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2. Kapitel.
Im Schneesturm am Kaminfeuer.

Acht Tage sind seit dem Tode Kipferls vergangen. Trotz der frühen Nachmittagsstunde ist es schon dunkel draußen, denn schwere graue Wolken bedecken den Himmel und in dichten weißen Flocken rieselt der Schnee herab. Die Spaziergänger, welche sich um diese Zeit auf die Straße wagen, sehen in kurzem aus wie wandelnde Schneemänner, die Dächer und Vorsprünge der Häuser haben sich mit einer blendend weißen Hülle bekleidet, und die dunklen Pflastersteine sind längst unter der weißen Decke verschwunden.

Ist es bei solchem Wetter in den Straßen der Stadt schon recht ungemütlich, so steigert sich die Unbehaglichkeit noch viel mehr dort, wo keine vier Stock hohen Häuser dem Winde Einhalt gebieten, wie auf der weiten Fläche des Zentralfriedhofes. Dort kann der Sturm sich recht nach Herzenslust austoben, denn die Toten da unten stört es nicht, wenn er heulend um die Grabhügel fährt und die Trauerweiden schüttelt, daß ihre herabhängenden Äste in der Luft flattern wie aufgelöste Frauenhaare, von denen der Puder herabfällt, unter den allzu stürmischen Liebkosungen dieses rauhen Gesellen.

Bald ist der Sturmwind dieses Spieles müde. Er probiert seine Kraft noch an den Grabkreuzen, die aber den Anprall in eherner Ruhe aushalten, dann stürzt er sich auf die Grüfte, verfängt sich in ihren Winkeln und Nischen, aus denen er den Schnee herausbläst, und endlich duckt er sich ermattet von dieser Anstrengung, des eintönigen Spieles mit den fortwährend herniederrieselnden Schneeflocken müde.

Da erspäht sein Blick eine einsame Gestalt, welche vorhin wahrscheinlich hinter irgend einer Gruft sich vor ihm geborgen und jetzt, da der Wind nachläßt, sich vorwagt. Es ist ein junges Mädchen, tief in Schwarz gekleidet; das süße Gesichtchen mit den blauen, jetzt vom Weinen geröteten Augen, schimmert aus der dunklen Umrahmung weißer hervor als der Schnee, dessen Flocken gleich Silbersternen sich auf das reiche Goldhaar hernieder senken.

Aber der Sturm, der tückische Geselle, ist keiner sanften Gefühle fähig. Ihn rührt weder die Schönheit noch die Trauer des armen Kindes. Nein, er schmiedet neue, hinterlistige Pläne. In einen Winkel geschmiegt wartet er, bis die schwarze Frauengestalt die eigentliche Gräberstadt verlassen hat, wo zur Not irgend ein Grabstein vor seinem Ansturm Schutz gewähren kann. Als sie aber jetzt, ungeachtet des knietiefen Schnees, mutig über den weiten Raum hinschreitet, der im Sommer von Blumenbeeten bedeckt, den Ort des Friedens in einen lieblichen Garten verwandelt, jetzt aber unter seiner Schneedecke einer großen, kahlen Ebene gleicht, kommt er plötzlich mit aller Gewalt aus seinem Versteck herangebraust und wirft sich so heftig auf die schwarze Gestalt, daß sie seinem Anprall nicht widerstehen kann. Sie fällt hin, will sich aufraffen, aber mit einem Schmerzensschrei sinkt sie wieder zurück. Die behandschuhte Rechte greift unwillkürlich nach dem Knöchel des linken Fußes.

»O Gott, ich glaube, ich habe mir den Fuß verstaucht,« murmelt sie leise. »Was soll ich jetzt tun?«

Mit Zuhilfenahme aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft erhebt sie sich vom Boden, aber schon das Stehen bereitet ihr große Schmerzen. Sie sieht ein, daß sie ohne Hilfe unmöglich den weiten Weg bis zum Eingangstor zurücklegen kann, wo ihr Wagen wartet. Schüchtern blickt sie in die Runde um sich. Nirgends ist eine menschliche Seele zu erblicken. Sie entschließt sich um Hilfe zu rufen, aber der Sturmwind fängt ihr die Laute beim Munde ab und führt sie mit sich fort in die Lüfte, ehe sie ein Menschenohr erreichen können.

