatsrechtlicher Studien zurückziehen wolle.

Da hatte Madeleine Kiener auf ihren Mann eingewirkt, um auch ihn der Verbindung geneigt zu machen. Und Kiener war zu Krafft gekommen und hatte gesagt:

›Madeleine von Illzachs blauem Blut zuliebe will ich nicht länger Widerstand leisten. Übrigens gibt's ja gegenüber ›Kraft‹ keinen Widerstand. Claudine heiratet ihn sonst zum Trotz. Ich habe eigentlich auch kein Veto im Familienrat.‹

Gerade in diesem Augenblick mußte dem Freiherrn die Anspielung des Schwagers auf den Beinamen der Illzach in den Sinn kommen. Er richtete sich auf.

»Du hast Eggheim geheiratet, weil du selbst die Verbindung gewünscht hast, mein Kind. Was daraus folgt, müssen wir tragen,« sagte er und entriß sich den unfruchtbaren Grübeleien.

13 Claudine hob den Kopf. Die Tränen hatten sie nicht entstellt. Ihr Gesicht zeigte den schönen kühnen Schwung des Profils, als sie erwiderte:

»Ich beklage mich auch nicht, Papa, aber er ist unsinnig, dieser Krieg!«

Da zog Krafft Konrads Brief hervor und reichte ihn der Tochter.

»Er schreibt nur an dich und kurz genug,« murmelte sie, und ihr Mund preßte sich zusammen, daß der schöngewölbte Bogen der Oberlippe in einem blaßroten Streifen verschwand.

»Er liebt dich, mein Kind, er liebt dich,« tröstete sie der Vater.

Sie ließ sich langsam in die Kissen gleiten.

»Das versteht sich doch von selbst,« erwiderte sie mit gezwungener Ruhe und fuhr dann fort: »Darf ich dich bitten, zu gehen, Papa? Es ist Zeit, daß ich aufstehe.«

Sofort erhob sich der alte Herr. Als er den Brief des Schwiegersohns ziemlich weit ab zwischen den Falten der zerdrückten Steppdecke erblickte, über die Claudinens Finger nervös hin- und herliefen, wagte er nicht mehr sie darum zu bitten oder ihn an sich zu nehmen, und ging.

»Der Krieg ist erklärt. Von Paris aus, wie es scheint, und auf ein Telegramm des Herrn von Bismarck hin, mehr wissen wir noch nicht, aber vierzehn Tage braucht es bis zur Beendigung der Mobilmachung, und inzwischen kann auch sonst genug geschehen – kurz, es ist noch weit bis zur ersten Bataille.«

Mit diesem schlechten Trost verließ er das Zimmer.

Die Tür fiel ins Schloß. Da tasteten Claudinens Finger nach dem Brief und rissen ihn an sich. Und dann las sie den einen Satz des deutschen Briefes laut und versuchte den tiefen Sinn der Worte zu ergründen: ›Sagen Sie meiner Frau, daß ich nicht aufhören werde sie zu lieben und daß im Kriege nicht jede Kugel trifft.‹ Nicht aufhören werde, das hieß, auch dann nicht, wenn er fallen sollte, aber jede Kugel, die trifft ja nicht – –

14 Vor den Fenstern lärmten die Sperlinge, die ihre zweite Brut atzten, und die Sommersonne sog opalisierende Dünste aus der Ebene. Sie verschwamm in ihren Blicken.

Claudine konnte auf einmal nicht mehr glauben, daß Krieg war, bis sie unten in der Ecke des Briefbogens die Adresse vermerkt fand: ›Bis 25. Juli erreichen mich Briefe in Rastatt.‹

Dieser Termin erschreckte sie mehr als alles andere. Als ob der 25. Juli ein Ende, ein Todestag sei, und noch einmal las sie, lautlos die Lippen bewegend, den Satz, in dem das Gelöbnis seiner Liebe stand. Und dann las Claudine das Datum des 16. Juli 1870, das für sie einen Abschied bedeutete . . .

Aber sie faßte die Bedeutung dieses Abschieds doch nicht ganz.

