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Zehntes Kapitel.

Es war mittlerweile ein Uhr geworden, und die höchste Zeit, daß wir uns auf den Rückweg machten. Ich fürchtete schon, daß Lindau mich mit Ungeduld erwartet haben würde, und begab mich sogleich, in dem Gasthof angekommen, nach dem Garten hinter dem Hause, in den man ihn hatte gehen sehen. Der Garten war nicht sehr groß, doch konnte ich den Dichter nicht entdecken, und wollte eben wieder umkehren, nachdem ich wiederholt seinen Namen gerufen, als ich seine Gestalt plötzlich hinter einer dichten Rebenpflanzung auftauchen sah. In demselben Augenblick wurde auch eine weibliche Gestalt sichtbar – die dunkeläugige Wirthsschwester, deren sonnegeküßte rundliche Wangen noch von einer dunkleren Glut überzogen wurden, als ich grüßend herantrat.

»Sehen Sie, lieber Freund!« sagte der Dichter mit der reizendsten Unbefangenheit, »wie wir uns in ihrem Interesse abgemüht haben. Weintrauben! delikate Weintrauben! Sie lieben Sie sicher; jeder Dichter muß ein Freund dieser duftigen Kinder des Herbstes sein.«

Ich entgegnete, daß ich Weintrauben sehr liebe, und daß wir binnen zehn Minuten unterwegs sein müßten.

»Machen Sie Fräulein Jettchen nicht unglücklich«, sagte Lindau; »sie würde es Ihnen nie vergeben, wenn Sie ein Diner, dem sie jetzt eben mit diesen zarten Früchten ein letztes Licht aufrichten wollte, mit barbarischer Eile, wie ein Eisenbahnstationsbeefsteak, behandelten.«

Es war nicht schwer zu sehen, woher des Dichters zärtliche Besorgniß für die rechte Würdigung von Fräulein Jettchens Kochkunst stammte, aber wie gern ich auch sonst, sobald Amor sich in's Spiel mischt, durch die Finger sehe – diesmal war ich unbarmherzig. Hatte ich doch innerhalb der letzten fünf Tage fünf mal gesehen, wie bald sich der poetische Freund über verlorne Liebesmüh zu trösten wußte! und auf jeden Fall vertrug das leidige Geschäft, dem wir obzuliegen hatten, keinen Aufschub.

So hatte ich denn über Tisch kein Ohr für des Dichters Klage über die Flucht der Zeit und die Süßigkeit des Augenblicks, kein Auge für die beredten Blicke, die unter seinen gesenkten Lidern nach der schönen Kellnerin flogen, und von dieser aufgefangen, und, wie mir schien, gelegentlich zurückgegeben wurden – nur seinen Abschied von der Holden ließ ich ihn allein nehmen, während ich mit dem Meister das Pistolenkästchen im Wagen befestigte; eine Minute darauf rollten wir wieder durch das dunkle Thor; Lindau steckte das weiße Battisttuch, mit dem er Fräulein Jettchen einen graziösen Abschied zugeweht hatte, in die Tasche und nahm statt dessen das Perlenbuch zur Hand, um zu versuchen, ob Apoll ihm die Ruhe wiedergeben könne, welche Amor ihm entwendet hatte.

Ich störte ihn nicht in seinem Versuche. Der Meister, der vornübergebeugt auf seinem Sitze saß, schien ganz versunken in die Betrachtung der Welt, die er seit zehn Jahren nicht gesehen hatte, und unterhielt sich nur von Zeit zu Zeit leise mit dem Kutscher; ich fühlte mich ernst, ja traurig gestimmt, und je näher wir unserem Ziele kamen, um so mehr. Auch die Gegend, durch die uns heute Nachmittag der leichte Wagen trug – es war eine andere, als die von heute Morgen, da wir über Fichtenau zurück mußten – auch diese Gegend, so wunderbar lieblich sie aus bunten Wiesen unter Baum- und Buschwerk, munter zum Thal plätschernden Bächen, dunklen Tannenwäldern und stillen herbstlichen Feldern zu mir herübergrüßte – sie konnte mir keinen Trost, keine Heiterkeit bringen. Ich wurde nur melancholischer, je schöner die Erde prangte, je leuchtender der Himmel hernieder blauete. Wer konnte wissen, ob der Freund meiner Jugend, mein guter, lieber Kamerad diese Erde, diesen Himmel nicht zum letzten Male sah!

Mein Fuß stieß an den Pistolenkasten, den wir unten in den Wagen gestellt hatten. Da waren die Mordwerkzeuge, und der, der sie gefertigt, saß da so still und friedlich, und dachte nicht an Blut und Mord, sondern an seine Frau und vierzehn Kinder und vielleicht an die Schwester in Tannenburg. Wie lebhaft mir die Scene wieder vor die Seele trat, als Ellen die alte Person in den Armen hielt und das hellblaue Band von ihrem Strohhut auf den Schultern der Alten lag. Ach! diese selbe schöne, sanfte Ellen – sie war die Ursache all' dieses Unglücks; an dem milden Licht ihrer blauen Augen hatte sich dieser unselige Streit entzündet, der vielleicht nun so bald in Blut gelöscht werden sollte! – Wie würde sich meine Frau ängstigen, wenn sie dies wüßte? Wie traurig wird sie sein, wenn das Duell für Egbert einen üblen Ausgang nimmt!

Ich seufzte tief.

