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1. Kapitel.
Ein verschwundenes Testament.

»Herein.«

Die Türe öffnete sich und auf der Schwelle erschien ein Mann in den dreißiger Jahren, der sich, den Hut in der Hand, ein wenig linkisch verbeugte. Das glatte, bartlose Gesicht machte ihn jünger, als er tatsächlich sein mochte, und die großen, blauen Augen mit ihrem offenen, treuherzigen Blick gaben seinem ganzen Wesen etwas harmloses und kindliches.

Doktor Weiß musterte den Besucher von oben bis unten. Der Mann in der anständigen, wenn auch einfachen Kleidung, der wie ein Bittsteller an der Türe stand, schien ihm nicht besonders zu imponieren, denn beinahe schroff und barsch fragte er: »Was wollen Sie? Wie kommen Sie herein?«

»Mein Name ist Hofmeister,« antwortete der Gefragte mit leiser Stimme, die seinem schüchternen Wesen ganz entsprach. »Ich bin von Beruf Privatdetektiv und geschickt von meinem Bureau, um –«

»Ah, ganz richtig, ganz gut, ich habe Sie noch nicht erwartet, es ist kaum eine Viertelstunde, daß ich nach Ihrem Bureau telephonierte. Sehr angenehm, daß Sie so prompt sind, Herr – – – Hofmeister so war doch der Name, nicht wahr?«

Der Detektiv verbeugte sich stumm, während der Advokat, dessen ganzes Wesen sich geändert hatte und dessen Miene jetzt von Freundlichkeit strahlte, ihm einen Stuhl hinschob und ihn zum Sitzen aufforderte.

»So nehmen Sie doch Platz, mein Herr. Und entschuldigen Sie, bitte, den unhöflichen Empfang. Ich war gerade über einer wichtigen Arbeit und glaubte, von einem Klienten wegen irgend einer Kleinigkeit gestört zu werden. Ich habe ein halbes Dutzend Leute im Bureau, aber jedermann will immer nur mit mir persönlich sprechen, und wenn sein Rechtsfall auch nichts anderes ist, als eine unbezahlte Rechnung, die eingeklagt werden soll. Das ist zwar sehr schmeichelhaft, aber verdammt unbequem und störend.

Doch kommen wir zur Sache. Ich habe Ihr Bureau ersucht, mir einen Beamten zu schicken, da ich seiner Hilfe in einer persönlichen Angelegenheit bedarf. Ich brauche wohl nicht zu betonen, daß strengste Verschwiegenheit und Diskretion unbedingt erforderlich sind.«

Hofmeister verbeugte sich abermals. »Es ist selbstverständlich, daß wir Detektivs das Berufsgeheimnis ebenso wahren, wie etwa die Advokaten oder Ärzte.«

Dr. Weiß rieb sich verlegen die Hände. »Ganz gut, ganz recht. Ich bitte auch meine Bemerkung nicht als Mißtrauen aufzufassen. Aber wir Advokaten sind gewohnt, alles genau und deutlich auszusprechen, selbst wenn das Gesagte oft nicht höflich klingt.

Also hören Sie. Mir ist ein Dokument abhanden gekommen, ein wichtiges Dokument, welches mir zur Aufbewahrung anvertraut war. Ich habe es seinerzeit eigenhändig in den Tresor dieses Kassaschrankes – er deutete auf das besagte Möbelstück, das in einer Ecke unweit des Schreibtisches stand – gelegt; heute morgen suchte ich danach, es ist verschwunden. Sonderbar, was? Gerade das eine Kuvert fehlt; es war nämlich ein großes, blaues Kuvert, auf der Rückseite mit fünf roten Siegeln verschlossen. Ich habe alles durchgesehen, aber es ist weg. Die Sache ist mehr wie fatal. Wer weiß, was für Verwicklungen noch daraus entstehen können, auf jeden Fall aber wird mein Geschäftsruf bedeutend geschädigt. Es liegt mir also daran, das Papier sobald als möglich zurück zu bekommen, wobei aber die Nachforschungen sehr diskret betrieben werden müssen. Darum habe ich mich auch an Sie gewandt und nicht an die Polizei. Nun, was meinen Sie zu der Sache?«

»Ihre Angaben sind leider zu unbestimmt, als daß ich mir irgend ein Urteil bilden könnte. Sie müssen schon gestatten, daß ich einige Fragen stelle.«

Der Advokat nickte eifrig. »Aber natürlich, selbstverständlich, fragen Sie nur zu. Oder, wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen zuerst die Geschichte im Zusammenhang. Ist es Ihnen recht? Ja? Also los.

