Johanna Spyri
Gritlis Kinder kommen weiter
Johanna Spyri

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

Unruhen am Rhein

Die ruhigsten Stunden, welche die Gesellschaft auf der Rosenhalde zubrachte, waren gewöhnlich die frühen Morgenstunden. Diese waren dem jeweiligen Briefschreiben und der Ausführung eines Teiles der Schulaufgaben gewidmet.

Heute schien indessen schon frühe eine gewisse Gärung sich aller Gemüter bemächtigt zu haben. Fani und Emmi konnten beide keinen Augenblick stillsitzen. Der erstere wühlte immerfort in seinen Papieren herum, als könnte er durchaus zu keinem Entscheid kommen, welches dasjenige sei, das er brauchte. Die letztere machte ihm alle Arten von Zeichen über den Tisch hin und mußte plötzlich mitten in ihrem Studium der französischen Zeitwörter eine Menge von Bleistiften nötig haben, denn sie spitzte jetzt mit einem Male wenigstens sechse hintereinander. Oskar schrieb an seinem Ferienaufsatz, und man hätte denken können, er verfasse ein Drama, zu dem er gleich die Gebärden einstudierte, denn alle Augenblicke warf er den Kopf in die Höhe und schaute so begeistert auf sein Tintenfaß und alle übrigen Tintenfässer des Tisches hin, als hätte er sie alle zusammen zu großen Taten mitzureißen. Tante Klarissa, welche, um die gute Ordnung aufrechtzuerhalten, während dieser Stunden mit ihrer Arbeit in demselben Zimmer saß, wurde eben jetzt von Lina, der stets untadelhaft ausgerüsteten Stubenjungfer, mit dem Tone ungewohnter Leidenschaftlichkeit herausgerufen. Kaum war hinter der Abtretenden die Tür ins Schloß gefallen, als Oskar aufgeregt ausrief:

»Nicht daß du dann wieder weiß kein Mensch wo seist, heut' abend, Fani! Versprich noch einmal mit deinem Ehrenwort, daß du zur Zeit auf dem Platz sein willst. Ein Viertel vor sechs Versammlung bei den drei Eschen. Sechs Uhr Abmarsch zum Festplatz. Versprich!«

Fani schaute Emmi an. »Ja, natürlich, du kannst schon versprechen, Fani; bis dann sind wir schon wieder da«, sagte diese eifrig. »Weißt du, Oskar, wir müssen vorher miteinander noch irgendwo hingehen, aber wir kommen schon zurück bis dann, wenn wir gleich um zwei Uhr fortrennen, soviel wir können.«

»Geht wo ihr wollt, aber versprich, Fani!« wiederholte Oskar.

Fani versprach feierlich, gegen sechs Uhr bei den Eschen zu sein.

»Und du auch, Fred, versprich, wir haben nicht zu viele Leute, versprich, daß du kommst«, drängte Oskar weiter.

Mit Fred ging es nicht so leicht, er war sehr behutsam mit Versprechengeben. Er sagte, vielleicht komme er; wenn er aber durch wichtigere Beschäftigungen abgehalten würde, so könnte er doch sein Versprechen nicht lösen, darum wolle er keines geben.

Oskar wurde aufgebracht und wollte seinen Willen haben; aber Fred war zähe und widerstand beharrlich. Emmi und Fani waren sehr froh einen triftigen Grund zu haben, ihre unbestimmten Beschäftigungen aufzugeben, um an dem wichtigen Streit teilzunehmen.

Draußen hatte Lina mit vor Entrüstung hochroten Wangen der Tante Klarissa erklärt: so bleibe sie nicht mehr in dem Hause; was da für Dinge geschehen, würde kein Mensch glauben, der sie nicht selbst sehe, so etwas habe sie in ihrem ganzen Leben noch nie erfahren.

»Aber so reden Sie doch einmal deutlich, Lina«, unterbrach Klarissa den Strom von Worten, die von ganz ungeheuerlichen, aber so unbestimmten Greueln sprachen, daß Klarissa sich durchaus keinen Begriff machen konnte, was geschehen war.