»Ja«, sagte Lindau, »der Wagen stößt entsetzlich, ein wahrer Seelenverkäufer von einem Fuhrwerk, und dabei so unregelmäßig, daß man beständig aus dem Rhythmus herausgestoßen wird. Ich hatte ein reizendes Thema: eine Pflanzertochter an den Ufern des Missisippi, die sich lässig in einer Hängematte schaukelt, während schwarze Sclavinnen ihr mit Palmenblättern Kühlung zuwehen, und ein deutsches Bürgermädchen, welches geschäftig die Gäste des Hauses bedient. Der Dichter sieht beide, und indem sich nun sein Blick von der einen zur anderen wendet, entstehen die geistreichsten Beziehungen und effectvollsten Lichter; aber, wie gesagt, wer kann denn bei dem Gepolter im Versmaß bleiben! Gott sei Dank, da ist endlich Fichtenau!«

In der That tauchten eben die ersten Häuser des Städtchens in den Tannen auf; die Berge traten auseinander und ließen bunten Wiesen Raum, durch welche die Fichte, müde von ihren tollen Sprüngen in den Bergen, gelassener dahinzieht. Ich war in früheren Jahren einmal in Fichtenau gewesen, und hatte mir von dem idyllischen Städtchen und seinem immergrünen Thal eine schöne, durch klassische Reminiscenzen geheiligte Erinnerung bewahrt. Während der Tannenburger Tage hatte ich wiederholt gewünscht, diese Erinnerung durch erneuerten Besuch aufzufrischen; aber Egberts Angelegenheiten hatten mich so in Athem erhalten – und jetzt brachten mich diese Angelegenheiten noch hierher!

Wir hielten an dem »Kurhause« still. – Auf der Verandah vor demselben saßen zwei Herren, die sich alsbald erhoben und uns entgegen kamen. Es war Egbert und Herr Bergfeld (letzterer noch immer in dem großcarrirten Costüm). Lindau machte sich sogleich auf den Weg nach der »Goldenen Henne«, wo, der Verabredung gemäß, der Graf um diese Zeit bereits abgestiegen sein mußte. Eine Viertelstunde später sollten die Parteien von der »Goldenen Henne« und dem »Kurhause« zugleich aufbrechen, um sich auf einer schon vorher bezeichneten Stelle des Waldes, dicht hinter dem Städtchen, zu treffen. Meister König wollte, während der Knecht das müde Pferd fütterte – ich hatte ihn gebeten, den Einspänner weiter nach Tannenburg zu benutzen; wer konnte wissen, wann und wie wir zurückkehren würden! – einen Gevatter besuchen; ich blieb mit Egbert und Bergfeld vor dem Kurhause sitzen.

»Ich habe Herrn Bergfeld, auf dessen Discretion wir uns verlassen können, mit unserem Vorhaben bekannt gemacht«, sagte Egbert, als Antwort auf einen fragenden Blick von mir.

Der im carrirten Costüm erröthete heftig, schüttelte Egberts Hand, dann die meine, und rief mit großer Wärme:

»Ich weiß diese Ehre zu schätzen, meine Herren! es wird stets zu den angenehmsten Erinnerungen meines armen Lebens zählen, daß ich eines solchen Vertrauens von solchen Männern gewürdigt wurde.«

Ich mußte lächeln, so trüb mir zu Muthe war. Ich dachte an den »Laffen«, mit welchem wenig schmeichelhaften Ausdruck Egbert in den ersten Tagen den jungen Mercurssohn stets bezeichnet hatte, und dachte, wie gemeinschaftliches Leid einstige Nebenbuhler doch so schnell unter einen Hut bringt!

»Ach!« fuhr der Carrirte fort; »Sie können gar nicht ahnen, welche Wohlthat Sie mir durch Ihre Freundschaft beweisen, denn Sie wissen nicht und können nicht wissen, was ich gelitten habe und noch leide. Es ist schrecklich, der Erfüllung seiner heißesten Wünsche sich so nah zu glauben, und dann auf einmal – an die Luft gesetzt zu werden, wie man zu sagen pflegt, ohne zu begreifen, weßhalb. Er kann sie doch nicht Beide heirathen wollen –«

Hier machte Egbert eine ungeduldige Bewegung, stand auf und begann in der Verandah hin und herzugehen. Herr Bergfeld nahm in Ermangelung von zwei Zuhörern mit einem vorlieb, und fuhr, ohne sich zu unterbrechen, fort: »obgleich ich dem Menschen Alles zutraue, aber faktisch Alles! Denken Sie doch nur – ich habe das Herrn Egbert noch gar nicht erzählt, weil ich ihn nicht noch mehr aufbringen wollte – er hat ja hier schon eine ähnliche Geschichte gehabt, während der drei Tage, die er hier zugebracht: ein Fräulein Libbeke aus Hamburg, Firma F. A. Libbeke – die große Colonialwaarenhandlung – Sie müssen die Firma ja kennen, wenn Sie auch nicht in Hamburg weiter bekannt sind – F. A. Libbeke, der im vorigen Jahre, als die Rosinen so aufschlugen, blos in diesem Artikel binnen zwei Tagen achtzigtausend Thaler verdiente – nicht? merkwürdig; F. A. Libbeke ist ja ein Schwager von dem Bremer A. B. Meier, der übrigens heute mit den Pusterhausenschen Damen hier war – alle Welt nennt ihn ja mit Fräulein Käthchen verlobt – ja, was ich sagen wollte: der Graf hatte denn sogleich mit Fräulein Libbeke angeknüpft und die Sache war auch richtig in den drei Tagen so weit gediehen, daß blos noch das Jawort von dem alten Libbeke fehlte. Na, das wäre schon zu haben gewesen, denn Grafen, und besonders ausländische mit einem recht langen Namen stehen im Hamburger Cours sehr gut notirt, gleich hinter Mark Banco; leider aber hatte sich Fräulein Libbeke schon an einen preußischen Artillerie-Offizier verplempert von dem Schleswig-Holsteinschen Kriege her, wissen Sie, – der hört von der Geschichte, macht sich auf, kommt her, und – na, das Uebrige können Sie sich denken. Aber zu einem öffentlichen Scandal ist es nicht gekommen; unsere preußischen Offiziere, wissen Sie, wenn Sie auch wie der Lieutenant Schulze nicht adelig sind, haben Haare auf den Zähnen; der Herr Graf hat vorgezogen, klein beizugeben, und da gerade an dem Tage die Amerikanerinnen hier waren, ist er denn nach Tannenburg übergesiedelt. Gott, und das ist noch nicht das Schlimmste! Er hat ja auch der Tochter von dem Kurhauswirth, der nebenbei ein reicher Mann ist – wir machen auch mit ihm Geschäfte in Braunstein – na, der hat er ja auch einen Heirathsantrag gemacht, aber der alte Joël ist eine wunderliche alte Schraube, dem so leicht nicht beizukommen ist, und der soll ihm geradezu gesagt haben: Hören Sie, Guter, soll er gesagt haben, ich kann wohl eine Harzer Kuh von einer Algäuer unterscheiden, aber einen ungarischen Grafen von einem Schwindler, wenn der Schwindler nun mal Graf spielen will, das kann ich nicht. – Na, so arg wird es nun nicht gewesen sein, obgleich man von dem Joël curiose Dinge zu hören bekommen kann, aber das steht fest –«