Sie kennen doch den Fabrikanten Kipferl? Den, welcher in Favoriten draußen die große Metallwarenfabrik hat. Wie meinen Sie? Sie kennen ihn nicht? Nun ja, persönlich kann man natürlich nicht alle Leute kennen, aber dem Ruf nach, meine ich. Er ist übrigens auch Gemeinderat. Ein tüchtiger Mensch, hat sich selbst emporgearbeitet: ganz klein hat er angefangen und heute beschäftigt er dreihundert Arbeiter.

Also, dieser Fabrikant Kipferl, der schon seit langem mein Klient ist, kommt eines Tages hierher, bringt mir ein versiegeltes Kuvert und sagt: »Doktor, das hebens mir auf, bis ich's wieder von Ihna verlang'. Wenn ich aber eher sterben sollt', nachher übergeben Sie's dem Gericht, daß man's öffnet.«

Ich übernehme das Depot, lege es vor den Augen Kipferls in den Schrank und sage: »Das ist wohl gar Ihr Testament, Herr Kipferl?«

»Wird schon so was sein,« gibt er zur Antwort und dann sprechen wir von anderen Dingen.

Ich hatte die Sache ganz vergessen, als ich gestern höre, den Kipferl habe der Schlag getroffen und es gehe ihm schlecht. Ich ging sofort hin, mich erkundigen, und erfuhr, daß das Gerücht sich bewahrheitet. Der Mann war nicht bei Bewußtsein und die Ärzte gaben wenig Hoffnung.

Das war gestern Abend. Mir fiel sofort das deponierte Testament ein, da ich aber nicht mehr in die Kanzlei zurückkam, – meine Wohnung habe ich in einem anderen Hause – ließ ich die Sache bis heute früh. Da schaue ich nach und finde, daß das Kuvert fehlt.«

»Und sonst vermissen Sie nichts?« fragte Hofmeister.

»Nichts, nur das eine Kuvert.«

»Wer von Ihren Leuten hat Zutritt zu dem Kassaschrank?«

»Kein einziger; die Schlüssel habe ich allein in Verwahrung. Der Kassaschrank ist, wie Sie sehen, nur sehr klein. Ich benütze ihn zur Aufbewahrung wichtiger Schriften und Depots. Die Geschäftsbücher, das einlaufende Geld und dergleichen sind in einem andern Schranke untergebracht, der draußen im ersten Zimmer steht. Zu diesem besitzt die Schlüssel mein Solizitator, während das hier mein Privattresor ist. Sie sehen, ich trage die Schlüssel an einer kleinen Kette befestigt stets bei mir. Das eben macht die Sache so rätselhaft.«

»Haben Sie irgend einen bestimmten Verdacht?«

Der Advokat schüttelte energisch den Kopf. »Keine Spur. Meine Leute sind alle jahrelang in meinen Diensten und erprobt. Übrigens ist auch für sie der Schrank ebenso unzugänglich wie für jeden andern.«

»Wäre es nicht möglich, daß Sie einmal vergessen haben ihn zu schließen?«

Dr. Weiß widersprach energisch. »Das kommt gewiß nicht vor. In der Beziehung bin ich eher zu peinlich als nachlässig. Meine Freunde lachen mich oft aus, weil ich jedesmal vor dem Verlassen meines Bureaus mich wiederholt überzeuge, daß der Schrank gut verschlossen ist. Das ist eine förmliche Manie von mir, die ich aber nicht bedauere, denn wenn sein Inneres auch keine Schätze birgt, so enthält es doch mir anvertrautes Gut, für das ich haften muß, und dessen Sicherheit mir höher steht als die des eigenen Vermögens.«

