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Zehntes Capitel.

Katharine war, als Lambert heute Mittag sich von ihr losgerissen, wie betäubt stehen geblieben. Die Ueberzeugung, zurückbleiben zu müssen, war ihr so plötzlich gekommen, der Entschluß, zurückbleiben zu wollen, so schnell gefaßt worden, die Ausführung dem Entschluß so auf dem Fuße gefolgt, daß jetzt, wo die Gestalten der Reiter hinter einer Biegung des Weges verschwanden, und sie sich nun wirklich allein fand, ihr war, als hätte sie einen bösen, ängstlichen Traum, aus dem sie jeden Augenblick erwachen müsse. Sie strich sich über Stirn und Augen; aber es war Alles wirklich: da stand die leere Krippe; da lag der Eimer, den die Liese umgestoßen; da das Reitkissen, das Lambert im letzten Augenblick abgeschnallt hatte; da waren in dem kurzen, zertretenen Grase die Spuren von den Hufen der Pferde; da war die offene Thür, in welcher sie Lambert eben noch gesehen – Katharine that ein paar verlorene Schritte, als wollte sie dem Geliebten nacheilen, und blieb dann stehen, die Hände auf das laut klopfende Herz gedrückt. Tiefe Wehmuth wollte sie überwältigen; aber sie kämpfte das Gefühl wacker nieder. »Er hat dich so oft ein muthiges Mädchen genannt,« sprach sie bei sich, »und du wolltest jetzt weinen und klagen wie ein Kind, das die Mutter für ein paar Augenblicke allein gelassen hat. Er kommt ja bald zurück, gewiß, er kommt bald zurück.«

Sie ging in das Haus, zu sehen, welche Zeit es sei. Der Zeiger an der Schwarzwälder Uhr wies auf zwölf. Die Entfernung bis zu Nikolaus Herckheimers Haus betrug zwei Meilen. Rechnete sie auf den Hin- und Herweg zusammen drei oder vier und auf die Berathung der Männer selbst zwei Stunden, so konnte Lambert um sechs, sieben Uhr spätestens wieder da sein. Das war eine lange Zeit freilich, aber es gab noch mancherlei zu thun, und vielleicht kam auch Konrad heute früher von der Jagd.

»Schon um Konrads willen mußte ich hier bleiben,« sagte Katharine bei sich, während sie den Mittagstisch abräumte. »Er muß lernen, in mir seine Schwester zu sehen, und er wird es, wenn wir ihm Vertrauen zeigen, wenn wir keine Heimlichkeit vor ihm haben. Ach, hätte ich ihn gestern schon als Bruder begrüßen dürfen! Aber das läßt sich nachholen; das muß nachgeholt werden, heute noch, sowie er zurückkommt. Dann leben wir friedlich beisammen und der wilde Mensch wird finden, daß es gar nicht so übel ist, eine Freundin zu haben, die für ihn sorgt, bis er selbst einmal ein Mädchen lieb hat, und sich ein Heim gegründet und ein Haus baut, hier dicht neben uns, oder am Rande des Waldes, den er so liebt. Das wird ein fröhlich-glückliches Leben werden. Wir werden gute Nachbarschaft halten; ich werde seine Frau lieb haben und sie mich.«

Katharine hatte sich an den Heerd gesetzt, und schaute, den Kopf in die Hand gestützt, mit halb geschlossenen Augen sinnend vor sich hin. Das Feuer auf dem Heerde knisterte leise; die Wanduhr sagte Tik-tak; auf der Wiese draußen sangen die Vögel, durch die weit offne Thür schien die Sonne hell in den schattig-kühlen Raum, und in dem breiten Sonnenstreifen, der bis an ihre Kniee kam, tanzten die Staubatome, die wie goldene Sterne aufleuchteten und funkelten und dahinschwebten und durcheinanderspielten und sich zu haschen schienen. Und dann waren es nicht mehr goldene Sterne, sondern lachende Kindergesichter, die aus dem Halbdunkel des Hintergrundes auftauchten, und bis an ihre Kniee kamen und wieder in die dunklen Ecken huschten und daraus hervorschauten mit leuchtenden, blauen, fröhlichen Augen. Und dann war die Vision verschwunden; die Sonne schien wieder still in den stillen Raum; das Feuer knisterte, die Wanduhr sagte Tit-tak, und draußen auf der Wiese sangen die Vögel.

