Johanna Spyri
Gritlis Kinder kommen weiter
Johanna Spyri

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Drittes Kapitel

Am schönen Rhein

Im Garten der Rosenhalde war eine Bewegung und ein Hin- und Herlaufen, wie noch nie. Es war der erste Tag nach der Ankunft der drei Gäste. Was hatte es schon gestern Abend für ein Staunen bei den Doktorskindern erregt, als sie bei ihrer Ankunft auf den oberen Stock des Hauses geführt worden waren und da hintereinander, an derselben Reihe drei große Zimmer geöffnet fanden, für jedes von ihnen ein besonderes! Denn so war das Haus eingerichtet, daß immer nur ein Bett in einem Zimmer stand. Die Fenster der drei Zimmer schauten alle auf den blumenduftenden Garten und weiter hin auf den Rhein hinaus, den man groß und frisch dahinrauschen hörte.

So herrlich, wie drei Könige, waren die Kinder in ihrem Leben nie logiert gewesen. Jedes von ihnen hatte seine ganz besondere Freude an der Sache.

Emmi dachte sich schon aus, wie sie hier nach Herzenslust zum Fenster hinausgucken und den Mondschein auf dem Rhein flimmern sehen wollte, und unten könnte sie die Wellen rauschen hören, und kein Mensch würde sie hier stören und zu Bett schicken.

Oskar schaute seine große Stube daraufhin an, wie herrlich er da seine Fahnen aufpflanzen könnte. Keinem würden sie da im Wege sein wie daheim in den bewohnten Zimmern, und niemand würde sie ihm da wegnehmen.

Fred schaute forschend nach allen Schränken, Tischen und Schubladen hin, er hatte seine eigenen Absichten.

Das Wiedersehen der Kinder war zu aller Freude ausgefallen. Gleich im ersten Augenblick hatten sich alle zusammengefunden, als wären sie nie getrennt gewesen.

Fani und Elsli hatten auch gar kein fremdes Wesen angenommen, wie die Doktorskinder zuweilen mit einigem Widerstreben vermutet hatten; im Gegenteil, es war, als ob Fani und Elsli unterdessen den alten Freunden noch näher gekommen wären. Fani war lustiger und lebendiger als je, und Elsli, wenn auch immer noch ein wenig schüchtern, war zutraulicher als vorher und dabei so gut und gefällig wie immer. Beide sahen in ihren guten Kleidern auch so hübsch und nett aus, daß Emmi immer wieder mit neuem Wohlgefallen die alten Freunde betrachtete.

Der erste Morgen war mit Hilfe der Tante Klarissa dazu benutzt worden, den großen Koffer auszuräumen und dessen Inhalt in den drei eingenommenen Zimmern unterzubringen. Auf den Nachmittag hatten die Kinder die Erlaubnis erhalten, Haus und Garten und auch die Wiesen zu durchstreifen, wie es ihnen gefiel, um die Rosenhalde so recht von allen Seiten kennen zu lernen. Das war nun eine wahre Herrlichkeit. Emmi trachtete vor allem, an den rauschenden Strom hinzugelangen, dort unter die alten Lindenbäume mit den tief herniederhängenden Ästen, die so leicht auf den sonnigen Wogen dahinschwammen, wie es Fani so schön für sie aufgezeichnet hatte. Das war ja auch Fanis Lieblingsplatz. Die beiden liefen gleich dahin zusammen.

Fred wußte gar nicht, wohin er sich wenden sollte unter all den lebendigen Wundern, die ihm von allen Seiten entgegenschimmerten, ihn umschwirrten, umsummten, umkrabbelten, wie er da mitten in dem Rosengarten stand. Hier kroch ein golden blitzender Käfer über den Rasen, dort wirbelten Scharen von Schmetterlingen in den buntesten Farben in der sonnigen Luft umher. Auf dem Gestein am Springbrunnen sonnte sich eine große, grüngoldene Eidechse. Drüben an der Hecke wimmelte es von wundersamem Getier auf allen Blättern und Zweigen. Was war da für eine Ernte zu halten!

