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5. Kapitel.
Mord.

Die Mittagsblätter des folgenden Tages brachten nachstehenden sensationellen Bericht:

Mord. Die dem bekannten Eisenindustriellen Kipferl gehörige Villa in Währing war gestern der Schauplatz eines Mordes, dessen Opfer der Hausherr selbst ist. Der junge, lebenslustige Mann kam nach 1 Uhr nachts nach Hause. Sein Vetter und ehemaliger Fabriksleiter, Josef Neubert, erwartete ihn trotz der vorgerückten Stunde, und die beiden Vettern hatten ein Gespräch miteinander, in dessen Verlauf wahrscheinlich der eine zum Mörder wurde. Die Ursachen sind ganz klar. Neubert, der als ruhiger und tüchtiger Mensch gilt, hat bis vor kurzem eine leitende Stelle in der Fabrik eingenommen. Vor wenigen Tagen starb der bisherige Besitzer, und sein Erbe, der Ermordete, schien mit dem Vetter nicht zu harmonieren. Es kam öfters zu Streitigkeiten zwischen ihnen, gestern zum Bruche. Herr Kipferl entließ nach einem heftigen Streite – seine erregte Stimme drang bis in das anstoßende Komptoir, wo die Kanzlisten arbeiten – den Vetter sofort aus seinen Diensten und gab dem Kassier den Auftrag, ihm den fälligen Gehalt auszuzahlen. Es scheint nun, als ob Neubert den Fabrikanten in seiner Wohnung erwartete, um sich mit ihm wieder zu versöhnen. Wahrscheinlich weigerte sich dieser aber, die Kündigung zurückzunehmen, und Zorn und Kränkung mögen den jungen Mann zum Morde fortgerissen haben.

Die Tat wurde erst heute morgen gegen 10 Uhr entdeckt. Der Kammerdiener des Ermordeten fand diesen, als er das Schlafzimmer betrat, mit zerschmetterter Hirnschale am Boden liegen. Ein schwerer eiserner Schürhaken, noch mit Blut befleckt, zeigte, mit welchem Instrument die Tat vollbracht wurde. Neubert wurde noch im Laufe des Vormittags in seiner Wohnung verhaftet. Er leugnet aber bis jetzt jeden Anteil an der Tat.

Die Kunde von dieser Mordtat bildete die nächsten Tage das Gespräch von ganz Wien. Schon am andern Morgen brachten die illustrierten Blätter Abbildungen des Tatschauplatzes, des Ermordeten und seines Mörders Neubert.

Mit einer solchen Zeitung in der Hand betrat Jobst die Wohnung seines Freundes Hofmeister, und das Blatt auf den Tisch werfend, rief er aus: »Was sagst Du dazu?«

Der Angesprochene, welcher, in einen bequemen Schlafrock gehüllt, die lange Studentenpfeife zwischen den Zähnen, auf dem Sopha lag, blies gedankenvoll kunstvolle Rauchringe in die Luft, und es dauerte geraume Zeit, ehe er sich zur Antwort entschloß.

»Was ich dazu sage? Ei, ich vertraue der Einsicht der Polizei und besonders der Geschicklichkeit meines Freundes Jobst.«

Der Kommissär schritt aufgeregt im Zimmer auf und ab. »Wenn ich nicht wüßte, Hofmeister, daß Du der harmloseste Mensch auf Gottes weitem Erdboden bist, so würde ich glauben, Deine Worte seien blutiger Hohn. Lies doch nur diesen Polizeibericht, den alle Blätter abgedruckt haben, lies ihn doch nur als verständiger Mensch, der es gelernt hat, Charaktere zu beurteilen, und dann betrachte hier dieses Bild, diese offenen, ehrlichen Züge, und sage mir, ob Du glaubst, daß so ein Mörder aussieht.«

Der Detektiv zuckte mit den Achseln. »Man soll nie einen Menschen nach seinem Aussehen beurteilen. Du als Fachmann weißt am besten, wie oft die größten Schurken die vertrauenerweckendsten Gesichter haben.«

»Zugestanden. Aber man ist nicht ein ganzes Leben lang ein Ehrenmann, der allenthalben als Muster, als Beispiel von Intelligenz, Pflichterfüllung und Arbeitsfreudigkeit hingestellt wird, und wird dann plötzlich zum Schurken.«

»Sage zum Verbrecher, zum Mörder. Nicht jeder Mörder muß auch ein Schurke sein, oft ist er nur ein Unglücklicher, der eine Tat des Jähzorns, der momentanen Aufregung, meinetwegen Geistesverwirrung schon im nächsten Augenblick bitter bereut, aber nicht ungeschehen machen kann. Ich kenne genug Leute, die einen Mord begangen haben und die ich trotzdem für keine Schurken halte, denen ich ohne Zaudern mein ganzes Vermögen, das heißt wenn ich eins hätte, anvertrauen würde, gewiß, daß sie unfähig seien, auch nur einen Heller zu unterschlagen.«

Jobst warf sich mit solcher Wucht in den Schaukelstuhl, daß das Strohgeflecht unter dem Anprall des Körpers stöhnte und knirschte.