Das junge Mädchen stand auf und ging von Neuem an ihre Arbeit; aber es lag ein anderer Ausdruck auf ihren sanften, unschuldigen Zügen, und andere Gedanken, die ihr plötzlich, wie durch eine Offenbarung, gekommen waren, stillten ihre Seele. Das bräutliche Gefühl, das sie noch eben beseligt, hatte einem anderen Platz gemacht, über das sie sich keine Rechenschaft zu geben wußte: einem tieferen, ernsteren Gefühl, das sich von jenem ersten unterschied, wie das Mittagslicht, das jetzt draußen auf der Prairie und auf den Wäldern lag, von dem Frühlicht heute Morgen. Das waren dieselben nickenden Halme und dieselben ragenden Wipfel; es war derselbe klare Bach, dasselbe sich wiegende Schilf– und doch war Alles wie von leiser, mächtiger Zauberhand verwandelt und sprach eine andere, geheimnißwebende, geheimnißlösende Sprache. Jetzt erst wußte sie wirklich, weshalb der geliebte Mann, der die Wahrheit und Offenheit selber war, ihr so ängstlich wochenlang verschwiegen, daß sie allein mit ihm in seinem Hause leben würde. »Allein! und wäre es nicht ebenso gekommen, hätte er mir die Wahrheit gesagt! mir gesagt, daß er mich liebe, daß er mich nicht als Magd haben wollte! Wäre es nicht ebenso gekommen? habe ich ihn denn nicht auch geliebt vom ersten Augenblicke an, und bin ihm doch gefolgt durch die Städte der Menschen, durch pfadlose Wildniß, auf wochenlanger Fahrt durch Regen und Sonnenschein und Tag und Nacht in die unbekannte Ferne! Was ist denn nun so anders? Habe ich mir nicht angelobt, als wir Hand in Hand das Schiff verließen: Du sollst mein Herr sein! und heißt es nicht in der Kirche, wenn der Priester die Hände der Liebenden zusammenlegt: er soll Dein Herr sein! Ja, er soll mein Herr sein, nun und alle Wege. Er soll mein Herr sein!«

So sprach Katharine bei sich, die seltsamen Schauer zu bannen, die durch ihr Herz zogen. und ihr oft schier den Athem benahmen, während sie in ihrer Kammer die gestern Abend nur flüchtig gemachte Einrichtung vervollständigte, und ihre wenigen Habseligkeiten in einem Schränkchen ordnete, das in der Dicke der Balkenwand angebracht war. Dann, als es hier nichts mehr zu thun gab, stieg sie – zum ersten Male – die Treppe hinauf nach dem obern Stock, und umschritt die rings um das Haus laufende Gallerie, welche mehrere Fuß über den untern Stock vorsprang, und an den Seiten mit einer aus starken Planken wohlgefügten und mit Schießscharten versehenen hohen Brustwehr umgeben war. Mit Ausnahme des einen dürftig genug ausgestatteten Verschlages, in welchem die Brüder heute Nacht geschlafen, war der übrige Raum, der im Winter als Vorrathsboden benutzt wurde, für den Augenblick leer, oder diente als Aufbewahrungsort für Alles, was unten nicht Platz fand. Katharine vertiefte sich in den Plan, den sie heute Morgen gemeinsam mit Lambert entworfen, für sie Beide hier, wo Alles lustiger und freier war, eine kleine behagliche Wohnung herzurichten. Aber ohne Lambert wollte es mit dem Plänemachen nicht recht fort.

So stieg sie die Treppe wieder hinab und sah zu ihrer Verwunderung an der Uhr, daß, seit Lambert sie verlassen, erst eine Stunde vergangen war. Sie nahm eine Arbeit und setzte sich mit derselben auf die kleine Bank vor der Thür in den Schatten der Gallerie.

