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3.

Die Nacht war da.

Die wildklagende, sternenlose Herbstnacht, die weinend den schönen Sommer begrub.

Gabriele schlief längst sorglos unter den seidenen Decken ihres großen Paradebetts, als Jettka noch wach in dem ihr angewiesenen Schlafzimmer saß.

Sie war halb entkleidet, ihr schweres, braunes Haar fiel in gelösten Flechten und Ringeln über den Nacken, der ebenso licht und weiß schimmerte wie ihr Gesicht.

Sie hockte auf dem Boden, und den Kopf auf die gefalteten Hände gestützt, starrte sie in den großen Reisekoffer, der noch unausgepackt vor ihr stand.

Der unsichere Schein einer Kerze flackerte über sie und über den Koffer hin, der eine merkwürdige Leere zeigte.

Jettkas Gesicht war in diesem Augenblick völlig blutleer, in den starren Augen und auf der finster umwölkten Stirn standen Gedanken, wie sie in Nacht und Einsamkeit aus dem tiefsten Grund der Menschenseele emporsteigen. Schicksalsfragen, für die es nie eine Antwort gibt. Die so banal scheinen, weil sie so schrecklich alltäglich, so abgeleiert sind, und die dem Frager doch stets das unergründlichste, unerforschlichste Welträtsel bleiben.

Warum war sie ein Stiefkind des Glücks, während Fortuna all ihre goldenen Gaben über Gabriele ausgeschüttet hatte?

Lag es an ihr?

War sie weniger für den Genuß und die Freude befähigt als ihre Cousine, sie, die in ihrem kleinen Finger mehr Geist besaß als diese eitle, selbstgefällige Frau in ihrem ganzen Hirn, und mehr Feuer in einem Blutstropfen als jene in sämtlichen Adern ihres trägen, üppigen Körpers?

Nein, die Ursache lag wo anders. Eine grausame, empörende Ursache, weil so unverdient und unabänderlich.

Gabriele hatte einen Vater gehabt, der arbeiten konnte und erwarb, der sich, seine Familie und sein Haus in hohem Ansehen erhielt, wenn er auch weiter nichts war als ein ehrbarer Philister mit gesundem Menschenverstand.

Ihr Vater konnte nicht arbeiten. Er hatte zu jenen unseligen, genialen Naturen gehört, dem Fluch des Menschengeschlechts, die alle Leidenschaften ohne die Leistungsfähigkeit des echten Genies haben.

Seine Lebenszeit reichte gerade aus, um den Wohlstand und das Ansehen seiner Familie völlig zu zerrütten.

Was konnten sie beide für ihre Väter?

Was kann der Mensch für den Segen oder Fluch, der mit ihm geboren wird?

Sie war mit Gabriele in der gleichen Schule und mit den gleichen Ansprüchen an das Leben erzogen.

Dann hatten sie viele Jahre nichts voneinander gehört, denn sie lebte im fernsten Süden Deutschlands, wahrend Gabriele im Norden blieb, wo sie sehr jung heiratete und die Eltern früh verlor.

Ihr Vater harmonierte wenig mit jenen Verwandten und blieb ihnen fern.

So hatte Gabriele nichts von ihrem Schicksal erfahren. Sie wußte nichts von den Enttäuschungen und Demütigungen des Lebens, die sie als Tochter des gewissenlosen Verschwenders, Schuldenmachers und Spielers bis auf die bitterste Hefe des Kelchs ausgekostet hatte.

Sie wußte nicht, was es heißt, die Schmach eines Vaters wie einen unheilbaren Aussatz am eigenen Leib durch das Leben zu schleppen, vor dem alle Glücklichen, Gesunden zurückschaudern.

Und sie sollte es auch nicht wissen, nie!

Gabriele hatte sich jetzt ihrer erinnert und sie eingeladen, weil sie sie brauchte.