Immer dichter wirbeln die Flocken hernieder, immer tiefer wird die Finsternis, welche den stillen Raum umfängt. Nur der Schnee leuchtet in silbernem Glanze. Allmählich steigt dem jungen Mädchen die Erkenntnis ihrer fürchterlichen Lage auf. Allein hier auf dem Friedhofe, unfähig zu gehen, fern von jeder menschlichen Hilfe. »Wenn nicht zufällig jemand vorbeikommt, bin ich verloren,« zuckt es ihr durch den Sinn. »Wie lange noch, dann tragen mich die Füße nicht mehr, ich sinke hin, der Schnee deckt mich zu, und morgen findet man mich dann, tot, erfroren.«

Sie schaudert zusammen. Sie will nicht sterben, sie ist ja noch so jung. Und hier, in der öden Stille des Kirchhofes, kommt ihr das Grausen vor dem Tode erst voll zum Bewußtsein. Nochmals nimmt sie alle Kraft zusammen und ein lauter Hilferuf, das Brausen des Sturmes übertönend, gellt aus ihrem Munde.

Ist es nur Täuschung? Nein, ein lauter Ruf antwortet ihr, von Minute zu Minute wiederholt, klingt immer näher und näher, aber es dauert immerhin noch geraume Zeit, ehe sie durch den dichten Schleier der Schneeflocken die herannahende Männergestalt wahrnimmt.

»Wie, Sie sind es, Fräulein Elisabeth?«

Erstaunt blickt das junge Mädchen in das wohlbekannte Gesicht Dr. Weiß's. Aber sie hat keine Zeit und keine Lust, ihn zu fragen, wie er hierherkomme. Sie sieht nur ihren Retter in ihm und jetzt, wo die Gefahr vorüber, bricht auch ihr Mut zusammen; kaum vermag sie noch unter Tränen hervor zu schluchzen: »Ich bin vorhin gefallen und muß mir den Fuß verletzt haben. Ich kann nicht gehen.«

Im nächsten Augenblick fühlt sie sich von starken Armen emporgehoben, sie legt den Kopf an die breite Brust des kräftigen Mannes und läßt sich willig von ihm dem Tore zutragen. Jetzt hebt er sie in den wartenden Wagen, schwingt sich selbst hinein und ruft dem Kutscher das Fahrtziel zu.

»Aber Fräulein, wie konnten Sie bei solchem Wetter sich heraus wagen,« nahm Dr. Weiß das Wort.

Elisabeth, die, in eine warme Decke gehüllt, behaglich in den Kissen des Wagens saß, erholte sich rasch und vermochte dem Redner bereits dankbar zuzulächeln.

»Es war ja das schönste Wetter, als ich von Hause fortging. Aus dem bißchen Schnee macht man sich nichts drinnen in der Stadt, wer sollte ahnen, daß dies auf dem Friedhof draußen so ganz anders ist.«

Der Advokat schüttelte das Haupt und seine Züge nahmen einen ernsten Ausdruck an. »Das war ein leichtsinniger Streich, Fräulein Elisabeth, der ein schlimmes Ende hätte nehmen können, wenn ich nicht zufällig gekommen wäre.«

Sie schauderte noch nachträglich zusammen in Erinnerung an die Todesgedanken, die ihr gekommen waren, dann streckte sie dem jungen Manne dankbar die Hand entgegen. »Sie sind mein Lebensretter, Doktor. Wie soll ich Ihnen danken?«

