Johanna Spyri
Gritlis Kinder kommen weiter
Johanna Spyri

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Siebentes Kapitel

Ein unerwarteter Reiseschluß

Gleich nach Tische, so schnell, daß die anderen Kinder sie nur gar nicht mehr erblickt hatten, waren am Mittage Emmi und Fani davongerannt, wie sie verabredet hatten, damit keine Zeit verloren gehe; denn Fani wollte sein Wort halten und an Oskars Fest teilnehmen. In viel kürzerer Zeit als das erste Mal waren sie bei den Weiden am Rhein angelangt; denn nun kannten sie den Weg.

Die Barke lag ganz bereit, und alles war wohlgeordnet: Ruder, Stachel und in der Mitte ein Sitzbänkchen. Die Kette war nur leicht angebunden. Der Fischer hatte nach Abrede alles so bestellt, daß sie die Barke leicht ablösen und hinausfahren konnten.

Fröhlich sprangen die Kinder in den Kahn, und mit Gewandtheit erfaßte Emmi die Ruder und stieß vom Lande ab. Sie verstand sehr wohl die Ruder zu führen und wußte ganz gut, wie die Barke nach rechts oder links, vorwärts und rückwärts zu lenken sei, denn wie viele Male war sie schon allein mit ihrer Freundin auf dem See herumgefahren, selbst im Winde durch die bewegten Wellen, was noch am allerlustigsten war.

Fani setzte sich geruhlich hin und sagte: »Wenn ich dir dann helfen soll, so sag es nur; rudern kann ich freilich nicht, so wie es sein muß.«

»Das ist auch nicht nötig«, entgegnete Emmi zuversichtlich und arbeitete tapfer weiter. Nun hatte sie aber zwei Dinge übersehen: einmal war die Fischerbarke sehr viel schwerer, als die kleinen Boote waren, die sie zu regieren gewohnt war, und dann zogen die Flußwellen den Kahn mit einer so großen Gewalt abwärts, wie die Wellen des Sees niemals getan hatten, auch wenn dort an einigen Stellen leichte Strömungen vorgekommen waren. Emmi kämpfte aus allen Kräften gegen das reißende Wasser an, sie wollte nun einmal die Barke so weit hinausrudern, daß die Burgruine recht zu sehen war. Wie sie sich draußen festankern wollte, hatte sie schon ausgesonnen.

»Nimm den Stachel, Fani«, rief sie jetzt ein wenig bedrängt durch die stürmischen Wellen, die mit jeder kleinen Entfernung vom Lande, die sie gewann, mächtiger wurden.

»Sieh, so, Fani, fest in den Boden stecken mußt du ihn und so das Schiff weiter hineindrängen«, und Emmi zeigte, wie es sein mußte, und bot ihrerseits alle Kräfte auf, um in derselben Richtung die Barke weiterzubringen. Es gelang eine Strecke weit. »Noch mehr, Fani, noch mehr«, rief Emmi wieder.

Er strengte sich an, soviel er nur konnte.

»Wir kommen zu weit hinunter, stoße den Stachel so ein, daß wir nicht weiter getrieben werden, ich will schon der Mitte zurudern. Sieh, dort ist die Ruine, Fani! Nur noch ein klein wenig weiter hinaus, dann kannst du gleich zu zeichnen anfangen.«

Fani hielt mit aller Macht seinen Stachel fest, steckte ihn dann wieder neu ein, man war wieder einen Ruck weiter gekommen. »O! o! Es nimmt uns fort«, schrie auf einmal Fani auf, dem der reißende Strom jetzt den Stachel mitfortnahm wie eine Rute. Fani konnte ihn nun gar nicht mehr festhalten.

»Komm, nimm ein Ruder, ich nehme das andere, wir wollen zum Ufer zurück«, rief Emmi ängstlich; »komm schnell!«

Aber schon hatte es ihr die Ruder aus der Hand gerissen, der Strom trieb sie mit fort. »O, was müssen wir tun! Was müssen wir tun!« schrie Emmi entsetzt, »kein Mensch sieht uns, o wenn die Barke umschlägt!«

Immer schneller schoß diese davon, wie eine Nußschale rissen die hohen Wellen sie dahin. Totenbleich saßen die beiden darin. Fani hatte kein Wort mehr gesagt, die furchtbare Angst schnürte ihn ganz zusammen.

»O Fani, wir sind verloren! Wer kann uns helfen?« schrie Emmi aufs neue. »Wir wollen beten! O, ich habe auch nie gebetet, seit ich auf der Rosenhalde bin, ich habe es immer vergessen. Mama kam nicht an mein Bett wie daheim; aber sie hat es mir noch so gesagt, daß ich's tun soll, und ich hab' es nie getan. Wenn mich der liebe Gott nun auch nicht anhört! Fani, bete doch, betest du auch alle Tage?«

Mit zugeschnürter Kehle sagte Fani: »Nein, ich habe immer gedacht, Elsli tut's schon für uns beide.«

»Das gilt nicht, das gilt nicht, wenn du es nicht auch tust«, stöhnte Emmi; »du mußt selbst es auch tun, sonst sagt der liebe Gott: ›Den kenne ich nicht!‹, wenn Elsli für dich beten will, gewiß, ich weiß es, Mama hat mir's erklärt. O, hätt' ich doch hier nicht so alle Tage den lieben Gott vergessen, wenn er mich nun strafen will!«

Emmi wurde auf einmal still und schaute in äußerster Angst zum Himmel auf, und leise flehte sie aus tiefstem Herzen, der liebe Gott solle ihr doch verzeihen und nicht an ihr tun, wie sie getan, und sie jetzt vergessen. Er solle doch auf sie niedersehen und sie erretten aus dem furchtbaren Wasser.