»Es ist Zeit aufzubrechen«, sagte Egbert, der herantrat.

»Höre, Egbert«, sagte ich, »mir hat hier unser Freund soeben diverse Geschichten von dem Grafen erzählt, die mich zweifeln lassen, ob man sich überhaupt anständigerweise mit ihm schlagen kann.«

»Um Gottes willen«, rief der Carrirte, »Sie wollen mich doch nicht noch auch in diese Geschichte verwickeln!«

»Ich glaube, Herr Bergfeld, daß Sie, als Mann von Ehre –«

»Aber was giebt es denn nur?« rief Egbert ungeduldig.

In diesem Augenblicke sah ich Lindau in für ihn ganz ungewöhnlicher Eile unter den Linden, welche die Straße überwölben, daher kommen. Ein paar Schritte hinter ihm ging Louis, der Engländer; ich eilte, von der Ahnung getrieben, daß Lindau Nachrichten von Wichtigkeit bringen müsse, ihm entgegen: »Was giebt's Lindau?«

»Seltsame Dinge«, sagte Lindau, stehen bleibend, und nach Louis sich umblickend, der zögernd herankam. »Nur immer heran, mein vortrefflicher Freund! es kurz zu sagen: Der Graf ist nicht gekommen, und Louis hier behauptet, daß er auch nicht kommen werde, und behauptet ferner, den Grund zu wissen, weßhalb er nicht kommen wird, will sich aber blos Ihnen anvertrauen.«

Auch Egbert und Bergfeld waren jetzt herangetreten.

»Reden Sie, Louis«, rief ich, »was giebt's?«

»Ach, meine Herren«, sagte Louis kläglich, »ich kann wirklich nicht« – und er warf so scheue, verwirrte Blicke um sich, daß ich alles Ernstes fürchtete, der arme Mensch habe den Verstand verloren.

»Louis«, sagte ich im väterlichen Tone; »ich habe Sie immer für einen treuen, ehrlichen Menschen gehalten. Die Sache ist von höchster Wichtigkeit, und Sie können vor uns ganz offen reden. Was ist's mit dem Grafen?«

»Ach, meine Herren, er ist Sie ja gar kein Graf nicht!« rief Louis, indem er die Hände vor der Brust zusammenschlug.

Wir standen ganz starr vor Erstaunen ob dieser seltsamen Kunde.

»Sie sind toll, Louis«, sagte ich endlich, während Egbert ungläubig den Kopf schüttelte, Lindau sich lächelnd den Bart strich, und Herr Bergfeld in einem plötzlichen Anfall von Kampfeswuth Louis am Kragen faßte und schüttelte.

»Ruhig, ihr Herren!« sagte ich; »die Sache muß genauer untersucht werden. Kommen Sie, Louis, trinken Sie ein Glas Wein, und erzählen Sie, was Sie wissen.«

Ich hatte dem armen Menschen, der sich in seiner Angst und Verwirrung fortwährend die trockenen Lippen mit der trockenen Zunge zu feuchten versuchte, von dem Tisch, an dem wir gesessen hatten, ein Glas eingeschänkt. Glücklicherweise war Niemand in der Nähe, der diese sonderbare Conferenz hätte beobachten können. Louis leerte das Glas auf einen Zug und sagte:

»Ich weiß Sie es ja auch erst seit vorgestern Morgen. Er hatte sich ja so herausstaffirt, daß ihn feine eigene Mutter nicht wieder erkannt hätte. Aber vorgestern Morgen, als Karl nicht gleich da war und ich für ihn am Billard markirte – wissen Sie, Herr Lindau, Sie standen am Fenster und lasen die Illustrirte – Gott strambach! Verhüllend für die Fluchformel: »Gott strafe mich!« ich sage Sie, es fährt mir noch durch alle Glieder, wenn ich daran denke – macht er Sie ein Quadruplé Bei einem solchen Stoß muss die Kugel viermal die Bande berühren, bevor sie ihr Ziel erreicht. Dies ist nur durch lange Übung zu erreichen., daß ich beinahe vor Schreck aufgeschrieen hätte. Herr du mein, sage ich bei mir, so ein Quadruplé! – und indem ich das noch so denke – richtig, da macht er Sie wieder dasselbe Quadruplé – na! und da wußte ich, daß er es war.«

»Wer?« riefen wir Alle wie aus einem Munde.

»Der Billardcaspar aus dem Café Stephan, mit dem ich ja ein ganzes Jahr im Kaiser Franz Hotel in Wien servirt habe.«

Wir sahen uns Einer den Andern der Reihe nach an, und brachen dann sämmtlich, wie von einem elektrischen Funken durchzuckt, in ein schallendes Gelächter aus.