»Also auch Du hältst Neubert für den Mörder?«

»Ich weiß zu wenig von der Sache, um ein Urteil zu fällen. Gewiß ist, daß die Indizien ihn schwer belasten, und ich kann Dir nicht verhehlen, daß weder die tadellose Vergangenheit noch das sympathische Äußere des Beschuldigten mir mit der ihm zugeschriebenen Tat unvereinbar erscheinen. Ich sage nicht, Neubert ist der Täter, denn ich weiß, daß auch die scheinbar untrüglichsten Indizien falsch sein können, aber ich sage, ich sehe auch keinen Beweis, daß er nicht der Täter sei. In dem ganzen Bericht scheint mir ein einziger Punkt gegen seine Schuld zu sprechen«.

Jobst richtete sich lebhaft empor. »Und das wäre?«

Der Finger des Detektivs deutet auf die letzte Zeile. »Hier der Schlußpassus: Der Angeklagte leugnet bis jetzt jeden Anteil an der Tat.«

Der Kommissär starrte den andern verwundert an. »Ich verstehe Dich nicht. Willst Du Dich nicht näher erklären? Zum Rätsellösen bin ich nicht aufgelegt.«

Hofmeister lächelte überlegen. »Und doch hätte gerade Dir, der Du von dem Charakter Neuberts soviel hältst, dieser Umstand auffallen müssen. Ich habe vorhin gesagt, auch ein Ehrenmann würde durch unglückliche Verkettung der Umstände zum Mörder werden können. Aber ist er es geworden, so wird er als Ehrenmann auch die Verantwortung für seine Tat und die Sühne, welche sie erfordert, auf sich nehmen, das heißt, er wird sich selbst dem Gericht stellen oder zum mindesten nicht versuchen, durch Leugnen seine Lage zu verschlechtern. Dazu kommt, daß Neubert ausdrücklich als sehr intelligent geschildert wird. Ist er dies, so müßte er als tatsächlicher Mörder sich sagen, daß sein Leugnen zwecklos ist und nur die Richter gegen ihn einnimmt, während ein offenes Geständnis der wenn auch nicht entschuldbaren, so doch begreiflichen und nach der menschlichen Charakterveranlagung verständlichen Tat die Geschworenen wahrscheinlich milde stimmen und zu einem nicht allzu harten Spruche bewegen würde. Dies wäre mein Gedankengang, wenn ich eine solche Tat des Jähzornes begangen hätte, und ich glaube, auch Neubert hätte den gleichen Gedankengang haben müssen.«

Jobst zuckte mit den Achseln. »So im allgemeinen möchte ich dieser Theorie nicht unbedingt zustimmen. Aber da wir beide, wenn auch auf verschiedenen Wegen, zu dem gleichen Resultate kommen, daß Neuberts Schuld durchaus noch nicht bewiesen, vielmehr ziemlich zweifelhaft ist, so frage ich Dich, ob Du vereint mit nur Dich der Aufgabe widmen willst, der scheinbar so klaren, wie ich aber fürchte, in Wirklichkeit sehr dunklen Sache auf den Grund zu gehen, einen Unschuldigen zu retten und den Täter der verdienten Strafe zuzuführen.«

Voll inniger Freude blickte Hofmeister auf den Freund, der in edlem Eifer erglühte. »Es hätte Deiner Aufforderung nicht bedurft, Jobst. Ich hatte schon vor Deinem Kommen die Absicht, mich näher mit der Sache zu befassen. Bereits vor Wochen wurde mein Rat in einer Angelegenheit verlangt, die mit dem Tode Kipferls, nicht des Ermordeten, sondern seines Vaters, in einem gewissen Zusammenhange zu stehen scheint. Leider verhindert mich meine berufsmäßige Diskretion, die übrigens ausdrücklich verlangt wurde, Dir näheres mitzuteilen. Aus diesem Grunde ist ein Zusammenarbeiten von uns beiden nur in beschränktem Maße möglich. Übrigens sind unsere Methoden viel zu verschieden. Aber das hindert nicht, daß wir jeder für uns die Spuren verfolgen; einer von uns beiden wird wohl das Richtige finden, und wenn Du es bist, sei gewiß, daß ich Dir Deinen Erfolg nicht neiden werde.«

»Ebensowenig wie ich Dir den Deinen,« rief der Kommissär. »Abgemacht, getrennt marschieren und vereint schlagen soll unsere Losung sein. Doch jetzt komm' mit. Heute findet die Zeugenvernehmung statt; die dürfen wir nicht versäumen. Der Untersuchungsrichter wird nichts dagegen haben, wenn wir beide der Sache beiwohnen.«

Eine halbe Stunde später saßen die jungen Freunde im Bureau des Untersuchungsrichters, der die beiden Kriminalbeamten ihrem Rufe nach längst kannte und aufs freundlichste willkommen hieß.