»Ein Dampfschiff! Ein Dampfschiff! Es überfährt uns!« rief Fani jetzt in neuem Schrecken aus, und dieser war nicht unbegründet.

Mit grausenhafter Schnelligkeit rauschte der große Dampfer her; nur wenige Minuten noch, und das kleine Fahrzeug war von den aufgewühlten Wellen umgeworfen und unter dem Dampfer verschwunden.

In dieser höchsten Angst fing Emmi aus allen Kräften zu schreien an, so laut, wie sie in ihrem Leben noch nie geschrieen hatte. Auch Fani fand jetzt seine Stimme wieder und heulte mit, soviel er vermochte. Da war der fürchterliche Dampfer – ganz nahe –, die Barke schlug um.

In diesem Augenblicke wurde Emmi von einem starken Arme erfaßt und, hochaufgeschleudert, noch einmal gefaßt; jetzt stand sie auf ihren Füßen, auf dem Schiffe. Eben kam auch Fani heraufgeflogen, wurde von einem kräftigen Schiffsmanne in Empfang genommen und auf seine Füße gestellt.

Da standen nun die beiden, schlotternd vor Frost und Schrecken, triefend von oben bis unten, durch und durch bis auf die Haut hinein bachnaß. Alle Passagiere kamen herangelaufen und betrachteten neugierig die Triefenden von vorne, von hinten, von allen Seiten.

Plötzlich trat ein hoher, schwarzbärtiger Herr mit zornfunkelnden Augen vor sie hin; es war der Kapitän: »Was ist das für ein Wahnsinn!« donnerte er sie an. »Hat der Dampfer achtzugeben, daß er keiner lumpigen Fischerbarke zu nahe komme? Wessen Schuld wäre es, wenn das ganze Zeug zugrunde gegangen wäre?« Aber als er jetzt die beiden kläglichen Gestalten, die vor ihm standen, recht anblickte, was er vor Zorn und Aufregung noch nicht getan hatte, und sah, wie beide zitterten und bebten und aussahen, als sei der letzte Blutstropfen aus ihren Körpern gewichen, wurde seine Stimme milder. »Bring sie hinunter, und gib ihnen einen warmen Schluck auf den Schrecken!« sagte er zu einem der Angestellten, die da standen und mit gucken halfen.

Emmi und Fani waren unsäglich froh, all den Blicken zu entkommen, die von allen Seiten auf sie gerichtet waren. Unten in der Kajüte schluckten sie den dampfenden Inhalt des gebotenen Glases gehorsam hinunter, obschon er erstaunlich in ihren Kehlen brannte. Niedersetzen durften sie sich nicht, sie waren zu arg naß.

Nach einer Weile kam der Kapitän auch herunter und wollte nun wissen, woher sie kämen und wohin sie wollten mit dem alten Fischerkasten, wie er die Barke nannte.

Fani stattete der Wahrheit gemäß Bericht ab, was ihre Absicht bei der Fahrt gewesen war und wie diese sich gegen ihren Willen gestaltet hatte.

Dem Kapitän zuckte es während der Erzählung ein paarmal ganz lustig über das Gesicht, und wie er nun alles wußte, sagte er freundlich, sie müßten nun eben wieder trocken werden, wie sie könnten. In Köln werde er anlegen, da könnten sie gleich einen Bahnzug finden und zurückkehren. Zum Dank für seine Mühe könne Frau Stanhope ihn zur nächsten Weinlese auf ihr Gut einladen.

Nun kamen sie dann wieder in Köln an, aber anders als das erste Mal.

Zum Abschiede gab ihnen der Kapitän noch den Rat mit auf den Weg, ihre Kunstfahrten ein andermal lieber zu Lande als zu Wasser auszuführen: der Boden sei sicherer.

Es wurde schon dunkel, als die beiden immer noch von einer Straße in die andere liefen; trotz allen Nachfragen konnten sie immer noch nicht die Bahnstation ausfindig machen. Sie kamen von hellen in dunkle und von den dunkeln wieder in die hellen Gassen, und nach einer langen Zeit standen sie auf einmal wieder an der Stelle, wo sie vom Schiffe ans Land gestiegen waren. Sie wußten sich nicht mehr zu helfen, es wurde immer später. Wenn sie zu spät zum letzten Bahnzuge kommen würden, was sollten sie dann tun? Den Weg zu Fuß machen konnten sie nicht, in dunkler Nacht und so schrecklich weit, sie waren ja bei ihrer Lustfahrt beinahe zwei Stunden lang mit dem Dampfer von der Rosenhalde bis nach Köln hinuntergefahren. Was sollte dann aus ihnen werden in der fremden Stadt! Eine neue Angst bemächtigte sich der Herumirrenden und trieb sie zu immer fieberhafterem Laufe an. Eben waren sie in eine schmale, finstere Gasse hineingeraten, da stießen sie auf einen Schutzmann, der sie fragte, was sie da zu tun hätten. Sie klagten ihm ihre trostlose Lage. Die zwei angstvollen Gesichter mußten das Erbarmen des Mannes geweckt haben, er machte sich mit ihnen auf den Weg und führte sie durch Gassen und Gäßchen einen langen, weiten Weg bis zum Stationsgebäude. Hier hörten sie, eben sei ein Bahnzug weg, nach zwei Stunden werde wieder einer durchkommen. Zwei volle Stunden noch, und jetzt war es finstere Nacht geworden. Die Kinder setzten sich auf die Bank vor dem Gebäude. Es war nicht behaglich, in den nassen Kleidern zu sitzen, aber sie beklagten sich nicht, sie hatten es mit noch viel schwereren Dingen zu tun.