»Sie können es mir glauben, meine Herren«, sagte Louis, der den Sinn unserer Heiterkeit mißverstand, »das Quadruplé macht ihm Keiner nicht nach, und wenn der Kaiser Franz Joseph selber mit der Krone auf dem Kopfe gekommen wäre und gesagt hätte: das ist ein Graf, ich hätte doch gesagt: es ist der Billardcaspar; und er hat es ja auch selber eingestanden.«

»Hat er das?« rief ich.

»Nun gewiß!« rief Louis; »ich war zuerst ganz wie närrisch und wußte gar nicht, wo mir der Kopf stand, so daß ich wohl ein wenig unaufmerksam gewesen sein mag, obgleich mich der Herr Director deßhalb noch nicht hätte fortzuschicken brauchen. Na, er hatte mich gestern Morgen fortgeschickt und ich war hierhergegangen, weil ich glaubte, ich würde in der Goldenen Henne ankommen können. Aber damit war es Sie nichts, und ich habe eine alte Mutter, meine Herren, die ich erhalten muß, und –«

Der arme Junge wischte sich die Augen; ich schänkte ihm noch ein Glas ein; er trank es unter vielen dankbaren Verbeugungen und fuhr dann fort:

»Da dachte ich denn heute: willst einmal zu ihm gehen und ihm ins Gewissen reden. Denn es ist ja doch zu arg, dachte ich, daß der Billardkaspar in Tannenburg den Grafen spielt, und du hier in Fichtenau auf das Pflaster gesetzt bist. Ich also hin nach Tannenburg gemacht, so gegen zehn Uhr heute Morgen und werde dann gleich auf sein Zimmer gehen und ihn auch richtig treffen, wie er eben seinen Koffer packt. ›Guten Tag, Caspar Weyer,‹ werde ich sagen, denn so heißt er eigentlich, meine Herren. ›Es hilft Dir nichts mehr, denn ich kenne Dich.‹ ›So?‹ sagt er, ›kennst Du mich? nun ich habe Dich längst gekannt, und wenn Du nicht den Mund hältst, so soll Dir das den Mund stopfen,‹ und damit hält er mir eine Pistole vor das Gesicht. Aber, meine Herren, ich war Sie mittlerweile nun auch ganz rabiat geworden. ›Oho!‹ sagte ich, ›Caspar, so leicht geht das hier zu Lande nicht, und wenn Du mir jetzt nicht auf der Stelle fünfzig Thaler giebst, so gehe ich hin und sage es dem Director, und gehe hin und sage es dem Herrn Egbert, und dem Mr. Cunnigsby, und Allen will ich es sagen, und‹ – ›Still,‹ sagte er, ›Louis, ich habe ja nur gespaßt. Und Du sollst das Geld auch haben, oder höre, Louis,‹ sagte er, ›Du kannst noch viel mehr verdienen, wenn Du mir helfen willst.‹ ›Ich weiß schon,‹ sage ich.‹ ›Nichts weißt Du, heute Abend entführe ich sie.‹«

Egbert sprang auf: »Was soll das heißen?«

»Ruhig, Egbert,« rief ich; »laß ihn ausreden. Und Sie, Louis, beeilen Sie sich; was meinte er damit?«

»Ach Gott,« sagte Louis, »es ist ja wirklich wahr; er hat Alles mit Mr. Cunnigsby verabredet. Die Miß Ellen will ihn ja nicht, und nun soll er sie entführen.«

»Aber das ist ja zu toll, Louis«, sagte ich.

»Ja, das ist es auch«, rief Louis, »eine richtige Schandgeschichte; aber es ist ganz gewiß wahr. Er soll so thun, als ob er die jungen Damen spazieren fahre, und dann soll er sie nicht wieder zurückbringen, und die junge Dame, meinen sie, würde schon Ja sagen, wenn sie sieht, daß es nicht anders geht. Und ich soll ihn um acht Uhr auf dem Nonnenkopf erwarten, und soll so gleichsam als Bedienter mit ihm reisen, und ich armes Menschenkind habe auch zu Allem ja gesagt, aber wenn ich Sie es so recht bedenke, so kann einen die Geschichte doch an den Galgen bringen –«

»Um Himmelswillen«, rief Egbert; »laß uns machen, daß wir fortkommen!«

»Aber wohin?« rief ich, der ich mich ebenfalls voller Unruhe erhoben hatte; »wenn sich dies Alles so verhält, treffen wir ihn sicher nicht mehr in Tannenburg. Wir müssen –«

»Direct nach dem Nonnenkopf, das versteht sich von selbst. Es ist jetzt sechs Uhr. Wir können von hier aus über den Falkenstein, die Helenenquelle in zwei Stunden dort sein.«

»Da müssen Sie aber sehre schnell machen«, sagte Louis bedenklich.

»Kommst Du mit, oder nicht?« rief Egbert, der schon auf der Straße stand.

»Nun natürlich«, rief ich.

»Ich auch«, sagte Bergfeld, den langen Gebirgsstock, den treuen Begleiter auf seinen Fahrten durch die weite, weite Welt, muthig ergreifend.

»Sie müssen auch mit, Louis!« sogleich.

»Gleich, Herr!« sagte Louis.

Lindau war ruhig sitzen geblieben. »Ich komme nicht mit, lieber Freund,« sagte er, »denn ein solcher zweistündiger Dauerlauf wäre für einen Herzleidenden wie ich mit Selbstmord identisch.«

»So bleiben Sie hier, und fahren Sie mit Meister König in dem Einspänner nach Hause. Es muß auch einer von uns in Tannenburg sein, um Mr. Cunnigsby im Auge zu behalten, der nach Allem, was scheint, in diese Schurkerei verwickelt ist.«

Bergfeld, Louis und ich erreichten Egbert im Trabe, und nun ging es zusammen, halb im Trabe, halb im Schritt, die staubige Hauptstraße von Fichtenau entlang, zu nicht geringer Verwunderung der Kurgäste, die gemächlich von ihrem Abendspaziergange aus den reizenden Anlagen zurückkamen.