Es war die Stille des Tages. Der Wind hatte sich ganz gelegt, kaum, daß hier und dort ein längerer Halm auf der Wiese und das Schilf am Bachesrande nickte. Mit matteren Schwingen zogen die Schmetterlinge von einer Blume zur andern; schläfrig klang das Summen der Bienen und das Zirpen der Cikaden, die der ungewöhnlich warme Tag hervorgelockt hatte. Kein Laut sonst in der weiten Runde; manchmal nur aus dem Walde der heisere Schrei des Baumfalken oder der Ruf eines Vogels, den Katharine nicht kannte. Am blauen Himmel schwebten einzelne weiße Wolken, deren Schatten langsam, langsam über die sonnige Prairie weiter rückten.

Katharine hatte sich anfänglich dieser sonnigen Ruhe gefreut, welche nur ein Spiegelbild schien der Sabbathstille, die ihre Seele erfüllte; aber sie mochte kaum eine Stunde so gesessen haben, als die Einförmigkeit der Scene um sie her ihr Herz mit einer sonderbaren Bangigkeit ergriff. Wie ganz anders war das heute Morgen gewesen! Da hatten Himmel und Erde und Baum und Busch und jede Blume und jeder Grashalm ihr Willkommen zugelächelt und zugenickt, hatte Alles eine so beredte Sprache zu ihr gesprochen! Und jetzt, da der Geliebte fern, war Alles verstummt, bis auf das eine Wort, das ihr aus Himmel und Erde, aus Baum und Busch, aus jeder Blume, jedem Grashalm immer schwermüthiger entgegenathmete: allein! allein!

Katharine ließ ihre Arbeit in den Schooß sinken. Ein Bild, das viele Jahre in ihrer Erinnerung wie ausgelöscht gewesen, trat plötzlich in bleichen Farben und doch so deutlich vor sie hin: das Bild ihrer todten Mutter, die mit Blumen geschmückt im Sarge lag; und sie – ein kleines zehnjähriges Mädchen – hatte daneben gestanden und der Vater war herzugetreten und hatte sie an der Hand genommen und gesagt: Wir Beide sind nun allein!

Allein!

Immer banger wurde es Katharinen um's Herz. Sie versuchte, indem sie ihre Arbeit wieder zur Hand nahm, ein Lied zu singen, das ihr immer einfiel, wenn sie so still dasaß: »Wär' ich ein wilder Falke, ich wollt' mich schwingen auf!« Aber so leise sie auch einsetzte, sie kam nicht über die ersten Takte hinaus; ihre Stimme klang ihr seltsam fremd: sie fürchtete sich vor ihrer eigenen Stimme.

Vielleicht wurde es besser, wenn sie nach dem Wirthschaftshof ging, wo sie heute Morgen mit Lambert gewesen; wo sie heute Morgen mit Lambert so selige Augenblicke verlebt!

Sie stand auf und schritt den Pfad hinab, eilends, zuletzt fast laufend, und lehnte jetzt mit hochklopfendem Herzen an dem Gatter der Koppel. Die Schafe, die in der Nähe gestanden, stoben davon, und blickten sie aus einiger Entfernung mit den blöden Augen erschrocken an. Auf dem Hofe war Alles still. Die Hühner und Puter waren in die Prairie gelaufen. Als sie, wieder umkehrend, in die Nähe der Obstbäume kam, in deren Blüthenzweigen heute Morgen das Rothkehlchen so lieblich gesungen, brach ein brauner Raubvogel daraus hervor, und eilte mit weitem Flügelschlag dem Walde zu; auf dem Boden im Grase lagen ein paar bunte Federchen.

Trauriger als sie gegangen, kam Katharine nach dem Hause zurück und setzte sich wieder vor die Thür, mit dem festen Entschluß, nun ruhig auszuharren, und die Schwermuth zu bekämpfen.

So saß sie geduldig lange, endlose Stunden. Goldiger wurden die Lichter in den grünen Kuppen der Wälder drüben, tiefer und breiter die Schatten, die an dem Rande lagerten; eines nach dem andern trat das Dammwild heraus, bis endlich ganze Rudel an dem Walde hinäs'ten. Von Zeit zu Zeit zogen Schwärme von Tauben blitzschnell über die Prairie von einer Seite des Waldes zur anderen: hoch über ihnen segelten langsam durch den glanzvollen Aether Ketten von wilden Gänsen, mit eintönigem Geschrei die Luft erfüllend, bis Alles in das alte Schweigen zurücksank, und Katharine wieder das Sausen ihres Blutes in den Schläfen hörte.