»Mir ist es furchtbar angst, Emmi«, sagte Fani jetzt, tief aufseufzend.

»Mir auch, ich weiß nur nicht so recht, warum«, entgegnete Emmi.

»Ich wohl«, stöhnte Fani. »Ich bin ganz sicher, jetzt schickt uns Frau Stanhope wieder heim. Das arme Elsli muß auch noch darunter leiden, das weiß ich schon, allein kann es nicht dableiben. Du wirst es schon sehen, sie schickt uns fort.«

»O wie schrecklich«, jammerte Emmi, und es wurde ihr nun klarer, was ihr so angst machte. Sie hatte ein recht schlechtes Gewissen in der ganzen Sache, die schon jetzt solches Unheil herbeigeführt hatte und noch viel traurigere Folgen haben konnte.

»Aber Frau Stanhope ist doch so gut, vielleicht nimmt sie's nicht so übel, wie du meinst«, sagte Emmi hoffend.

Fani schüttelte den Kopf; er sah sehr verzagt aus. »Du weißt nicht, wie das ist, Emmi«, versicherte er mit vor Angst gepreßter Stimme. »Siehst du, Frau Stanhope ist gewiß die größte Wohltäterin, die es gibt. Aber sie leidet nicht, daß wir übertreten, was sie uns geboten hat, und es ist ein Hauptgebot, daß wir nie die Hausordnung stören, und nun ist sie ja gestört, wie man's gar nicht ausdenken darf! Wir kommen gewiß nicht vor zwölf Uhr auf die Rosenhalde, denk doch nur, mitten in der Nacht! Vielleicht suchen sie uns jetzt schon überall. O, wie wird alles kommen! Wenn wir wieder heim müssen, dann ist für das ganze Leben kein Zeichnen und kein Malen mehr, dann ist alles aus!« Fani war so verzagt wie noch nie.

Emmi mußte denken, er kenne Frau Stanhope besser als sie, und auch ihr entfiel jetzt der Mut. Sie konnte kein Wort mehr sagen, und so saßen die beiden schweigend auf ihrer Bank, bis die Zeit um war und der späte Zug heranbrauste, der sie aufnahm, um sie endlich wieder der Rosenhalde zuzuführen. Von der Station hatten sie noch eine gute Strecke bis dorthin zu gehen. In Furcht und Angst wanderten sie durch die dunkle Nacht, ohne ein Wort zu reden. Je näher sie dem Hause kamen, je stärker klopfte ihnen das Herz in ängstlicher Erwartung. Jetzt traten sie in den Hof ein. Der große Kettenhund, der vor dem Hause Wache hielt, fing laut zu bellen an; aber er schwieg gleich wieder, er kannte Fanis Stimme, der ihn beim Namen gerufen hatte.

Jetzt ging die große Haustür auf, und Tante Klarissa trat aus dem hellen Korridor heraus. »Seid ihr's? Gott sei Lob und Dank!« rief sie aus und hieß die Kinder eintreten.

Auch Frau Stanhope war nicht zur Ruhe gegangen, sie stand drinnen im Korridor. »Ja, so können und sollen wir jetzt alle sagen, ihr zwei aber besonders«, sagte sie, die ganz erschrecklich aussehenden Kinder ernst anblickend. »Also doch aus dem Wasser! Wo sind die Männer?«

Fani und Emmi stammelten durcheinander, daß sie keine Männer getroffen hätten und daß sie eben von der Bahnstation herkämen. Frau Stanhope schüttelte den Kopf.

»Man muß wieder jemand zum Fischer hinschicken, daß die Männer das Suchen einstellen«, sagte sie kurz. »Die Besorgung der Kinder will ich den kundigeren Händen überlassen.« Damit zog Frau Stanhope sich zurück.

Tante Klarissa verordnete, daß die Kinder augenblicklich sich zu Bett legen sollten. Dann kam sie mit einer großen Kanne, die bis oben auf mit heißem Tee angefüllt war, und eines nach dem anderen mußte immer noch eine Tasse ganz dampfend hinuntertrinken, bis sie beide glühten wie zwei eingeheizte Dampfkesselchen.

Dann setzte sich die sorgliche Pflegerin erst an Emmis, dann an Fanis Bett, um von beiden noch zu hören, was denn eigentlich mit ihnen geschehen war, und ob auch keines irgendwie Schaden genommen habe, so daß man etwa noch den Arzt herbeiholen müßte.