Weiß beugte sich auf die Hand herab und küßte sie dort, wo unter dem Rande des Handschuhes der Arm hervorschaute. »Sprechen Sie nicht von Dank,« murmelte er. »Ich bin belohnt genug dadurch, daß ich an Ihrer Seite sitzen, mit Ihnen sprechen, Ihre Hand küssen darf.«

Ein verlegenes Schweigen trat ein, unwillkürlich rückte das junge Mädchen ein wenig zur Seite und schmiegte sich tiefer in die Kissen des Wagens. Die verhaltene Leidenschaft, welche durch die Worte des Nachbars zitterte, verwirrte und erschreckte sie. So wurde der Rest des Weges zurückgelegt, ohne daß die beiden ein Wort miteinander wechselten.

Als der Wagen durch die breite Einfahrt in das Innere des Wohnhauses gerollt war, sprang Dr. Weiß rasch heraus und reichte dann seiner Begleiterin die Hand, um sie beim Aussteigen zu unterstützen. Mit vieler Mühe und den Schmerz im Knöchel gewaltsam verbeißend, stieg das junge Mädchen aus dem Wagen, aber schon auf der ersten Treppenstufe mußte sie stehen bleiben und sich an ihren Begleiter anklammern, um nicht zu fallen.

»Ich kann nicht mehr weiter,« murmelte sie totenbleich, während der verhaltene Schmerz ihre Stimme durchklang. »Ich glaube, ich habe mir den Fuß ernstlich verletzt.«

»Ich trage Sie die Treppe hinauf in Ihr Zimmer,« rief der Advokat.

»Nein, nein,« protestierte das junge Mädchen. »Bitte, rufen Sie die Dienerschaft.«

In diesem Augenblick erschien oben auf dem Treppenabsatz ein junger Mann, der mit einem Blick die Situation überschaute. Sein schönes Gesicht nahm den Ausdruck heftigen Schreckens an, und zwei Stufen auf einmal nehmend sprang er mehr als er ging die Stiege hinab.

»Was ist mit Dir, Lieschen? Bist Du krank?«

Sie lächelte dem Frager beruhigend zu. »Es ist nichts, Josef. Ich habe mir ein wenig den Fuß verstaucht, am Friedhof draußen; wenn der Herr Doktor nicht gekommen wäre, stünde es schlecht um mich. Und jetzt kann ich nicht gehen.«

»Ich trage Dich,« rief Neubert.

Aber ehe er dazu kam, diesen Worten die Tat folgen zu lassen, war ihm Dr. Weiß zuvorgekommen. Rasch hatte er die leichte Bürde emporgehoben und trug sie die Treppen hinauf. Der andere ging halb erschreckt halb zornig nebenher.

»Wir müssen den Doktor holen lassen,« rief er dann plötzlich. »Ich will selbst gehen.«

»Das besorgen Sie wohl besser durch's Telephon,« stieß Dr. Weiß hervor, keuchend und ein wenig atemlos vom Treppensteigen. »Bitte, erwarten Sie mich dann, ich habe mit Ihnen zu reden und auch mit Herrn Leopold.«

Eine Viertelstunde später saßen die beiden beisammen; Elisabeth war der Obhut der alten Wirtschafterin übergeben worden.

Außer dem Advokaten und Neubert befanden sich noch zwei Männer im Salon: Leopold Kipferl und ein anderer, den er als »mein Freund, Baron Keröpesy« vorgestellt hatte.