»Ich glaube, Sie werden diesmal nichts zu tun bekommen,« sagte er. »Die Sache ist leider allzu klar. Ich kenne Neubert persönlich, der Mann tut mir wahrhaftig leid, er ist mehr wert, als hundert solche Kipferls zusammengenommen. Aber jetzt muß das Mitleid schweigen.

Ich habe sämtlich Hausbewohner als Zeugen vorgeladen, außerdem noch einige andere Personen. Nur der Schwester des Verstorbenen glaubte ich die Qual eines Verhörs ersparen zu sollen. Wenn es Not tut, können wir sie ja noch später einvernehmen.«

Hofmeister nickte zustimmend.

»Wollen wir beginnen?« drängte der ungeduldige Jobst.

Der Untersuchungsrichter gab ein Klingelzeichen und befahl dem eintretenden Amtsdiener, die vorgeladenen Zeugen einzeln vorzuführen.

Als erste erschien die Haushälterin, eine ältere Dame, die seit Jahren der Wirtschaft vorstand. Sie war gleich nach dem Tode der Mutter des Ermordeten ins Haus gekommen, hatte die Kinder groß gezogen und war auch nach dem Tode des älteren Kipferl im Hause geblieben, mehr als mütterliche Freundin wie als Dienerin.

Aufgefordert, zu erzählen, was sie von den Vorgängen wüßte, begann sie: »Am Montag abends hatten wir, das heißt, das Fräulein Lisi und ich, Besuch, nämlich den Herrn Dr. Weiß und den Herrn Josef, das heißt den Herrn Neubert; ich nenne ihn nur Herr Josef, wissen's aus alter Gewohnheit. Mein Gott, ich hab' ihn g'kannt, wie er noch a junger Bub war. Nie hätt' i' denkt, daß i' so was bei ihm erleben muß. Der selige gnädige Herr hat ihn allweil g'halten wie sein eigen's Kind. Immer war's sein sehnlichster Wunsch, daß aus den beiden, der Lisi und dem Josef, a Paar werden soll. Wie's Fräulein vom Pensionat z'rückkommen is' und ich vor Staunen die Händ' über'm Kopf zusammengeschlagen hab', wie groß und schön und fesch sie g'worden ist, hat mir der Selige zublinzelt mit die Augen und hat mich ang'stoßen und hat g'sagt: »No, was denkst Alte, wird' s' den Pep' g'fallen?«

Die alte Frau wischte sich bei dieser Erinnerung die Tränen aus den Augen und seufzte. »Mein Gott, is' noch ka' Jahr her, seit dem Tag und jetzt liegt der alte Herr längst unter der Erd', und der Poldl is' a tot und die Lisi sitzt z' Haus, steif und starr wie ein Stein, nicht a mal weinen kann's und der Herr Josef soll gar a Mörder sein. Aber na, dös kann i' nöt glauben, so a Mensch, der nöt a mal einer Flieg'n was z' leid tun kann.«

Der Untersuchungsrichter, der die Alte bisher ruhig hatte sprechen lassen, fand es doch für angezeigt, ihren Redefluß wieder ins richtige Bett zu leiten. »Sie sollen uns von dem gestrigen Abend erzählen, liebe Frau, das andere interessiert uns nicht.«

Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Ja alsdann, gestern Abend war der Josef und der Herr Dr. Weiß bei uns zu B'such. Der Josef kam jeden Abend, seit der alte Herr tot is', und Dr. Weiß war auch recht oft da. Unter uns g'sagt,« – sie machte ein pfiffiges Gesicht und zwinkerte bedeutungsvoll mit den Augen – »i' glaub', die beiden waren a wen'g in unser Fräulein verschossen.«

Hofmeister hob den Kopf in die Höhe. Eine Frage schien ihm auf den Lippen zu schweben, die er aber nicht aussprach. Die Alte fuhr fort: »Alsdann, der Herr Josef is a wen'g später kommen wie der andere und hat traurig und nachdenklich ausg'schaut. I' hab' ihn g'fragt, was g'schehen sei, aber er hat nur mit dem Kopf geschüttelt. Auch 's Fräulein hat alleweil nach ihm hing'schaut, wie er so traurig und schweigsam g'wesen is'. G'sprochen haben eigentli' den ganzen Abend nur der Dr. Weiß und i'. So um halba zwölfe hat sich der empfohlen und hat g'fragt, ob der Josef mit geht; der aber hat g'sagt, daß er noch was mit uns z'reden hätt' und so is' der Doktor allein gegangen.