»Schon ein paarmal habe ich so etwas gemerkt«, fuhr Lina in steigender Empörung fort, »aber ich meinte, es sei von den offenen Fenstern her; aber heut', aber jetzt: ich öffne die Schublade am Waschtisch des jüngeren Herrn, um rein zu machen, da springt ein lebendiger Frosch heraus. Ich öffne die andere, mir krabbeln lebendige Spinnen entgegen, hu, eine ganze Schar! Ich schlage mit dem Wischer zu, sie fahren in alle Ecken mit ihren langen Beinen. Ich sehe, daß am Schreibtisch der Schlüssel steckt, denke, ob auch da solch greuliches Getier könnte eingedrungen sein, was würde Frau Stanhope sagen! Ich öffne ein Fach, und wieder, eines nach dem anderen – o! wie es da aussah! – es ist nicht zu sagen! Schnecken, Käfer, Raupen, alles lebendig, aus jedem Fach kriecht's und krabbelt's heraus, eine Wirtschaft, ein Schmutz, ein Greuel, es ist unerhört! Ich habe ausgeleert, ausgewischt, weggestäubt, was ich konnte, aber dieser Schmutz überall, diese Flecken, und all das klebrige Zeug! Und zu denken, daß nun in allen Ecken solche Tiere umherkriechen und einem an die Kleider kommen können und ins Haar und sich überall anhängen! Und das alles expreß tun, das ist nicht zufällig, das hat dieser junge, unnütze Herr alles absichtlich zusammengerafft, ich denke, um die zu erschrecken, die da aufmachen.«

»Nein, nein, Lina, das ist nicht so«, konnte hier Klarissa endlich einsetzen. »Kommen Sie mit mir, wir wollen in das Zimmer hinauf und sehen, was da zu machen ist. Erschrecken hat der Junge nun jedenfalls keinen Menschen wollen; ich fürchte nur, er hat sich etwas aufbewahren wollen, wo es nicht hingehört, wir wollen nachsehen.«

Wirklich traf Klarissa auf einen erschreckenden Anblick in Freds Zimmer. Alle Schubladen und Fächer aller Möbel herausgerissen und überall bemalt von größeren und kleineren Flecken, welche die verschiedenen Tierchen, die da logiert, hinterlassen hatten. Am Boden herum lagen überall noch von den zerquetschten Käfern, Spinnen und Raupen die zerfetzten, schaurigen Reste. An den Fensterscheiben klebte da und dort noch ein abgerissenes Schmetterlingsflügelchen oder ein verlorenes Käferbeinchen, das sich dorthin geflüchtet hatte in dem großen Vernichtungskampf. Klarissa schaute mit Kopfschütteln auf die Zerstörung. »Rufen Sie den Jungen herauf«, sagte sie, »aber machen Sie weiter keinen Lärm über die Sache! Verstehen Sie mich, Lina, wir können alles wieder rein machen und in Ordnung bringen, ohne daß wir Frau Stanhope beunruhigen damit.«

Lina murmelte noch etwas vor sich hin und ging dann, den Fred heraufzuholen.

Als dieser in sein Zimmer eintrat und umherschaute von einem leeren Fache zum anderen im offenen Schreibtische, von den zerquetschten Tierchen am Boden zu den Fetzen und Resten an den Fensterscheiben, da wurde er völlig kreideweiß und stand regungslos still.

»Mein lieber Junge«, sagte freundlich Klarissa, »du mußt nicht erschrecken; ich wollte dir nur sagen, daß du lebendige Tierchen nicht mehr hier in die Fächer bringen darfst; sieh, einmal besudeln sie hier alles, und dann müssen sie ja hier drinnen umkommen. Du mußt dir sie lieber draußen recht betrachten.«

»O meine Sammlung, meine ganze Sammlung!« keuchte Fred hervor.