Sie erzählten ihre schreckensvollen Erlebnisse, versicherten dann aber beide, nun sei es ihnen ganz wohl, und da über alledem allen beiden die Augen zufielen, ging endlich auch Tante Klarissa mit Dank im Herzen zur Ruhe, denn sie hatte große Angst um die Kinder ausgestanden.

Am anderen Morgen wollte Fani, trotz der Müdigkeit in seinen Gliedern, um keine Minute zu spät beim Frühstücke erscheinen. Er sprang daher beim ersten Erwachen gleich auf und machte sich fertig. Es war erst sieben Uhr, es war eine ganze Stunde zu früh. Er ging in den Garten hinunter, die Vögel sangen so schön! Die hatten leichtere Herzen, als er eines hatte, dachte Fani, vielleicht konnten sie ihm einen Trost zusingen. Er ging hin und her unter den Bäumen. Jetzt sah er einen Mann in den Hof eintreten; er erkannte ihn gleich: es war der Fischer. Fani lief ihm entgegen; der kam gewiß, sein Geld für die Fahrt zu holen, sie hatten ihm ja nichts bezahlt. Der Fischer blieb am Tore stehen, als er Fani ihm entgegeneilen sah, und nahm höflich seine Mütze vom Kopfe.

»Ich weiß schon, warum Ihr kommt«, sagte Fani und zog sein Beutelchen heraus, »sagt nur, was es kostet.«

Der Fischer drehte seine Mütze um und um in seinen Händen, so, als ob er seine Gedanken so hin und her zu bewegen habe, und endlich sagte er zögernd: »Ich möchte nur nicht unverschämt erscheinen; ich weiß eben nicht, ob der junge Herr weiß, was so ein Fahrzeug mit allem wert ist; unter achtzig Mark kann ich es nicht machen, ich verliere gewiß noch dabei, aber mehr will ich nicht sagen.«

Fani stand da, als habe ihn der Schlag getroffen. Es war ja richtig, die Barke war verlorengegangen, sie mußte ersetzt werden. Achtzig Mark! Eine solche Summe hatte Fani in seinem ganzen Leben nie beisammen gesehen. Er war ganz sprachlos.

Der Fischer schaute ihn nachdenklich an. Nach einer Weile sagte er bescheiden: »Ja, ich kann's schon begreifen, der junge Herr hat's nicht gleich bereit und muß auch erst mit der Frau Mama reden. Ich will morgen wieder vorbeikommen.«

»Nein, nein«, erwiderte Fani schnell, »ich will schon zu Euch kommen, sobald ich das Geld habe. Gewiß, ich komme ganz sicher«, fügte er hinzu, als er sah, wie niedergeschlagen der Fischer ihn anblickte; »ich halte sicher mein Versprechen, ich kann nur nicht bestimmt sagen, wann.«

Es war, als ob der Fischer gern noch etwas sagen wollte, er schluckte es aber hinunter und ging. Nur leise seufzte er vor sich hin: »Ach Gott, keine Barke mehr – und kein Geld, wieder eine zu bekommen!«

Fani lief ins Haus zurück. Er schaute an Emmis Tür nach, ob da noch die Stiefel ständen; da sie aber verschwunden waren, sagte er halblaut: »Kommst du noch nicht heraus, Emmi? Ich muß dir durchaus etwas sagen.« Sie kam gleich ganz fertig; auch sie war von allerlei Ängsten aufgeweckt worden.

»Was hast du, Fani, hat Frau Stanhope schon etwas gesagt?« fragte sie erschrocken.

Fani verneinte die Frage, zog aber Emmi gleich voller Aufregung mit sich in den Garten hinunter und bis zu der entlegenen Laube hin. Hier berichtete er ihr die Unglücksbotschaft von der verlorenen Barke und den achtzig Mark als Ersatz.

»Achtzig Mark!« stieß Emmi von Schrecken ganz überwältigt aus, denn auch sie hatte in ihrem Leben noch nie so viel in Händen gehabt. »O, das ist eine furchtbare Geschichte, und immer kommt noch etwas neues Schreckliches heraus, es hört ja gar nicht auf. O, was müssen wir nur machen?« jammerte sie angstvoll.

»Ja, und zuletzt kommt dann noch das Schrecklichste von allem«, stöhnte Fani; »aber was müssen wir jetzt machen? Wir dürfen nie, nie Frau Stanhope um so viel Geld bitten, nach allem, was wir gemacht haben, das siehst du schon ein. Aber wo kann man sonst so viel Geld finden? Weißt du nicht einen Rat? O, wenn ich nur auf der ganzen Welt einen Menschen wüßte, der uns achtzig Mark gäbe; der Fischer muß das Geld gewiß bald haben, das habe ich schon gesehen, aber er darf es der Frau Stanhope nicht sagen, sie darf nichts wissen. Was müssen wir nur machen, Emmi, weißt du keine Hilfe?«

Emmi hatte sich auf die Bank gesetzt, und es war, als ob ihre Augen völlig aus dem Kopfe springen wollten vor innerer Anstrengung; denn aus dieser qualvollen Lage mußte ein Ausweg gefunden werden.

In diesem Augenblick kam Fred herangerannt. Er mußte wissen, was die beiden gestern erlebt hatten, und bevor seine Fragen alle beantwortet waren, wurde zum Frühstück gerufen.