Wie er draußen war, is' die Lisi glei' aufg'sprungen und hat den Herrn Josef g'fragt, was denn mit ihm is', und er hat erzählt, daß er mit'n Poldl an Zank g'habt hätt', und der hab' ihm g'kündigt. Unser Fräulein is' sehr bös' worden auf ihren Bruder, aber i' hab' die Sach' ins Lächerliche g'zogen und hab' g'sagt, geht's, ihr kennt's doch den Poldl, der läßt sich scho' was sagen. Morgen reden wir halt mit ihm und die Sach' is' wieder gut. Und da hat ein Wort das andere gegeben und der Josef hat g'sagt, daß ihm ja an der Kündigung nöt viel liegt, weil er Posten g'nug kriegt, aber er könnt's nöt über sich bringen, mit an Verwandten in Unfried' z' leben und gar mit dem Bruder von der Lisi. Und dann san die beiden einander auf einmal in d' Arm g'legen und haben sich g'küßt und mir hat das Herz vor Freud' g'lacht, weil i' dös doch schon vorausg'sehen hab' und weil dös der Wunsch vom Seligen g'wesen is'.

Sixt ös, Kinder, hab' i g'sagt, unser Herrgott führt alles zum Guten; ohne den Streit mit dem Poldl hätt' der Josef wer weiß wie lang' noch nix g'sprochen und ihr wüßtet nöt, daß ihr einander gern hättet und mei Lisi wär' jetzt nöt a glückliche Braut. Und da hab'n wir alle g'lacht und in dem Augenblick hab'n wir g'hört, wie der Poldl die Trepp' rauf g'kommen is'. Lustig war er und laut vor sich hin gepfiffen hat er. Der Josef hat glei' hinaus wollen, mit ihm reden, aber die Lisi hat ihm z'ruckg'halten und hat g'sagt, er sollt' lieber bis zum Tag warten, und so hat er adieu gesagt und is' g'gangen.«

Hier unterbrach Jobst die Sprecherin: »War lange Zeit vergangen, seit dem Kommen des Ermordeten bis zum Gehen des Herrn Neubert?«

»So g'nau weiß ich's nöt, aber gut a zehn Minuten können's g'wesen sein, denn erst hab'n s' noch a wenig g'sprochen miteinander, wie s' den Poldl auf der Stiegen g'hört hab'n und dann hab'n s' voneinander Abschied g'nommen und dös dauert bei Liebesleuten immer a hübsche Weil'.«

»Daß Herr Neubert beim Gehen im Gange oder auf der Treppe dem Vetter begegnet sei, ist also nicht anzunehmen?«

»I wo,« lautete die Antwort auf die neuerliche Frage des Kommissärs. »Da müßt' der Poldl ja wie lang' draußen stehen g'blieben sein!«

Der Untersuchungsrichter hatte inzwischen sich einige Notizen gemacht und fragte nun seinerseits: »Sie sagen, daß Sie den Ermordeten die Treppe heraufkommen hörten? Da mußten Sie ja auch hören, wie sich Neubert wieder die Treppe hinab entfernte?«

»Da d'rauf hab' ich nöt g'achtet,« lautete die Antwort.

»Haben Sie auch nicht gehört, wie er die Haustüre schloß?«

Das gutmütige Gesicht der Alten wurde blaß vor Schrecken. »Jessas, na, was mir da einfallt,« stammelte sie.

Alle horchten auf. »Nun, erzählen Sie,« ermunterte der Untersuchungsrichter.

»Wir waren noch a paar Minuten beisammen im Salon, das Fräulein und ich, und dann sind wir schlafen g'gangen. Unsere Schlafzimmer liegen nebeneinand'. Und wie ich g'rad ang'fangen hab', mich auszuzieh'n, hab' ich g'hört, wie unten die Haustür' g'gangen is'.«

Der Richter machte sich eine diesbezügliche Notiz und fragte weiter: »Wie lange Zeit dürfte inzwischen verflossen sein, seit Neubert sich von Ihnen verabschiedete?«

»A' Viertelstund' g'wiß, vielleicht noch länger.«

»Wünschen Sie noch eine Frage an die Zeugin zu richten?« wandte sich der Untersuchungsrichter zuvorkommend an Jobst.

Dieser warf einen Blick auf Hofmeister, der mit dem Kopf schüttelte, worauf auch der Kommissär die Frage verneinte.

