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Fünftes Kapitel.

Dies merkwürdige Ereigniß war nämlich nichts Geringeres, als die Ankunft des Landesfürsten, von dem der weitsichtige Doctor Kühleborn bei irgend einer passenden Gelegenheit die Zusage erhalten hatte, sich von dem blühenden Stand seines Bades allerhöchst selbst überzeugen zu wollen, und der jetzt kam, sein gnädiges Versprechen einzulösen. Doctor Kühleborns Freude, als die Nachricht von dem Heil, das ihm bevorstand, eintraf, war unermeßlich; wurde doch der so schon stabilirte Weltruf seines Bades jetzt noch mit dem rocher de bronce großfürstlicher Protection untermauert. Der großfürstliche Sanitätsrath, auf den er nun schon so lange vergeblich gehofft, ward jetzt so gut wie gewiß.

Aber auch sonst war der Besuch Sr. Durchlaucht für den Ort von einer nicht leicht hoch genug zu schätzenden Bedeutung. Der Großfürst war noch nie in Tannenburg gewesen. Wenn nun gleich das Scepter Sr. Durchlaucht sich über volle fünf Quadratmeilen erstreckte, und er auch erst vor fünfundvierzig Jahren seinem hochseligen Vater auf den Thron gefolgt war, so glaubten die Tannenburger doch, wenn sie auf diese Dinge zu sprechen kamen, über Vernachlässigung von Seiten Serenissimi klagen zu können. Freilich, der in die geheime Geschichte des Großfürstenthums Eingeweihte wußte es besser. Jemand, der, wie Serenissimus, schon die Heiterkeit im Titel führt, zürnt nicht ohne Grund über ein Menschenalter hindurch, und die Tannenburger hatten Serenissimo Ursache zum Zorn gegeben. Auf Tannenburg hafteten nämlich gewisse kostbare Privilegien, mit welchen irgend ein mittelalterlicher Serenissimus die Tannenburger, die ihn, der Himmel weiß aus welcher schweren Bedrängniß befreiten, belehnt hatte. Zu diesen Privilegien hatte auch das Jagdrecht in den der Gemeinde gehörigen Wäldern auf den Bergen um Tannenburg gehört. Jahrhunderte lang war die Sache in Vergessenheit gerathen, und Serenissimi hatten Jahrhunderte lang in eben diesen Wäldern nach Herzenslust gejagt und auch wohl etwaige Jagdfrevler nach Herzenslust in Kerker und Eisen abgestraft.

Da geschah es, daß die Tannenburger sich just bei der Thronbesteigung Serenissimi vor fünfundvierzig Jahren jener Rechte und Privilegien erinnerten, und dieselben, die alle mit sorgsam aufbewahrten Documenten wohl verbrieft waren, von Serenissimo in einem langjährigen Prozeß durch alle Instanzen erstritten. Kann man sich wundern, daß der tiefgekränkte Monarch schwur, einen Ort, in welchem ein so illoyales, widerspänstiges Volk lebte, nie mit Augen sehen zu wollen? daß er, als später jene Privilegien mit andern mittelalterlichen Exemtionen abgelöst werden mußten, und es ihm frei gestanden hätte, die Tannenburger Jagd zu pachten, niemals einen Groschen darauf bot, ja mehr als einmal äußerte, er würde dieselbe jetzt nicht nehmen, und wenn sie ihm die Tannenburger auf den Knieen anböten?

Vergebens, daß die Tannenburger, denen aus andern Gründen in neuerer Zeit viel daran lag, mit ihrem Landesherrn gut zu stehen, ihre frühere Hartnäckigkeit verwünschten, und Durchlaucht die verwünschte Jagd mehr als einmal so zu sagen auf den Knieen angeboten hatten; vergebens daß Dr. Kühleborn, wiederum aus anderen Gründen, sein großes diplomatisches Genie für die gute Sache schon seit Jahren hatte spielen lassen – es war Alles umsonst gewesen.

Da legte sich der Himmel, der die unnatürliche Entfremdung zwischen Landeskindern und Landesvater nicht länger mit ansehen konnte, in's Mittel, und wie er denn oft seine Mittel seltsam wählt, so auch in diesem Fall.