Es war kein lustiges Mahl, dieses Frühstück. Die Kinder guckten alle vor sich hin, keines durfte den Kopf recht in die Höhe heben, sie wußten wohl warum. Nicht eines von ihnen hatte mehr ein gutes Gewissen seiner Wohltäterin gegenüber.

Diese schaute prüfend bald auf das eine, bald auf das andere der Kinder, sprach aber kein Wort.

Tante Klarissa strich geschäftig ein Butterbrot nach dem anderen, obgleich auf den Schüsseln noch ganze Haufen lagen, denn keiner biß mit der gewohnten Fertigkeit hinein. Gewiß waren auch die Gedanken der guten Klarissa mit anderen Dingen beschäftigt, als sie so fort und fort die Vorräte vermehrte.

Als Frau Stanhope sich vom Tische erhob, sagte sie zu Fani gewendet: »Geh nach dem Bibliothekzimmer, und warte da; ich komme gleich herunter, ich habe mit dir zu sprechen.«

Fani wurde schneeweiß, Emmi völlig purpurrot. »Jetzt kommt's«, sagte jedes bei sich.

Als Frau Stanhope aus der Tür treten wollte, stieß sie auf ihre Stubenjungfer, die eilig hereinzudringen im Begriffe war. Frau Stanhope trat zurück.

»Entschuldigen Sie, gnädige Frau«, sagte Jungfer Lina, erst auch zurücktretend, »ich war so eilig, weil wieder etwas begegnet ist. Es ist ein Bedienter aus dem ›Kronprinzen‹ da; sein Herr schickt ihn, um Ihnen zu melden, daß der junge Fremde, für den der junge Herr unseres Hauses ein Zimmer bestellt hatte, die ganze Nacht nicht nach dem Hotel gekommen sei, und heute Morgen habe der Schusterjunge im Hotel ausgesagt, er sei gestern Abend mit dem jungen Fremden zusammengewesen und habe nachher gesehen, daß dieser wie ein Rasender davon- und dem Rhein zugelaufen sei.«

Nun war das Erschrecken an Oskar. Er wurde weiß und rot und wieder weiß, und seine Augen rollten ganz unstet im Kopfe herum.

Tante Klarissa bedeutete dem Mädchen, daß es abtreten könne, sie wollte gleich selbst dem Bedienten Bescheid sagen, denn sie befürchtete, Jungfer Lina könnte irgendwie die Geschichte mit den Tieren im Schreibtische auch noch gleich einflechten.

Frau Stanhope sah immer ernsthafter aus. »Was das alles heißen soll, verstehe ich nicht«, sagte sie, zu Klarissa gewendet. »Wenn der junge Mensch mit Oskar zusammenhängt, so soll man ihn auf meine Kosten ausrufen lassen.« Damit verließ sie das Zimmer.

Jetzt stürzte Emmi nach der Arbeitsstube, riß ihre Mappe hervor, setzte sich davor und schrieb so eilig, als sie je einen Brief geschrieben hatte:

»Liebe Tante!

O, um's Himmels willen hilf mir doch! Es ist eine furchtbare Geschichte begegnet. Ich will gewiß nie, nie mehr in meinem Leben etwas anstiften, und wenn es noch so gut herauskommen könnte. Aber ich wollte gewiß von Anfang an der Mama folgen und den Fani zu gar nichts aufweisen, ich hatte ihm noch nicht einmal das Buch von den berühmten Künstlern zu lesen gegeben, und das wollte ich auch nur tun, um ihn zu ermuntern. Aber schon gleich eh' er's nur angesehen hatte, sagte er mir, er wollte am allerliebsten von allem auf Erden ein Maler werden. Er wußte auch, was er tun konnte, daß Frau Stanhope selbst es wollte und es ihm mit Freuden erlauben würde. Aber er wußte kein Mittel zu der Tat. Da fand ich ein Mittel. Ich habe gewiß daran gedacht, daß ich der Mama versprochen hatte, ich wollte nichts anstiften, aber ich dachte: das ist ja nicht angestiftet; Fani wußte ja schon, was er wollte, nur den Weg fand er nicht recht, und so wollte ich ihm beistehen. Da gab es eine furchtbare Geschichte daraus, aber die ist so lang, die muß ich Dir dann mündlich erzählen. Aber zuletzt haben wir eine Barke auf dem Rhein verloren, die gehörte einem armen Fischer, und nun müssen wir sie ersetzen. Du begreifst wohl, daß wir es Frau Stanhope nicht sagen dürfen. Das schrecklich viele Geld noch von ihr erbitten, das könnte ja nicht sein; Fani sagt, er wolle lieber sogleich fort und in die Fabrik. Aber Du hilfst uns gewiß, liebe Tante, o, ich bitte Dich tausend-, tausendmal, Du willst uns gewiß nicht in einer so schrecklichen Not verlassen. Sie kostet achtzig Mark. Das ist furchtbar viel. Aber sie war es gewiß wert mit zwei Rudern und einem Stachel. Aber ich meine nicht schenken, nur leihen. Ich will jetzt Tag und Nacht nur noch ausdenken, wie ich etwas verdienen könnte, damit ich Dir dann die achtzig Mark wieder zurückgeben könnte. Etwas habe ich schon, weißt Du, die Gutjahrgeschenke der Paten. In meiner Abteilung im Schreibtisch, wo jedes sein Fach hat, da findest Du sechs silberne Löffel und ein prächtiges Nadelkissen. Und dann sind auch noch zwei alte Ostereier da mit prachtvoll ausgeschnittenen Bildern darauf, feuerspeiende Drachen und Blumen und Sonne, Mond und Sterne. Das kannst Du gewiß gut verkaufen, und alles, was ich von jetzt an bekomme, will ich auf der Stelle verkaufen, und wenn ich dann noch ausgedacht habe, wie ich Geld verdienen kann, dann kann ich Dir gewiß bald die achtzig Mark abgeben. O, liebe Tante, Du hilfst uns gewiß, denn Du kannst nicht anders, Du weißt ja schon, daß alle unglücklichen Menschen zu Dir kommen, daß Du ihnen helfest. Schreibe doch recht bald, ich bitte Dich, und dann schreibe auch, wir sollen heimkommen; wir sind nun schon so lange fort: wie will ich mich freuen, wenn ich einmal wieder daheim bin, wo man so sicher ist und Dir gleich alles sagen kann, wenn man sich nicht mehr zu helfen weiß! O, wenn wir doch morgen abreisen könnten und schon am Abend wieder bei Dir und der Mama wären! O, schreibe doch gleich morgen, liebe Tante! Ich grüße Dich tausend-, tausendmal.