Hofmeister schüttelte den Kopf. »Ich sehe keine Möglichkeit, wie ein anderer das Depot hätte entwenden können, denn einen Nachschlüssel zu verfertigen ist bei dieser Art von Kassen ganz unmöglich.«

»Das weiß ich. Die Kassa ist ein Meisterstück in ihrer Art. Sie stammt aus der Fabrik Kipferls und wurde mir von diesem seinerzeit geschenkt. Ihre Konstruktion ist mustergültig. Aber was nützt das alles, das Dokument ist fort.«

Hofmeister erhob sich und trat an den Kassaschrank heran, den er eingehend besichtigte. »Wollen Sie mir, bitte, das Möbelstück öffnen? Ich möchte sein Inneres ein wenig besichtigen.«

Der Advokat willfahrte dem Wunsche. Die schwere Türe drehte sich geräuschlos in den Angeln und zeigte einen Hohlraum, welcher durch eine Anzahl Eisenplatten in mehrere Fächer geteilt war, deren jedes noch extra mit einer kleinen Eisentür verschlossen war.

»Sehen Sie, das ist das Geheimnis dieses Schrankes,« nahm Dr. Weiß das Wort. »Selbst wenn ich vergessen hätte, die Außentür zu schließen, oder wenn ein anderer sie auf irgend eine Art öffnen würde, ist er noch lange nicht am Ziel seiner Wünsche. Jedes Fach stellt wieder für sich einen eigenen einbruchssicheren Schrank vor, der noch dadurch an Festigkeit gewinnt, daß er nicht mittelst Schlüssel versperrbar ist, sondern durch einen eigenartigen Mechanismus an diesen kleinen Knöpfen, welche Sie da sehen. Wie bei den sogenannten Zahlenschlössern ist dieser Mechanismus in unzähligen Variationen zu verändern. Nur, wenn die Knöpfe genau so eingestellt werden, wie sie beim Schließen waren, springt die Türe auf. Da nur ich die jedesmalige Variation kenne, ist ein Öffnen durch einen dritten ausgeschlossen.«

»Und in welchem Fache befand sich das besagte Dokument?«

»Im dritten von oben, in das ich es in Anwesenheit Kipferls hineinlegte.«

Einige rasche Handbewegungen, denen selbst das geübteste Auge nicht zu folgen vermochte, hier ein Druck auf den einen Knopf, dort ein Ziehen oder Beiseiteschieben am andern und das Fach sprang auf. Es enthielt nur wenige Papiere, die in guter Ordnung auf der einen Seite lagen.

Weiß deutete auf eine leere Stelle rechts im Fache. »Sehen Sie, hier lag der Brief. Ich weiß es genau, er ist nicht von seinem Platze gekommen. Ich habe gerade dieses Fach seit dem Besuche des Fabrikanten nicht geöffnet. Und jetzt ist es fort.«

»Haben Sie schon nachgeschaut, ob es nicht vielleicht doch unter den andern Papieren ist?«

Weiß schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich. Ich weiß bestimmt, daß es an diesem Flecke lag. Aber wir können ja nachschauen.«

Er nahm die andern Papiere aus dem Schrank und während er sie durchblätterte, fuhr er fort: »Ich habe alles stehen und liegen lassen, bis Sie kämen, weil ich oft gehört habe, daß dies die Arbeit des Detektivs bedeutend erleichtert. Die Herren sollen ja aus allen möglichen Kleinigkeiten Fährten und Spuren herauslesen können, wo wir gewöhnliche Sterbliche nichts Besonderes sehen. Darum habe ich nach dem ersten Blick in den Schrank, der mir bewies, daß das Kuvert fehlte, das Fach sofort wieder geschlossen und an Ihr Bureau telephoniert. Ich zweifle nicht, daß Ihrem erfahrenen Blick das, was mir ein unlöslich Geheimnis erscheint, bald klar sein wird.«

Hörte Hofmeister den leisen, ironischen Klang nicht, welchen die letzten Worte hatten oder wollte er ihn nur nicht hören? Genug, er machte eine leichte Verbeugung, als wolle er für das eben erhaltene Kompliment danken, antwortete aber nichts darauf, sondern starrte mit seinen Kinderaugen in die Tiefe des nun leeren Faches, welches wie ein schwarzer, klaffender Spalt zwischen den beiden Metallplatten dalag.