Dicht hinter Fichtenau führt ein Fußweg rechts ab in den Wald auf den Falkenstein, unsere erste Station. Niemand von uns kannte den Weg außer Egbert, der ihn aber auch nur einmal gegangen war, so daß ich, als wir in den Wald gelangten, wo es unter den hohen Räumen schnell zu dunkeln begann und bald rechts, bald links die Pfade in den dichten Tann liefen, eingedenk der gestern und neulich gemachten Erfahrung als sicher annahm, wir würden uns verirren.

Aber ich vergaß, daß an unserer Spitze ein Waidmann marschirte, dessen eigentliche Heimath Wald und Feld war, und der sich in dieser seiner Heimath mit einer Leichtigkeit und Sicherheit zurecht fand, wie der Schiffer auf dem Meer. Bergauf, bergab, jetzt rechts, jetzt links, bald auf geebnetem Pfad, bald querwaldein, wo ein Stück Weges abzuschneiden war, ging es, als gälte es das Leben, Egbert immer voran, Felsenstufen hinunterspringend oder erklimmend, durch die Büsche brechen, mit der Kraft eines verfolgten Hirsches, wir Andern hinterdrein, athemlos, keuchend, jeden Augenblick glaubend, die tolle Jagd aufgeben zu müssen, und immer wieder durch Egberts Beispiel und Zuruf angefeuert, versuchend, weiter mit ihm gleichen Schritt zu halten.

Am besten gelang das im Anfang noch Louis, dessen kleine krumme Beine eine überraschende Schnelligkeit entwickelten, und der sogar trotz alles Stöhnens und Schnaufens seinen redseligen Mund öffnete, sobald er an meine Seite kam. So erfuhr ich denn in abgebrochenen Sätzen noch Eines und das Andere aus der privaten Geschichte des Herrn Hernad George, Grafen Saros-Patak, alias Billardcaspar: wie er ein Wiener Kind sei, und auch dort schon immer den großen Herrn gespielt und seinen schlanken Wuchs, sein Bischen Französisch zu allen möglichen Schwindeleien ausgebeutet habe. Nun sei er ein paar Jahre in Pesth Kellner gewesen, und da sei ihm jedenfalls der Gedanke gekommen, als ungarischer Graf sein Glück zu versuchen. Louis berichtete weiter, daß sein ehemaliger College viel Geld habe blicken lassen, und gesagt habe, der Aufenthalt in Tannenburg allein hätte ihm über zweihundert Thaler eingebracht. Das Leben, das er führe, sei das lustigste und leichteste Leben von der Welt, sein Hauptplan aber sei immer gewesen, ein reiches Mädchen zu heirathen, wenn auch nur, um sie sich hernach von den betrogenen Eltern mit einer möglichst großen Summe abkaufen zu lassen. Ein paar Mal sei er schon dicht daran gewesen, aber immer sei etwas dazwischen gekommen; hier aber, denke er, soll es ihm endlich glücken. Mr. Cunnigsby zweifle nicht im mindesten, daß er ein reicher Graf sei, und Mr. Cunnigsby könne Miß Ellen gar nicht leiden und sei froh, sie – wie er denke – auf gute Weise los zu werden. Er habe aber eine große Summe versprochen, sobald die Heirath einmal vollzogen sei, und deßhalb solle nun eben das Mädchen entführt werden, weil man daran zweifle, sie im Guten überreden zu können.

»Und die andere Tochter soll dabei helfen?« fragte ich.

»Ach Gott, sie wird Sie wohl müssen«, keuchte Louis, »dieser Mister soll ein schrecklicher Mensch sein.«

Egbert unterbrach diese stoßweisen Mittheilungen, indem er uns abermals zurief, wir möchten uns sputen; es sei jetzt kein Grund mehr, langsam zu gehen. Die Sache war, daß wir allerdings die Höhe des Berges erreicht hatten und jetzt auf dem breiten Rücken fortschritten, aber der Weg – derselbe, den wir gestern in Sturm und Regen von dem Nonnenkopfe gekommen waren, eine uralte Fahrstraße, über welche die Cimbern und Teutonen schon ihre Karren geschleppt haben mochten – war überaus steinig, und die Dunkelheit mittlerweile so groß geworden, daß, wer nicht Egberts stählerne Muskeln und falkenscharfe Augen hatte, bei der Eile, mit der wir vorwärts stürmten, fortwährend Gefahr lief, den Hals, wenigstens die Beine zu brechen. Ich traute mir zu, noch weiter mit Egbert Schritt halten zu können, aber die beiden Andern, das sah ich wohl, mußten wir zurücklassen. Uebrigens waren wir längst auf dem Wege, den jeder Tannenburger kannte, und es kam nicht so viel darauf an, ob die Andern ein paar Minuten später eintrafen; die Hauptsache, den edlen Grafen fest zu halten, konnte jedenfalls von uns allein ausgeführt werden. So machte ich denn Egbert den Vorschlag, mit ihm weiter zu gehen, während die Andern langsamer nachkämen, was denn Egbert zufrieden, und Bergfeld und Louis sehr zufrieden waren. Wenige Minuten später hatten wir sie schon so weit zurückgelassen, daß wir nichts mehr von ihnen hörten.

Ich theilte unterdessen, so weit mir der Athem es verstattete, Egbert mit, was ich eben von Louis gehört. »Es ist ein unerhörter Gaunerstreich«, sagte ich, »und wie gut der Schurke die Zeit gewählt hat! Jetzt verstehe ich auch, weßhalb er heute Morgen durchaus auf das Duell bestanden: er wollte uns Alle aus dem Wege haben. Und morgen sollten sie ja zu dem Großfürsten abgeholt werden! Das ist ein zweiter Grund gewesen, die Sache zu beschleunigen, denn er mußte mit Recht fürchten, bei dieser Gelegenheit doch über kurz oder lang entlarvt zu werden! O, über den Hallunken! aber der edle Mr. Cunnigsby ist nicht um kein Haar besser.«

»Das arme Mädchen, das arme, arme Mädchen!« murmelte Egbert und verfiel jetzt, wo der Weg plötzlich ganz sanft und glatt wurde, in einen Trab, daß auch ich hätte zurückbleiben müssen, wären wir nicht eben, ehe ich es gedacht, auf den freien Platz, der das Försterhaus auf dem Nonnenkopf umgab, herausgetreten.