Deine Dich innig liebende Nichte Emmi.

Nachschrift: Liebe Tante, es kommt mir noch etwas in den Sinn: In Köln habe ich ein Mädchen gesehen, das ging in den Straßen herum mit einem Körbchen voll Rosen, die verkaufte es. Nun denke ich, wenn Frau Stanhope mir nur aus jedem Beet zwei Rosen zu nehmen erlaubte, so hätte ich schon ein Körbchen voll, und dann könnte ich ein wenig auf der großen Landstraße hin und her gehen und die Rosen verkaufen, so würde ich gewiß schon ziemlich viel verdienen. Meinst Du nicht auch?

Noch einmal tausend Grüße

von Deiner Nichte            
Emmi.

Nachschrift: Liebe Tante, jetzt in diesem Augenblick kommt mir noch das Beste in den Sinn: Hier stecken sie in den Weinbergen fürchterliche Gestalten auf, mit roten Bärten und ausgestreckten Armen, um die Vögel zu verscheuchen. Wenn Du mir nun ein großes Stück feuerroten und auch ein Stück schwefelgelben Stoff schicken wolltest, so wollte ich noch viel ärgere Figuren erfinden und sie dann sehr teuer verkaufen. So könnte ich Dir vielleicht schon bei meinem Heimkommen mehr als die Hälfte zurückgeben, und dann finde ich gewiß unterdessen noch einen Weg, um weiter etwas zu erwerben!

Noch einmal grüßt Dich herzlich

Deine Nichte              
Emmi.«

Fani hatte schon einige Zeit im Bibliothekzimmer gesessen und mit Herzklopfen den Eintritt der Frau Stanhope erwartet. Jetzt machte sie die Tür auf. Augenblicklich sprang Fani von seinem Sitze auf, denn er hatte nun schon einige Kenntnis höflicher Manieren. Frau Stanhope setzte sich auf das Sofa und winkte mit der Hand nach dem Sessel, daß Fani ihn nehme und sich vor sie hinsetzen solle.

»Nun erzählst du mir alles, Fani«, begann sie, »ganz der Wahrheit gemäß, was sich gestern zugetragen hat! Wie ihr aufs Wasser gekommen seid, und was euch dazu gebracht hat; auch von wem der erste Gedanke ausgegangen ist. Sag mir alles heraus und unterdrücke nichts! Ich würde es merken, wenn du mir etwas verbergen wolltest, und ich will klar sehen in dieser Sache.«

Nun fing Fani ganz von vorn an und erzählte alles genau: wie gern er schon daheim gezeichnet habe und welche Pläne er mit Emmi für die Zukunft ausgemacht hatte. Wie er dann so glücklich geworden sei, als Frau Stanhope ihn im Zeichnen so gut unterrichten ließ, und er davon immer mehr verstanden und immer mehr Lust dazu hatte. Wie er das Emmi mitgeteilt und welche Freude sie daran gehabt und ihn ermuntert habe, es Frau Stanhope zu sagen. Dann kam der Hauptpunkt, und Fani beschrieb ihn ganz deutlich. Er hatte die Zeichnung machen wollen in der Hoffnung, einen Preis zu gewinnen und Frau Stanhope für seine Wünsche einzunehmen, und Emmi hatte den Weg gefunden, wie es zu machen wäre, weil sie so gut rudern konnte. Dann kam noch die Beschreibung des Mißlingens, weil Emmi nicht gedacht hatte, daß die Wellen so viel stärker fortzögen als auf einem See, wo sie oft ganz ohne Unfall herumgerudert hatte.

Frau Stanhope hatte schweigend zugehört. Nun Fani zu Ende war, sagte sie nur ganz kurz: »Es ist gut, du kannst gehen, Fani.« Er ging.

In der Halle hinter der großen Säule wartete Emmi auf ihn. Sie wußte ja, daß er dort drinnen Bescheid zu geben hatte über die Unglücksfahrt. »Und jetzt? Und jetzt?« fragte sie mit angehaltenem Atem, als Fani nun neben ihr stand.