Inzwischen hatte Weiß die Durchsicht der Dokumente vollendet und begann von neuem: »Nichts, wie ich im Voraus wußte; sehen Sie selbst, lauter weiße Bogen, keine Spur eines blauen Schimmers und jenes Kuvert war blau, wie ich schon sagte. Seien Sie überzeugt, wenn ich von dem Fehlen nicht so sicher gewußt hätte, würde ich Sie nicht gerufen haben.«

Nicht nur im Inhalt, sondern auch im Ton der letzten Worte lag ein unverhohlener Ärger, aber auf dem Gesichte Hofmeisters zeigte sich keine Spur irgend einer Erregung. Ohne seinen Blick auch nur nach dem Angesprochenen hinzulenken, sagte er mit ruhiger Stimme: »Ich habe auch keinen Moment am Fehlen gezweifelt.«

»Ja, warum ließen Sie mich da erst die Schriftstücke durchsuchen?«

»Sie als Advokat werden am besten wissen, daß jede Lücke in einer Untersuchung später unheilvoll werden kann. Darum muß man sie vermeiden und den damit verbundenen Verlust von Zeit und Mühe nicht achten. Ich bin auch noch gezwungen, von Ihnen eine strikte Erklärung zu verlangen, daß Sie genau wissen, das besagte Kuvert habe in diesem Fache gelegen und befinde sich nicht vielleicht in einem andern.«

Die Miene des Advokaten nahm den Ausdruck abweisenden Stolzes an und seine Stimme klang scharf, als er entgegnete: »Diese Erklärung gebe ich Ihnen hiermit feierlich. Wünschen Sie sonst noch etwas?«

»Jawohl, die Erlaubnis, das Fach genauer zu untersuchen.«

Die Ruhe und Sicherheit des sonst so schüchternen, jungen Menschen verfehlten nicht ihren Eindruck, denn viel freundlicher klang es bereits, als Dr. Weiß entgegnete: »Bitte, tun Sie, was Ihnen beliebt.«

Hofmeister trat näher an den Schrank heran und schob seinen Arm in das Innere der Höhlung hinein, so tief er konnte. Ein wenig enttäuscht zog er ihn wieder zurück und rief: »Das Fach ist leer. Übrigens ist ja der Schrank viel tiefer, als es von außen scheint. Meine Finger erreichen nicht einmal die Rückwand, obgleich mein Arm bis zur Schulter darin steckt.«

Weiß lachte hell auf. »Die Lösung des Geheimnisses ist ganz einfach. Der Schrank steht noch gut zwanzig Zentimeter tief in der Mauer, die ich zu diesem Zwecke eigens aushöhlen ließ, damit der Kasten nicht so weit ins Zimmer vorrage.«

»Eingemauert ist er aber nicht?«

»Das nicht; er läßt sich von der Wand abschieben, was aber noch nie geschehen ist, seit er auf seinem Flecke steht.«

»So wollen wir es jetzt einmal versuchen.«

Mit einer Kraft, die man dem geschmeidigen Körper nicht zugetraut hätte, umfaßte er den schweren Eisenschrank und zog ihn ruckweise nach vorn. Der Kasten schien sich zu verlängern, und in die Tiefe zu wachsen, je weiter er aus der Mauer auftauchte, endlich stand er ganz frei und im gleichen Moment ertönte ein leises metallisches Klingen, wie wenn eine Eisenplatte zu Boden fällt.

»Was ist das?« rief der Advokat.