»Ja, siehst du, so kann man nicht verfahren, um eine Sammlung anzulegen. Aber laß dich's nicht so betrüben, wir wollen nachher darüber sprechen«, tröstete Klarissa, »es wird ja noch mehr Tierchen geben. Für diesmal muß nun hier gründlich rein gemacht werden, wie du sehen kannst; solche Mühe wirst du uns nicht mehr verursachen wollen.«

Fred warf einen letzten Blick auf jenes Fach hin, das den köstlichsten Schatz enthielt, den er besaß, den so seltenen Oleanderschwärmer, dann noch auf das andere mit den zwei großen Prachtkäfern. Es war alles leer, tot, vernichtet. Er ging hinaus. Gleich zu den anderen zurückzukehren und ihre Fragen beantworten zu müssen, warum er gerufen worden sei, das konnte er nicht ertragen. Er lief in den Garten hinaus, bis zu den Linden hinunter. Dort hatte er ja so viele Erinnerungen an herrliche Exemplare, die nun dort oben am Boden, an den Fensterscheiben –; es erwürgte ihn fast, daran zu denken. Er warf sich auf den Rasen hin und stöhnte sein Leid in den Erdboden hinein. Am Nachmittage, als die anderen alle in den leuchtenden Sonnenschein hinausstürzten, setzte er sich in eine Ecke der Stube, nahm seine Schreibmappe hervor und schrieb folgenden Brief:

»Liebe Tante!

Du mußt weinen, wenn Du liesest, was ich Dir jetzt zu sagen habe. Es ist alles aus, die ganze Sammlung fertig, mit einem Wischer zu Tod geschlagen, zerquetscht, zerfetzt, zum Fenster hinausgetrieben und in die Löcher hinein, und alles von einer Stubenmagd! Weil ich keine Schachteln hatte, habe ich natürlich meine Exemplare irgendwo sicher unterbringen müssen. Da waren im Schreibtisch so kleine Ausziehfächer eine Menge, gerade wie erfunden für die verschiedenen Arten. Da kommt die Magd und weiß natürlich nichts von seltenen Exemplaren und fährt so mit einem Besen in die ganze unersetzliche Sammlung hinein. Das ist eine Barbarin. Ich habe Dir gewiß gefolgt, nicht ein einziges kleinstes Fröschlein oder Käferchen habe ich je in der Tasche umhergetragen, und nun ist es so gegangen. Ich will Dir nur gar nicht beschreiben, was ich für Exemplare hatte, ich kann es nicht aushalten. O die zwei Prachtkäfer! hochrote Flügel, und der Leib violett, blau und glänzend, wie die herrlichsten Edelsteine. Und einen Oleanderschwärmer! O ein so seltenes Exemplar! Und meine prachtvolle Weinschnurrerraupe! Du weißt doch, Tante, braun mit gelben Bändern und blauen Augenflecken – völlig zusammengequetscht auf dem Boden – ich kann nichts mehr sagen; je länger man darüber nachdenkt, je trauriger wird das alles. Aber das muß ich noch sagen, man kann einen Menschen wohl Tante nennen, aber deswegen ist er noch lang keine Tante von Natur. Ich habe gleich von Anfang an bei allem, was man brauchte, dem Fani immer den Rat gegeben: ›Geh nur und bitte die Tante Klarissa darum.‹ Aber mehr als zwölfmal hat er mir geantwortet: ›Das darf man nicht tun.‹ Ich habe es dann ja schon begriffen und habe ihn nicht aufstiften wollen und habe geschwiegen. Aber da siehst Du nun den Unterschied zwischen einer gemachten Tante und einer Tante von Natur. Es gibt doch gar nichts auf der ganzen Welt, um das man Dich nicht bitten könnte, und kannst Du's dann nicht tun, so sagst Du nein, und dann weiß man's. Aber das Bitten muß deswegen nicht aufhören, es kommt ja auch immer wieder etwas Neues, und das weißt Du selbst alles so gut und hast gewiß nie gedacht, es könnte aufhören. O darum kam das ganze Unglück über mich, weil ich dem Fani sagte, er solle die Tante Klarissa bitten, mir zehn oder lieber gleich zwanzig alte Schachteln zu geben, um meine Sammlung unterzubringen. Da sagte er, das dürfe man nicht tun, um so viel Dinge auf einmal bitten, und überhaupt dürfe man nicht immer wieder um etwas bitten, ich solle nur alles in ein Papier packen. Nun denke Dir einmal so etwas. Lebendige Tiere in Papier einpacken. Aber Fani versteht eben davon gar nichts. Nun wünsche ich nur das, liebe Tante, daß Du im nächsten Brief schreibst, wir müssen nun heimkommen, es sei Zeit. Es sind ja nun vier Wochen, und das ist gewiß genug, um von daheim fort zu sein, denn daheim ist es doch am schönsten und am sichersten. Da hat man doch seine Schachteln und was man sonst zum Leben braucht auf Erden, und alles so schön an seinem Ort und nicht in allem eine solche Unsicherheit. Da kann man doch gleich zu Dir in allen Verlegenheiten, und es kommt alles wieder in Ordnung. O, wenn Du nur schreiben wolltest, gleich am Samstag müssen wir hier fort, daß wir am Sonntag schon daheim wären! O, welch' eine Freude wäre das!