»Gut, Sie können gehen,« wandte sich der Untersuchungsrichter an die Frau. »Amtsdiener, lassen Sie den Nächsten eintreten.«

Dieser Nächste war der Hausdiener Johann, oder, wie er im Hause gerufen wurde, der Schani. Auch er stand schon seit langem in Diensten Kipferls.

»Erzählen Sie, was Sie von den Vorgängen des Abends wissen,« gebot der Kommissär.

Schani machte ein halb betrübtes, halb verlegenes Gesicht. »Haltens zu Gnaden, Herr kaiserlicher Rat, aber weil ma' bei G'richt doch die Wahrheit sagen muß, so muß i' scho' sagen, daß i' gar nix weiß. Und die Resi, die a vorgeladen is', das Stubenmädel, die weiß a nix, weil mir nämlich beide nöt z'haus waren, sondern erst bei die Volkssänger und nachher beim Tanz und da is' es halt bald fünfe früh geworden, bis wir nachhause kommen sind. Die Resi hat sich beim Fräulein die Erlaubnis genommen, auszugehen, und ich bin halt mitg'gangen, weil ich doch ihr Schatz bin und sie ohne mi' doch nöt geh'n kann. Dös war g'wiß nöt recht von mir, aber es is' halt nur einmal im Jahr Fasching und ma' is' nur einmal jung und i' konnt' do' nöt wissen, daß – – –«

»Schon gut, schon gut,« unterbrach ihn der Richter lachend. »Bei mir brauchen Sie sich wegen des Durchbrennens nicht zu entschuldigen. Sie sind es, der den Toten aufgefunden hat?«

»Jawohl, Herr kaiserlicher Rat. Es war schrecklich. I komm' so gegen 10 Uhr ins Zimmer, um aufz'räumen, da liegt der gnädige Herr der Länge nach da. Anfangs hab' i denkt, mit Verlaub zu sagen, daß er beim Nachhausekommen a wen'g zuviel drinnen g'habt hat, Verstehens, Schampus, mein' i', und derohalben bin ich a nöt weiter erschrocken, sondern hab' mich buckt um ihn aufz'heben und ins Bett zu bringen. Da hab' i' aber g'spürt, daß er scho' ganz kalt is', und hab' g'nauer zug'schaut und dann hab' ich Lärm g'schlagen, weil ich's Blut am Kopf g'sehen hab', und dann sind die andern gekommen, das Fräulein und die Frau Sopherl, und die Karoline, was die Köchin ist und die Resi. Und dann haben wir an die Polizei telephoniert.«

Der Untersuchungsrichter blickte den Diener scharf an. »Geben Sie scharf acht, mein Lieber, und suchen Sie sich genau das Bild des Zimmers zu vergegenwärtigen, wie Sie es fanden. War irgendwo etwas Außergewöhnliches zu bemerken, ich meine, das Zeichen eines Kampfes oder sonst irgend etwas, was uns einen Anhaltspunkt geben könnte?«

Der Bursche schüttelte den Kopf. »Wie mei' erster Schreck vorüber war, hab' i mi' genau umg'schaut, aber es war alles noch so, wie es am Abend war; ich hab' noch mal im Zimmer nachg'schaut, bevor ich wegg'gangen bin. Nur eins, richtig. Der Herr muß was im Schreibtisch g'sucht haben, denn die Schublad' war offen, die Papierln lagen ganz durcheinander und der Schlüssel steckte. Ich hab' abg'sperrt und ihn der Frau Sopherl übergeben.«

In den Augen Hofmeisters glomm bei diesen Worten ein rasch verlöschender Strahl auf, den aber keiner der anderen bemerkte.

»Sonst wissen Sie nichts anzugeben?«

»I wüßt' nöt was, kaiserlicher Herr Rat.«

Der Zeuge wandte sich bereits zum Gehen, als sich Hofmeister zum ersten Male in das Verhör mischte. »Wollen Sie, bitte, den Zeugen fragen, auf welche Weise die Besucher hinaus und der Ermordete herein kommen konnte, wenn er, der Zeuge, nicht zuhause war, respektive, wer an seiner Stelle die Haustüre auf- und zuschloß, was doch wahrscheinlich sonst seine Arbeit war.«

»Sie haben die Frage gehört und wohl verstanden,« sagte der Untersuchungsrichter.

Schani nickte. »A Portier gibt's bei uns nöt. Der Herr und ich und die Köchin haben jeder seinen Haustorschlüssel und nach dem Tode des alten Herrn hat sich der Herr Josef auch einen extra anfertigen lassen, damit er länger bleiben kann und wir nicht erst warten müssen, bis er weggeht.«

»Wer hat also am betreffenden Abend den Herrn Dr. Weiß hinausgelassen?« fragte Hofmeister.