Dr. Weiß berichtete auf die Aufforderung Neuberts hin in kurzen Worten, wie er zufällig Fräulein Elisabeth auf dem Friedhof aufgefunden. Bei der Ausmalung der Gefahr, in welcher sich das junge Mädchen befunden, wählte er etwas kräftige Farben, welche seine Retterrolle gebührend hervorhoben. Um die Lippen des Ungarn spielte ein eigenes Lächeln, während er den Ausführungen zuhörte. Neubert erbleichte noch nachträglich in Erinnerung an die schreckliche Gefahr, in der seine Kusine geschwebt hatte, und drückte dem Advokaten unter lebhaften Dankesworten die Rechte, während Leopold verdrießlich und ärgerlich an seinem blonden, dünnen Schnurrbart zupfte. Kipferl junior war ein ausgemachter Egoist, der sich ängstlich bemühte, alles Unangenehme von sich fern zu halten. »Die Traurigkeit steht mir nicht zu Gesicht,« pflegte er im vertrauten Freundeskreise zu sagen. »Das Leben ist so kurz, da muß man schauen, daß man alles Unangenehme abschüttelt, sonst kommt man gar nicht dazu sich zu amüsieren.«

Getreu dieser seiner Maxime beeilte er sich auch jetzt, über das Thema vom Unfall der Schwester hinweg zu kommen. In dem breiten Wiener Dialekt, welchen er immer sprach, rief er, als Weiß geendet hatte: »Na, Gott sei Dank, gut is gangen und nix is g'scheh'n. A vertreten's Füßl wird scho' wieder guat. Der Doktor wird's scho' richten. Also red'n mir von was ander'n. Was hab'n's mir sag'n woll'n, Herr Doktor? I' denk, der Pepp hat vorhin so was g'redt, daß Sie mit uns zu sprechen hätten.«

Der Blick des Advokaten flog zu Keröpesy hinüber. »Die Sache ist rein privater Natur – –« sagte er zögernd.

Der Ungar erhob sich sofort und sein Gesicht nahm einen Ausdruck hochmütigen Stolzes an. »Dann will ich nicht stören,« entgegnete er.

Aber der Hausherr war emporgesprungen und drückte den andern fast mit Gewalt auf seinen Sitz zurück. »Oho, dös gibt's nicht, dös wär' noch schöner, wenn's d' jetzt ausreißen tät'st. Da geblieben sag' ich. Vor meine Freund' hab' ich kein G'heimnis. Reden's nur zu, Herr Doktor.«

Der Advokat wechselte einen raschen Blick mit Neubert, der nur stumm mit den Achseln zuckte. Dann antwortete er: »Wenn Sie wünschen, Herr Kipferl, meinetwegen.«

Er berichtete nun die Geschichte von dem abhandengekommenen Testament. Der Hausherr und sein Vetter hörten aufmerksam zu, während Keröpesy, der eine Zeitung vom Tische genommen und sich in deren Lektüre vertieft hatte, scheinbar auf das, was gesprochen wurde, gar nicht achtgab.

»Na sowas,« rief Leopold erstaunt aus, als der Advokat seinen Bericht beendet hatte. »Also anbohrt hab'ns den Schrank und dös Kuvert rausg'stohlen? Na sowas; i hab' all'weil denkt, wann i solche G'schichten im Extrablattl oder in der Kronenzeitung g'lesen hab', dös san nix wie Lügen, was die Journalisten sich ausdenken, damit die Zeitung interessanter wird. Daß sowas wirkli' vorkommt, hätt' i nie denkt.«

»Ich weiß von dem Vorhandensein des Schriftstückes,« unterbrach Neubert seinen Vetter. »Der verstorbene Oheim hat es mir selbst gezeigt, bevor er es zu Ihnen trug. Es war eines unserer großen Geschäftskuverts, wie wir Sie gewöhnlich verwenden, und rückwärts mit seinem eigenen Siegel verschlossen.«

»Ganz recht,« bestätigte der Advokat. »Die Frage ist nun, was wir tun sollen. Sie, Herr Kipferl, sind der zunächst Beteiligte, und von Ihrem Entschluß hängt es ab, ob wir durch die Polizei Schritte einleiten lassen sollen oder nicht. Bitte, sprechen Sie sich aus.«

Das Gesicht des Angeredeten nahm einen keineswegs geistreichen Ausdruck an und seine wasserblauen Augen rollten hilf- und verständnislos von einem zum andern, während er verlegen den dünnen blonden Schnurrbart emporzwirbelte.