Sie erhob sich. Als sie ins Zimmer trat, kam ihr René Wurmser entgegen, um ihr Lebewohl zu sagen. Er sah kadettenhaft jung aus in seiner dunklen Uniform. Sie mußte unwillkürlich an die knabenhaften Huldigungen denken, die er ihr vor fünf Jahren bei dem Besuch seiner Eltern in Le Havre dargebracht hatte.

Jetzt war ein anderer Ausdruck in seinem Gesicht. Ein gespannter, zusammengeraffter Ausdruck, den sie nicht kannte.

»Ich reise sofort, Claudine. Sie werden mich aber vielleicht doch mit einem kleinen Gedanken in Erinnerung behalten, nicht wahr?«

»Gehen Sie nach Straßburg, René?«

»Nein, nach Paris und dann nach Cherbourg. Ich hoffe zum Expeditionskorps zu kommen, wenn es in die Nordsee und nach Hamburg geht.«

Das klang stolz und kriegerisch.

»Dann sind Sie am Ende noch vor Marc in Berlin,« erwiderte sie lächelnd.

Sie hatte ganz vergessen, daß ihr Mann auf der anderen Seile stand.

15 Er lächelte und versuchte ihre Blicke an den seinen zu entzünden, indem er leise antwortete:

»Ich bitte um einen Abschiedskuß, Claudine, es geht ja in den Krieg.«

Da richtete sie sich kühl auf.

»Leben Sie wohl, René!«

Sie reichte ihm die Hand zum Kuß.

Der Kammerherr hatte die letzten Worte mehr erraten als gehört. Er kam aus dem Nebenzimmer und versuchte unbefangen zu erscheinen, um Claudinen nicht zu verängstigen.

»So reich ihm doch die Wange, er hat die Wegzehrung verdient,« sagte er munter.

Lässig neigte sie sich ein wenig und bot René nach französischer Sitte die Backe. Als seine Lippen sie streiften, richtete sie sich hastig wieder auf und verließ das Zimmer.

Auf der Terrasse lag schon gesättigte Mittagssonne. Flimmernd stieg die Sommerglut an den weißen Mauern empor. Claudine stand an das Geländer gelehnt. Im Dorf brummte wieder die Trommel.

Das Herz der jungen Frau klopfte auf einmal in heftigen Stößen. Es zerstieß sich beinahe in der eng gewordenen Brust. Ihre gezwungene Unbefangenheit war erloschen wie flüchtiges Feuer.

Dort drüben dehnte sich die Ebene, zog der Rhein in starkem Drang zwischen den Pappelzeilen. Wo der feine goldene Duft hing, aus dem nur die Kammlinie des Schwarzwaldes emporwuchs, lag Eggweiler. Das stille kleine Eggweiler mit dem enggebauten, winkligen Herrenhaus, das jetzt verlassen war!

Er war nicht mehr zu ihr gekommen, er hatte mit drei Zeilen Abschied genommen, die sie sich aus Vaters Brief hatte pflücken müssen. Er hätte sich selbst auf das Pferd setzen können statt einen Boten zu schicken! Er hatte vielleicht damals, als er sie hierher begleitete, schon gewußt, daß es Krieg gab!

16 Liebte er sie?

Auf einmal errötete sie, als wäre sie beobachtet worden. Dann trat der tiefe, dunkle Blick des Weibes in ihr mädchenhaft schmales, junges Gesicht. Unwillkürlich strich sie die Bahn ihres hellen Kleides glatt und errötete noch stärker.

Ein sehnsüchtiges Licht erschien in ihren Augen, ein feines mütterliches Lächeln glitt um ihren Mund. Dann erblich sie und griff nach dem Geländer. Ein leichter Schwindel hatte sie befallen.

Der Freiherr kam, um seine Tochter nicht zu lang allein zu lassen. Sie sprachen von gleichgültigen Dingen. Er war ja schon zufrieden, daß sie die Tragweite des Wortes Krieg nicht voll erfaßt hatte. Vielleicht liebte sie ihren Mann doch nicht so tief, wie er und die Familie gewähnt hatten. Vielleicht war Illzachscher Trotz im Spiel gewesen, als sie den leisen Widerstand der Ihrigen brechend zum Verlöbnis mit Eggheim geschritten war.