Es geschah nämlich, daß die Auerhähne, die sonst das Waldgebirge innerhalb der fünf Quadratmeilen der Erblande Sr. Durchlaucht ziemlich gleichmäßig besucht hatten, plötzlich, wie auf Verabredung aus den übrigen Theilen verschwanden, um in dem Tannenburger Forst ein Asyl zu suchen, und wie es schien zu finden. Alljährlich im März und April beim ersten Morgengrauen widerhallte der Wald von den Liebesliedern der leidenschaftlichen Vögel und Serenissimus, der ein großer Jäger vor dem Herrn und gerade für diese edle Jagd ein besonderes Faible hatte, mußte sich das von seinen Förstern und Kreisern erzählen lassen, während sich auf seinem Revier nie eine Auerhahnfeder mehr sehen ließ. Wer möchte wagen, einen Blick in die Geheimnisse des durchlauchtigsten Busens zu werfen; wer den Kampf zu schildern zwischen dem Stolz des Herrschers, der nicht nachgeben, und der Begierde des Weidmanns, die sich nicht zügeln lassen will! und wenn Timanthes das Antlitz des Agamemnon, der im Begriff steht, seine Tochter zu opfern, weise verhüllte, so muß ein doppelt dichter Schleier der Discretion über das Gesicht einer Durchlaucht fallen, die d'rauf und d'ran ist, zum gemeinen Wilddieb zu werden.

Aber so weit sollte es nicht kommen; mühsam aber sicher arbeitete sich die Sonne landesväterlicher Huld durch das düstere Gewölk gerechten Unmuths, und ihr erster Strahl traf den glücklichen Doctor Kühleborn, den eine Angelegenheit seines Bades in die Residenz und in das Kabinet des Großfürsten geführt hatte. Durchlaucht war sehr gnädig gewesen, hatte dem Petenten seine Bitte sofort bewilligt und hinzugefügt, er werde im Herbste selbst Gelegenheit nehmen und so weiter.

Auf morgen hatte sich der hohe Gast angekündigt, Tannenburg war in einer unbeschreiblichen Aufregung. Man hatte, wie das so zu geschehen pflegt, das große bevorstehende Ereigniß schon seit Wochen besprochen, aber nichts gethan, um sich würdig darauf vorzubereiten; jetzt sollte von dem Nachmittag um fünf, wo die Nachricht eintraf, bis morgen Vormittag um elf, wo der Großfürst kommen wollte, Alles fertig sein: Flaggenbäume, Guirlanden, die Dorfjungfrauen mit ihren weißen Kleidern, der Schulmeister mit seiner Anrede, die Schuljungen mit ihrem Choral. Dr. Kühleborn würde sich gern in zwanzig Stücke zerrissen haben, wenn er dadurch die Möglichkeit gewonnen hätte, an zwanzig verschiedenen Stellen zu gleicher Zeit zu sein; anstatt dessen war er schon um sechs Uhr so heiser, daß er nur noch flüstern konnte, und mit dem verzweifelten Lächeln, das seine Lippen umspielte, den Anblick eines Atlas gewährte, in dem Augenblicke, wo derselbe fühlt, daß er mit sammt der Welt, die auf seinen Schultern liegt, zusammenbrechen wird.