»Na freili', von mir hängt all's ab, dös is' richtig,« wiederholte er. »Aber was man tun soll, ja, dös is nit so leicht g'sagt. Hör' mal, Du Baron, was tät'st Du in mein' Fall?«

Keröpesy hob den Kopf empor und sagte langgezogenen Tones: »Was meinst Du? Pardon, aber ich habe wirklich nicht zugehört, ich habe keine Ahnung wovon gesprochen wurde.«

»Weißt, mei' Vater selig hat hier beim Doktor Weiß a Testament deponiert und das is ihm aus der Kassa g'stohlen worden. Jetzt soll i' sag'n, ob i' die Anzeig' bei der Polizei mach'n will oder nöt. Was glaubst Du?«

Der Ungar hatte bei diesen Ausführungen eine höchst gelangweilte Miene angenommen, jetzt zuckte er geringschätzig mit den Achseln.

»Da kann ich Dir leider nicht raten, mein lieber Freund, um Geschäfte habe ich mich nie gekümmert, dafür habe ich meinen Sachwalter.«

Bei dem geringschätzigen Ton, mit welchem das letzte Wort gesprochen wurde, biß Dr. Weiß vor Zorn die Zähne aufeinander, aber der Kavalier schien das nicht zu bemerken. Er hatte sich von neuem in die Lektüre seines Sportblattes vertieft. Kipferl aber atmete erleichtert auf, als ob ihm aus dem Munde des Freundes der köstlichste Rat erteilt worden wäre.

»Natürlich, ganz richti', wozu hat man denn sein' Sachwalter. Wissen's was Herr Doktor, tun's was woll'n, mir is alles recht. Und wenn was zum Unterschreiben is, so schickens mir's halt aufs Bureau. Auf a' halbe Stund' laß i mi' jeden Tag dort seh'n.«

Weiß fuhr sich mit der Rechten durch die Haare. »Es wäre mir lieber gewesen, wenn Sie Ihren Entschluß allein gefaßt hätten; aber da Sie meinen Rat wollen, so muß ich Ihnen sagen, daß ich mich gestern bereits mit einem Privatdetektivbureau behufs Ausforschung in Verbindung gesetzt hatte. Der Tod Ihres Herrn Vaters bewog mich aber, weitere Schritte zu unterlassen, bevor ich mich mit Ihnen verständigt hatte.

Leider habe ich den Verlust erst gemerkt, als Ihr Herr Vater bereits bewußtlos und darum nicht mehr imstande war, eine neue Abschrift herzustellen.

Das einzig Richtige in diesem Falle wäre die Anzeige an die Polizei. Wenn ich trotzdem nicht unbedingt dazu rate, so geschieht es aus dem Grunde, weil ich fürchte, Ihnen dadurch Unannehmlichkeiten und Umstände zu bereiten.

Wenn die Behörde annimmt, daß das verschwundene Kuvert das Testament enthalten habe, so kann es passieren, daß bis zur Wiederauffindung die Ausfolgung des Erbes an Sie und Ihr Fräulein Schwester verweigert wird.«

»Na sei'n's so gut, das wär' so a Spaß.« Leopold fuhr erschreckt in die Höhe.

Dr. Weiß konnte ein leichtes Lächeln nicht unterdrücken. »Ich glaube gern, daß Ihnen das unangenehm wäre, und nur aus Rücksicht für Sie habe ich darum bis jetzt die Anzeige unterlassen. Ich konnte dies mit gutem Gewissen tun, da das betreffende Depot mir nicht als Testament übergeben wurde, vielmehr Ihr Herr Vater meine Frage, ob es sein letzter Wille sei, nur mit einer halben Bejahung beantwortete. Und so glaube ich – –«