Und Konrad? O, ein Mann liebt das Mädchen, dessen Besitz er erstrebt, immer. Klaus Krafft freute sich an seinem eigenen Aperçu.

Am Nachmittag kamen die ersten Zeitungen aus Paris und berichteten die Ereignisse der letzten Tage auf ihre Weise.

Der Freiherr hielt die Blätter mit zitternden Händen. Sie zitterten in Fieber und Zorn.

»Herr von Bismarck – die Depesche – und das einer Nation wie Frankreich!« rief Klaus Krafft und warf den Figaro zusammengeballt in die Ecke. »Ich kenne den Grafen Benedetti – ein gewandter, höflicher Mann – Man hat ihn behandelt wie einen Commis voyageur!«

Der Reitknecht brachte die Briefmappe.

Als der Kammerherr sie aufschloß, fielen ihm eine Reihe von Absagen zum Familientag in die Hände. Er zuckte die Schultern. Im voraus hätte er die an den Fingern herzählen können, die absagen würden auf die Kriegserklärung. Als ob man am andern Tage schon ins 17 Feld rückte und Kanonen donnern ließe, ehe noch die Mobilmachung vollendet war! Die Illzach von Blamont, die Krafft von Isenthal, die Vettern von Kienzheim und die Hinzelin von Gebweiler entschuldigten sich und gaben der Meinung Ausdruck, daß jetzt keine Zeit sei, einen Familientag zu halten.

Mißmutig warf Klaus Krafft Brief zu Brief.

»Von Marc und Klaus nichts und von Kiener auch nichts,« murmelte er.

Claudine ging unruhig im Zimmer umher und griff bald nach diesem, bald nach jenem Gegenstand.

»Marc hat den Familientag sicher vergessen,« sagte sie.

Der Kammerherr hielt ein Dienstschreiben des Präfekten des Departements vom Oberrhein noch uneröffnet in Händen und blickte starr vor sich hin. Die dunkle Zigarre, die er neben sich auf den Teller gelegt hatte, zog blaue Rauchfäden. Abendschatten schlugen ins Zimmer, das nach Norden lag, und die schönen Waldkuppen der Vogesen erglühten in der untergehenden, goldsprühenden Sonne.

»Ich muß ihm Geld schicken,« murmelte der alte Herr endlich und strich über den grauen Napoleonbart, um das Zucken der Lippen zu verbergen.

Diesmal brauchte der Jüngste wirklich Geld zur Feldausrüstung, die er schon mehr als einmal in den letzten Jahren vorgeschützt hatte, wenn er in der Klemme saß.

Partant pour la Syrie le beau Dunois...‹ klang's dem Freiherrn Krafft von Illzach plötzlich keck und zärtlich ins Ohr. Er sah seinen Jungen im blinkenden Harnisch mit wehendem schwarzem Roßschweif, hochgereckt in den versilberten Bügeln an der Spitze seines Zuges vorübertraben, in großem Trott der schweren Schlachtenreiterei, Stiefel an Stiefel, den langen Pallasch zum Stich gereckt, daneben das verwetterte Gesicht des Wachtmeisters Kestle, der schon den dritten Illzach als Leutnant bemutterte, seit er mit neunzehn Jahren zur Trommel gelaufen war und das Schmiedehandwerk zu St. Niklausen seinem Bruder überlassen hatte.

18 Claudine las im Gesicht des Vaters, und halb aus Eifersucht, halb aus Mitgefühl störte sie ihn aus seinen Gedanken und sagte:

»Klaus hätte wohl schreiben können, aber vielleicht kommt er unangemeldet. Es ist keine Reise von Basel bis hierher.«

Der Kammerherr hatte sich wieder in der Gewalt. Bei Claudinens ersten Worten riß er sich zusammen.

»Da könntest du dich irren. Das Konsulat in Basel ist einer der wichtigsten Beobachtungsposten! Klaus ist als Vizekonsul dorthin gesetzt worden, weil er als früherer Militär auch militärische Meldungen zu erstatten weiß. Und das beweist mir, daß wir wirklich bereit sind. Der Kriegsminister hat ein prachtvolles Wort gefunden für unsere Kriegsbereitschaft: erzbereit, wie das klingt! Wie Siegesfanfaren!«

Und wieder klang's ihm zärtlich und keck im Ohr: ›Partant pour la Syrie le beau Dunois...