Er wäre auch zusammengebrochen, wenn er nicht treue Arme gefunden hätte, die sich bereitwillig ausstreckten, den Wankenden zu stützen. Das englische Kränzchen constituirte sich sofort als »Comité zur Arrangirung der Feierlichkeiten bei Gelegenheit des Aufenthalts Sr. Durchlaucht, Herman des Hundertsiebenundneunzigsten« und erklärte sich in Permanenz. Frau Justizrath Scherwenzel übernahm die Beaufsichtigung der Guirlanden- und Kränze-Arbeiten, Frau Oberpostdirector von Dinde die Revision und Super-Revision der Waschung und Herausstaffirung der zur Einholung Sr. Durchlaucht designirten Dorfmädchen. Leider stellte sich noch an demselben Abend zur Evidenz heraus, daß an einen Empfang Serenissimi durch weißgekleidete Jungfrauen gar nicht zu denken sei, da Tannenburg sich zwar ungefähr zweier Dutzend Jungfrauen erfreute, aber auf diese ganze Schaar nur ein weißes Kleid kam, welches der Schulzentochter Anna Maria Eisbein gehörte. Und hier war es nun, wo Frau von Pusterhausen die beiden andern Damen, die ihr einen so großen Vorsprung abgewonnen hatten, durch ein glänzendes Manöver nicht nur ein-, sondern weit überholte. Sie kam und brachte ihre beiden Töchter, legte sie gewissermaßen weißgekleidet auf den Altar des Vaterlandes; Emma sollte Durchlaucht im Namen der Kurgäste mit einem Gedicht begrüßen, Käthchen ihm einen Eichenkranz reichen zur Erinnerung an jüngst erfochtene Siege (Durchlaucht hatte sein halbes Bataillon in dem großen Kriege des Sommers mitmarschiren lassen). Der Eichenkranz mußte sofort in einen Buchenkranz verwandelt werden, da es in der Umgegend gar keine Eichen, sondern nur Nadelholz und Buchen gab; auch mit dem projectirten Gedicht sah es mißlich aus, da Lindau sich weigerte, seinen Pegasus für einen solchen Zweck zu satteln. »Ich will ein Dutzend Gedichte auf Sie machen, mein gnädiges Fräulein«, sagte der Lyriker zu der ihn um ein paar Verse anflehenden Emma, »Sonette, Canzonen, Stanzen – was Sie wollen; aber für oder auf Se. Durchlaucht mache ich keine Verse, am wenigstens solche, die er gern hören würde. Meine Muse singt nur Liebe und Freiheit; für Tyrannen, selbst im Duodez, ist sie stumm.«

Doch das waren am Ende nur Steine im Bach, die den Lauf des Wassers nicht aufzuhalten vermochten. Die nun hereinbrechende Nacht deckte eine Welt von Arbeit, Thaten heroischer Aufopferung (die alte Botenfrau, um nur eins zu erwähnen, ging in dieser Nacht dreimal von Tannenburg nach Fichtenau und zurück, das letzte Mal mit zwei Bogen Flittergold); aber der Morgen fand Alles fertig, auch Dr. Kühleborn, der sich kaum noch auf den Beinen halten konnte und dessen Stimme jetzt dem Krähen eines sehr jungen Hahnes an einem Regentage auffallend glich.

Und er kam – zur festgesetzten Stunde – in einem Jagdwagen – ein stattlicher alter Herr mit grauem Schnurr- und Knebelbart, militärischer Haltung; der Hofjägermeister hatte die Ehre, bei Durchlaucht im Wagen zu sitzen, ein paar Herren seines Haushaltes folgten in einem zweiten. Es ging Alles nach Wunsch. Nur beim Eingang des Ortes, wo die Schulkinder postirt waren, wollten die feurigen Pferde vor dem leichten Jagdwagen nicht stehen; und der Kutscher war genöthigt gewesen, weiter zu fahren, wenn er Durchlaucht nicht in den Bach setzen wollte; sodann war Durchlaucht auf der Weiterfahrt durch das Dorf nur noch in die Kuhheerde gerathen, die der alte taube Kuhhirt, an den Niemand gedacht und der seinerseits ebenfalls an Niemand, am wenigsten an den Großfürsten gedacht hatte, zur ungelegensten Stunde auf die Weide trieb. Da war es denn freilich Durchlaucht nicht zu verdenken, daß er, beim Kurhause angelangt, Dr. Kühleborn's allerdings vor Heiserkeit kaum verständliche Anrede mit einem wohlgemeinten: es sei schon gut! kurz unterbrach, und Fräulein Emma von Pusterhausen bat, ihm die zweite Hälfte des Gedichtes – es war von dem Pastor angefertigt und allerdings etwas lang gerathen – nach dem Frühstück zu recitiren. Hingegen mundete – was doch die Hauptsache war – das Frühstück Durchlaucht ausgezeichnet gut; und er fühlte sich so gekräftigt, daß er alsbald wieder den Wagen besteigen und eine lange Spazierfahrt in die Wälder machen konnte, aus denen er so viele Jahre gewissermaßen verbannt gewesen.