Dem jungen Fabrikanten dauerten die Ausführungen schon zu lange. Er unterbrach den Advokaten mit den Worten: »Aber dös is' ja alles leeres G'red, i seh' nöt ein, wozu mein Vater selig überhaupt a Testament hätt' machen müssen, wo er doch zwei leibliche Kinder hat, die seine Erben sein. Wer anders hat doch nix zu fordern.«

»Das ist eben die Frage. So einfach, wie Sie es sich vorstellen, ist die Sache nicht, Herr Kipferl. Ihr Vater hatte das volle Verfügungsrecht über sein Vermögen und wenn es ihm gepaßt hätte, es jemandem andern zu hinterlassen und Sie nur auf den kargen Pflichtteil zu setzen, so – –«

Das ging dem jungen Hausherrn denn doch über den Strich. Der oberflächliche Kulturfirnis fiel von ihm ab und seine egoistische brutale Natur kam zum Vorschein. Zornig schlug er mit der geballten Faust auf den Tisch und schrie: »Jetzt hör'n's mir aber auf mit dera Rechtsverdreherei. Zu guter Letzt wollen Sie mir gar noch einred'n, daß die Fabrik gar nöt mir g'hört. A, dös wär' nöt schlecht.«

Der Advokat lehnte sich in seinen Stuhl zurück und betrachtete den erregten Mann mit überlegenen Blicken, die von Spott nicht ganz frei waren. »Das halte ich allerdings nicht für einwandfrei bewiesen.«

Jetzt mischte sich Neubert, der bisher Zuhörer gewesen war, in das Gespräch: »Was das anbetrifft, so kann ich als Mitarbeiter und im gewissen Sinne auch als Vertrauter des verstorbenen Oheims versichern, daß es jedenfalls in seiner Absicht gelegen hat, die Fabrik dem Sohne zu hinterlassen, wie dies ja ganz natürlich ist. Wir haben öfters zusammen über diesen Punkt gesprochen und der Oheim hat mir seine Ansichten über die künftige Organisation des Geschäftes mehr als einmal mitgeteilt.«

Für eine Sekunde lang glomm ein loderndes Feuer in dem Blicke des Advokaten auf, das aber im nächsten Augenblick schon wieder erloschen war und nur ein sehr feines Ohr hätte aus seinen Worten eine gewisse Erregung herausgehört, als er fragte: »Könnten Sie uns vielleicht etwas über diese Pläne des Verewigten mitteilen? Ich glaube, das wäre nicht unwichtig.«

»Es handelt sich zumeist um interne Angelegenheiten, die Geschäftsverwaltung betreffend. Ich glaube nicht, daß für Fremde diese Punkte Interesse haben,« entgegnete der junge Mann ausweichend.

Dr. Weiß runzelte bei dieser Abweisung die Stirn, fuhr aber nach kurzer Pause fort: »Da Sie nach eigener Angabe der Vertraute Ihres Oheims waren, so wissen Sie ja wahrscheinlich den Inhalt des Testaments?«

Die scharfen Augen des Advokaten bohrten sich bei diesen Worten förmlich in den Mienen Neuberts fest, während Kipferl gelangweilt mittelst Zigarrenasche Figuren auf den Tisch malte. Keiner der Anwesenden achtete auf den Ungarn, der hinter der Zeitung hervor scharfen Blickes die Szene beobachtete.

»Leider bin ich gerade in diesem Punkte nicht informiert. Ich habe schon erwähnt, daß ich das Kuvert gesehen habe, bevor es der Oheim zu Ihnen trug. Ich erinnere mich noch ziemlich genau seiner Worte: »Da hab' ich alles niedergeschrieben, wie ich's nach meinem Tod haben will.«