Und er sah Marcs zartgebräuntes Gesicht mit den dunklen Augen der Mutter unter dem vergoldeten Helmdach leuchten, während er zerstreut das Wappen mit dem napoleonischen Adler zerbrach, das den Brief des Präfekten verschloß.

»Sieh da, ein Billett des Kaisers!«

Er stand auf. Aus dem Begleitschreiben war ein schmalzusammengekniffenes Billett gefallen, das in zitternden welligen Zügen Klaus Kraffts Adresse zeigte.

Klaus Krafft öffnete das Handbillett des Kaisers und las die kurze Zeile, las sie drei- und viermal und erschrak über die fahrige, unsichere, kranke Handschrift, die nur in der Unterschrift bei dem Anfangsbuchstaben des großen Namens noch einen zackigen Blitz von schärferen Umrissen geschleudert hatte, um in einem müden Schnörkel zu enden.

Je me recommande à vous!

Votre affectionné

Napoléon.

19 Weiter nichts! Und doch soviel, ein Beweis des Vertrauens, eine Aufforderung, ein Hilferuf, eine Bitte, Resignation und Fatalismus – das alles lag in diesen Worten!

Nun reichte er Claudinen das Billett. Zerstreut blickte sie auf die zerfallene Handschrift. Sie dachte an Konrad.

Noch einmal hob der Freiherr die Zeitungen vom Boden und las Grammonts Erklärungen in der Kammer. Er las auch das Schreiben des Präfekten, in dem es hieß, daß Preußen angesichts der französischen Festigkeit und Bereitschaft vielleicht doch noch nachgeben werde, aber er wußte nun, daß der Krieg so gut wie entbrannt war.

Da befielen ihn zum ersten Mal Zweifel, befiel ihn Furcht um den Ausgang. Und blitzschnell sprangen seine Gedanken wieder zu Marc, aber das romantische Lied der leichtlebigen Hortense vom schönen Dunois paßte jetzt nicht mehr – es war plötzlich ein anderer, wilderer, dem Tod vertrauterer Klang in seinem Ohr.

Und da reißt es ihn in die Höhe, hört er mit dem leiblichen Ohr, was ihm die Einbildungskraft vorgegaukelt.

Allons enfants de la patrie‹ braust, gellt es von der Straße, die am Hügel vorbeiführt, und ans Balkonfenster tretend sieht der Baron Klaus von Illzach eine Schar einberufener Moblots und Reservisten, von einer halben Kompagnie Vierundachtziger aus Neubreisach begleitet, nach Kolmar ziehen. Der Wein raucht in ihren Köpfen. Sie singen trotzig und trunken das Antityrannen-Lied, das vom Kaiserreich proskribiert worden war.

Claudine stand blaß, mit schreckhaft erweiterten Augen neben ihrem Vater.

»Was ist das, Papa?« fragte sie tonlos: »Ist das die –«

»Ja, das ist die Marseillaise!«

Da fällt ihm ein, daß sie verboten ist, daß das Kaiserreich sie in Acht und Bann getan hat, aber wild rollt sie heute ihren aufreizenden feurigen Rhythmus durch das stille, ruhende Land.

20 Über dem Schwarzwald liegen violette Abendschatten. In geheimnisvollem Dunkel verbirgt sich das deutsche Land jenseits des Stromes, während die Vogesen vom letzten Spätrot bluten.

Claudine von Eggheim geht stumm, schleppenden Ganges in ihr Gemach.

Langsam wendet sich der Baron zum Schreibtisch zurück. Er muß die Kerzen anzünden, um etwas zu sehen, und schreibt dem Präfekten einen höflichen Brief. Er stellt sich zur Verfügung, wenn man seiner bedürfen sollte. Mehr weiß er nicht zu antworten auf das Kaiserliche Billett. Dann ordnet er die Angelegenheiten des Hauses, als rückte er selbst morgen ins Feld.