Sie konnte es nicht mehr ertragen. Es fiel ihr ein, daß sie in dem Hause auf einem Regal, welches zu hoch gewesen, als daß sie es hätte erreichen können, ein paar Bücher gesehen hatte. Sie lief hinein, rückte den Tisch heran, stellte einen Schemel darauf und holte die Bücher herab.

Es waren ihrer zwei, in Schweinsleder gebunden, arg verstäubt und von den Würmern zernagt: eine Bibel und ein Historienbuch, wie es schien. Katharine schlug die Bibel auf. Das Geschriebene auf dem ersten Blatte war zum Theil in lateinischer Sprache, welche die Pfarrertochter hinreichend verstand, um, wenn auch nicht ohne einige Mühe, zu entziffern, daß dieses Buch Lambert Konrad Emanuel Sternberg gehört habe, weiland Studiosus der Theologie in Heidelberg, der im Jahre des Herrn 1709, nachdem in dem fürchterlichen Winter, da der Wein in den Fässern und der Vogel in der Luft gefror, seine Eltern, einst wohlhabende Winzer in der Pfalz, ihr Alles verloren in Gemeinschaft mit dem jungen Böttcher, Christian Dittmar aus Heidelberg, einem großen Zuge von Auswanderern nach Amerika sich angeschlossen, allwo er nach langer, beschwerlicher Fahrt den Rhein hinab über Holland nach England am 13. Juni 1710 mehr todt als lebendig angekommen. Und habe sich mit seinen Freunden und Leidensgenossen am Hudson angesiedelt, wo er sein Leben in Ruhe und Frieden zu beschließen hoffe.

Dieser fromme Wunsch war indeß nicht in Erfüllung gegangen. Weitere Notizen, die dieser zusammenhängenden Erzählung folgten, und die jetzt in deutscher Sprache geschrieben waren, beinahe, als hätte der Schreiber mittlerweile sein Latein verlernt, besagten: wie er vom Hudson nach dem Mohawk, von dort nach dem Schoharie und endlich an den Canada-Creek gezogen sei, zusammen mit seinem treuen Gefährten Christian Dittmar.

Dann war auch das Datum seiner Verheirathung mit Elisabeth Christiane Frank vom Schoharie, der jüngeren Schwester von Ursula, seines alten Freundes und nunmehrigen Schwagers Frau, verzeichnet; die Geburtstage seiner Söhne Lambert und Konrad und der Tod Christianens.

Mit diesem traurigen Ereigniß mochte für den alten Heidelberger Studenten das Buch seines Lebens geschlossen sein; er hatte keine Zeile mehr dazu geschrieben.

Katharine starrte nachdenklich auf die vergilbte Schrift, klappte leise den Deckel zu und öffnete das zweite kleinere Buch. Es war betitelt: Beschreibung der Verstörung der Stadt Heidelberg am 22. und 23. Mai 1689. Mechanisch begann sie zu lesen, bis sie allmälig dessen inne wurde, was sie las, und mit einem dumpfen Angstschrei aufsprang. Großer Gott, was hatte sie gelesen! War es möglich, daß Menschen so gegen Menschen ras'ten! Daß es Wüthriche gab, denen das Silberhaar des Greises, die Keuschheit der Jungfrau, das unschuldige Lächeln des Kindes – denen nichts, nichts heilig war! war es möglich!

Weshalb nicht? Waren die Banden unter Soubise, die in den Städten und Dörfern ihrer Heimath gehaust, und deren kalte Grausamkeit und wüste Frechheit ihren alten Vater und sie und alle ihre Nachbarn und Freunde aus der trauten Heimath über das Meer getrieben – waren es nicht die würdigen Söhne und Enkel jener Räuber, die unter Melac und de Berges die Pfalz verbrannt und Heidelberg zu einem Schutthaufen gemacht hatten? Französische Truppen verwüsteten mit großer Brutalität während des Pfälzer Erbfolgekriegs 1688-1697 große Teile der Kurpfalz und Städte in Württemberg und Baden. Im deutschen Südwesten wurde Mélacs Name, eines der Heerführer, zum Inbegriff für »Mordbrenner« oder »Marodeur« schlechthin. Bis ins 20. Jh. war es dort nicht ungewöhnlich, Haushunde Mélac zu nennen, wie es ja auch in der Novelle selbst der Fall ist (Base Ursels Kettenhund). – Anm.d.Hrsg.