Ein Wagen hielt vor der Thür: »sie sind's, sie sind's!« schrie Egbert und stürzte in mächtigen Sätzen, wie ein Schweißhund, der die Beute endlich vor sich sieht, über die Wiese auf das Haus zu. Ich nahm meine letzte Kraft zusammen, und erreichte es fast zugleich mit ihm. Der Knecht bei den Pferden war ein Mensch, den ich nicht kannte, der Wagen war ein verdeckter Wagen – doch sah ich das Alles nur so im Vorbeifliegen, denn wir eilten in den dunklen Flur und stießen die Thür zu dem Gastzimmer rechter Hand auf, durch dessen Fenster wir hatten Licht schimmern sehen.

Welch' eine Scene bot sich unsern Augen dar!

Mitten im Zimmer erblickten wir den Elenden, der mit einem Arm die unglückliche Ellen umfaßt hielt und im Begriff schien, sie mit Gewalt aus dem Zimmer zu ziehen, während sie sich aus allen Kräften sträubte. Einen Schritt davon stand Virginia, sehr bleich und schien der Schwester zuzureden. In dem Moment, als wir hereinstürzten, stieß der Graf, oder, wie ich ihn wohl jetzt bei seinem rechten Namen nennen muß: Caspar – die Aermste im ersten Schreck von sich, so daß sie Egbert geradezu in die Arme flog. Virginia schrie laut auf, und Caspar rief, indem er einen Revolver, den er unter den Kleidern hervorgezogen haben mußte, auf Egbert richtete: »Ich schieße Euch todt, ich schieße Euch todt!«

Da ein Revolver immerhin ein Ding ist, das mit Vorsicht behandelt sein will, und der Mensch mit seinen aus dem grauen Gesicht glitzernden schwarzen Augen, starrenden Schnurrbart und vor Wuth grinsenden Zähnen desperat genug aussah, so hielt ich es für das Beste, ihm mit einem geschickt geführten Schlage den Revolver aus der Hand zu schleudern, daß derselbe weit fortflog, glücklicherweise, ohne sich zu entladen. Caspar sprang nach seiner Waffe, ich ihm nach, im nächsten Moment hatten wir uns umfaßt, Jeder bemüht, den Andern zu Boden zu ringen. Zu gleicher Zeit war der Knecht bei den Pferden – aufmerksam gemacht durch unser Erscheinen und durch den plötzlich in der Wirthsstube entstehenden Lärm, hereingekommen, und war, um seinen Patron zu befreien, über Egbert hergefallen. Die Frauen – zu denen wir jetzt auch die Frau Kreiserin rechnen müssen, die aus der Küche herbeigelaufen kam – schrieen, die Männer kämpften – es war eine Scene gräulicher Verwirrung. Wunderbarer Weise blieb der wackelige Tisch, auf welchem das einzige Licht stand, das den Kämpfenden leuchtete, unberührt; und das war für mich speciell ein großes Glück, denn ich sah in dem Scheine desselben, während ich mit Caspar rang, plötzlich etwas über mir aufblitzen, wonach ich instinctmäßig griff, ehe ich mir noch bewußt wurde, daß es ein Dolch war, den der Verzweifelte über mir schwang. Der Stoß fiel in meine ausgestreckte Hand, und da ich das Handgelenk erfaßt hatte, gelang es mir, ihn daran festzuhalten, während er wie ein Rasender seinen Arm wieder frei, oder doch wenigstens die Waffe in die andere Hand zu bekommen suchte.

Ich weiß nicht, welchen Ausgang dieser Kampf für mich genommen hätte, wenn Egbert nicht unterdessen mit seinem Gegner fertig geworden wäre, der, hätte er Egbert gekannt, eben so gut einen Bären zum Kampf herausgefordert haben würde, und jetzt, von den Schlägen der Bärentatze niedergeschmettert, unfähig sich zu regen, am Boden lag; dasselbe Schicksal wurde denn auch binnen der nächsten halben Minute dem Caspar zu Theil, und es fehlte nicht viel, daß Egbert, der nun einmal im Zuge war, mich, da ich ihm in den Arm fiel, damit er dem Elenden nicht den Garaus mache, nicht ebenfalls so unsanft gebettet hätte.

Glücklicherweise wurde Ellen in diesem Moment ohnmächtig und der zornige Bär mußte für den Augenblick die Wahlstatt räumen, um den ohnmächtigen Preis seines Kampfes und Sieges hinüber in das Wohnzimmer der Familie Winzig zu tragen, gefolgt von Frau Winzig, die heulte, und von Miß Virginia, die weinte, und, ihrem Aussehen nach zu schließen, ebenfalls nicht weit von einer Ohnmacht war. Unterdessen hatte Caspar sich wieder so weit erholt, daß er aufspringen und nach der offen stehenden Thür stürzen konnte, wo er auf eine Person prallte, die genau in diesem Augenblicke die ganze Höhe und Breite derselben ausgefüllt hatte. Diese Person war niemand Geringeres als der Kreiser, Herr Hans Winzig, der den ganzen Nachmittag im Dienste ausgewesen war, und jetzt zu seiner höchsten Verwunderung sein friedliches Haus als den Schauplatz solcher Scenen wiederfand.

Doch ließ ich ihm nicht Zeit, sich lange zu wundern, sondern hieß ihn, nachdem ich ihn mit wenigen Worten über den Sachverhalt aufgeklärt, die Gefangenen beobachten, während ich hinüberging, zu sehen, was aus Ellen geworden sei.