Vor neun Jahren hat Klaus Krafft von Illzach sich aus dem Hofdienst zurückgezogen, der ihm auch sonst soviel freie Zeit und Urlaub gelassen hatte, daß er seine Güter im Elsaß selbst hatte bewirtschaften können. Nur auf den Meierhöfen an der Sauer saßen freie Pächter, denn dieser Besitz war den Illzach erst unter dem ersten Kaiserreich durch Dotation zugefallen. Damals hatte der Kaiser dem General Marc d'Illzach-Boncour nach der Schlacht bei Eylau für bewiesene Bravour und intelligente Aktivität, wie es im Brevet hieß, soviel Meierhöfe an der Sauer geschenkt, als er Verwundungen aufzuweisen habe. ›Ich habe nur fünf wirkliche Blessuren, das andere sind Schrammen,‹ hatte Marc von Illzach geantwortet, und so bekam er nur fünf Höfe. Sie gehörten früher den Lützelburgern und lagen im Gemeindebann von Morsbronn und Dürrenbach.

Klaus Krafft hatte oft zur Hühner- und Hasenzeit dort gehaust und war dann bei dem Grafen Dürckheim von Reichshofen zu Gast gewesen.

Wozu man ihn wohl noch gebrauchen konnte! Ah, es mußte doch nicht alles so gut stehen, wenn man an alte Diener dachte, die sich nicht rühmen durften, große Leuchten gewesen zu sein!

Je nun, man tat, was man konnte!

21 Der Freiherr verschloß die Kassette und versiegelte die Brieftasche mit den Wertpapieren, die er nach Basel auf die Bank schicken wollte.

Wenn Kiener gekommen wäre, hätte er dafür einen sicheren Boten gehabt.

Er erinnerte sich eines hübschen Scherzwortes des Kaisers.

Kiener war zum ersten Mal in den gesetzgebenden Körper gewählt worden, und der Kaiser hatte ihn sich von Klaus vorstellen lassen. Es war im Dezember des Jahres 1867. Da war das Gespräch auf die Industrie gekommen, und der Schwager hatte eine Frage Napoleons nach seinen Baumwollspinnereien in Kleingilgen und im Wesserlingertal mit den Worten beantwortet: ›Ich beschäftige dreitausend Spindeln, Sire.‹ Worauf Napoleon mit seinem müden, liebenswürdigen Lächeln und halbverschleierten Augen erwidert hatte: ›Ihre dreitausend Spindeln sind mir wertvoller als dreitausend Bajonette.‹

Der Kaiser wollte sich wegwenden, um weiter Cercle zu halten. Da bemerkte Klaus, daß Kiener mit seinem steifsten Nacken und seiner breiten, trotzigen Stirn dastand und schon den Mund zu einer unerwünschten Fortsetzung des Gespräches öffnete. Ihm schwante Unheil. Rasch trat er dem Schwager schwer auf den Fuß. Mit einem unterdrückten Fluch zuckte der Fabrikant zusammen, und Napoleon ging weiter.

›Was hattest du denn auf der Zunge?‹ fragte der Baron später den oppositionellen Elsässer.

›Pah, nicht viel – ich wollte ihm nur sagen, daß ihm jetzt dreitausend Spindeln schon lieber sein könnten als dreitausend Bajonette, denn der 2. Dezember wäre vorüber.‹

Da hatte ihm Klaus Krafft mit einem wütenden Blick den Rücken gekehrt.

Tête carrée‹ war alles, was er ihm als Abschied zurückließ.

Aber Kiener hatte gelassen die Achseln gezuckt und ihm nachgerufen:

22 ›Geh nur, geh, wir sind ja beide Elsässer.‹

Erinnerungen, Erinnerungen, wichtige und unwichtige raschelten in den Papieren, die der Kammerherr heute in Ordnung brachte!

Und als Jacques Kiener am nächsten Tag auf der Rampe von St. Niklausen aus der Kalesche stieg und seiner Frau aus dem engen Fond half, dann den hohen schmalkrempigen Hut fest auf den Schädel drückte und Madame Kiener née Krafft d'Illzach am Arm, ins Vestibul des Herrenhauses trat, rotbäckig, den grauen Backenbart frisch gestutzt, den eisenfesten Mund mit den vollen Lippen glatt geschoren und keinen unruhigen Schein in den hellen blauen Augen, da trat der Freiherr Klaus Krafft lebhaft auf ihn zu und sagte:

»Ja, auf dich da kann man sich verlassen!«

Außer Kiener war niemand gekommen.