Hofmeister war im Nu um den Schrank herumgegangen, hatte sich gebückt und hielt nun eine kleine Eisenplatte in seiner Hand, die er angelegentlich betrachtete. Sein Gesicht war gerötet, ob vor Freude über die Entdeckung oder von der Anstrengung der eben vollbrachten Arbeit und dem Bücken, war nicht zu erkennen. Seine Stimme klang ruhig wie bisher, als er entgegnete: »Es ist, wie ich mir dachte. Die Rückwand des Kassaschrankes ist erst mit einem Stahlbohrer angebohrt worden, sehen Sie hier an den Ecken die Bohrlöcher, und dann von da aus mit Hilfe einer Stichsäge dieses Stück herausgeschnitten worden.«

Der Advokat hatte dem Detektiv die Platte aus der Hand genommen und betrachtete sie kopfschüttelnd. »So etwas hätte ich nicht für möglich gehalten. Das muß ja eine ungeheuere Anstrengung und Mühe sein, eine solche Stahlplatte zu durchbohren.«

»Nicht so schlimm wie Sie glauben,« lautete die Antwort. »Mit den nötigen Instrumenten und bei einiger Übung läßt sich so etwas in ein bis zwei Stunden leisten. Die Rückwand bildet bei allen Kassaschränken die schwache Stelle. Sie hätten den ihren einmauern lassen sollen.«

»Das wurde mir seinerzeit auch von Herrn Neubert anempfohlen,« rief der Advokat lebhaft. »Aber ich habe es damals, als ich das Loch in die Mauer einbrechen ließ, versäumt und wie ich jetzt sehe, sehr zu meinem Schaden nicht nachgeholt, obgleich mich Neubert öfters daran erinnerte. Erst vor acht Tagen hat er mich bei einer Begegnung gefragt, ob ich den Schrank denn endlich hätte einmauern lassen.«

Der Detektiv hob lauschend den Kopf. »Darf man fragen, wer dieser Herr Neubert ist?«

»Ein Neffe Kipferls, der Leiter der ganzen Fabrik und die rechte Hand des Onkels, der an ihm Vaterstelle vertreten hat, denn die Eltern starben früh. Die Mutter war, glaube ich, die einzige Schwester Kipferls. Ich komme mit dem jungen Manne öfters in Gesellschaft zusammen.«

»Haben Sie vielleicht ihm gegenüber etwas davon erwähnt, daß bei Ihnen von seiten des Oheims ein Dokument deponiert worden sei?«

»Gewiß nicht, das wäre ja Vertrauensbruch gewesen.«

Hofmeister ging auf die Sache nicht näher ein, sondern wandte sich wieder dem Kassenschrank zu. Er betrachtete abermals die herausgesägte Platte, dann die Öffnung in der Rückwand und schüttelte unmerklich mit dem Kopf. Dem Advokaten entging diese Bewegung nicht und rasch mit leicht begreiflicher Erregung rief er: »Haben Sie noch etwas entdeckt? Vielleicht etwas, das auf die Person des Täters schließen läßt? Bitte, verschweigen Sie mir nichts.«

Der Detektiv zauderte eine Sekunde, dann aber hob er den Kopf und, zum erstenmale sein Gegenüber voll anblickend, sagte er: »Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich annehme, daß die Arbeit von keinem zünftigen Verbrecher geleistet worden ist. Es ist trotz der Erreichung des Zweckes doch nur Stümperarbeit. Vor allem hätte ein geriebener Verbrecher wahrscheinlich nicht die Vierecksform gewählt, die viel Arbeit macht, während doch ein Dreieck, bei dem eine Seite weniger durchzusägen ist, denselben Zweck erfüllt hätte, nämlich Raum für die einzuführende Hand zu schaffen.«

Bei diesen Worten schob Hofmeister seine Linke durch die Öffnung weit in den Schrank hinein, so weit, als er konnte, und vollführte das gleiche Manöver dann mit der Rechten. Hätte er dabei dem Advokaten nicht den Rücken gekehrt, so würde dieser wahrgenommen haben, wie bei dieser Probe die Mienen des Geheimpolizisten einen Ausdruck von Verwunderung annahmen, der aber wieder verschwunden war, als er sich Weiß zukehrte.