Weshalb nicht? Hatten sie nicht so, gerade so im vorigen Jahre hier gehaust, zusammen mit den Indianern, ihren Bundes- und Gesinnungsgenossen? Hier in diesen Bergen, diesen Thälern, diesen Wäldern? Dieselben Franzosen, die jetzt wieder drohten? deren Herannahen schon verkündet war? Entsetzlich! entsetzlich!

Das arme Mädchen hatte bis zu diesem Augenblick, so weh und beklommen es ihr auch um's Herz gewesen, keine Furcht vor irgend einer bestimmten Gefahr empfunden. Jetzt überfiel sie diese Furcht mit jäher Gewalt. Sie spähte mit starren Augen an dem Rand des Waldes hin, aus dessen geheimnißvollem Schweigen sie ja jeden Augenblick hervorbrechen konnten. Sie horchte mit gespanntem Ohr in die Ferne, bis das Blut in ihren Schläfen zu sieden schien und schier die Adern sprengen wollte. Allbarmherziger Gott! was sollte aus ihr werden! Wie hatte Lambert sie in dieser fürchterlichen Oede lassen können: er, der so lange ihr Schutz und Schirm gewesen, der sie behütet, wie seinen Augapfel! Wenn doch nur Konrad käme? es war ungefähr um dieselbe Zeit, als er gestern heimkehrte! nein, es war später – die Sonne war ja schon untergegangen, und jetzt hing sie noch über dem Walde; aber weshalb sollte er heute eben so lange ausbleiben! und wer konnte sie nächst Lambert besser beschützen, als Lamberts Bruder, der Starke, Kühne, der seinen Fuß nur über eines Hauses Schwelle zu setzen brauchte, damit sich die Bewohner sicher fühlten! So hatte Lambert noch heute Morgen gesagt! Warum blieb er jetzt aus, wo er so sehnlich herbeigewünscht wurde!

Katharine drückte ihre Hände gegen ihre pochenden Schläfen. Was sollte sie thun? was konnte sie thun, als ausharren und versuchen, die Angst, die gewiß kindische Angst zu beschwichtigen? Da neben ihr lag die Bibel: sie hatte so oft in trüben Stunden Ruhe und Trost aus dem theuren Buche geschöpft! Sie griff darnach und las, wohin eben ihr Auge fiel:

 

»Und der Herr sahe gnädiglich an Abel und sein Opfer.

Aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädiglich an. Da ergrimmte Kain sehr und seine Geberde verstellete sich.

Da sprach der Herr zu Kain: warum ergrimmest Du? und warum verstellet sich Deine Geberde?

Da redete Kain mit seinem Bruder Abel. Und es begab sich, da sie auf dem Felde waren, erhub sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn todt.«

 

Die Schrift flimmerte vor ihren Augen; mit einem dumpfen Angstschrei sprang die Entsetzte auf. Kain erschlug den Abel! Kain erschlug den Abel! Und sie hatte ihn herbeigewünscht, ihn, den Fürchterlichen! ihn, der heute Morgen mit grimmiger Geberde die entsetzlichsten Drohungen ausgestoßen! Nein, nein, er durfte nicht zurückkommen; er durfte sie hier nicht allein finden! er durfte sie nie wieder sehen! sie mußte fort – Lambert entgegen! sie mußte ihn warnen, ihm sagen, daß sein Bruder ihn erschlagen würde, um ihrethalben! Daß er sie aufgeben müsse, oder mit ihr fortziehen müsse, in die weite Welt; fliehen müsse vor dem Bruder; sie, sich selbst retten müsse vor dem fürchterlichen Bruder!