Nur sechs Gedecke lagen aus an diesem Familientag der Illzach, und das sechste war für den Pfarrer bestimmt, den der Freiherr als Ersatz aufgeboten hatte.

Da Claudinens Schicksal alle bewegte, so suchte man das Gespräch nicht auf den Krieg kommen zu lassen. Aber es gelang ihnen nicht. Es entstanden nur um so peinlichere Stockungen, bis Frau von Eggheim selbst bat:

»Sprechen wir doch von dem, was uns alle trifft. Es wird ja nicht anders, wenn wir es wegleugnen.«

Und sie beteiligte sich mit voller Beherrschung an dem heißen, unruhigen Frage- und Antwortspiel, das nun entbrannte. Sie wußte ja noch gar nicht, was Krieg war.

Es war ein schwüler gewitterhafter Tag. Über dem Belchen hing eine weiße, glänzende Wolke, die tausend Gestalten wechselte und sich allmählich rötlich verfärbte. Ein heißer Wind blies den Staub der Landschaft in die Weinberge.

Kiener erzählte gerade, daß die Fabriken schon zwei Drittel der Webstühle stillgestellt hätten, und der Freiherr wußte durch ein Rundschreiben des Präfekten, daß in Straßburg schon der Belagerungszustand verhängt 23 und die Tore geschlossen seien. General Uhrich sei zum Generalkommandanten ernannt worden.

Kiener und Krafft erinnerten sich Uhrichs, als eines untersetzten, breitstirnigen Mannes mit starken Kinnbacken, eines zähen, kaltblütigen Soldaten.

»Er wird seine Not haben mit den Afrikanern, bis das erste Korps erst über den Rhein hinüber ist. Straßburg steckt voll von Mac Mahons Elitetruppen,« rief der Kammerherr mit hellen Augen.

Dann hob er das Glas langsam, mit steifem Arm und sagte mit fester Stimme:

»Wir trinken auf den Sieg Frankreichs.«

Dabei gingen seine Blicke von einem zum andern. Von seiner Schwester, in deren blassem, vom zarten Puderschimmer überhauchten Gesicht die Angst um Marc zitterte, den die Kinderlose liebte wie einen Sohn, zu Kiener, der ernst und kalt, aber ohne Zaudern den Kristallkelch herüberstreckte. Von Kiener wanderten Klaus Kraffts Blicke zu der Gestalt des Geistlichen, der unwillkürlich die Lippen in einer Fürbitte bewegte, und dann von dem weißen Kopf des Pfarrers ein Haupt weiter und trafen auf ein geisterbleiches Frauenantlitz, das mit einem herzzerreißenden Ausdruck in die Ferne starrte.

Da verschüttete der Freiherr, von jähem Schrecken übermannt, die Hälfte des funkelnden Rieslings, und sein halbleeres Glas klirrte ungeschickt zwischen die Gläser der andern, daß aus allen schwere Güsse über das Tafeltuch sprangen.

Der Freiherr trank mit krampfhaft schluckender Kehle, dann bückte er sich zu seiner Tochter, suchte ihre Hand und murmelte:

»O pardon, Claudine, ich hatte nicht daran gedacht!« Doch Claudine zwang sich zu lächeln und erwiderte. so daß alle es hörten:

»Ja, gehöre ich denn nicht mehr zu euch, Papa?«

Aber ehe die andern noch gewahr werden konnten, daß sie im Begriff war, in ein wildes Schluchzen 24 auszubrechen, knatterten drunten in der Allee die stählernen Hufe eines Pferdes, das in voller Karriere heranjagte. Es war eine so scharfe, höllische Pace, daß geübte Ohren sofort das edle Blut erkannten. Die Herren fuhren von den Stühlen und eilten an die offenen Fenster, durch die die schwüle Luft in heißen Zügen hereinströmte.

»Es ist Marc,« rief Kiener.