Der Advokat atmete tief auf, wie von einer Last befreit, dann fuhr er schnell fort: »Auch aus diesen Worten scheint hervor zu gehen, daß es sich in dem Schriftstück nicht um ein eigentliches Testament handelte, sondern mehr um Verhaltungsmaßregeln für die Erben, die natürlich keine andern sein können, als die beiden Kinder. Unter diesen Umständen halte ich es für das Beste, bei Verhandlung der Verlassenschaft einfach anzugeben, daß ein in meinem Besitze befindliches Depot, das aber keinerlei Geldwert besaß, verloren gegangen ist, ohne aber zu erwähnen, daß es sich um eine Art letzten Willens gehandelt habe. In diesem Falle mischt sich die Behörde wohl nicht weiter hinein, sondern es bleibt dann Ihnen überlassen, Herr Kipferl, die Sache zu verfolgen oder nicht.«

»Werd' mich wohl hüten,« lachte der Erbe. »Vor der Polizei hab i an heiligen Respekt. Da schaut nix raus, wie Ärger und Verdrießlichkeiten und Lauferei. Geld is' ja keins weg mit dem Papierl und so glaub' i' wir lassen die G'schicht' ruh'n.«

Dr. Weiß erhob sich. »Ganz wie Sie wünschen, Herr Kipferl. Sonst habe ich momentan nichts zu besprechen. Bitte dem Fräulein Schwester meine Grüße zu vermelden, ich werde mir erlauben, mich morgen nach ihrem Befinden zu erkundigen.«

Er verließ mit höflichem Gruße das Zimmer. Kipferl atmete sichtlich auf, als sich die Türe hinter ihm geschlossen hatte.

»Gott sei Dank, daß er fort is', der Fadian. A tüchtiger Advokat mag er ja sein, aber daß er unsereinen mit seinen dummen G'schichten stundenlang plagt, das ist zu fad'. Geh' Baron, leg' die Zeitung weg und machen wir a Partie. Zum Ausgehn is noch z' bald. Ins Theater darf ich ja jetzt nöt nein, acht Tage nach dem Tod' von mein' Vater, und im Kaffeehaus und Klub ist vor Mitternacht kei' Mensch z' finden.«

Er hatte ein Spiel Karten aus dem Tischschub hervorgeholt und mischte sie mit einer Förmlichkeit, die auf bedeutende Übung schließen ließ.

Jetzt empfahl sich auch Neubert, ohne daß sein Vetter den Versuch machte, ihn zurück zu halten. Zwischen den beiden beinahe gleichaltrigen, jungen Leuten bestand trotz der nahen Verwandtschaft keinerlei intime Freundschaft, dazu waren ihre Charaktere zu verschieden. Leopold fühlte sich in Gegenwart des ernsten und arbeitsamen Mannes immer ein wenig geniert. Darum beeilte er sich, auch ihm nach dem Verlassen des Zimmers einen freudigen Nachruf nachzuschicken.

»Der wär' a glücklich draußen. Fadian Nummer 2. So ein Arbeitsprotz. Von Früh bis Abend schnüffelt er in der Fabrik rum. Überall hat er seine Augen, von allem weiß er. 's wundert mich nur, wie ihn die Leut' trotz alledem so gut leiden können. Rein verliebt san's alle in ihn, sogar die Sozi, was doch sonst auf die Vorg'setzten nöt guat zu sprechen san. Na, mein'twegen. Ich neid' 's ihm nöt. Na also Baron, was is denn, hast keine Lust zu an Einundzwanzig? Ich halt' die Bank.«

Keröpesy legte die Zeitung aus der Hand und blickte mit gut gespielter Verwunderung im Zimmer herum. »Teremtete, wir sind ja allein. Habe gar nicht bemerkt, daß die beiden andern sich entfernt haben. War wieder einmal fabelhaft interessant heute, die Sportzeitung. Denke Dir, der Asfalvy, weißt, der Graf Asfalvy, der bekannte Sportsmann, ich hab' Dir schon öfters von ihm erzählt, er ist einer meiner besten Freunde – – – –«

Kipferls Gesicht strahlte bei diesen Worten vor lauter Freude. Er fühlte sich jedesmal geehrt, wenn der Baron, mit dem er auf dem Duzfuß stand, von irgend einem der Hochadligen, deren Namen täglich in den Zeitungen genannt wurden, als seinem Freunde sprach. Dadurch glaubte er sich selbst diesen exklusiven Kreisen näher gebracht, in denen zu verkehren das höchste Ziel seines Ehrgeizes bildete.