Lebe wohl, liebe Tante!

Dein ewig treuer Neffe

Fred

Der Abend war sonnig und lieblich herangekommen. Der Abrede gemäß hatten sich unter den drei Eschen hinter der Rosenhalde die Brüder Fink, der Bäckerjunge von Luzern, der Schusterbursche aus Uri, der Gasthofausläufer von Schwyz und zuletzt auch Feklitus eingefunden. Oskar stand in der Mitte mit seiner Fahne und schaute mit forschenden Blicken dahin und dorthin, denn gleich war es sechs Uhr, und noch fehlten Fred und Fani. Es schlug sechs Uhr; man stand noch fünf, noch zehn Minuten, die beiden kamen nicht.

Oskar erkannte, daß man vergebens länger warten würde. Fred wollte nicht kommen, das hatte er schon am Morgen gemerkt; aber Fani, wo blieb der? Bei diesem Gedanken ballte Oskar drohend die Faust und sagte ingrimmig: »O diese Emmi, diese Xanthippe!«

Ursprünglich hatte er im Sinne gehabt mit Trommeln, Pfeifen, Flöten und Handharmonika unter einer lauten, prächtigen Festmusik auszuziehen. Jetzt hatte Oskar dieser entsagt. Einmal, so sagte er sich, weil er in dieser Weise ganz nach Papas Ermahnungen handle, auf fremdem Boden sich in acht zu nehmen, also ruhig und still alles auszuführen und keinen Lärm zu machen, und dann ferner auch, weil er keine Trommel gefunden hatte und Feklitus nicht flöten wollte. Nun war es aber Zeit. Der Zug setzte sich in Bewegung. Voran der Luzerner, der sich auf die Handharmonika verstand und ganz sanfte Melodien spielte. Dann die anderen, je zwei und zwei, in der Mitte Oskar allein, die Fahne hoch in die Luft erhebend. Auf dem Windmühlenhügel wurde sie schnell festgemacht, es war ja alles vorbereitet. Nun flatterte sie festlich über den Hügel und in das Land hinaus. Oskar stellte sich an die Stange darunter. Die anderen lagerten sich am Abhange im Kreise.

Mit lauter, feierlicher Stimme begann nun der Festredner: »Freunde und Brüder!«

»Was soll das heißen! Was sind das für Wühlereien!« donnerte es plötzlich hinter ihm.

Die Gelagerten schossen vom Boden auf. Oskar blickte sich um. Zwei große bärtige Männer in Uniform standen unmittelbar hinter ihm und warfen ihm drohende Blicke zu. Blitzschnell hatte Oskar sich gewendet, einen ungeheuren Sprung getan den Hügel hinunter und fort, feldein, wie ein Rasender. Hinter ihm her die Brüder Fink, kaum den Boden berührend. Nach der anderen Seite rannte der Luzerner, ihm auf der Ferse der Schwyzer. Dieser stürzte über den ersteren und beide verschwanden in einem Graben. Nur Feklitus hatte standgehalten. Er wußte, wer er war, der Feklitus, Sohn des Herrn Bickel, man würde sich wohl in acht nehmen, ihm zu nahe zu kommen. Er wußte auch, daß er kein Schnelläufer war, und die plötzliche Erscheinung der militärischen Herren war ihm doch ein wenig in die Beine gefahren. Allein wollte er auch nicht bleiben; er hatte gleich den Urner am Kragen gepackt und hielt ihn krampfhaft fest.

Einer der Herren kam jetzt zu den beiden heran und sagte barsch: »Ihr kommt mit auf die Wachstube; da könnt ihr erklären, was ihr da unternehmen wolltet und was das alles bedeutet.«

Der Urner duckte sich, soviel er konnte. Halb in Schrecken, halb in Grimm antwortete Feklitus: »Wir haben nichts gemacht. Wir sind nicht schuld. Der Oskar hat alles angestiftet.«

»Das geht uns nichts an«, herrschte ihn der Bärtige an, »ihr kommt mit. Bei uns heißt's: ›mitgefangen, mitgehangen‹.« Dann wandte er sich zu seinem Kameraden um, die beiden flüsterten miteinander.