Schon schoß der Gaul durch das Parktor, übersprang die Rasenrabatte, über die ihn der Reiter keck hinwegsteuerte und fiel dann in ein Piaffieren, als gelte es die hohe Schule vorzuführen.

Marc lüftete das Lagerkäppi und rief lachend zu den Fenstern hinauf:

»Zur Stelle, Papa, zum Familientag!«

In der kleinen Uniform, ohne Waffe, in leichten Reitstiefeln, saß er vergnügt auf dem hochbeinigen Engländer und weidete sich an der Überraschung der Familie.

Erst als Claudinens blasses Gesicht im Rahmen eines Fensters erschien, glitt er aus dem Sattel und befahl den Gaul den Leuten. Er blies ihm noch einmal kosend in die Nüstern, dann stürmte er die Treppen hinauf.

Oben mäßigte er sich und warf Käppi und Reitstock von sich, um dem Vater mit guter Haltung entgegenzutreten.

Klaus Krafft reichte ihm die Hand und zog ihn dann an sich. Er drückte den Schnurrbart auf die braunen Backen des Sohnes und sagte in unschuldiger Freude:

»Marc, mein Junge, wo kommst du her, du Strick?«

Es war auf einmal gar nicht der Kürassier-Offizier, nicht Baron Marc von Illzach, sondern der wilde Marc, der große Junge mit den langen Gliedmaßen und den dunklen, zärtlichen Augen der Mutter. Und der Freiherr vergaß in der Täuschung dieser Illusion den Tag, die Stunde und die Umstände, die den Sohn in seine Arme führten.

Aber Marc hielt der Rührung des Vaters nicht lange still, sondern bückte sich schon, um Tante Madeleine zu 25 umarmen, und erwiderte dabei auf die immer wiederkehrende, eigentlich unnütze Frage:

»Von Straßburg her natürlich. Die Brigade ist gestern ins Biwak gelegt worden, damit wir den Steckelburgern nicht alles kahl fressen, und da bin ich mit kleinem Urlaub ausgerissen.«

»Ausgerissen?« wiederholte Kiener fragend.

»Ja, lieber Onkel, wie Schafleder. Der Marschall hat sein Quartier noch in der Festung. Wir haben ja Zeit, die Preußen bekommen uns früh genug auf den Hals. Da bin ich mit einem leeren Armeetrain nach Kolmar gerutscht und habe mir dort von Peyrimhoff den Coquelicot gepumpt. Und jetzt guten Tag, guten Abend, und in einer Viertelstunde bin ich wieder unterwegs.«

»Und wann kommst du ins Quartier zurück?« fragte der Vater ernst.

»Vor der Bataille, vor der Reveille, lieber Papa, seien Sie ganz ohne Sorgen!«

Er lachte bei diesen Worten, aber Claudine kannte die stolze Bewegung, mit der er den Kopf in den Nacken warf, und sah die schlimme Falte zwischen seinen Brauen.

Da trat sie rasch hinzu, ganz wie früher, unwillkürlich die Schwester, die ausgleichend zwischen den Männern gewaltet hatte.

»So haben wir dich noch einmal gesehen, Marc. Das ist lieb von dir,« sagte sie, und ihre Stimme klang süß und schwer.

Plötzlich war die große Spannung, die furchtbare Erwartung wieder da, die sich seit Marcs Ankunft und trotz seiner militärischen Erscheinung verflüchtigt hatte.

Marc blieb eine Viertelstunde, trank ein Glas Champagner, nahm aus den Händen des Vaters ein Päckchen Banknoten in Empfang und brach wieder auf. Die Viertelstunde war ihnen lang geworden.

Jetzt küßte der Offizier den Vater zum Abschied.

Der Baron klopfte ihm in einem fort auf den Rücken, 26 während sie sich umfaßt hielten. Die Worte quollen ihm im Munde.

»Und immer den Sattelgurt selbst noch einmal anziehen, hörst du, garçon, Hauptsache – und grüß mir den Kestle – hörst du, Marc! Er soll – er soll –«

»Ja, Papa, er soll gut acht geben auf mich, wollen Sie sagen,« ergänzte Marc leise das Stammeln des Vaters.