Als ob das Blockhaus hinter ihr in Flammen stände, so eilte Katharine von der Schwelle, den Hügel hinab, dem Bache zu, am Bache entlang, ohne sich umzusehen, ohne zu bemerken, daß sie die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen, daß sie sich mit jedem Schritte nur weiter von Lambert entfernte. Endlich, als sie zu der Brücke gelangte, wo sie gestern Abend von Lambert eingeholt war, wurde sie ihres Irrthums inne. Nun wollte sie umkehren, aber ihr war wie einem Schiffbrüchigen, den die Welle, die ihn an das Land tragen sollte, wieder in's Meer zurückreißt. Unentrinnbar schien das Verderben, dem sie hatte entfliehen wollen. Nicht mehr fähig, einen weiteren Entschluß zu fassen, gänzlich der Kraft beraubt, sank sie zusammen, und, als müsse sie hier den erwarteten Todesstreich empfangen, neigte sie das Haupt und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

»Katharine!«

Langsam zog sie die Hände von dem todesbleichen Gesicht, und blickte Konrad, der, die Büchse über der Schulter, den Hund auf seinen Fersen, als wäre er aus dem Schilf des Ufers emporgetaucht, vor ihr stand, mit leeren Blicken an. Sie war ja auf sein Kommen vorbereitet: sie wußte ja, daß er kommen würde. Sie fühlte auch das namen- und wesenlose Entsetzen von vorhin nicht mehr; im Gegentheil: eine sonderbare Ruhe war plötzlich über sie gekommen, und mit ruhigem Tone sagte sie:

»Du kommst spät; ich habe Dich erwartet.«

»Wirklich?« sagte Konrad.

Auch er war sehr bleich und der Ausdruck seines Gesichtes seltsam verändert: Katharine bemerkte es wohl, aber es konnte sie in dem Entschlusse, die Entscheidung, und koste es ihr Leben, sofort herbeizuführen, nicht irre machen. Sie richtete sich nicht ohne Mühe, – denn die Glieder waren ihr wie abgestorben – aus ihrer halb knieenden Stellung auf, und sagte, indem sie mechanisch nach dem Hause zurückzugehen anfing:

»Ich habe Dich erwartet, weil ich Dir, bevor ich Euer Haus verlasse, gern etwas gesagt hätte.«

Konrad stutzte; Katharine fühlte es, trotzdem sie die Augen auf den Boden gerichtet hielt: dennoch fuhr sie fort, indem sie unwillkürlich schneller ging.

»Was ich Dir heute Morgen nicht habe sagen können, weil es erst seitdem geschehen ist. Ich habe mich mit Deinem Bruder verlobt.«

Sie erwartete, daß jetzt der Ausbruch erfolgen würde, aber Konrad blieb schweigend an ihrer Seite.

»Ich habe mich mit ihm verlobt,« sagte Katharine – und ihre Stimme wurde fester, während sie sprach – »heute Morgen, nachdem Du fort warst, und weiß nicht, wie es gekommen ist. Ich weiß nur, daß Lambert mehr für mich gethan hat, als je ein Mensch, meinen alten guten Vater, der nun auch todt ist, etwa ausgenommen; und daß ich ihm mein Leben verdanke, und daß deshalb mein Leben ihm gehört; und daß er es hätte von mir haben können, zu jeder Zeit, wenn er es von mir gefordert hätte. Er hat es auch heute nicht von mir gefordert; ich habe es ihm gegeben, freiwillig; mein Leben und mein Lieben, denn das ist Eins. Und nun –«

»Und nun?« fragte Konrad.

»Nun muß ich fort, wenn Du der gute Bruder nicht bist, den Lambert so liebt; wenn Du die bösen Worte, die Du heute Morgen gesprochen, zu bösen Thaten machen willst. Wie könnte ich dableiben? bleiben und sehen, wie ich Unfriede gesäet habe zwischen Bruder und Bruder, jetzt, wo Ihr Schulter an Schulter dem bösen Feinde gegenüberstehen müßt. Wohin ich gehen soll, – ich weiß es nicht; ich weiß nur, daß ich nicht bleiben kann, so lange Du Deinem Bruder zürnst um meinethalben. Aber, Konrad, sieh, während ich so spreche, ist mir, als ob es ganz unmöglich sei, daß Du Dich zwischen mich stellen könntest und Deinen Bruder.«

»Weshalb unmöglich?« fragte Konrad.

