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10.

Während der ganzen Fahrt hielt Markwitz' gehobene Stimmung und freudige Erregung an. Unaufhörlich malte er sich das Wiedersehen und Jettkas Überraschung aus. So stolz auf seine wiedergewonnene Freiheit kam er zu ihr. Sein erster Weg in München war zu ihr.

Ein wenig erstaunt war er über den hohen, dunklen Treppenaufstieg zu ihrer Wohnung in der Goethestraße.

Als er im dritten Stock klingelte, öffnete ein altes, unsauberes Weib und führte ihn in ein Hinterzimmer, das Schlaf- und Wohnraum zugleich war. Markwitz begriff, daß er die Wohnungsvermieterin vor sich hatte. Ein dumpfer, muffiger Kleineleutegeruch war in dieser Stube, in der einige moderne Möbelstücke mit uralten Scharteken zusammengepackt waren.

»Wollen Sie mich nicht bei Fräulein Ebenschütz melden?« fragte Markwitz in höchster Ungeduld.

»Darf ich fragen, sind Sie ein Verwandter von dem Fräulein?«

Das zahnlose Weib sah ihn unterwürfig an.

»Weshalb wollen Sie das wissen? Ich bin nicht hergekommen, um mich Ihnen vorzustellen, sondern um Fräulein Ebenschütz zu sehen. Wollen Sie mich gefälligst melden?« Markwitz fing an nervös zu werden. Es war etwas in dem zögernden, lauernden Wesen der Vermieterin, das ihm die Ahnung von etwas Unerwartetem, Unheimlichem gab.

»Sie können das Fräulein nicht sehen, sie ist nicht in München.«

»Ist sie wieder abgereist?« fragte Markwitz enttäuscht.

»Ja, sie war auf der Durchreise nur eine Nacht hier.«

»Auf der Durchreise? Wohin?«

Die Alte zögerte wieder.

»Wissen Sie, wohin sie gereist ist?« wiederholte Markwitz seine Frage.

»Ich weiß es wohl – aber – ja, sehen Sie, wenn Sie ein Verwandter sind – ich weiß ja nicht, was Sie wollen?«

»Jedenfalls bin ich ein guter Freund von Fräulein Ebenschütz, so gut wie ein Verwandter.«

»Ja, ja, Sie sehen aus, als könnte man Ihnen Vertrauen schenken. Ich will Ihnen denn auch sagen, wo sie ist, und Sie können die Adresse haben. Vielleicht können Sie noch etwas ausrichten, wo unsereins doch nichts machen kann. Die Sorge liegt mir schwer genug auf dem Herzen, daß Fräulein Jettka nun doch den gleichen Weg geht wie der alte Herr. So lange hatte sie sich ordentlich gehalten seit seinem Tod, und ich hatte kein Arg, dachte nicht, daß so etwas im Blut liegt –«

»Was? Was ist das mit dem alten Herrn? Von wem und von was sprechen Sie?«

»Haben Sie nicht den Vater von Fräulein Jettka gekannt? Den alten Herrn Ebenschütz?«

»Nein, nie.«

»So, so – Sie wissen nichts von ihm?«

»Nein, so gut wie nichts.«

»Ja, sehen Sie,« sagte die Alte, »das ist eine traurige Geschichte. Das war ein Herr, nobel und immer vornehm. Und Genie hatte der mehr als alle Kunstprofessoren in München zusammen. Aber er hatte wohl immer zu forsch gelebt, und für die Arbeit war er nicht. Und wie das Geld nun alle war und mit Borgen allein auch nicht durchzukommen war, da wurde er Spieler. Hatte wohl auch früher schon viel mit Spielen und Wetten durchgebracht. Und wenn es ihm einmal glückte, eine größere Summe in die Hände zu bekommen, dann ging's nach Monte Carlo, nach der Spielhölle. Manchmal mag's ihm da geglückt sein, aber nicht immer. Fräulein Jettka hat ihn oft begleitet, er sagte, sie brächte ihm Glück. Und doch ging es abwärts mit ihm, bis er mit Borgen und Spielen ganz auf den Hund kam und recht elend starb. Hier bei mir, in den gleichen Zimmern, die das Fräulein noch bewohnt. Und ist doch einmal ein reicher Herr gewesen.«

»Wie lange ist er tot?« fragte Markwitz erschüttert.