»Das weiß i' nöt, wahrscheinlich die Karoline.«

»Gut, ich danke Ihnen.«

Der Zeuge war entlassen und an seiner Stelle wurde die Köchin Karoline hereingerufen. Sie wußte nichts Namhaftes zu berichten. Sie hatte in der Küche gewartet, bis Dr. Weiß sich entfernt hatte. Das war gegen halb zwölf gewesen.

»Ich bin es nicht gewöhnt, lange aufzubleiben,« erzählte sie. »Das ist sonst dem Schani seine Arbeit, die fremden Gäste hinauszulassen, aber an diesem Abend hatte ich es übernommen. Ich mag wohl ein bißchen eingenickt sein, denn wie ich aufkam, stand der Herr Dr. Weiß in der Küche und suchte im Schlüsselkasten nach dem Haustorschlüssel. Ich war ganz erschrocken und wollte mich entschuldigen, aber er sagte, es liege ihm nichts daran und er hätte mich gar nicht wecken wollen. Ich wollte Licht machen, um ihn durch das Vorhaus zu leuchten, aber in der Eile fand ich die Zündhölzchen nicht. Dem Herrn Doktor dauerte es wohl zu lange, denn er ging im Dunkeln voraus und sperrte sich selbst das Tor auf. Ein paar Augenblicke später kam ich mit dem Licht und sperrte von inwendig zu, er hatte den Schlüssel stecken lassen, dann ging ich schlafen.«

Jobst rieb sich erregt die Hände. »Die Türe hat also eine Zeit lang offen gestanden?« fragte er.

»Jawohl, von dem Augenblick, da der Herr Doktor hinausging, bis zu dem, da ich das Haus absperrte. Aber das waren höchstens zwei bis drei Minuten.«

»Immerhin genug Zeit, um sich ins Haus zu schleichen und irgendwo zu verstecken,« rief der Kommissär.

Der Untersuchungsrichter blickte erstaunt auf. »Glauben Sie, daß sich jemand in diesen wenigen Minuten ins Haus hätte schleichen können?

Die Zeugin verneinte entschieden. »Es war ja nur ganz kurze Zeit. Und dann hätt' es wohl Herr Dr. Weiß sehen müssen, denn er kann nur wenige Schritte vom Hause weg gewesen sein, als ich inwendig abschloß!« Der Richter warf Jobst einen fragenden Blick zu, aber dieser begnügte sich, mit den Achseln zu zucken. So war muh dieses Verhör zu Ende.

Es folgte noch die Einvernahme des Advokaten Dr. Weiß, dessen Aussage sich vollständig mit der der Haushälterin und der Köchin deckte. Neues war daraus nicht zu entnehmen. Er hatte ja auch lange, bevor die Tat geschehen sein konnte, ihren Schauplatz verlassen.

»Damit wären wir mit den Zeugen fertig, die im Hause während oder vor oder nach der Tat etwas zu tun hatten,« bemerkte der Richter. »Ich habe mich aber damit nicht begnügt, sondern nachgeforscht, wo der Ermordete die letzten Stunden zugebracht hat. Ich habe erfahren, daß er in einem vornehmen Klub war, als dessen Mitglied er vor kurzer Zeit durch einen Baron Keröpesy eingeführt wurde. Dieser selbst konnte nicht einvernommen werden, da er von Wien verreist ist.«

»Seit wann?« fiel ihm Jobst ins Wort.

»Seit gestern glaube ich. Übrigens hat er am betreffenden Abend die Klublokalitäten viel früher verlassen wie sein Freund, und mit diesem nur zu Beginn des Abends einige Worte gewechselt. Dies ist durch die Aussage des Grafen Trautheim sichergestellt, der angibt, bis zum Schluß der Klubstunde, das ist bis ein Uhr, mit Kipferl gespielt und an den Toten eine bedeutende Summe verloren zu haben. Um die genannte Stunde entfernte er sich und der Fabrikant begleitete ihn noch eine kurze Strecke, um sich dann zu verabschieden.«

»Wissen Sie, welches der Name des Klubs ist und wo er sein Lokal hat?« warf Hofmeister ein.

»Es sind die »Harmlosen« und haben ihren Sitz irgendwo in der inneren Stadt. Wenn Sie eine nähere Angabe wünschen, so kann ich sie Ihnen sofort verraten.«

»Nein, ich danke, das genügt,« entgegnete der Detektiv.