Feklitus war kreideweiß geworden. »Hast du gehört? Sie wollen uns hängen«, sagte er, den Urner vor Angst immer fester packend.

»Wir wollen fort«, keuchte dieser mit erstickter Stimme.

Feklitus schaute nach den Herren, sie standen abgewandt, mit dem Windmüller in eine Unterhaltung vertieft. Er sprang vom Boden auf, die furchtbare Angst gab ihm ungewöhnliche Kräfte. Wie von Sinnen, alle Haare vor Schrecken aufrecht auf seinem Kopf stehend, stürzte er davon, der Urner ihm nach. Keiner schaute auch nur ein einziges Mal nach den Verfolgern zurück, die sie fortwährend auf ihren Fersen zu hören glaubten. Fort ging's, fort, zuletzt einer dahin, der andere dorthin, – dann waren sie beide verschwunden. Sie waren nicht verfolgt worden.

Oskar kam atemlos an der Rosenhalde an. Er stürzte die Treppe hinauf, in sein Zimmer hinein, riß seine Schreibmappe aus dem Schranke, warf sich auf den Sessel hin am Tische und schrieb, immer noch schwer keuchend:

»Liebe Tante!

Ich muß Dich um Deinen Beistand bitten. Es hat sich etwas ereignet, das eine sehr mißliche Folge haben könnte, und da kannst nur Du allein mir aus der Not helfen, Du weißt gewiß einen Weg. Ich wollte wirklich mich in acht nehmen nach Papas Befehl und nichts Auffallendes tun, besonders keinen Lärm machen. Auch, daß ich doch den schönen Vers auf die Fahne wählte, findest Du gewiß nicht unrecht, denn Du meintest doch nur, wir hätten ja keine Tyrannen, aber wo solche wären, da wäre der Spruch doch schön. Ich kann Dir nun nicht eingehend alles so erzählen, wie es sich zutrug; aber bei einer ganz rechtlichen und unschuldigen Versammlung wurden wir überfallen. Wir konnten entfliehen. Aber ich denke, man könnte uns verfolgen, und wenn mein Name herauskommt, so könnte man vom hiesigen Gericht aus an Papa schreiben, und das gäbe eine schreckliche Geschichte. Nichtwahr, liebe Tante, Du stehst mir bei, und wenn ein solcher Brief kommt, so nimmst Du ihn gleich, Du siehst ja den Briefboten immer zuerst, und dann liesest Du allein den Brief und beantwortest ihn, nichtwahr, liebe Tante? Du weißt am allerbesten, wie man den Herren erklären kann, daß wir ja gar nichts Unrechtes tun wollten, wenn wir nur ganz unter uns Schweizern ein Fest feiern. Ich bitte Dich recht herzlich, hilf mir doch, liebe Tante, daß nicht eine furchtbare Geschichte ausbricht! Am liebsten wäre mir auch überhaupt, wenn Du gleich morgen schreiben wolltest, wir müssen nun heimkommen, der Aufenthalt sei lang genug. Papa und Mama wollten das gewiß auch gern, denn hier kann man doch die Schulaufgaben ja nie so recht machen wie daheim. Und alles andere geht doch daheim viel besser, man hat ganz andere Sicherheit bei allem, was man tut, und auch bei den Vergnügungen. Ich bitte Dich noch einmal, schreibe uns doch bald, daß wir abreisen müssen. Und noch einmal bitte ich Dich, liebe Tante, daß Du mich doch aus dieser großen Angst befreist.

Empfange den herzlichsten Gruß

von Deinem Neffen

Oskar

Eilig faltete der Schreiber jetzt seinen Brief, setzte die Adresse darauf und stürmte fort damit, dem Postamte zu, das in ziemlicher Entfernung von der Rosenhalde lag. Er hatte zu eilen, denn die Zeit des Abendessens war nahe. Als er zurückgelaufen kam und in den Hof der Rosenhalde einbiegen wollte, fuhr er zurück: eben stand an der Tür einer der uniformierten Gesetzeswächter, die zurückgelassene Fahne im Arm. Er wartete auf Einlaß. Jetzt wurde ihm aufgemacht, eben trat er ein.