Fred rannte dahin und dorthin, er war außer sich vor Freude. Immer kam wieder etwas Neues, etwas ganz Unerwartetes zum Vorschein. Und das war alles nur im Garten; was konnte erst da unten am Wasser noch zum Vorschein kommen, unter den uralten Bäumen, in den dichten Hecken auf beiden Seiten, auf dem feuchten Boden am Wasser, zwischen dem Gestein am Ufer! Der Gewinn war unabsehbar. Fred schaute keinen Augenblick weder nach den Freunden, noch nach den Geschwistern aus; er schwamm in einem Meer von Schätzen, wie er sie in seinem ganzen Leben noch nie zusammen gesehen hatte, und alle konnten sein eigen werden. Da konnte er eins, zwei, drei, vier Exemplare von ganz unverhofften Tiergattungen einfangen und die erhofften noch alle dazu!

Mittlerweile war Oskar betrachtend durch den Garten, dann zum Rhein hinunter und ringsum, dem Wiesengrund entlang nach dem steinbesetzten Hof zurück gekommen, wo zwei große, alte Eichen weithin ihren Schatten warfen. Um die Eichen herum ging je eine hölzerne Bank, wo man sich prächtig im Schatten der dichten Kronen niederlassen konnte. Oskar setzte sich hier nieder und forderte nun seine Begleiterin Elsli, die ihm überall gefolgt war und ihm alles gezeigt hatte, was er zu sehen wünschte, auf, sich neben ihn zu setzen. Er schaute noch einmal nachdenklich über den weiten Wiesengrund, der ringsum von einer hohen Hecke umzäunt war. Wo der besetzte Hof aufhörte, führte ein breiter Kiesweg weiter, bis hinunter zum hohen Eisengittertor, das die großen Hecken verband und das ganze Gut einschloß.

»Also du sagst, Elsli«, fing nun Oskar an, »außerhalb der Hecke gehörte gar kein Land mehr zu dem Gut der Frau Stanhope?«

»Doch, doch«, erwiderte Elsli, »ein großer Weinberg gehört ihr noch, o, so ungeheuer groß, du kannst nicht denken, wie viele Trauben man da bekommt. Aber er liegt auf der anderen Seite vom Haus, gegen den Rhein hin.«

»Ich meine nicht den,« fuhr Oskar fort, »Fani hat mir den schon am Morgen gezeigt, ich meine von dem Wiesland dort über der Straße, das dort ganz weit hingeht.«

Elsli konnte bestimmt sagen, daß auf der anderen Seite nichts mehr zum Gut der Frau Stanhope gehöre.

»Es ist drüben ein kleiner Hügel, siehst du, Elsli?« fuhr Oskar fort, den Arm nach der Richtung ausstreckend, »da steht eine Windmühle darauf, und die großen Flügel fahren so prächtig in der Luft herum, wie ungeheure Fahnen, die zu einem Feste winken nach allen Seiten ins Land hinaus. Siehst du? Siehst du? O das wäre ein prachtvoller Platz, ein großes Fest abzuhalten! Da könnten sich alle die Festfeiernden um den Hügel herumlagern, und oben stände der Festredner, so wie auf einer hohen Kanzel, und hinter ihm würden die gewaltigen Fahnen immerfort hin und wieder gehen und das Fest anzeigen in alle Weite!«

Oskar sprach so voller Begeisterung, daß auch das Elsli ein wenig davon ergriffen wurde.

»Ja, das wäre so schön«, sagte es; »aber ich meine, man müßte den Windmüller fragen, dem gehört gewiß der Platz.«

Oskar meinte nach einigem Nachdenken, das sei nicht notwendig, man würde natürlich nichts an der Mühle machen, und ringsum sei ja ganz kurzes Gras oder Heide, das könne er schon sehen, und da könne man nichts verderben. Er wollte aber schon noch hingehen und alles in der Nähe besichtigen. Plötzlich erfaßte ihn ein neuer Gedanke. »Wie steht es denn mit unserer Fahne, Elsli?« fragte er begierig.