»Das sind nun so anderthalb Jahre her. Na, und so lange hat sich ja das Fräulein recht ordentlich gehalten, wenn sie auch sehr knapp leben mußte von der kleinen Rente, die ihr geblieben – aber wir kennen uns ja nun schon so lange, und ich wollte es auch eine Zeitlang mit ansehen, wenn sie mir Kost und Logis schuldig blieb. Das war ja nun recht schön, daß sie zu der reichen Cousine da oben im Preußischen reisen konnte, aber was da passiert ist, weiß der Himmel. Die Cousine hat ihr wohl mit einer größeren Geldsumme ausgeholfen, und nun mit einem Mal schlägt das böse Blut vom Vater bei ihr durch. So eilig hatte sie's, daß sie sich kaum eine Nacht hier aufhielt und mit dem frühesten Zug schon abreiste nach Monte Carlo. Gesagt hat sie mir nichts davon, sie wußte, was sie da von mir zu hören bekommen hätte. Erst von dort her schickte sie mir ihre Adresse. Briefe soll ich nachschicken. Und hier ist die Adresse.«

Markwitz starrte sprachlos auf den Zettel, der in Jettkas Handschrift die Adresse enthielt. Ihm war zumute, als müsse er ersticken in der dumpfen Stubenluft.

»Ja, sehen Sie, mein Herr, wenn Sie ein Verwandter oder ein Freund von Fräulein Jettka sind, da sollten Sie ihr doch mal ordentlich ins Gewissen reden, daß sie nicht auf den gleichen Weg gerät wie der Herr Vater. Nicht einen Tag hat sie bei mir Kredit, wenn sie sich dem Spielteufel ergibt. Und wenn sie mir nicht geben kann, was ich zu fordern habe, dann kann sie sehen, wo sie bleibt!«

»Können Sie mir die Zimmer von Fräulein Ebenschütz zeigen?« fragte Markwitz tonlos.

»Warum denn nicht? Sie hat jetzt nur noch zwei von den Vorderzimmern, ein Wohnzimmer und eine Schlafkammer. Früher hatten sie die ganze Front.«

Die Alte führte Markwitz über den engen, lichtlosen Korridor in die Vorderstuben. Ja, so und nicht anders konnte Jettkas Heim aussehen, es trug den Stempel ihrer ganzen Persönlichkeit. Nur ein kleines viereckiges Gemach mit einer Glastür nach einem Balkon hinaus, aber lauschig, mit feinem Luxus ausgestattet. Kein Zoll breit Diele zu sehen, alles mit echten Teppichen und langhaarigen Fellen zugedeckt und die häßliche Tapete mit Stoff, mit einigen kostbaren Kunstwerken der Keramik, mit Bildern und Farbenskizzen von frappanter Genialität versteckt. Dazu tiefe, altmodische Sessel, ein Diwan mit orientalischer Decke, auf dem Schreibtisch einige echte Bronzen und ein ganzer Schrank voll Bücher.

Eine schmerzhafte Sehnsucht preßte Markwitz das Herz zusammen. Der ganze Zauber, den Jettka auf ihn ausgeübt, wurde in dieser Umgebung lebendig. Welch ein Paradies wäre dies kleine Heim, wenn er sich ihre schlanke Gestalt in dem schlichten weißen Kleid hier über dem rankenumsponnenen Balkongitter lehnend dachte, mit den oft so seltsam schillernden Augen in die stillen, versteckten Gärten hinabträumend. Oder dort in dem alten, gestickten Urahnensessel liegend, die feinen Füße mit den schwarzen Schühchen gegen das weiße Fell gestemmt, eine Zigarette zwischen den roten Lippen, mit einem Lächeln im Blick, das ihm galt!

Und er allein mit ihr – wenn die Dämmerung leise aus den Höfen und Gärten emporstieg und die lachenden Kinderstimmen unten müde verhallten. Wenn der kleine silberne Teekessel dort über dem Lämpchen summte – das alte, süße Lied vom Heimatsglück am eigenen Herd und am treuen Herzen.

Aber statt Jettkas heller Gestalt stand ein schwarzes Gespenst mitten im Zimmer, das einen häßlichen, abschreckenden Schatten um sich warf, das Gespenst, das die alte Frau mit ihrer Jammergeschichte von Laster und Elend heraufbeschwor. Und in dem Schatten regte sich's noch undeutlich, verschwommen, aber doch nicht mehr zu bannen, nicht fortzuweisen – Entsetzen erregend – der greuliche Verdacht – nein, nein, nein! Es kann und darf nicht sein! – Eine größere Geldsumme? Wie kam sie dazu? Sie, die sich von ihrer Vermieterin durch Schulden abhängig machen mußte?