»Jetzt ist es noch gerade wie vorher«, antwortete Fani, »ich weiß noch kein bißchen mehr.«

»Hat sie dich stark gescholten? Hat sie auch etwas von mir gesagt, weil ich doch schuld war am Hinausfahren?« forschte Emmi.

»Nein, nein, Frau Stanhope schilt nie; aber sie ist schon recht böse über mich, denn sie sagte gar nichts zu mir, und sonst redet sie so freundlich mit mir über alles, auch wenn ich noch etwas getan habe, das ihr nicht recht ist. O, es ist alles aus, ich weiß es«, stöhnte Fani kläglich.

Emmi seufzte tief auf. Sie war sich wohl bewußt, wie viel sie zu dieser unglücklichen Veränderung der Dinge beigetragen hatte. So vergingen drei Tage. Es war stiller im Hause als je vorher, seit die Gäste eingerückt waren. Auf allen lag es wie ein Bann; es konnte keines mehr recht sprechen, keines lachte mehr, keines verlangte mehr nach irgendeinem Vergnügen. Es war, als sähen alle einer Entscheidung entgegen, die jedem bringen konnte, was er fürchtete. Am frühen Morgen des vierten Tages erschien ein dicker Brief an Frau Stanhope mit einer Einlage an die Kinder. Der Brief war von der Mutter. Sie sprach ihren warmen, herzlichen Dank an Frau Stanhope aus für alle Freuden und Genüsse, die sie den Kindern auf ihrem schönen Gute geboten hatte. Dann folgten in dem Briefe viele tief empfundene Bitten um Verzeihung für alle Unruhe und ungewohnten Aufregungen, welche die Anwesenheit der Kinder in ihrem Hause verursacht hatte. Zum Schlusse schrieb die Mutter, die Güte der Frau Stanhope sei nun von den Kindern lange genug in Anspruch genommen worden, sie möchte nur so freundlich sein und bestimmen, welche Zeit ihr zur Abreise der Kinder die passendste wäre. Die Einlage enthielt drei Briefe, für jedes der Kinder einen; sie waren alle von der Tante geschrieben. Emmi hatte den ihrigen zuerst aufgerissen, – es lag eine Banknote darin. Sie stürzte zum Zimmer hinaus und rief nach Fani: »Sie hat uns gerettet! Sie hat uns gerettet!« schrie sie ihm entgegen. »O die Tante! Die Tante! Eine Tante ist doch ein himmlischer Engel!« Fani strahlte vor freudiger Überraschung. »Nimm's und lauf zum Fischer, ich muß meinen Brief lesen«, rief Emmi wieder, hielt dem Fani ihr Papier hin und lief dann nach dem Garten. In der Laube las sie ihren Brief. Nach den liebevollen Begrüßungen hieß es da:

»Es ist doch jammerschade, liebes Kind, daß Ihr Euch den herrlichen Aufenthalt, diese vielleicht nie wiederkehrenden schönen Tage, so verderben mußtet, alle drei, und alle drei darum, weil Ihr nicht recht gehorchen konntet. Oskar und Du besonders. Papa und Mama hatten Euch ganz deutlich gesagt, was Ihr unterlassen sollt; da habt Ihr beide keine Ruhe gehabt, bis Ihr Euch ausgedacht und zurechtgelegt hattet, wie Ihr zum allerkleinsten Teilchen gehorchen könntet, um dann recht im großen daneben Euren Willen und Wunsch auszuführen. Das könnt Ihr beide recht wohl verstehen, und was Euch aus Eurem Umgehen des Gehorsams erwachsen ist, alle Schrecken und Kümmernisse, habt Ihr beide wirklich reichlich verdient. Ich hoffe, Ihr zieht Euch beide eine nachhaltige Lehre daraus, denn was hätte Euch doch aus Euerm verkehrten Tun für Unheil erwachsen können! Noch ganz anderes, als was Euch jetzt geworden ist, Dir ganz besonders, liebe Emmi! Denn wenn Du auch nicht deutlich sagst, was begegnet ist, so können Mama und ich, die Dich kennen, wohl herauslesen, daß Du mit der verlorenen Barke etwas angestellt hast, das recht unglücklich hätte enden können, wenn der liebe Gott Dich nicht besonders beschützt hätte. Das wirst Du doch nicht gleich wieder vergessen, sondern täglich dafür danken und den lieben Gott immer neu bitten, daß er Dich beschützen und bewahren möge in allen Gefahren, in die Du immer wieder hineingerätst. Das Geld, das Dir so nötig ist, sende ich Dir vor allem darum, daß nicht Frau Stanhope noch für Eure unheilvollen Streiche einstehe. Da hat Fani ein feines Gefühl gezeigt, daß er lieber alles tun und alles verlieren wollte, ehe er das geschehen ließ. Da ich aber sicher bin, daß Du den Fani in das Mißgeschick hineingezogen hast, so soll er nicht büßen dafür. Geldanleihen mache ich aber keine an Dich, sondern ich schenke Dir diese Einlage; aber nun bitte ich Dich herzlich: laß Dir eine so teure Geschichte nicht so bald wieder einfallen! Einmal kann ich Dir aus der Not helfen, aber ein zweites Mal könnte ich Dir vielleicht mit dem besten Willen nicht gleich beistehen. Auch wünsche ich, daß Du sofort Dein Aussinnen und Erdenken von Erwerbszweigen einstellest; sonst erfindest Du Dinge, die noch viel erschrecklicher sind, als das Übel ist, das Du gut machen wolltest. Auch Mama und ich freuen uns herzlich und verlangen sehr danach, Euch alle drei wieder bei uns zu haben.«