Das Diner wurde um fünf Uhr in dem kleinen Saale des Kurhauses servirt, außer dem Gefolge Sr. Durchlaucht hatte nur Dr. Kühleborn die Ehre, befohlen zu werden.

Bis dahin konnte man eigentlich nicht sagen, daß der so heiß ersehnte Tag gehalten, was er versprochen, oder was sich Kurgäste und Dorfbewohner von demselben versprochen. Durchlaucht hatte sich, wenn man der Wahrheit die Ehre geben wollte, weder um die einen noch um die andern gekümmert, und wenn Fräulein Emma von Pusterhausen auch gerade nicht nöthig gehabt hätte, über den Durchlauchtigsten Scherz in Weinkrämpfe zu fallen, so war doch nicht in Abrede zu stellen, daß der Opferdampf nicht recht gen Himmel steigen wollte, sondern bei den Opferern blieb und ihnen hier und da schwer auf die Brust fiel.

Dr. Kühleborn war so kühn gewesen, Sr. Durchlaucht über Tafel einige ehrfurchtsvolle Andeutungen nach dieser Seite hin zu machen, und Durchlaucht hatten die Gnade gehabt, sich die Kurliste vorlesen zu lassen, um sich in der anwesenden Gesellschaft einigermaßen zu orientiren. Aus den wenigen adligen Namen, welche die Liste schmückten, hatten Durchlaucht nicht viel gemacht. – »Von Pusterhausen, von Dinde – kenne die Sorte; hungriger Beamtenadel, knabbern an einem herum wie Ratten;« aber: Hernad George Comte de Saros-Patac, Mr. Cunnigsby aus Louisiana – »Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt; hätte Sie zum Diner invitiren können; nach dem Diner vorstellen.«

Dr. Kühleborn's Verlegenheit war groß. Die Amerikaner und der Graf waren heute Morgen, als ob es für sie keine deutsche Durchlaucht gebe, ausgefahren. Der Unglückliche wagte das Schreckliche nicht auszusprechen, in der Tiefe seiner Seele hoffend und betend, die Flüchtlinge würden zur rechten Zeit zurück kehren und es ihm so möglich machen, dem Befehl Sr. Durchlaucht nachzukommen.

Nach der Tafel, die um acht Uhr aufgehoben wurde, stand auf dem Programm: Beleuchtung des Kurgartens mit Talglampen, farbigen Ballons und bengalischen Flammen. Die Dorfbewohner umdrängten in dichten Schaaren das Stacket, die Kurgäste standen in harrenden Gruppen, die Badekapelle spielte: Heil dir im Siegerkranz, und Durchlaucht betrat mit seiner Suite (Dr. Kühleborn, dem Oberjägermeister und den beiden Cavalieren) den Garten. Dr. Kühleborn fiel ein Felsblock vom Herzen. Die Amerikaner und der Graf waren zurück! Da standen sie – entfernt von den andern unter ihrer Platane – ruhig dem bunten Treiben zuschauend. Ich sah, wie Dr. Kühleborn die Schritte des Monarchen sofort nach jener Stelle lenkte, wie er, vorauseilend, die Gruppe auf das Kommen des Gesalbten vorbereitete; wie die Gruppe sich dem Großfürsten entgegen langsam in Bewegung setzte, wie die beiden Mächte aufeinanderstießen, und alsbald die Vorstellung Statt fand, während die Blicke aller Anwesenden gebannt an dem erhabenen Schauspiel hingen und die Kapelle: »Was ist des Deutschen Vaterland« spielte.

Hier wurde meine Aufmerksamkeit leider anderweitig in Anspruch genommen, denn Fräulein Käthchen von Pusterhausen, die mit ihrer Mutter und Herrn Lindau dicht neben uns stand, fiel, nachdem sie einen leisen Schrei ausgestoßen, in dem eine ganze Welt von Verzweiflung, oder doch wenigstens die Verzweiflung an der ganzen Welt lag, Herrn Lindau ohnmächtig in die Arme, und mußte von diesem, unter meiner und der beklagenswerthen Mutter Assistenz, hinter die Fronte gebracht werden. Die Unglückliche hatte die Demüthigung, von dem dicht an ihr vorübergehenden Fürsten vollständig übersehen zu werden, nachdem sie ihm heute Morgen den Buchenkranz überreicht, nicht ertragen können. Sie verlangte, als sie wieder zu sich kam, nach Hause, zu ihrer Schwester, ihrer armen, nicht minder als sie gekränkten und nicht minder kranken Schwester, und so wankte sie am Arm des gefühlvollen Lindau aus dem Garten – hinter ihnen her die bethränte Mutter, in deren gramzerrissenes Herz auch wohl der Kühnste nicht unaufgefordert einen Blick werfen möchte.