»Ach, daran habe ich ja gar nicht mehr gedacht«, rief Elsli betroffen aus; »sie ist ja ganz fertig, und ich wollte sie dir zum Empfang in dein Zimmer stellen. Weißt du, Oskar, ich konnte sie fertig machen, denn Tante Klarissa sagte, schöner noch als so ein Spruch sei ein Strauß von Alpenrosen für die Fahne der Schweizer, und einen solchen habe ich dir darauf brodiert.«

Das war aber dem Oskar nicht erwünscht, er mußte seinen schönen Spruch haben, das hatte er sich immer fester, in den Kopf gesetzt, denn der tönte schöner und kräftiger als jeder andere, und zuletzt hatte die Tante auch nicht mehr dagegen geredet wie im Anfang, also war sie zuletzt doch damit einverstanden gewesen. Und nun, nachdem er ihn so schwierig errungen, sollte er seinen herrlichen Spruch nur so ohne weiteres fallen lassen? Oskar machte ein Gesicht, als sei ein wahres Unheil über ihn gekommen. Das verstand nun Elsli augenblicklich und hatte auch wohl, in der Voraussicht auf ein solches Ergebnis, auf einen Ausweg gedacht. Es machte nun gleich Oskar anschaulich, wie leicht es möglich sei, auf der Fahne den Spruch doch anzubringen, so daß sie dann zwei verschiedene schöne Seiten habe. Oskar sollte nur mit großen Buchstaben auf den größten Papierbogen, den er finden könne, seinen Spruch schreiben, dann wollte Elsli ihn auf der einen Seite der Fahne festmachen, und auf der anderen könnte man doch den Strauß der Alpenrosen sehen. Das war ein herrlicher Gedanke. Oskar wurde neu belebt, noch belebter als vorher, denn diese Doppelfahne war nun viel schöner und reichhaltiger, als er sich je eine ausgedacht hatte.

»Du bist gewiß eines der gescheitesten Kinder, die ich kenne Elsli«, rief Oskar in seiner hohen Freude aus, und die unerwartete Bemerkung trieb dem Elsli alles Blut in die Wangen, es war nie daran gewöhnt gewesen, von jemandem auch nur recht bemerkt zu werden, geschweige solche Worte zu hören.

»Aber jetzt noch etwas, Elsli«, fuhr Oskar weiter fort; »was hast du denn für Schweizer entdeckt und aufgefordert, in den Verein zu treten, du weißt, von dem ich dir beim Abschied sagte?«

Elsli erinnerte sich ganz gut an den Verein der Schweizer im Auslande, den es gründen helfen sollte. Es berichtete nun, daß es nur einen einzigen Schweizer entdeckt habe und auch den nicht habe auffordern können, in den Verein zu treten, denn es sei der Bäckerjunge, der alle Morgen das frische Brot in die Küche bringe. Aber hier dürfe man nicht nur so in die Küche gehen und zu den Leuten reden, was man nur wolle. »Es ist mir so leid, daß ich nicht tun konnte, was du gern gewollt hättest«, schloß Elsli betrübt. Aber Oskar war ganz befriedigt.

»Schon gut! Schon gut!« versicherte er, »ich kann mir nun schon selbst helfen.« Nur das eine wollte Oskar noch bestimmt wissen, zu welcher Zeit und von welcher Seite her der Bäckerjunge am Morgen komme, was ihm Elsli genau sagen konnte.