»Weil Du Deinen Bruder liebst,« erwiederte Katharine, die immer muthiger wurde, je länger sie sprach; »und alle Ursache hast ihn zu lieben, und weil Du mich nicht liebst, ich meine, wie Lambert mich liebt. Weshalb solltest Du auch? Du kennst mich ja gar nicht; hast mich gestern zum ersten Male gesehen, und heute Morgen ein paar Minuten. Und wenn ich Dir wirklich gefallen habe, und Du hörst nun, daß ich mein Herz bereits weggegeben, und an Deinen Bruder, – was könntest Du, als ein braver Mensch, anders thun, als Dich unseres Glückes freuen, wie wir uns freuen würden, wenn Dir der Himmel ein gleiches Glück beschieden, was, wie ich gewiß hoffe, bald geschehen wird.«

Sie waren vor dem Hause angelangt. Die Dogge, welche mit langen Sätzen vorausgeeilt war, kam ihnen wedelnd entgegen, und sprang an ihrem Herrn empor. Konrad drängte das Thier von sich; aber nicht mit seiner gewöhnlichen rauhen Heftigkeit; seine Miene war mehr traurig als zornig, seine Bewegungen die eines tief Ermüdeten. Er ließ sich auf die Bank sinken, auf welcher noch Katharine's Arbeit und die Bücher lagen, und stützte, den Ellenbogen auf's Knie stemmend, die Stirn in die Hand.

»Du bist hungrig und durstig von der langen Jagd,« sagte Katharine; »darf ich Dir das Abendbrod bereiten?«

Konrad schüttelte das Haupt. Aus Katharine's Seele war alle Furcht entschwunden; ja, wie sie jetzt den Wilden, Unbändigen so still, so in sich versunken da sitzen sah, regte sich in ihrem Herzen stärker und stärker ein anderes Gefühl.

»Konrad,« sagte sie leise.

»Konrad,« wiederholte sie, und sie legte ihm die Hand auf die Schulter; »ich will Dich gewiß auch recht lieb haben.«

Ein dumpfes Stöhnen, wie eines Thieres, das auf den Tod getroffen ist, brach aus Konrads breiter Brust; er schlug die beiden Hände vor das Gesicht, und weinte laut, wie ein Kind; und wie eines Kindes leichte Gestalt wurde der Leib des riesengewaltigen Mannes von der Leidenschaft geschüttelt, die in ihm wühlte.

Katharine stand einen Augenblick hülflos, sprachlos da; dann drangen auch aus ihren Augen warme Thränen, und mit den Thränen fand sie Worte, milde, gute Worte des Mitleids, des Trostes. Sie sagte ihm wieder und wieder, daß sie ihn lieb haben wolle, daß sie ihn lieb habe, wie nur je eine Schwester den Bruder lieb gehabt; daß sein junges, leidenschaftliches Herz zur Ruhe kommen, daß er in ihr seine Schwester sehen, und in diesem Gefühl ein reines Glück finden würde, bis auch ihm in der Liebe zu einem wackeren Mädchen ein anderes Glück erblühe, an welchem Niemand innigeren Antheil nehmen würde, als sie und Lambert,

»Nenne seinen Namen nicht!« schrie Konrad.

Er war aufgesprungen, an allen Gliedern vor Zorn bebend, seine Augen loderten; er hatte den Lauf der Büchse, die neben ihm gelehnt hatte, krampfhaft erfaßt.

»Du denkst mich mit Worten abzuspeisen; mir die glatten Worte und ihm die Küsse; ich habe es heute im Walde gesehen, wie schön Du küssen kannst!«

Und er brach in ein gelles Gelächter aus: Katharine wich entsetzt zurück.

»So,« sagte Konrad, »das ist Dein wahres Gesicht! liebst Du mich noch wie eine Schwester ihren Bruder?«

»Wenn Du so unbrüderlich bist, nein;« sagte Katharine; »aber Du weißt nicht, was Du sprichst.«

»Wirklich nicht!« knirschte Konrad.

»Und nicht, was Du thust,« sagte Katharine. »Du würdest Dich sonst schämen, ein armes, hülfloses Mädchen so zu quälen.«

Sie lehnte gegen den Pfosten der Thür, bleich und zitternd, die Hände über der Brust gefaltet, die großen Augen unverwandt auf den Zornigen gerichtet, der vergebens versuchte, ihrem Blick zu begegnen, und wie ein wildes Thier vor ihr auf und niederras'te.

Da schlug die Dogge an, und in demselben Momente wurde der dumpfe Hufschlag eines Pferdes vernehmbar, das in vollem Lauf herankam Entsetzen faßte Katharinen: wenn Lambert jetzt zurückkehrte, – und es konnte nur Lambert sein – was sollte daraus werden!