Als ich von dieser Schreckensscene zurückkam, war Egbert verschwunden. Vermuthlich war auch ihm der Boden zu heiß unter den Füßen geworden und ich war im Grunde froh, daß er fort war. Was noch zu sehen blieb, würde wenig Erfreuliches für ihn gehabt haben. Die entente zwischen den beiden Großmächten war nämlich mittlerweile vollständig geworden; man hatte sich zu einer gemeinschaftlichen Promenade durch den lampenerhellten Garten vereinigt. Durchlaucht hatte seinen Ruf, ein Kenner der Frauenschönheit zu sein, bewährt, denn er führte Miß Ellen am Arm; einer der Cavaliere leitete Mrs. Cunnigsby, der andere Miß Virginia; der Graf war dem Oberjägermeister zugefallen, während Mr. Cunnigsby und Dr. Kühleborn (dessen Augen Triumph leuchteten) den Zug schlossen. So kamen sie an mir vorüber. Durchlaucht radebrechte eben ein paar unglückliche englische Worte auf das grausamste von unten auf; Miß Ellen – sie trug ein helles mit blau garnirtes Kleid und sah unglaublich reizend aus – hatte die Augen niedergeschlagen, hob sie aber, als sie unmittelbar in meiner Nähe war und blickte mich mit einem Blicke an, der mir viel zu denken gab und der mir noch vor der Seele stand, als ich ein paar Stunden später, nachdem das Fest zu Ende, mein Zimmer aufsuchte.

Es hatte ein so sonderbarer Ausdruck in dem Blicke gelegen, ein rührender Ausdruck von Hilflosigkeit, ja von Angst, der mir ins Herz schnitt. Was war das mit dem Mädchen? Sie fühlte sich offenbar – wofür auch sonst ihre Blässe, ihre Schüchternheit, ihre manchmal leise gerötheten Augenlider zu sprechen schienen – nicht glücklich; und wie hätte sie, die Zarte, Holde, sich auch glücklich fühlen sollen neben diesem brutalen Vater, dieser insipiden Mutter, dieser Coquette von Schwester? Sie hatte mich heute Abend angeblickt, nicht wie einen Fremden, sondern wie eine Schwester ihren Bruder, von dem sie, auch ohne daß sie spricht, verstanden zu werden hoffen darf. Und dann hatte sie, – es war mir nicht entgangen – noch an mir vorüber nach einem Anderen ausgeschaut, verwundert, ihn nicht zu finden, fragend, wo er sei. Hatte das Egbert gegolten? wem anders? wäre es möglich, daß in der Seele des Mädchens sich für einen Mann, mit dem sie noch nie ein Wort gesprochen, eine Neigung entzündet hätte? Warum nicht möglich? hatte denn Egbert nicht denselben Cursus durchgemacht? und war Julia, als sie den Romeo zuerst erblickte, weniger von Romeo bezaubert, als Romeo von Julia?

Für Jemand, der so ernste Dinge in seiner Seele wälzt, wäre es kein Wunder gewesen, wenn er, über die matt erhellten Corridore des Nebenhauses nach seinem Zimmer schreitend, in eine falsche Thür gerathen wäre. Das Zimmer sah allerdings genau aus wie mein Zimmer, aber es waren nicht meine Sachen, und zwei Lichter auf dem Sophatisch pflegte Louis für mich auch nicht anzuzünden. Ich ging also wieder hinaus, um mir Aufklärung zu verschaffen und da kam Louis auch schon athemlos herbeigestürzt. Er bitte dringend um Entschuldigung, daß er ohne vorher meine Erlaubniß eingeholt zu haben – aber es gehe nicht anders – es sei ja auch nur für eine Nacht – und das Zimmerchen eine Treppe höher sei freilich nur klein, aber man habe eine reizende Aussicht –

»Besonders in der Nacht, Louis.«

Louis hatte keine Zeit zu lächeln, denn die Herren vom Hofe, denen ich hatte weichen müssen, kamen die Treppe herauf. Er konnte mir nur noch eben ein Licht in die Hand drücken, die Nummer des Zimmerchens mit der schönen Aussicht nennen und mich meinem Schicksale überlassen.