Während die beiden in ihr Gespräch vertieft unter der Eiche saßen und Fred immer entdeckungsdurstiger in alle Hecken und Gesträuche des Gartens eindrang, gingen Fani und Emmi unten am Rhein unter den Linden hin und her und wurden immer eifriger und immer noch lebhafter in ihren Worten und Gebärden. Emmi war in einer so freudigen Aufregung, wie seit langer Zeit nicht. Was hatte sie auch eben für eine Überraschung erlebt! Seit der Fani die alte Heimat verlassen hatte, war ihr Hauptgedanke und ihr stetes Sinnen und Grübeln gewesen, wie nun der Freund seinen Weg machen und zum großen Künstler werden könnte. Nun kam aber in Fanis Briefen gar nichts davon vor; im Gegenteil, immer mehr wurde es Emmi klar, daß Frau Stanhope die beiden Kinder ganz so erziehen wollte, wie andere Kinder erzogen wurden, in allerlei Unterricht und Kenntnissen, und daß da gar nichts Besonderes dabei werden konnte. Sie wollte aber noch recht gewiß werden, in welcher Weise die großen Maler denn so geworden waren. Vielleicht konnte dem Fani doch noch ein guter Rat gegeben werden, wie er es anstellen sollte, noch ein berühmter Künstler zu werden, bevor er etwa selbst allen Mut dazu verlor. Daß er auf dem Wege war, dahin zu kommen, schien der Emmi schon ziemlich klar, sagte er doch in keinem Briefe mehr etwas von den Zukunftsplänen, die sie miteinander erstellt hatten. Irgendwo hatte Emmi den Titel eines Buches gefunden, der hieß: »Leben berühmter Künstler.« Das war nun ganz ihre Sache, und sie hörte nicht mehr auf, die Tante zu bestürmen, bis diese versprach, den Wunsch auf Weihnachten zu unterstützen, was zur Folge hatte, daß Emmi ihr Buch erlangte. Es war nun das allererste, als sie an diesem Nachmittag bemerkte, daß die Gelegenheit da sei, den Fani nun für sich zu bekommen, daß sie gleich ihr Buch herbeiholte, um es mit nach dem Garten zu nehmen. Als sie nun den Fani unter den Linden allein hatte, zog sie es hervor und sagte ihm, das Buch habe sie nur um seinetwillen mitgebracht, damit er lesen könne, wie es sei, wenn man ein großer, berühmter Maler werde und alles, was man sehe, so prächtig malen könne, daß alle Menschen darüber ganz entzückt werden und man selbst so beglückt sei, daß man gar nichts anderes auf der Welt mehr wünsche. Emmi war ganz begeistert für ihre Sache, aber sie dachte, sie könne dem Fani erst durch die Schilderungen in dem Buche die rechte Begeisterung wieder beibringen. Wie erstaunte sie aber, als Fani das Buch zurückwies und auf einmal ganz leidenschaftlich ausbrach:

»Nein, nein, ich will es nicht lesen! Ich will lieber gar nicht mehr daran denken. Siehst du, Emmi, alle Tage habe ich eine Zeichenstunde, nur natürlich jetzt nicht, solang' ihr da seid. Und je mehr ich zeichne, je mehr möcht' ich es tun, und am liebsten möcht' ich nur noch zeichnen den ganzen Tag und gar nichts anderes mehr tun. Ich kann es jetzt auch ganz anders als damals daheim, ich will dir dann meine Zeichnungen schon zeigen. Und weißt du, der Lehrer meint schon auch, ich könnte es noch ganz völlig erlernen wie ein Künstler, denn er hat schon ein paarmal zu mir gesagt, ich sollte ein Maler werden.«

Jetzt schrie Emmi im hellen Entzücken auf: »Jetzt ist ja alles gewonnen, Fani! Nun kannst du ja gleich ein Künstler werden, und weil du doch eine so große Lust hast, wirst du gewiß der größte Maler im ganzen Land, das geht immer so! Aber warum sagst du es nicht auf der Stelle der Frau Stanhope, daß du gleich anfangen kannst und nichts sonst mehr tun mußt?«