»Und hüte dich vor den Jupons. Es hat verdammt hübsche Gesichter am Rhein und in Thüringen,« fügte Kiener den Ratschlägen des Barons bei.

Da mußten sie lachen. Aber der letzte Augenblick war um so ernster.

Als Marc seine Schwester küßte, warf sie plötzlich die Arme um seinen Hals und hielt ihn wie im Krampf umschlungen. Es war ein wilder, verzweifelter Ausbruch des Schmerzes. Marc spürte das Zucken ihrer Glieder, die sich dicht an ihn drängten, hörte den hämmernden Herzschlag und fühlte, wie sie schwer und leblos in seinen Armen lag.

Er trug sie auf das Sofa. Fassungslos standen sie um sie her. Wie Mitschuldige, ohnmächtig, mit leeren Händen und konnten nicht helfen.

Marcs Gesicht war hart geworden. Er dachte an Konrad von Eggheim, den Feind.

Aber er küßte Claudinen noch einmal zärtlich auf das braune wellige Haar und ging dann stumm und leise mit einer abwehrenden Bewegung hinaus.

Kiener begleitete ihn.

»Wo ist Eggheim?« fragte Marc.

Kiener gab Bescheid.

»Sie liebt ihn,« versetzte Marc und schob den Fuß in den Bügel, und auf einmal wieder übermütig:

»Nun gut, wenn der Krieg vorbei ist und wir aus der Pfalz ein neues Departement machen, so soll er dort Präfekt werden!«

Wiederum standen sie an den Fenstern, der Vater und Kiener.

27 Der Pfarrer und die Tante weilten noch bei Claudine.

Marc fand diese Verteilung schnell heraus, und wieder ernst geworden, hob er stumm den Reitstock zum Gruß und ließ den Hengst auf das Rasenband treten, damit die Schwester ihn nicht abreiten hörte und dadurch neu ergriffen würde. Lautlos fielen die Hufe. Die Sonne warf schwere Goldkringel durch das Laub der Kastanienbäume. Die Gestalt des Reiters verlor sich in dem Lichter- und Farbenspiel, bis sie auf der Straße noch einmal fest umrissen auftauchte.

Der Postbote kam gerade von der Station her.

Von den Fenstern des Herrenhauses aus sah man, daß Marc ihn anredete, ihm ein Papier entriß, es las, auf die Straße schleuderte und plötzlich vom Fleck weg in Karriere davonsprengte.

Kurz darauf wußten sie, daß es ein Bulletin des ›Journal Alsacien‹ gewesen war, das die Sprengung der Kehler Eisenbahnbrücke durch badische Pioniere meldete.

Der Bote brachte auch einen Brief von Klaus aus Basel. Klaus war telegraphisch zur Botschaft nach Wien versetzt worden und schon dorthin abgereist. Er bat, seine Frau und die Kinder nach St. Niklausen zu holen.

Als Kiener noch am gleichen Abend Abschied nahm, um wieder nach Paris zu reisen, wo jetzt das politische Leben der Nation in voller Glut stand und alles an sich zog, was nicht Soldat war, da stand der Kammerherr Baron Klaus Krafft von Illzach allein auf der Terrasse des Herrenhauses. Seine Schwester hatte Claudine mit nach Mülhausen genommen, angeblich um dort das Haus bestellen und schließen zu helfen, ehe Frau Kiener selbst nach St. Niklausen übersiedelte. In Wahrheit aber wollte Madeleine die junge Frau ihren quälenden Gedanken und sehnsüchtigen Ängsten entreißen und ihr etwas zu tun geben.

Es war eine drückende Stille und Schwüle. Kein Blatt bewegte sich. Über den Vogesen lag träges Wolkengetier und ließ zuweilen ein dumpfes Murren hören, 28 ohne sich vom Fleck zu rühren. Auf der Landstraße schlichen die Kolmarer Marktfuhren in langem Zuge von Mülhausen heimwärts. Ihre bleichen Leinwanddächer leuchteten gespenstisch in dem falben Zwielicht des Sommerabends.

Den einsamen Mann auf der Schloßterrasse überlief ein Frostschauer – trotz der Schwüle. 29

 


 


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