»Opfer fallen hier, weder Lamm noch Stier, aber Menschenopfer unerhört« Aus Goethes Ballade »Die Braut von Korinth«., murmelte ich, während ich die Treppen hinaufstieg; »Emma und Käthchen von Pusterhausen, ihr seid gerächt. Hochmuth kommt vor den Fall, der hier sehr gefährlich werden kann, denn diese Hühnerstiege ist so steil und schmal, daß sie direct zum ewigen Leben führen könnte. Hier ist Nr. 94; in der That: nicht eben groß, aber sehr niedrig, und für Liebhaber hoher Temperaturen unschätzbar; doch hier läßt sich Abhülfe schaffen.«

Ich lehnte mich in das schnellgeöffnete Fenster und blies den Dampf meiner Cigarre nachdenklich zu den Sternen empor. Das schöne Mädchen mit dem Blick des gehetzten Rehes kam mir wieder in den Sinn. »Auch ein Menschenopfer«, murmelte ich, »und um das es Jammer und Schade ist. Das holde Geschöpf hat es mir wahrlich angethan; ich muß dem Räthsel dieses Blickes auf die Spur kommen.«

Ein Lichtschimmer fiel auf die hohen Pappeln, die vor mir leise im Abendwind flüsterten. In dem Zimmer unter mir wurde es lebendig. Eine Gestalt trat an das Fenster – eine weibliche Gestalt, ich sah die Silhouette deutlich in dem Laub der Pappel. Die Gestalt drückte die Hände vor das Gesicht, ich hörte leises Weinen. Wie ein Blitz fuhr es mir durch den Kopf, daß das Zimmer unter mir das der jungen amerikanischen Damen sein müsse, und wer sollte die weinende Gestalt im Fenster sein, wenn nicht Miß Ellen

Ich ging auf den Zehen an den Tisch und blies mein Licht aus; als ich abermals an das Fenster trat, war der Schatten in der Pappel unverändert und wieder hörte ich das leise Weinen. Dann richtete sich die Gestalt wieder auf; es mußte Jemand in's Zimmer getreten sein, vermuthlich mehrere Personen, denn ich hörte plötzlich laut und heftig sprechen, aber das Fenster unten war geschlossen worden und ich konnte nicht verstehen, was man sprach. Ich hörte nur eine tiefe Stimme – offenbar die des Jaguars – schelten und zwischendurch eine oder ein paar Frauenstimmen, von denen aber keine Miß Ellen gehören konnte, denn sie waren scharf und lärmend, und das schöne Mädchen mit ihrem Cordelia-Gesicht konnte nur eine Cordelia-Stimme haben. Cordelia ist in Shakespeares Tragödie »König Lear« die jüngste Tochter der Titelfigur.

Das dauerte wohl eine Viertelstunde, dann wurde es still; bald darauf verlosch unten das Licht. Ich schloß ebenfalls das Fenster und suchte, da Louis keine Schwefelhölzer dagelassen und ich aus diplomatischen Gründen keinen Lärm machen wollte, beim Scheine der Sterne und des abnehmenden Mondes, der eben über die Berge heraufkam, mein Lager, nicht eben verwundert, aber doch betrübt über das, was ich gehört. So hatte mich meine Ahnung, daß es in dieser so außerordentlich respectabeln Familie auch »ein Scelett« gebe, nicht betrogen. Die Harmonie war nur ein Schein, den man der Welt vormachte; unter sich lebte man in Hader und Zwietracht, und die arme Miß Ellen mußte es heimlich entgelten, daß man sie vor den Leuten auf Händen trug. Denn daß irgend etwas, das auf Miß Ellen Bezug hatte, die Veranlassung des Zwistes in der Familie Cunnigsby gewesen sei, daran zweifelte ich keinen Augenblick.



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