Fani schüttelte den Kopf und sah sehr niedergeschlagen aus. »Es nützt nichts, etwas zu sagen, Frau Stanhope will nicht, ich weiß es. Als ich einmal auf einem Spaziergang sagte, das größte Glück für einen Menschen sei doch, wenn er ein Maler werden könne, da sagte sie, das sei nur eine kindische Einbildung von mir, ich kenne noch gar nichts vom Leben, und wenn man groß sei, denke man ganz anders von solchen Sachen, als wenn man noch so jung sei. Und nachher hat sie mich ein paarmal im ganzen Gut herumgeführt, denn es gehört noch viel Land zu dem Gut, große Weinberge, siehst du dort, bis weithin dem Rhein entlang. Dann hat sie mir gesagt, es gebe für einen Mann nichts Befriedigenderes, als das schöne Land zu bebauen und das ganze Jahr durch in den friedlichen Gedanken zu bleiben, die uns so vom Wachsen und Entwickeln der Pflanzen vor unseren Augen kommen. Und weißt du, ich glaube, sie dachte dabei, das könnte für mich so sein, wenn sie mich für immer bei sich auf dem Gute behielte, und ich weiß schon, das wäre ja ein großes Glück für mich. Denk nur, immer hier zu bleiben und es so zu haben, wie wir es haben: ich müßte doch furchtbar undankbar sein, wenn mich das nicht freute. Aber mit dem Malen ist's dann freilich aus.« Der Fani ließ den Kopf ein wenig hängen.

»O wie schade! Wie schade! Dann ist ja alles aus!« jammerte Emmi. »Und gerade jetzt habe ich geglaubt, es fange alles Schöne für dich an, so wie ich es ausgedacht hatte, und nun ist alles fertig. O wie schrecklich traurig! Siehst du, das war nun so schön: wenn ich in meinem Buch las, dann setzte ich immer deinen Namen anstatt des Malers Namen, der da stand, und dann hieß es einmal: ›In der Feinheit der Zeichnung steht Fani von Buchberg völlig unerreichbar da.‹ Denn weißt du, als berühmter Künstler würdest du dann so heißen, alle großen Maler nehmen den Namen von ihrem Geburtsort an, die Geschlechtsnamen gelten dann nicht mehr, und das wäre dann bei dir auch gerade recht, denn der Name Hopli, ›Fani Hopli‹, tönt nicht so besonders schön, aber der andere, meinst du nicht auch? Und einmal hieß es so: ›Wo Fani von Buchberg seinen Farbenschmelz genommen, ist unbekannt geblieben; bis auf den heutigen Tag ist er der einzige, der solche Farbentöne – das ist aber natürlich ein Druckfehler, es muß gewiß heißen: Farbenschöne – auf die Leinwand hingezaubert hat.‹ O Fani, denk nur, wenn es dann einmal so geheißen hätte! Nun ist alles, alles aus!« Emmi setzte sich auf die Bank nieder mit einem Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sei es nun gar nicht mehr der Mühe wert, hin und her zu gehen.

Fani setzt sich zu ihr. Er war gespannt ihren begeisterten Worten gefolgt, und sie mußten in ihm etwas angezündet haben, das immer höher flammte, denn seine Augen rollten immer feuriger.

»Ich wüßte schon noch etwas, das vielleicht helfen könnte«, sagte er endlich zu seiner Freundin gewandt, die in ihrer Verzagtheit ganz regungslos da saß, als habe sie nichts mehr vor für dieses Leben.

Emmi schoß von der Bank auf. »Was denn? Was denn, Fani? So rede doch!« drängte sie mit angehaltenem Atem in der großen Erwartung. Fani war auch aufgestanden.

»Komm, ich zeige dir etwas«, sagte er, Emmi mit sich gegen den Rhein hinunterziehend, soweit es immer möglich war. »So, jetzt kehr dich um und schau ganz hoch hinauf über die Rosenhalde gegen die Waldhöhe hin, aber gib acht, daß du nicht rückwärts in den Rhein hineinfällst. Siehst du die hohe Schloßruine mit dem dichten grünen Efeugeschling ringsum?«

»Ich sehe gar nichts, o jetzt, einen alten Turm« – damit glitschte die aufgeregte Emmi aber so gefährlich rückwärts, daß sie ohne Zweifel in die Wellen hineingestürzt wäre, hätte Fani sie nicht schnell festgehalten und zurückziehen können.