»Natürlich habe ich noch andere Gründe für meine Annahme,« fuhr er fort. »Da sind vor allem diese Schnittflächen. Schauen Sie die nur an, wie gezähnt und unregelmäßig sie sind. So arbeitet kein Schlosser, geschweige denn ein geübter Einbrecher. Ich bleibe dabei, die Sache hat ein Amateur vollbracht, wenn ich diesen Ausdruck hier anwenden darf, oder jedenfalls ein Neuling auf diesem Gebiete.«

Der Advokat konnte sich noch immer nicht beruhigen. »Daß so etwas bei uns vorkommt, hier in Wien, hätte ich wahrhaftig nicht gedacht,« rief er aus.

»Die Methode stammt wie so manches von jenseits des Ozeans,« entgegnete Hofmeister. »In Amerika ist das Anbohren und Aussägen der Kassenrückwände ein viel angewandter Einbrechertrick.«

»Glauben Sie vielleicht, daß ein amerikanischer Einbrecher hier seine Hand im Spiele hatte?«

Der Detektiv lächelte. »Das wäre ein zu kühner Schluß. Wenn man die nötigen Instrumente hat, ist die Sache keine Kunst. Jeder unserer einheimischen schweren Jungen würde das auch können, wenngleich diese Betriebsart bis jetzt noch wenig auf dem Kontinent eingeführt erscheint.

Aber ich glaube, an dem Schranke gibt es nichts weiter zu sehen. Wir wollen ihn wieder an seinen Platz bringen und vorher die Platte einfügen. So, das wäre auch geschehen.«

Er hatte mit Hilfe des Advokaten den Kassaschrank an seinen vorigen Platz zurückgeschoben, jetzt nahm er, ein wenig außer Atem, im Lehnstuhl wieder Platz. Weiß, welcher die Kassa wieder sorgsam verschlossen hatte, setzte sich ebenfalls und, den Detektiv scharf musternd, nahm er das Gespräch wieder auf: »Mein Kompliment, Herr Hofmeister. Ich bewundere Sie. Daß Sie das Rätsel so schnell lösen würden, hätte ich nicht gedacht. Wie das Dokument verschwunden ist, wissen wir also; es fragt sich nur noch, wer es genommen hat. Das, glaube ich allerdings, dürfte uns eine harte Nuß zu knacken geben, denn so sehr ich mir auch das Hirn zermartere, ich habe keine Spur von Verdacht gegen irgend eine Persönlichkeit. Und dann, wie konnte jemand wissen, daß das Dokument in diesem Schrank, und gerade an dieser Stelle sei? Das wußte doch nur ich – –«

»Und Herr Kipferl, vor dessen Augen Sie es an die Stelle brachten, von der es verschwunden ist,« ergänzte der Detektiv.

Der Advokat schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Daran habe ich gar nicht gedacht. Da sieht man doch gleich den Unterschied zwischen Fachmann und Laien. Aber eigentlich ist damit wenig getan. Kipferl wird doch nicht selbst in die Kassa eingebrochen haben, um einen Brief zu entwenden, den er viel einfacher haben konnte, indem er ihn direkt von mir zurückforderte. Sie glauben doch nicht, daß der Fabrikant den Einbruch verübte oder dabei seine Hand im Spiel hatte? Das wäre ja widersinnig.«

Hofmeister bewegte das Haupt hin und her. »Auch solche Fälle sind schon vorgekommen. Es gibt sonderbare Verwicklungen. Aber in Wirklichkeit denke ich natürlich nicht an eine so fern liegende Möglichkeit. Das ist auch gar nicht notwendig. Es genügt, zur Erklärung anzunehmen, daß der Fabrikant einfach einem dritten von der erfolgten Hinterlegung erzählte. Allerdings müßte dieser Bericht besonders ausführlich gewesen sein, denn der Einbrecher hat offenbar genau das Fach gekannt, in dem das Dokument lag.«

Dr. Weiß war emporgesprungen und durchmaß mit langen Schritten das Zimmer, die Hände auf dem Rücken, die Stirne in Falten gezogen, scharf nachdenkend. Jetzt begann er und seine Stimme zitterte vor innerer Erregung: »Ich weiß nicht, ob mein Bericht überhaupt mit der Sache zusammenhängt und ob er irgend welche Bedeutung hat. Aber bei Ihren Worten fällt mir eine Unterredung mit Kipferl ein, die ich Ihnen nicht verschweigen darf. Es mögen etwa vier Wochen her sein, als ich ihn wegen einer geschäftlichen Angelegenheit in der Fabrik aufsuchte. Er begleitete mich dann durch die Kontorräumlichkeiten bis zur Türe, und als er sich dort von mir verabschiedete, fragte er so nebenbei: »Dös blaue Briefel hab'ns noch, das ich Ihnen geb'n hab'?«