Jobst war inzwischen aufgesprungen und erregt im Bureau hin und her gelaufen. Jetzt blieb er vor dem Untersuchungsrichter stehen und stieß hervor: »Ist das alles, was Sie in Erfahrung gebracht haben?«

Der Angesprochene nickte. »Alles.«

»Nun, und welche Schlüsse ziehen Sie daraus im Verein mit den eben vernommenen Zeugenaussagen?«

Der Untersuchungsrichter lehnte sich in seinen Stuhl zurück und musterte erstaunt den andern, der erregt vor ihm stand und ihn mit blitzenden Augen betrachtete.

»Leider läßt alles das keinen andern Schluß zu, als wir sofort beim Bekanntwerden der Tat zogen. Nur Neubert kann der Täter sein. Er hat trotz des Abratens seiner Braut sich offenbar verleiten lassen, den Vetter in seinem Zimmer noch aufzusuchen. Vielleicht hat er ihm die eben stattgehabte Verlobung mit der Schwester mitgeteilt und ist auch hier auf Widerstand gestoßen, was seinen Zorn wegen der Entlassung ins Ungemessene steigerte. Ein Punkt belastet ihn schwer. Sie erinnern sich, daß die Haushälterin erklärte, nach Neuberts Abschied die Haustüre nicht öffnen gehört zu –«

»Sie betonte ausdrücklich, daß sie nicht darauf geachtet habe,« widersprach Jobst erregt. »Bedenken Sie die Situation; die Alte ist eine Art Hausmöbel, die mit ganzem Herzen an ihren Ziehkindern hängt, besonders an dem Mädchen. Ich kann mir lebhaft vorstellen, was sich nach Verabschiedung des Bräutigams zwischen den Frauen für eine Szene abspielte: Glückwünsche, Umarmungen, Tränen auf beiden Seiten; da ist man nicht in der Stimmung, darauf achtzugeben, ob eine Türe geöffnet wird oder nicht. Ich möchte behaupten, es ist sogar natürlich, daß die beiden nichts hörten.«

»Zugestanden,« entgegnete der Untersuchungsrichter. »Aber, wie erklären Sie, daß eine Viertelstunde oder etwas darüber nach der Verabschiedung Neuberts die Alte die Haustüre öffnen hörte? Wer kann das gewesen sein, wenn nicht Neubert?«

Jobst zuckte die Achseln. »Warum kann es nicht gerade so gut ein anderer gewesen sein, der sich im selben Augenblicke ins Haus schlich, als das Tor nach dem Fortgang des Advokaten eine Zeit lang offen stand? Ich weiß schon, was Sie sagen wollen. Die Zeugin glaubt nicht an diese Möglichkeit. Aber das ist kein Beweis.«

Der Untersuchungsrichter lächelte überlegen. »Das allein nicht. Aber etwas Anderes spricht gegen diese Auffassung. Das Haus war verschlossen, der Täter konnte sich nur entfernen, wenn er im Besitze eines Schlüssels war, um die Türe zu öffnen und hinter sich zu schließen. Woher sollte irgend ein Gauner oder Strolch zu diesem Schlüssel gekommen sein?«

Jobst war einen Moment ganz verblüfft, sehr zur Befriedigung des Richters, dann nahm er seinen Sturmlauf durch das Zimmer wieder auf.

»Der Schlüssel, verdammt, der Schlüssel, wie ist das zu erklären?«

»Und wie, wenn sich der Mörder Herrn Kipferls Schlüssel angeeignet hätte?« ertönte die Stimme Hofmeisters. »Ich glaube, dieser Gedanke liegt nahe.«

Diesmal war es an dem Untersuchungsrichter, ein langes Gesicht zu machen, während Jobst einen Jubelruf ausstieß. »Der Schlüssel, natürlich, der Schlüssel des Ermordeten war es. Man muß sofort nachfragen. Hat nicht vorhin der Zeuge gesagt, er habe das Schlüsselbund abgezogen und der Haushälterin übergeben?«

Mit einem Satze stand er an der Türe, die er aufriß, um mit Donnerstimme ins Vorzimmer hinaus zu rufen, in welchem die Zeugen von vorhin noch warteten.

»Kommen Sie herein, Sie Frau da, ja Sie meine ich. Hat Ihnen der Schani ein Schlüsselbund übergeben, das dem Verstorbenen gehörte?«

Die Gefragte wurde totenbleich vor Schrecken, als sie sich so unvermutet angeschrieen sah, denn in seiner Erregung brüllte Jobst – »wie a Zahnbrecher«, pflegte Frau Sopherl zu sagen, wenn sie später ihre Erlebnisse den aufhorchenden Freundinnen beim Fleischer oder Greisler erzählte.