»Komm, wir setzen uns lieber wieder auf die Bank hin, da ist man sicherer«, sagte er, Emmi mitziehend, »und hier kannst du die Ruine doch nicht recht sehen. Siehst du, es ist die allerschönste Schloßruine, die man nur sehen kann, mit so prachtvollem Efeu und grünem Gestein ringsum und -um überwachsen und zwischendurch die grauen Mauern, die werden flammend rot, wenn die Abendsonne darauf scheint, o, so schön! Das hab' ich einmal gesehen vom Dampfschiff aus, und es war das Schönste, was ich noch gesehen habe. Und jetzt hör nur, warum ich dir das zeigen wollte«, fuhr Fani fort, als beide nun wieder in Sicherheit auf der Bank saßen: »In der letzten Zeichnungsstunde, bevor ihr ankamt, fragte der Lehrer mich ganz ernsthaft, ob ich denn nicht eine rechte Lust verspüre, ein Maler zu werden, und ich sagte es ihm, das sei mein größter Wunsch auf der Welt, aber ich wisse schon, daß es nichts damit sei, und sagte ihm alles, wie dir, von Frau Stanhope. Das verstand er auch gut und sagte, gegen den Wunsch der Frau Stanhope müsse ich nichts tun, aber es wäre erfreulich, wenn sie selbst zu demselben Wunsch käme, den wir haben, denn er sagte, er habe ihn auch. Dann riet er mir, ich sollte bald etwas recht Schönes ausfindig machen und eine Zeichnung nach der Natur fertigbringen und ihm übergeben. Die wolle er nach Düsseldorf schicken, und dort geht dann etwas vor mit vielen Zeichnungen, ich weiß nicht recht was, aber die beste bekommt dann einen Preis. Wenn nun die meine den Preis bekäme, so würde Frau Stanhope vielleicht auf einmal ihre Gedanken ändern und sagen, ich dürfe ein Maler werden, und wenn ich dann keinen Preis bekäme, so hätte ich doch nichts verloren, darum könnte ich es immer tun. Da dachte ich gleich an die Schloßruine, o die wollte ich so schön machen! Aber die kann man nur mitten auf dem Rhein recht sehen, und da kann ich ja nicht hinkommen, es ist ganz unmöglich.«

Emmi, die nun wieder einen offenen Weg zu dem ersehnten Ziel vor sich sah, wurde gleich Feuer und Flamme für das Unternehmen.

»O da können wir gewiß hinkommen, ganz sicher, Fani, o wie herrlich!« rief sie in ungeheurer Freude aus. »Wir können doch einmal eine Fahrt auf dem Dampfschiffe machen, dann sehen wir ja die Ruine so gut, und du zeichnest gleich darauf los, soviel du nur kannst.«

»Ja, da kann ich gerade die ersten Striche zu den Umrissen machen, und dann ist das Dampfschiff vorbei, und ich sehe nichts mehr, und dann bin ich gerade wieder so weit wie vorher«, bewies Fani der Freundin.

Aber diese ließ sich nicht so bald wieder entmutigen, nun es einzig und allein darauf ankam, das richtige Mittel zu finden, draußen auf dem Rhein eine Zeichnung ausführen zu können. Da wollte sie nun gleich alle Kräfte anwenden und gar nicht aufhören zu sinnen und zu denken, bis sie den rechten Gedanken herausgebracht hatte. Sie wurde aber schon gleich im Anfange ihrer Tätigkeit unterbrochen durch Fanis Ausruf: »Die Tischglocke!« Wirklich tönte vom Hause her der Ruf der Glocke zum Abendessen, und von allen Seiten kamen nun die zerstreuten Gäste herbei und fanden sich im großen Speisezimmer zusammen.