In dem Briefe an Oskar sprach die Tante nach der ebenso liebevollen Einleitung die Ansicht aus, daß er für seine Weise, des Vaters Worte zu deuten, und für seinen Eigensinn mit dem Fahnenspruche eigentlich noch mehr Schrecken und heimliche Besorgnis verdient hätte, als ihm geworden seien.

»Ein Schreiben von der Polizei oder von Gerichtsbehörden«, fuhr die Tante fort, »ist nie an den Papa gelangt, dagegen liegt eine andere Anklage gegen Dich vor:

»Am dritten Tage nach seiner Abreise ist Feklitus plötzlich ohne Hab' und Gut als entblößter Flüchtling wieder daheim erschienen. Er erzählte eine grauenhafte Geschichte, in welche Du ihn verwickelt hattest und aus der er sich nur durch die schleunigste Flucht retten konnte. Er war an dem Unglücksabend drauflos gelaufen, bis er eine Bahnstation erreichte und sich gleich in einen Nachtzug setzen konnte. Dann fuhr er zu, bis er daheim war.

»Du siehst, lieber Oskar, daß Du da etwas gut zu machen hast, denn wenn dem Feklitus auch das grausenhafte Schicksal, das er erwartete, nicht bevorstand, so ist doch so viel sicher, daß Du ihn in eine verunglückte Unternehmung hineingezogen und dadurch seine Eltern sehr gegen Dich aufgebracht hast. Das kannst Du nun gut machen, indem Du sofort Frau Bickel von einer schweren Sorge befreist. Sie sagte mir nämlich gestern, sie habe allen Schlaf und Appetit verloren, denn immerfort habe sie vor Augen, wie die Kellner im ›Kronprinzen‹ die sechs neuen Anzüge ihres Sohnes unter sich verteilen und um den neuen, teuren Lederkoffer losen. Natürlich müsse man das alles zurücklassen, wenn doch der Sohn habe flüchten müssen. Nun gehst Du gleich nach dem ›Kronprinzen‹, packst sorgfältig die neuen Anzüge in den Koffer, schließest den gut zu und schickst ihn ab. Die Schlüssel sendest Du eigens, so kommt alles unversehrt an seinen Ort, und Du hast den nicht unverdienten Zorn der Eltern Bickel gegen Dich in etwas besänftigt.«

An Fred schrieb die Tante nach den herzlichsten Teilnahmsbezeugungen am Verluste der schönen Sammlung: »Aber siehst Du, lieber Fred, ohne Schuld bist Du denn doch an dem Unheil auch nicht. Ich habe Dich bestimmt gewarnt, Deine Tierchen nicht an diesen oder jenen Ort hinzubringen, da Frau Stanhope sie nicht haben wollte. Ich konnte sie ja nicht alle nennen; aber so vernünftig solltest Du doch sein, zu wissen, daß Käfer und Raupen nicht in Schreibtischfächer gehören. Siehst Du, Deine Unersättlichkeit im Sammeln hat Dich dazu gebracht. Du mußt auch lernen Maß zu halten. Hättest Du nur die ganz besonderen Exemplare aufbewahren wollen, so hättest Du um einige wenige Schachteln bitten dürfen. Aber darin hatte Fani recht, und es gefällt mir an ihm, daß es ihm widerstrebte, in dem Hause, wo ihm täglich so viele Wohltaten zuteil werden, auch noch massenhaft Dinge zu erbitten, wie zwanzig Schachteln auf einmal, wie Du ihm auftrugst. Vielleicht wird Dir das eine oder andere seltene Exemplar nun doch noch zuteil, und wir können uns miteinander daran freuen, wenn wir wieder zusammen sind.«

Die Briefe brachten eine große Erleichterung in die Herzen. Freilich blieb noch bei jedem der Kinder etwas in der Tiefe sitzen, das da und dort einen Seufzer hervorrief.

»Wie ist es aber mit dem Heimgehen?« fragten Oskar, Emmi und Fred mit Sehnsucht im Herzen, ganz gleich eines wie das andere.

»Wie wird es mit mir kommen, wenn Frau Stanhope wieder zu reden anfängt?« fragte sich Fani ängstlich im stillen, »werde ich fortmüssen, heim, in die Fabrik?«

Noch hatte Frau Stanhope nie wieder so mit ihm geredet, wie sie sonst getan hatte. Sie schaute ihn nur manchmal ganz nachdenklich an.

Auch in Elslis Herzen stieg die Sorge wieder auf, nicht nur für sich, auch für den Fani; denn nun mußte es fürchten, wenn nun Frau Stanhope schon gegen ihn erzürnt war und die Sache herauskam, die doch herauskommen mußte, so konnte ja Frau Stanhope vor Mißbilligung von allen beiden nichts mehr wissen wollen.


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