»Der Asfalvy? Das is' der, was dös Roß hat laufen lassen im Grandpreis, was Favorit war. Wie hat's nur gleich g'heißen? So a verruckten Namen hat's g'habt, lateinisch oder englisch, Buk– Buk–«

»Ganz richtig, der Bukephalos. Von dem habe ich gerade gelesen. Er hat den Grandpreis natürlich gewonnen. Überhaupt, ein famoses Pferd. Wieviel glaubst Du, daß es seinem Besitzer getragen hat? Hier steht es schwarz auf weiß. Über eine Million Kronen hat Asfalvy in der letzten Rennsaison an gewonnenen Preisen durch den Bukephalos eingenommen.«

Kipferl sperrte bei diesen Worten Augen und Ohren auf. »Is' mögli'?« rief er verwundert. »Über a' Million? Herrgott, so a Roß trägt ja mehr wie a ganze Fabrik. Da tät' ma ja g'scheiter, den ganzen Kremp'l zu verkaufen und a Roßhändler z' werden.«

Er lachte vergnügt über seinen Witz, aber Keröpesy, der keinen Moment seine vornehme, etwas blasierte Miene ablegte, bemerkte so obenhin: »Natürlich ist das Halten eines Rennstalles auch ein großartiges Geschäft, das wissen alle Sportsleute; eigentlich ist es das einzige Geschäft, das ein Kavalier betreiben darf. Leider kann ich mir mit meinen zwanzigtausend Gulden Jahreseinkommen solche Extravaganzen nicht bieten. Dazu gehört Kapital. Nun, also beginnen wir. Eine Stunde hab' ich noch Zeit, dann muß ich in den Jockeiklub, wo ich ein Rendezvous mit dem Fürsten Dunkelwald und dem Markgrafen Pampini habe. Zu schade, daß Du nicht mit kannst. Ich habe schon öfters angeklopft Deinethalber, aber die Herren sind zu exklusiv. Und gar gegen einen Bürgerlichen! Nun, ich hoffe mit der Zeit doch mein Ziel zu erreichen. Für meine Freunde ist mir keine Arbeit zu viel.«

Kipferl glühte vor Wonne bei der wenn auch nur entfernten Aussicht, in den feudalsten Klub Österreichs zugelassen zu werden. Seine Freude war so groß, daß er es gar nicht bemerkte, wie er von Keröpesy nach allen Regeln der Kunst im Kartenspiel beschwindelt wurde. Aus dem Verlust machte er sich nicht viel. Was bedeuteten für einen reichen Mann ein paar tausend Gulden? Als der Ungar nach geraumer Zeit das Haus verließ, war seine vordem leere Brieftasche mit Banknoten gut gefüllt.

Auf der Stiege begegnete Keröpesy Neubert, der mit kurzem, fremdem Gruße, ohne stehen zu bleiben, rasch an ihm vorüberschritt. Die Miene des Ungarn, der sich unbeobachtet wußte, nahm den Ausdruck eines gereizten Raubtieres an und im Weitergehen murmelte er vor sich hin: »Den Burschen muß ich fortbringen, je früher desto besser, er ist mir zu klug und zu mißtrauisch. Überhaupt, diesen Kipferl muß man einmal ernstlich in die Arbeit nehmen. Ich glaube, da läßt sich etwas verdienen. Ich will mit Meta über die Sache sprechen. Weiber haben oft die klügsten Einfälle.«

Und einen vorüberfahrenden Fiaker anrufend, rief er ihm die Adresse zu, die allerdings nicht die des Jockeiklubs war, in den er angeblich gehen mußte, um ein Rendezvous mit Fürsten und Markgrafen nicht zu versäumen.


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