»Sind diese Bilder von dem verstorbenen Herrn Ebenschütz gemalt?« fragte Markwitz, die Skizzen und Gemälde näher ins Auge fassend.

»Jawohl. Fräulein Jettka will sich nicht von ihnen trennen. Ich würde es auch nicht leiden, daß sie jetzt davon verkauft, denn ich habe den nächsten Anspruch darauf,« erwiderte die Alte.

Jedenfalls repräsentierte die kleine Sammlung noch ein Kapital, und Markwitz verstand jetzt die Nachsicht der widerwärtigen Alten wegen des Mietszinses. Auf den ersten Blick war die Hand des großen, gottbegnadeten Künstlers in diesen zum Teil nur flüchtig hingeworfenen Farbenskizzen zu erkennen. Jeder Pinselstrich atmete Leben und Natur und war mit sicherer Kraft hingesetzt, und dem Leben wie der Natur war ein solcher Reichtum von Poesie, Humor und tiefer Tragik abgelauscht, so viel Feines, Intimes, Heimliches, was nirgends auf der Oberfläche zu finden ist, sondern sich nur dem Auge des Genies offenbart.

Schwer riß sich Markwitz von diesen Geisteskindern eines Toten und von der Umgebung los, die ihm so Herzergreifendes erzählten, eine überwältigende Tragödie von Menschengröße und Menschenelend.

Aber die Alte gab Zeichen von Ungeduld – vielleicht fürchtete sie, er könne ihr die Ansprüche auf diese Kunstwerke streitig machen wollen – sie fing von neuem an, ihn mit einem gewissen Mißtrauen über seine Person auszufragen, und um dieser lästigen Neugier zu entgehen, verabschiedete er sich schnell. Jettkas Adresse hatte er in der Tasche.

Sein Entschluß stand fest. Es mußte zu einer Entscheidung kommen. Ehe er den Kampf mit dem Leben von neuem aufnahm, mußte er wissen, woran er war. Er hatte das Gefühl, als könne er keine Nacht mehr schlafen und keinen Bissen mehr essen, ehe er nicht Auge in Auge von Jettka selbst gehört, daß die Verdächtigungen der Alten Einbildung, Lüge, Hirngespinste seien, entsprungen der kleinlichen Spießbürgerangst um die paar schuldigen Mark!

Mit der frischen Straßenluft verflog die Beklemmung, die sich seiner in den engen vier Wänden bemächtigt, als stände er unter Suggestion der kläglichen Alten.

Warum sollte Jettka nicht aus andern naheliegenden Gründen nach jenem herrlichen, paradiesischen Fleckchen Erde in dem sonnigen Küstenstrich flüchten, das sie genau kannte und begreiflicherweise andern Gegenden vorzog? War es nicht vielleicht ein neues, großes Leid, ein Herzenskummer, der sie dahin trieb, in der zauberhaften Natur Trost und Erhebung zu suchen? Sah nicht ihre plötzliche und eilige Reise dorthin einer Flucht ähnlich? Und wußte er nicht ganz genau, vor wem und vor was sie geflohen? Hätte sie es wohl noch eine Stunde ertragen können, ihn und Gabriele zusammen zu sehen? Wie konnte dieses gemeine alte Weib sich ermessen, eine Jettka Ebenschütz beurteilen und verurteilen zu wollen? Jettka mit ihren feinen, komplizierten Regungen und Empfindungen? Jeder Zoll an ihr die Tochter des großen Künstlers, des genialen Vaters! –

Aber dieser Vater hatte verdorbenes Blut – fiel ihm jetzt wieder ein, großer Gott! Wenn sie auch dieses verdorbene Blut geerbt hätte! Oder wenn sein Beispiel sie verdorben hätte. Fäulnis steckt an. Gewißheit, Gewißheit wollte er haben! Nur nicht diese entsetzlichen, marternden Zweifel.

Er ging geradeswegs nach dem Bahnhof zurück, um mit dem nächsten Schnellzug weiterzureisen nach dem Süden. Und als er wenige Stunden darauf mit dem Expreß durch die Nacht und unbekannte Gegenden flog, sich schlaflos in seine Ecke drückend, war ihm von ganz München in der Erinnerung nichts geblieben als das kleine, lauschige Gemach drei Treppen hoch in der Goethestraße mit den verträumten Gärten unter seinem Balkon und den wunderbaren Bildern an seinen Wänden.

* * *


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