»Natürlich,« antwortete ich, »es liegt noch am selben Fleck, wo ich es vor Ihren Augen hingelegt habe.«

»Aha, im dritten Fachel von der Kassa,« lachte er in seinem dröhnenden Baß. »Na, dort liegt's lang gut.«

Hofmeister richtete sich halb in seinem Stuhle auf. »Das ist sehr wichtig, was Sie da erzählen,« rief er. »War jemand dabei, als diese Worte fielen?«

»Ich sagte Ihnen doch, daß sie an der Türe des Kontors gesprochen wurden. Dort arbeiten über zwanzig junge Leute. Bei der lauten Sprechweise des Fabrikanten haben sie alle wohl die Worte gehört.«

Der Detektiv ließ sich wieder bequem in den Stuhl zurücksinken.

»Wahrhaftig, wenn ich es mir zusammenreime, so komme ich zu dem Resultate, daß ganz gut noch ein dritter von dem Vorhandensein der Dokumente gewußt haben kann,« fuhr der Advokat fort. »Aber wer sollte ein Interesse daran haben, Papiere zu entwenden, die keinerlei Geldwert repräsentieren, sondern nur Familienangelegenheiten betreffen und daher nur Familienglieder interessieren können?«

»Sie sagen es selbst, Familienmitglieder!« bekräftigte der Detektiv, und als der Advokat in seinem Spaziergang durchs Zimmer innehielt und ihn mit unverhohlenem Erstaunen, ja beinahe mit Entsetzen anstarrte, fuhr der Detektiv fort: »Ich stimme Ihnen vollständig bei, daß der blaue Brief voraussichtlich nur für Familienmitglieder Interesse hatte. Ich muß darum, um klar zu sehen, auf die Gefahr hin, Ihnen lästig zu fallen, Sie ersuchen, mich über die Familienverhältnisse Ihres Klienten, in die Sie jedenfalls eingeweiht sind, näher zu informieren.«

»Das ist bald getan,« lautete die Antwort. »Die Familienverhältnisse der Kipferls sind durchaus nicht so verwickelter Natur, wie das bei Romangrafen der Fall zu sein pflegt.

Kipferl ist seit vielen Jahren Witwer. Er hat nur zwei Kinder, eine Tochter, die bis vor einem halben Jahr in einem Schweizer Pensionat untergebracht war und erst seit sechs Monaten in das Vaterhaus zurückgekehrt ist, und einen Sohn, der dem Namen nach in der väterlichen Fabrik beschäftigt, dessen Leben aber von den verschiedenen Vergnügungen und Sportsarten derart in Anspruch genommen ist, daß er zur eigentlichen Arbeit keine Zeit findet. Sonderbarerweise duldet der Alte nicht nur die kostspieligen Passionen seines Sohnes und dessen Faulenzerleben, sondern er unterstützt es geradezu noch, indem er dem jungen Mann reichlich Mittel dazu gibt.

Zur Familie gehört ferner noch der Neffe, von dem ich schon vorhin sprach: Er heißt Neubert, und ist die eigentliche Seele des ganzen Geschäftes, welches er trotz seiner Jugend meisterhaft leitet.

Damit habe ich alles gesagt, was ich weiß. Sie sehen, es ist herzlich wenig. Von sonstigen Verwandten habe ich nie etwas gehört.