Das arme Kind war noch immer ohnmächtig.

Als Gatte und Vater (von vier Kindern) glaubte ich das Recht und die Pflicht zu haben, die Frauen zu bitten, der Ohnmächtigen die Kleider zu lösen, und diesem Liebeswerk in den allerersten Stadien zu assistiren, dann ergriff ich Egbert am Arm und führte ihn zu unseren Gefangenen zurück, über deren Schicksal doch etwas festgesetzt werden mußte.

Mittlerweile hatte sich auch der Bauer so weit erholt, daß wir ihn, nachdem er Urphede geschworen, zu seinen Pferden, die ungeduldig zu werden anfingen, entlassen konnten. Nicht so einfach war die Sache mit dem »Grafen.«

Er hatte sich an den Tisch gesetzt und den Kopf in beide Hände gestützt. Unseren Fragen, Anschuldigungen, Drohungen setzte er nur hartnäckiges Schweigen entgegen. Nur als fünf Minuten später Bergfeld und Louis anlangten und als Beisitzer in den Gerichtshof eingereiht wurden, blickte er auf den Letzteren mit Augen, aus denen ein so wölfischer Haß sprühte, daß ich froh war, den Revolver und den Dolch in Sicherheit gebracht zu haben.

Da aus dem Menschen schlechterdings nichts herauszubringen war, so gab ich den Andern ein Zeichen. Wir verließen das Zimmer, das wir hinter uns abschlossen, und begaben uns auf den Flur, um über das, was demnächst zu geschehen habe, mit gedämpfter Stimme Berathung zu pflegen. Die Hauptsache schien, sich bis auf Weiteres der Person des Verbrechers zu versichern; hier wußte der Riese sofort Rath. In dem Hintergebäude war ein kleines, mit eisenvergittertem Fenster und starker eichener Thür versehenes Gelaß, in welches renitente Waldfrevler gesteckt wurden, oder doch wenigstens werden konnten, da ein solches Ereigniß während der zehnjährigen Dienstzeit des Riesen noch immer nicht eingetreten war und er in Folge dessen das Gelaß als Rumpelkammer zu benutzen pflegte. Eine aus mir bestehende Deputation überzeugte sich unter Begleitung des Riesen von dem augenblicklichen Zustand dieses Gewahrsams, und als die Deputation den Aufenthalt, für eine Nacht wenigstens, erträglich fand, und nachdem sie angeordnet, daß ein Strohsack als Lager hineingeschafft werde, wurde der Gefangene, der es für das Geratenste hielt, sich nicht länger zu sträuben, dahin abgeführt, nachdem der Förster, der sich auf dergleichen vollkommen verstand, nach Waffen bei ihm visitirt und keine gefunden.

Wir hatten eben Hernad George, Grafen Saros-Patak in die Rumpelkammer gesperrt, und wandten uns wieder nach dem Hause, als ich mich von Jemand am Rockschoß festgehalten fühlte. Es war Bergfeld. Sein kleines Gesicht war sehr ernst, seine schmalen Aeuglein mit ängstlicher Spannung auf mich gerichtet:

»Wenn es nun aber doch ein Graf wäre!« sagte er.

»Ich glaube nicht«, erwiderte ich, »jedenfalls müssen wir es darauf ankommen lassen.«

»Und«, fuhr der Aufgeregte fort, »wenn er kein Graf, sondern wirklich ein weggelaufener Kellner ist, glauben Sie nicht, daß ich wieder einige Chancen habe?«

»Wie?« rief ich, »Herr Bergfeld, nach der Behandlung, die man Ihnen hat zu Theil werden lassen!«

»Sehen Sie«, sagte der Carrirte vertraulich, »daraus mache ich mir nun nicht viel. Ich bin drei Jahre lang für unser Geschäft gereist, da lernt man Einiges ertragen; und dann, sie liebt mich; ich bin überzeugt, sie liebt mich, aber sie hat nur nicht gedurft, das ist es! sie hat nur nicht gedurft!«

»Dann kehren Sie auch wohl mit uns nach Tannenburg zurück!«

»Wenn Sie es gütigst verstatten«, rief der junge Mann, indem er meine beiden Hände ergriff und wieder und wieder drückte, »ich würde Ihnen ewig, ewig, ewig dankbar sein.«

»Ich denke, wir benutzen den Wagen, um zurückzukommen; die beiden Damen und Sie und Egbert können d'rin sitzen, ich werde mich zu dem Menschen auf den Bock setzen. Louis kann hier bleiben, und Herrn Winzig den Delinquenten bewachen helfen.«

»Gleich, Herr«, sagte Louis.

Ich klopfte an die Thür der Stube, in welcher sich die Mädchen befanden. Virginia öffnete.

»Wie geht es Miß Ellen?« fragte ich englisch.

»Besser«, antwortete die junge Dame.

»Glauben Sie, daß sie stark genug ist, die Rückfahrt antreten zu können?«

Die Antwort von Miß Virginia war ein Strom von Thränen, der unaufhaltsam aus ihren dunkeln Augen brach. Sie ergriff, gerade wie es eine Minute vorher Bergfeld gethan hatte, meine beiden Hände und murmelte, in, wie es schien, fürchterlicher Angst, Worte, die ihr Weinen und Schluchzen vollkommen unverständlich machten.