»Konrad!« rief sie, »Konrad, es ist Dein Bruder!«

Und, von einer überwältigenden Empfindung getrieben, stürzte sie vor ihm nieder und umklammerte seine Kniee.

»Laß mich!« schrie Konrad

»Nicht, bis Du geschworen, daß Du ihm kein Leid thun willst!«

»Laß mich,« schrie Konrad noch einmal, und er riß sich gewaltsam los; Katharine taumelte empor, strauchelte und stürzte; ihr Kopf schlug heftig gegen die hohe Schwelle der Thür; die Besinnung wollte ihr vergehen; aber sie raffte sich mit einer ungeheuren Anstrengung wieder auf, als zornige Stimmen an ihr Ohr schlugen, und warf sich zwischen die Brüder.

»Um Gottes willen, Lambert, Konrad! lieber tödtet mich! Konrad, es ist Dein Bruder; Lambert, er weiß nicht, was er thut!«

Die Brüder ließen von einander und sahen sich mit funkelnden Augen an, keuchend; Lambert war die Büchse bei dem Ringen auf die Erde geglitten, Konrad hielt die seine halb erhoben in den starken Händen.

»Nun,« sagte Lambert: »warum schießest Du nicht?«

»Ich will Dein Leben nicht,« sagte Konrad; »wenn ich es wollte, ich hätte es heute Morgen haben können.«

»Was willst Du denn?«

»Nichts von Dir; weshalb bist Du gerade jetzt gekommen; Du solltest mich nicht wieder sehen. Aber da wir doch noch einmal zusammengetroffen sind, so laß Dir gesagt sein, daß es das letzte Mal gewesen sein muß. Geh Du Deine Wege, und laß mich die meinen gehen!«

Er warf die Büchse mit einer heftigen Bewegung auf die Schulter, und wandte sich. Lambert vertrat ihm den Weg.

»Konrad,« sagte er, »Du darfst nicht fort; ich will vergessen, daß Du die Hand gegen mich erhoben, vergiß Du auch, daß ich es gethan. Bei dem Andenken unseres Vaters, bei dem Andenken unserer Mutter beschwöre ich Dich: geh' nicht von Deinem Elternhause!«

»Es ist zu klein für uns Alle;« sagte Konrad mit bitterem Hohn.

»So wollen wir es verlassen; ich will es gern, wenn Du nur bleibst.«

»Ich brauche kein Haus« sagte Konrad.

»Das Haus aber braucht Dich, damit Du es vertheidigen hilfst gegen den bösen Feind. Oder möchtest Du es in Flammen aufgehen sehen? Du weißt, daß der Franzose in Anmarsch ist, weißt vielleicht mehr davon als ich, als wir Alle; und wir haben Dich heute schmerzlich vermißt. Willst Du zum Verräther werden an der gemeinsamen Sache, an Deinem Bruder, Deinen Freunden, an den Weibern und Kindern? Konrad, Du darfst nicht fort!«

»Damit Ihr Euch wieder verkriechen könnt, wie damals!« rief Konrad; »ich will mich nicht verkriechen; ich will offen kämpfen; ich will's auf meine eig'ne Hand, ganz allein, und dann mögt Ihr hier in Euren Löchern zu Grunde gehen oder nicht, mich soll's nicht kümmern. Mein Blut komme über mich, wenn ich je wieder einen Fuß über diese Schwelle setze!«

Er drückte sich die Pelzmütze in die Augen, pfiff seinem Hund, und schrie, als das treue Thier, das seine Runde um den Hof machte, nicht kam:

»So bleibe auch du hier! Fluch über euch Alle!«

Das war das letzte Wort, welches Katharine noch vernahm. Die furchtbare, seelische Erregung dieser Stunden hatte ihre Kräfte aufgezehrt, und der Fall, den sie vorhin gethan, sie vollends erschüttert. Sie fühlte einen stechenden Schmerz in den Schläfen, es sauste ihr vor den Ohren: nur wie durch einen Schleier sah sie noch Lamberts Gestalt sich über sie beugen, und dann war es nicht Lambert, sondern Base Ursel, und dann versank Alles um sie her in tiefe Nacht.



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