Bis vor kurzem hatte der Fabrikant ein beinahe zurückgezogenes Leben geführt. Sein Umgang beschränkte sich auf eine Anzahl Bekannter aus früherer Zeit, ehrbare, biedere Geschäftsleute und Wiener Bürger, wie er selbst einer ist. Erst seit der Rückkehr seiner Tochter machte er sozusagen ein Haus, das heißt, er hat einige Gesellschaften gegeben, zu denen außer seinen alten Bekannten auch andere Personen geladen wurden, mit denen er im Laufe der Zeit in nähere Berührung kam, darunter auch ich. Außerdem verkehren jetzt auch verschiedene Freunde Leopolds – das ist der Sohn – im Hause.«

Hofmeister hatte ruhig bis zu Ende zugehört, jetzt fragte er: »Haben Sie vielleicht eine Vermutung über den Inhalt des Testamentes, welches in dem verschwundenen Kuvert deponiert war?«

»Eine Vermutung wohl, aber Sicheres weiß ich natürlich nicht. Bei aller Liebe zum Sohne war Kipferl nie blind für dessen geschäftliche Unfähigkeit und zollte der Tätigkeit seines Neffen volle Anerkennung. Ich nehme also an, daß er den letzteren in seinem Testamente vielleicht mit einer Teilhaberschaft beim Geschäfte bedenken wollte. Das ist aber wie gesagt nur eine Vermutung. Näheres weiß ich nicht!«

Der Detektiv schüttelte den Kopf. »Ich sehe nicht ein, wer an dem Verschwinden des Testamentes ein Interesse hätte haben können.«

»Ich auch nicht,« stimmte der Advokat zu. »Das ist eben das Rätselhafte bei der ganzen Geschichte. Was ist jetzt zu tun?«

»Das einfachste wäre, den Fabrikanten von dem Verschwinden zu benachrichtigen. Vielleicht hat er sich von dem gestrigen Anfall einigermaßen erholt und ist wieder bei Bewußtsein.«

Dr. Weiß zuckte mit den Achseln. »Ich würde es gerne sehen, aber nach dem gestrigen Urteil der Ärzte habe ich jede Hoffnung verloren. Doch jedenfalls will ich gleich hingehen.«

»Es wäre wohl einfacher, wenn Sie sich telephonisch erkundigen würden. Wenn Sie die Privatwohnung nicht anrufen wollen, können Sie ja im Fabrikskontor nachfragen.«

Weiß erhob sich sofort, trat zum Telephon und läutete an. Dann, als die Verbindung hergestellt war, rief er in den Schalltrichter: »Hier Dr. Weiß. Guten Tag, Herr Buchhalter. Ich wollte mich nur nach dem Befinden des Chefs erkundigen.«

Der Detektiv konnte die Antwort nicht hören, aber er bemerkte, wie der Advokat blaß wurde und daß seine Stimme zitterte, als er fragte: »Hat er noch einmal das Bewußtsein erlangt?«

Dann wieder eine kurze Pause, während welcher die Hofmeister unhörbare Antwort einlief, und der Redner schloß das Gespräch mit den Worten: »Das ist traurig, sehr traurig. Ich will sofort hingehen. Adieu.«

Er hängte die Muschel an den Haken und wandte sich zu Hofmeister um. »Herr Kipferl ist vor einer halben Stunde gestorben.«

Die Nachricht schien den Advokaten stärker aufgeregt zu haben, als dies sonst die Kunde vom Tode eines immerhin nur entfernt Bekannten zu tun pflegt. Sein Gesicht war bleich und die Stimme zitterte, als er diese Worte sprach. Dann setzte er hastig hinzu: »Das ändert natürlich die ganze Sachlage. Ich werde jetzt vorerst mit den Erben reden und ihnen den Verlust des Dokumentes mitteilen. Falls sie es wünschen, muß ich dann natürlich die Anzeige bei der Polizei erstatten, welche die weiteren Schritte zu unternehmen hätte. Es tut mir wirklich leid, Herr Hofmeister, daß ich Sie umsonst bemüht habe.«

Der Detektiv erhob sich langsam. »O, das tut nichts. Mir ist die Stunde, die ich hier verbracht habe, keine verlorene, denn der Fall ist sicherlich interessant und ziemlich kompliziert. Sollten Sie noch irgendwie meine Hilfe beanspruchen, so bitte ich über mich zu verfügen.«

Mit einem Händedruck schieden die beiden Männer voneinander.


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