Unterdessen war auch Miß Ellen an die Thür gekommen. Sie sah noch sehr blaß aus, aber war viel ruhiger und gefaßter als ihre Schwester. Ihre Augen suchten an mir vorüber Egbert, der hinter mir stand. Ich bat die Damen, sich fertig zu machen. Miß Ellen that dies ruhig, Miß Virginia unter fortwährendem Schluchzen und Weinen, das dem jungen Merkurssohn durch die Seele schnitt, und das er vergeblich durch leises Zureden zu beschwichtigen suchte. Es schien mir wiederholt, als ob die junge Dame mich unter vier Augen zu sprechen wünschte, aber ich hatte mit den Anordnungen unseres Rückzuges so viel zu thun, daß ich ihrem Wunsche nicht willfahren konnte. Es zeigte sich, daß die Sitze des Wagens noch verschiedene mit Damensachen angefüllte hölzerne Laden bargen. Einen Reisesack, der offenbar dem »Grafen« gehörte, gab ich dem Riesen in Verwahrung. Endlich konnten wir abfahren.

Es war nicht natürliches Wohlwollen und Ueberschwang von Nächstenliebe allein, weßhalb ich die beiden jungen Paare in die trauliche Gemeinschaft eines engen viersitzigen Wagens gepackt hatte – ich hoffte, auf der Heimfahrt von dem Bauer, dem Wagen und Pferde gehörten, etwas Näheres über den durch unsere Dazwischenkunft zerstörten Schurkenplan des »Grafen« zu hören. Auch hatte ich mich in meiner Hoffnung nicht getäuscht. Leichtlebig, gewinnsüchtig und gewissermaßen abenteuerlustig, wie es die Art dieses Völkchens ist, war er von dem »Grafen« durch eine Summe Geldes gewonnen worden, ihn und die Mädchen quer durch das Gebirge nach dem Städtchen F. am Fuß desselben zu fahren, von wo man in einer Stunde die Eisenbahn erreichen konnte. Um was es sich handelte, darnach behauptete der leichtsinnige Mensch nicht gefragt zu haben, konnte aber nicht leugnen, daß ihm die ganze Sache einigermaßen verdächtig geworden sei, da die eine junge Dame so traurig ausgesehen, und beim Aussteigen auf dem Nonnenkopf so geweint habe. Freilich, wenn er gewußt hätte, daß der Graf gar kein Graf sondern ein Kellner sei, würde er sich nicht in den Streit der Herren gemischt und sich die Prügel erspart haben, die er von Herrn Egbert erhalten.

So schwatzte der Mensch; ich ließ ihn schwatzen, und sammelte die Körner Wahrheit, die ohne allen Zweifel in der Lügenspreu steckten. Unerklärlich blieb mir nur, wie Mr. Cunnigsby – ein so großer Schurke, wie er sein mochte – zu diesem Bubenstück seine Einwilligung habe geben können. Hatte er geglaubt, das arme Mädchen in dieser unerhörten Weise in eine ihr verhaßte Verbindung zu zwingen? vielleicht zu gleicher Zeit durch diese Flucht den erwünschten Schwiegersohn vor der Gefahr des Duells mit dem gefährlichen Egbert zu retten? und hatte er hernach das Ganze für eine wirkliche Entführung ausgeben wollen, in die dann auch die älteste Tochter verwickelt worden sei? Es gab kaum eine andere Erklärung; aber dann – welcher Abgrund von Schlechtigkeit war die Seele dieses Mannes! Freilich, freilich! was weiß ein Sclavenzüchter von Ehre und Rechtlichkeit? Hat ein solches Scheusal Eingeweide wie ein anderer ehrlicher Mensch? War es nicht Longfellow, der in einer kleinen, schauerlich schönen Ballade einen ähnlichen Stoff behandelt: wie ein Pflanzer seine Tochter an einen Sclavenschiffcapitän verkauft?

But the voice of nature was too weak;
He took the glittering gold!
The pale as death grew the maiden's cheek,
Her hands as icy cold …

Ja, ja! die Stimme der Natur! es wird bei ihm nicht großen Kampf gekostet haben, die zu übertönen mit dem Klang des glänzenden Goldes; und die todtbleiche Wange des Mädchens hatte ich ja nur eben erst gesehen, hatte eben erst, als ich ihr in den Wagen half, ihre eiskalten Hände in den meinen gehabt! Und jener Pflanzer hatte doch noch einen Schimmer von einem Grunde für seine Unthat; er war ein armer Teufel und mußte vielleicht das Geld haben; aber dieser Mr. Cunnigsby, der selbst ein reicher Mann ist, … freilich! wer weiß, wie es mit seinen Verhältnissen steht! Die Anleihen, die er von allen Seiten contrahirt, lassen wenigstens auf eine bedenkliche angenblickliche Verlegenheit schließen. Unter allen Umständen werden wir einen schweren Stand mit dem ehrenwerthen Gentleman haben; er wird den freien Amerikaner und den Jaguar nach Möglichkeit herauskehren, obgleich er, wenn er nicht ganz toll ist, uns dankbar sein muß, daß wir ihn von dem »Grafen« befreiten. Da muß man die Schraube ansetzen, und für die arme Ellen so viel als möglich herauszupressen suchen; vielleicht auch für die Andere, die möglicherweise mehr leichtsinnig als schlecht ist, und jedenfalls ganz unter der Furcht vor ihrem Jaguar-Vater steht.

So sann und calculirte ich, während ich oben auf dem Bock neben dem Kutscher saß, und unter andern Befürchtungen auch noch die hatte, mir den grausamsten Schnupfen zu holen. Denn der Abend war kalt geworden, in dem Walde nebelte es, und der Nebel wurde dichter, je mehr wir uns auf unserer raschen Fahrt bergab Tannenburg näherten. Das war eine unverhältnißmäßige Abkühlung nach unserem zweistündigen Dauerlauf über Stock und Stein, und einem Kampf auf Tod und Leben! Aber aus dergleichen dürfen wir braven Stallmeister uns freilich nichts machen, während unsere Ritter im wohlverschlossenen Wagen an der Seite ihrer Dulcineen ein reizendes Kapitel in dem Roman ihrer Liebe lesen. O, dieser mühseligen, schweißtriefenden, zähneklappernden Stallmeistern! Endlich – endlich – da ist Tannenburg!



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