Oskar zog sich mit Herzklopfen hinter den großen Eichbaum zurück. Was konnte nun drinnen geschehen! Nun kam alles vor Frau Stanhope. Wie würde sie ihn nachher ansehen! Vielleicht würde sie gleich alle drei entlassen und einen Brief an den Papa mitgeben, der böse Folgen haben konnte. Sein Herz klopfte immer lauter. Wenn ihn der Mann holen wollte, um ihn zu bestrafen, um ihn einzustecken! War es etwa nicht erlaubt, ein Loch zu graben auf dem Grundstücke des Müllers, wenn es schon nur Grasboden war? Hätte er doch dem Papa gefolgt und auf dem fremden Boden nichts unternommen! So jagten die Gedanken sich in Oskars klopfendem Herzen, und immer höher stieg seine Angst, je länger der Gefürchtete drinnen verweilte. –

Klarissa hatte eben mit vieler Mühe und Geduld, von der murrenden Lina sehr widerwillig unterstützt, die Spuren der Verheerung in Freds Stube vertilgt und alles wieder in Ordnung gebracht, als ein gewaltiges Schellen der Hausglocke sie herunterrief. Es war der Wachtmann mit der Fahne. Wieder etwas ganz Neues für ihr Haus. Was konnte nun wieder geschehen sein! Mit Schrecken erkannte sie die Fahne Oskars und las den deutlich geschriebenen Spruch darauf. Klarissa schaute ein wenig beklommen nach verschiedenen Türen, ob auch Frau Stanhope nicht etwa heraustrete. Dann fragte sie den Fahnenträger, was sein Begehr sei.

Er sagte, man habe entdeckt, daß die Fahne in dieses Haus gehöre, und auch, daß alles, was damit geschehen sei, auf ein Knabenspiel hinauslaufe. Um des Spruches auf der Fahne willen sei der Müller auf andere Vermutungen gebracht worden, weshalb er der Polizei von einer Zusammenkunft von Unruhestiftern Anzeige gemacht habe: man ließe Frau Stanhope ersuchen, ihre Jugend solche Art von Spielen in Ihrem eigenen Garten abhalten zu lassen.

Klarissa schaute neuerdings erschrocken nach den Türen. Dann versicherte sie dem Manne, das werde künftig geschehen, drückte ihm eine gute Anerkennung für alle seine Mühe in die Hand und trug selbst die Fahne eilig die Treppe hinauf, das Tuch um die Stange gewickelt, damit nicht etwa der Frau Stanhope, wenn sie heraustreten sollte, gleich der Spruch in die Augen fallen möchte; sie hatte kein Wohlgefallen an so gewaltsamen Sprüchen. Jetzt ertönte die Tischglocke. Klarissa atmete auf, daß die Fahne noch glücklich weggebracht und alles unbeachtet vorübergegangen war. Sie wünschte nicht, daß die ruhestörenden Ereignisse, die heute eines nach dem anderen hereinbrachen, vor Frau Stanhope kämen, denn diese war an solche Dinge nicht gewöhnt, und sie konnte dergleichen vielleicht nicht gut ertragen. Doch war nun ja alles Unheil glücklich beseitigt, und Klarissa ging erleichtert nach dem Speisezimmer hinunter.

So zahm und leise wie noch nie traten jetzt nacheinander auch Oskar und Fred ins Zimmer, setzten sich auf ihre Plätze und ließen beide die Köpfe hängen wie zwei Hyazinthen nach einem Nachtfroste.

Elsli saß mit hochgeröteten Wangen neben Fred: es hatte heute so sehr laufen müssen, um zur Zeit da zu sein. Auch es beugte sich tief über den Teller, damit sein erhitztes Gesicht nicht bemerkt werde. Emmi und Fani waren nicht da.

Frau Stanhope schaute eine Weile schweigend bald auf die leeren Plätze, bald auf die anwesenden Kinder.

Klarissa lauschte nach der Tür, es kam niemand.