Sie brauchte ihre Gesellschaft als Deckmantel für ihren guten Ruf, um die häufigen Besuche ihres heimlich Verlobten annehmen zu können, ohne Anstoß zu erregen.

Und so sollte sie das verborgene, süße Glück dieses girrenden Liebespaares mit ansehen – sie, mit ihrem wild empörten, hungernden Herzen! Es gibt einen Hohn des Schicksals, der Unglückliche rasend macht.

Tag für Tag soll sie die Selbstbewunderung der eitlen, verliebten Frau ertragen! Und den Narren, der sich in diese dicke Blondine vergafft hat! Oder in ihr Geld.

Gabriele hatte mit sechsundzwanzig Jahren kaum den ersten Mann begraben, und schon wieder bot sich ihr das Glück der Liebe und Ehe!

Und sie?

Sie hat den Mann nie anders wie als brutalen Egoisten, als gewissenlosen Räuber kennengelernt, der unter der Maske der Freundschaft ihre traurige Lage ausbeuten wollte.

Sie war zu nüchtern, zu scharfsichtig, um sich von dem Weihrauch der Schmeichelei die Sinne benebeln zu lassen.

Und weil sie maßlos stolz war, konnte sie nicht lieben.

Sie konnte die Männer nicht lieben, die sie vielfach begehrt hatten, sie, die vogelfreie Tochter des verlumpten Spielers, ohne ihr das letzte und höchste Opfer bringen zu wollen, sie mit ihrem ehrlichen Namen zu decken. So hatte sie Haß gesogen aus dem Übermaß ihres Liebesverlangens.

Und warum war sie hergekommen? Warum blieb sie hier?

Hatte sie die Sehnsucht nach der Jugendfreundin hergetrieben? Wollte sie ihr aus alter Liebe und Freundschaft jetzt zur Seite bleiben?

Ach nein, Not war die eigentliche Ursache, die sie Gabrielens Ruf folgen ließ.

Ihr Einkommen, das Vermächtnis einer Tante, war so schmal, daß es kaum reichte, sich 365 Tage im Jahr sattzuessen.

Dieser Besuch auf mehrere Monate bei der reichen Cousine befreite sie von einer großen Sorgenlast.

Ihr hatte stets vor einer dienenden Stellung geschaudert. Sie hungerte lieber, als daß sie sich Fremden in Dienstbarkeit unterordnete.

Auch Gabriele sollte sie als völlig gleichberechtigt ansehen, darum durfte sie nichts von ihrer Armut erfahren.

Armut ist Schande!

Nicht für den im Elend geborenen Proletarier, aber für den Heruntergekommenen, den Abwärtsgleitenden. Denn kaum einer unter hundert rettet aus dem Schiffbruch sein Ehrgefühl und seinen Charakter.

In neunundneunzig von hundert Fällen ist Verarmung gleichbedeutend mit moralischem Defekt.

Jettka weiß das entsetzlich genau. Darum steht Verzweiflung in ihrem Blick geschrieben, und ihre schlanken Finger graben sich wühlend in das üppige Haar, das einen eigentümlichen Ambraduft ausströmt.

Sie weiß, sie muß hinunter in den Abgrund, es gibt keine Rettung für sie.

Sie kann nicht den Pfad der Entsagung und Demut gehen, sie mit dem Herzen voll Lebensglut, voll unbesieglichem Glücksverlangen! Mit den verfeinerten Sinnen, den erregbaren Nerven, der hochfliegenden Phantasie!

Sie kann vielleicht hungern, aber sie kann nicht ohne echte Parfüms und seidene Strümpfe sein.

Und sie wird nicht sterben, ohne des Lebens und der Liebe höchste Wonnen gekostet zu haben – sie weiß es ganz genau. Der Wille zum Leben hat stets recht. Entsagung ist Seelenmord, Selbstmord.

Wie die Nacht klagt und seufzt! Wie schwer selbst dem lebensmüden Sommer das Sterben wird!

Leben! – Leben ist alles!

* * *


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