Am oberen Ende des schön geordneten, mit sehr appetitlichen Dingen bedeckten Tisches saß schon Frau Stanhope und winkte den Kindern ein freundliches Willkommen zu. Tante Klarissa wies ihnen ihre Plätze zu beiden Seiten des Tisches an, nahm dann selbst am unteren Ende desselben ihren Platz ein und begann die Mahlzeit in Gang zu bringen. Mit erfreulichem Appetit wurde diese dann vollzogen. Die Unterhaltung hatte dabei einen ungewöhnlich ruhigen Charakter: in Gegenwart der Frau Stanhope wurde die Lebhaftigkeit der Kinder immer ein wenig gedämpft. Am wenigsten beteiligte Elsli sich am Gespräch wie auch am Bewältigen der saftigen Bratenstücke und des dampfenden Puddings, was in Fred, der neben Elsli saß, eine steigende Verwunderung erweckte. Das Kind suchte so unbeachtet als möglich zu bleiben und stieß heimlich den Fred an, als dieser einmal laut fragte: »Was hast du denn? Iß doch auch!«

Als das Essen zu Ende war, führte Frau Stanhope die Gesellschaft auf die Terrasse hinaus, wo man sich schön geordnet im Halbkreis auf die eisernen Gartensessel hinsetzte. Dann teilte die Dame den Kindern mit, sie habe im Sinne, nächstens eine Fahrt mit ihnen auf dem großen Dampfer zu machen: den Rhein hinunter bis nach Köln, wo ein sehr schöner und reichhaltiger Tiergarten sei, den sie dann zusammen betrachten wollten. Emmis Augen flammten auf, als habe der Blitz bei ihr eingeschlagen. Sie sagte kein Wort, aber man konnte wohl sehen, daß sie es mit aufregenden Gedanken zu tun hatte, die weit über den Tiergarten hinausgingen. Auch den Fred hatte die Nachricht vom Tiergarten freudig ergriffen; aber auch er wurde von einem noch stärkeren Eindruck in Anspruch genommen. Ein ungeheurer Nachtfalter hatte ihm schon ein paarmal um den Kopf gesummt, und er verspürte ein brennendes Verlangen, aufzuspringen und dem Summser nachzustürzen. Welch ein Fang konnte das sein! Aber die Tante hatte ihm die gute Manier des Stillsitzens, vornehmlich in Gesellschaft der Frau Stanhope, noch ganz besonders eingeschärft. Oskar aber war durch die Aussicht auf den Genuß von doppelter Freude erfüllt. Da war einmal die herrliche Rheinfahrt an und für sich, und dann, was konnte man auf dem großen Schiffe auch für Bekanntschaften machen, denn doch ganz andere, als Elslis Bäckerjunge war!

Am folgenden Morgen setzten die Kinder sich gleich nach dem Frühstücke hin, um ihrem Versprechen gemäß die ersten Nachrichten über ihre Erlebnisse nach Hause zu schreiben. Da schrieben denn nun die dreie, jedes in seiner Art und darum sehr verschieden verfaßte Briefe, aber der Inhalt war dennoch von allen dreien derselbe; ein helles Entzücken über alle Schönheit und Herrlichkeit des wundervollen Landhauses am Rhein und alle köstlichen Genüsse, die ihnen da geboten würden. Ihr höchster Wunsch wäre nur, daß der Papa die bewilligten sechs Wochen in noch einmal so viele ausdehnen wollte, denn nie, nie könnte man von einem solchen Aufenthalte genug bekommen. Nachdem die Briefe an die Eltern fertig waren, schrieb jedes der Kinder noch einen, versiegelte diesen fest und schloß ihn in den anderen ein, ohne etwas davon zu sagen. Es waren aber alle drei an dieselbe Persönlichkeit gerichtet, die Tante, und waren von überraschend ähnlichem Inhalt. Alle drei bestürmten die Tante, doch ja beim Papa eine Verlängerung des Aufenthaltes zu erwirken und zwar eine recht lange, so lang als nur möglich. Fred ging so weit, zu sagen, wenn der Papa geradezu ein Jahr bewilligen wollte, und an die Tage desselben mit einem Male eine Null anhängen würde, so wären ihm alle 3650 Tage nicht zu viel, sie hier zuzubringen. Alle drei stimmten auch darin ganz überein, daß die Trennung von all den Wundern und Freuden und die Rückkehr nach Hause ihnen so schwer fallen würde, wie noch nie etwas in ihrem Leben.


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