»Jessas, Jessas,« stammelte sie, am ganzen Leibe zitternd. »I' bitt' schön, sein S' nöt bös'; i' hab nur nöt mehr daran denkt. Hier ist das Schlüsselbund, ich hab' es noch nicht aus der Taschen zog'n, seit mir – hs der Schani geb'n hat.«

Jobst riß ihr die Schlüssel aus der Hand. Vor Erregung bebte er am ganzen Körper. »Rasch, rasch, zeigen Sie uns einmal, Frau Sopherl, welcher von den Schlüsseln für's Haustor gehört.«

Es dauerte geraume Zeit, ehe die erschreckte Frau mit unsichern Fingern das Schlüsselbündel durchsuchend zu einem Resultat gekommen war.

»Er is' nöt da, der Haustorschlüssel,« stammelte sie endlich.

Jobst atmete tief auf und ein strahlender Ausdruck erschien auf seinem Gesichte, das in diesem Augenblick trotz der plumpen Züge engelsschön erschien, verklärt von der reinen Freude uneigennütziger Menschlichkeit.

Der Untersuchungsrichter, obgleich nicht minder erregt, bewahrte doch sein kaltes Blut. »Sagen Sie einmal, meine liebe Frau,« begann er. »Pflegte der Ermordete den Haustürschlüssel überhaupt an diesem Schlüsselbunde zu tragen?«

»Freilich,« bekräftigte die Gefragte. »Ich hab' mich oft g'nug geärgert, wenn er spät in der Nacht heimkam und beim Aufsperren die Schlüsseln klirrten wie a halb's Dutzend Glöckerln. Dös Geklirr und Geklingel hab' i' noch deutli' am letzten Abend g'hört, als der arme Poldl so lustig heimkam.«

»Gut, Sie können hinausgehen.«

Als sich die Türe hinter der alten Frau wieder geschlossen hatte, richtete sich Jobst triumphierend auf.

»Nun?«

Der Richter ergriff seine Hand und drückte sie. »Ich danke Ihnen, lieber Kommissär. Sie haben mich vor einem bösen Mißgriff bewahrt. Zwar könnte man einwenden, daß Neubert den Schlüssel nur an sich genommen, um den Verdacht auf einen Fremden zu lenken, aber das würde eine kaltblütige Schurkerei verraten, die ich dem Manne nicht zutraue, von dem ich es ohnehin nicht recht glauben wollte, daß er sich durch Jähzorn bis zum Morde hinreißen ließ. Wie leicht doch selbst die anscheinend sichersten Indizien täuschen können. Noch vor zehn Minuten war ich fest davon überzeugt, daß nur Neubert der Mörder sein könne, und nun möchte ich für seine Unschuld die Hand ins Feuer legen. Und was hat diese Umwandlung bewirkt? Eine Kleinigkeit, ein fehlender Schlüssel! Ich werde dafür sorgen, daß der unschuldig Verhaftete noch heute in Freiheit gesetzt werde.«

Jobst rieb sich die Hände. »Das ist besser und schneller gegangen als ich dachte. Sie glauben gar nicht, wie schrecklich mir das Gefühl ist, zu wissen, daß ein Unschuldiger leiden muß. Doch nun zur weiteren Frage: »Da nicht Neubert, wer sonst sollte die Tat begangen haben?«

Der Untersuchungsrichter fuhr sich mit der Hand über die Stirne. »Ich denke, Ihre Erklärung von vorhin, lieber Jobst, gewinnt unter diesen Umständen viel an Wahrscheinlichkeit. Irgend ein Strolch hat sich ins Haus geschlichen, um zu stehlen, ist vielleicht vom heimkehrenden Hausherrn überrascht worden und hat ihn niedergeschlagen. Wir werden sofort die nötigen Recherchen einleiten lassen.«

Jobst nickte befriedigt. »So ist es recht: jetzt kommt die Sache in mein Ressort: nicht wahr, Herr Doktor. Sie sorgen dafür, daß ich mit der Führung der polizeilichen Nachforschungen betraut werde? Ich habe so meinen bestimmten Verdacht. Nein, die Sache ist noch nicht spruchreif, aber wenn ich mich nicht sehr täusche, so kenne ich den Burschen, an dessen Händen das vergossene Blut klebt.«

Der Untersuchungsrichter blickte erstaunt auf. »Bei Gott, Herr Kommissär, ich beginne zu glauben, daß Sie mit Teufeln in Verbindung stehen, die Ihnen geheime Nachrichten zutragen.«

Jobst lachte zufrieden auf. »Das nicht, aber ich mache so meine Kombinationen. Doch nun lassen Sie uns zum Staatsanwalt eilen, damit die Enthaftungsurkunde ausgestellt wird, und dann fort ins Gefängnis zu dem unschuldig Verhafteten. Die schöne Elisabeth hat genug unter dem schrecklichen Tod ihres Bruders zu leiden. Möge das Bewußtsein, daß der Bräutigam frei ist von der Blutschuld, sie in ihrem Schmerze trösten.«


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