»Ich mag den Kindern alle Freiheit gönnen zu ihrer Zeit, aber die Hausordnung soll innegehalten werden«, sagte Frau Stanhope jetzt in strengem Ton. »Bis jetzt hat Fani sich nie solche Ausschreitungen erlaubt; ich möchte wissen, wie er dazu kommt.« Frau Stanhope schaute bedeutungsvoll von einem der Brüder auf den anderen. Sie traf aber auf zwei so zerknirschte Gesichter, daß sie kein Wort weiter sagte, denn sie mußte annehmen, das unerklärliche Ausbleiben der Schwester habe den kummervollen Ausdruck der zwei Gesichter hervorgerufen.

Das Essen begann nun und nahm seinen Verlauf. Emmi und Fani erschienen nicht. Man war zu Ende. Frau Stanhope erhob sich und trat wie gewöhnlich auf den Balkon hinaus, schweigend folgten die anderen. Es begann zu dämmern. Bis jetzt hatte Klarissa noch immer gedacht, die Kinder hätten sich aus Leichtsinn irgendwo verspätet; nun aber stieg eine große Angst in ihr auf: konnte den beiden etwas begegnet sein? Es wurde ja schon dunkel, sie kamen nicht.

Jetzt stand Klarissa auf. »Liebe Frau Stanhope«, sagte sie bittend, »Sie erlauben mir gewiß, daß ich hingehe und Leute ausschicke, um nach den Kindern zu suchen; die Angst läßt mir keine Ruhe mehr, es könnte ihnen etwas zugestoßen sein.«

»Wohin soll man denn die Leute schicken, wenn man gar keinen Anhaltspunkt hat«, entgegnete Frau Stanhope ein wenig verstimmt. »Es ist wirklich eine ärgerliche Geschichte. So etwas hat mir Fani noch nicht getan. Ich gehe mit!« Sie erhob sich und schritt voran durch den langen Korridor nach dem Hofe hinaus, Klarissa und die drei Kinder folgten ihr.

Draußen standen die anderen Bewohner des Hauses, der Diener, der Kutscher, die Jungfer und die Köchin, bei einer kleinen Unterhaltung versammelt. Sie hatten das Ausbleiben der jungen Herrschaften zu besprechen, dessen mögliche Gründe und die wahrscheinliche Entrüstung der Frau Stanhope darüber samt deren Folgen. Als die Dame eben unversehens herankam, wollten die Versammelten auseinanderstieben; sie ließ es aber nicht geschehen. Sie befahl, daß Diener und Kutscher sich gleich auf den Weg machen sollten, um nach verschiedenen Seiten hin zu fragen, ob man die Verlorenen gesehen habe, da man ja gar nicht einmal wisse, nach welcher Seite hin sie sich gewandt haben. Da trat Lina, die Stubenjungfer, heran und sagte, die Köchin könnte darüber Bescheid sagen; das junge Fräulein sei jedenfalls zum Fischfange ausgezogen. Die jungen Herrschaften haben es ja auf alle Tiere abgesehen, sie mögen noch so scheußlich sein. Hier warf Jungfer Lina einen grimmigen Seitenblick auf den Fred, dem sie noch nicht vergessen, welche Mühe er ihr heute verursacht hatte.

»Um 's Himmels willen«, rief Klarissa erschreckt aus, »wenn die Kinder nach dem Rhein hingelaufen sind, so kann ja etwas Entsetzliches geschehen sein. Wenn man doch eine Ahnung hätte, nach welcher Seite hin sie gegangen sind!«

Hier trat die Köchin heran und berichtete, daß sie dem jungen Fräulein den Weg zum Fischer, der die Fische ins Haus bringe, habe beschreiben müssen; man habe sicher dort herumzusuchen.

Klarissa machte sich auf den Weg und befahl, daß Diener und Kutscher sie begleiten sollten, die den Weg dahin wußten.

Jetzt befiel ein Schrecken, größer als der aller anderen, das arme Elsli. Es dachte, wenn nun die Tante Klarissa bei den Leuten im Fischerhäuschen erscheine, so komme alles an den Tag, was es schon lange hätte sagen sollen. Durch die täglichen Besuche und die immer nähere Bekanntschaft mit den Fischerleuten, mit allem Mangel und aller Not, unter denen sie litten, hatte Elslis Tätigkeit in der Haushaltung so zugenommen, daß es nun fast alle Arbeit tat, die da verrichtet werden mußte. Nach und nach war es dem Kinde aber immer klarer geworden, daß das Frau Stanhope nicht recht sein würde. In größter Angst stürzte jetzt das Kind über den Hof hin, den Wegeilenden nach, und bat dringend: »O, lassen Sie mich auch mitkommen, Tante Klarissa! Ich möchte Ihnen so gern erzählen, was ich schon lange sagen wollte, und auf dem Wege kann ich es gut tun.«

»Liebes Kind, was fällt dir denn ein, wer sollte jetzt zum Erzählen und zum Zuhören Zeit haben«, gab die Forteilende abwehrend zurück. »Kehr schnell um, Kind! was wird Frau Stanhope sagen, daß du so wegläufst?«

Frau Stanhope machte keine Bemerkung, als Elsli ganz niedergeschlagen zurückkam: sie dachte, die Angst um den Fani habe das Kind fortgetrieben; doch fand sie es nun am sichersten, daß die Kinder sich sofort zu Bett begaben, damit nicht auch von diesen sich noch eines irgendwie verliere, nun sie mit ihnen allein war. Wo auch Fani und Emmi sein mochten, jedenfalls konnten die drei nichts zu ihrer Auffindung beitragen. Ganz still gingen die Kinder auseinander, und jedes trug seinen eigenen großen Kummer mit in sein Schlafgemach. Während aber bei Oskar und Fred, sobald sie ihre Köpfe aufs Kissen gelegt hatten, ein süßer Schlaf sich einstellte und aller Sorge ein Ende machte, saß Elsli mit weit offenen Augen auf seinem Bette, denn der Kummer in seinem Herzen wurde immer größer und verscheuchte allen Schlaf. Es hatte ja von Anfang an nichts Böses tun wollen, aber es hatte doch fortgefahren, ohne Erlaubnis in ein Haus zu gehen und zu tun, was Frau Stanhope vielleicht gar nicht haben wollte. Das war doch nicht recht gehandelt gegen die Wohltäterin. Aber es konnte die armen Leute ja nicht verlassen, da doch gerade heute die Mutter zum ersten Male aufgestanden war und ihm gesagt hatte, es sei ihr einziger Trost und ohne seine Hilfe wüßte sie gar nicht, wie sie fortkommen könnte, bis sie einmal wieder bei Kräften sei. Und heute noch konnte alles an den Tag kommen und Frau Stanhope verbieten, daß es je wieder zu den Leuten gehe, und dazu konnte sie noch sehr böse werden, daß es so lange dahingegangen war ohne ihr Wissen. Vielleicht wollte sie es nicht mehr im Hause behalten und dann auch den Fani nicht, und es war an allem schuld.

Immer größer wurde die Angst in Elslis Herzen, je weiter es dachte, und zuletzt brach es leise schluchzend in die Worte aus: »O, ich weiß mir gar nicht mehr zu helfen; wenn ich nur wüßte, was ich machen sollte!«

Jetzt erinnerte sich Elsli noch einmal daran, wie Tante Klarissa ihm erklärt hatte, daß alle Menschen alles, was ihnen bange macht, vor den lieben Gott bringen dürfen und daß er ihnen überall helfen könne, wo sie gar keine Hilfe vor sich sehen, sie müßten nur nicht aufhören, ihn darum zu bitten. Elsli faltete schnell die Hände wieder, denn sein Nachtgebet, das es jeden Abend sagte, hatte es schon gebetet; aber nun betete es ganz inbrünstig aus seinem Herzen zum lieben Gott, daß er ihm doch aus seiner Not helfe, damit nicht durch seine Schuld auch noch der Fani unglücklich werden müsse und damit es auch kein Unrecht mehr tun müsse und doch die armen Fischerleute nicht noch mehr ins Elend kämen. Nun wurde Elsli stille und konnte sich zum Schlafe niederlegen, denn nun hatte es alles dem lieben Gott übergeben können, und eine große Ruhe kam in sein Herz, daß es nun nicht mehr zu sorgen hatte, weil der liebe Gott nun alles kannte und auch wußte, daß es so gern nicht tun wollte, was nicht recht war.


 << zurück weiter >>